Einleitung
Für ein Verständnis der Verbindungen zwischen Menschen, Institutionen oder Gegenständen, die zusammen eine Gruppe oder Sammlung bilden, ist "Netzwerk" ein verhältnismäßig junger Begriff. Zu allen Zeiten hat es intellektuelle oder akademische Gruppen gegeben, die als "Netzwerke" strukturiert waren. Dies gilt insbesondere für das zweite Jahrtausend, in dem Gelehrte einen ausgeprägten Sinn für ihre kollektiven Identitäten entwickelten. Die vorneuzeitlichen Akteure, die das Geschäft der Wissenskommunikation betrieben, hätten sich jedoch unter dem Begriff eines "Netzwerks" kaum etwas vorstellen können. Statt im Bild eines Netzes oder Rasters (lat. rete bzw. crater) erschloss der frühneuzeitliche Mensch die Welt eher in individuellen Beziehungen: in solchen der Freundschaft oder der Verwandtschaft etwa, oder im Verhältnis von Lehrer und Schüler, Patron und Klient. Sprach man von Kollektiven, dann stellte man sich diese nicht als "Netzwerke" vor, sondern als Gruppen, Vereinigungen, Zünfte, Akademien, Haushalte usw. Verbindungen zwischen gelehrten Männern und Frauen entstanden im Gespräch, am Esstisch oder in Akademien, in Disputationen oder privaten Tutorien. Wo immer mündliche Kommunikation nicht möglich war, verfiel man dankbar auf die von Cicero (106–43 v. Chr.)[] formulierte Vorstellung vom Brief als Bestandteil eines Dialogs über die Entfernung hinweg. Ciceros eigener Briefwechsel diente den italienischen Humanisten dabei als Vorbild, anhand dessen zahlreiche Abhandlungen über die Kunst des guten Briefeschreibens verfasst wurden.1 Zu den großen Theoretikern der Epistolographie gehörte Erasmus von Rotterdam (1466–1536)[], der sich auch praktisch um das Genre verdient machte. Damit steht er beispielhaft für die riesigen Korrespondenznetzwerke, die im 16. Jahrhundert einen Großteil des europäischen Raumes überspannten.
In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts war es Erasmus, der die so genannte "respublica literaria" zum geläufigen Begriff machte, mit dem europäische Gelehrte ihrem kollektiven Identitätsgefühl Ausdruck verschaffen konnten. Diesen schillernden Begriff der "respublica literaria" finden wir erstmals 1417 in einem Brief von Francesco Barbaro (1390–1454), dann wieder 1484 in einem Brief von Rudolph Agricola (1444–1485).2 Bevor Erasmus begann, den Begriff zu verwenden – erstmals im 1494 entstandenen Anti-Barbari – dienten zur Bezeichnung eines gelehrten Gemeinschaftssinns Worte wie "coetus" (Versammlung), "sodalitas" or "societas". Die Versuchung liegt nahe, im Begriff der "respublica" eine politische Absicht zu erkennen, doch scheint der Begriff damals auf keine spezifisch "republikanische" Vorstellung von Gemeinschaft verwiesen zu haben, sondern nur auf das gemeinsame Anliegen, nämlich die Sache der Gelehrsamkeit.3
Es liegt nahe, dass diese im Englischen als "Republic of Letters" und im Lateinischen wie im Französischen mit entsprechenden Begriffen bezeichnete Gemeinschaft zuweilen nicht als "Gelehrtenrepublik" verstanden wird, sondern als sich in Briefen entfaltendes Gemeinwesen (der lateinische Begriff respublica litterarum ist in diesem Sinne ein zweideutiger Ausdruck, da litterae im Lateinischen auch ein Brief/Epistel bedeutet). Die jüngere Netzwerkforschung zeigt zwar ein Bewusstsein für die reduktionistischen Folgen eines Ansatzes, der intellektuelle Netzwerke in erster Linie als Korrespondenznetzwerke versteht, es gelingt jedoch nur wenigen Studien, Quellen zu integrieren, die durch eine andere Art von Kontakt entstandene Netzwerke bezeugen. Beispielhaft zu nennen sind etwa durch Freundschaftslyrik in den alva amicorum (Freundschaftsalben oder Stammbücher) oder Gelegenheitsverse, durch die Lehrer-Schüler-Beziehung (z. B. durch Disputationen, gemeinsame institutionelle Zugehörigkeit oder gemeinsame Beherbergung), durch Tischreden oder das in der französischen Forschungsliteratur so genannte Genre "les -ana" (den Scaligerana, Thuana, Menagiana usw.),4 oder durch Verwandtschaftsbeziehungen. Der wegweisende, 2019 erschienene Sammelband Reassembling the Republic of Letters konzentriert sich bewusst auf den Brief als den wesentlichen Baustein des europäischen intellektuellen Netzwerks, eröffnet aber zugleich den Blick auf Analysen, die über die epistolarischen Metadaten – Personen, Orte, Daten und Gegenstände –, aus denen intellektuelle und akademische Netzwerke in der Regel konstruiert werden, hinausgehen. Bei den mit diesen Metadaten bezeichneten Daten handelt es sich beinahe unweigerlich um Texte, auch wenn das Interesse an der Zirkulation von Objekten und Proben (z. B. getrocknete Pflanzen, Gestein, Geräte, Nahrungsmittel), Bildern, Autorenportraits, wissenschaftlichen Zeichnungen (botanische Studien, Festungsanlagen) oder Zahlenmaterial (z. B. aus astronomischen Beobachtungen) zunimmt. Dennoch lag solchen nicht-textuellen Objekten fast immer ein Begleitschreiben bei, das bei der Archivierung dieser Objekte entfernt wurde.5
Der Zugang zu vorneuzeitlichen intellektuellen Gemeinden auf dem Weg über das "Netzwerk" erweist sich auch als fruchtbarer Ansatz zur Untersuchung von Hierarchien. Diese werden durch formale Analysen wie Zentralität, betweenness und Clustering-Koeffizienten sichtbar. Während Tabellen dazu beitragen, solche Messgrößen für die Positionen von Personen in Netzwerken zu vergleichen, helfen Visualisierungen von Netzwerken durch Programme wie Gephi den Forschenden, ihre Daten zu verstehen und Muster zu untersuchen. Visualisierungen bieten eine "makroskopische" Sicht auf die Daten und sind von großem heuristischem Wert, da sie oft Fragen zu den Daten aufwerfen. Doch neben solchen aus Personen bestehenden Netzwerken gab es auch Austausch auf der Ebene von Institutionen. Die entsprechenden Netzwerke lassen sich als "akademisch" bezeichnen – nicht, weil die darin ausgetauschten Gedanken unbedingt akademischen Inhalts gewesen wären, sondern weil in diesen Netzwerken academiae (so die damals übliche Bezeichnung für Universitäten) verbunden waren. Im hier untersuchten Zeitraum führte das Wachstum der Universitäten zur Entstehung eines gewaltigen europaweiten Netzes von Einrichtungen, die durch die Wanderungen ihrer Gelehrten und Studierenden miteinander verbunden waren. In solchen Netzwerken sind die Knotenpunkte die Institute und die Verbindungen die Menschen. Parallel zur stetig steigenden Anzahl an Hochschulen stieg auch die innereuropäische Mobilität ihrer Studierenden, die erst im 18. Jahrhundert wieder nachließ.
Zwischen dem intellektuellen Korrespondenznetzwerk und den akademischen Universitätsnetzwerken liegt das gelehrte Netzwerk von Büchern und Zeitschriften, das Leser und Autoren miteinander verbindet. Der Aufstieg der gelehrten und akademischen Zeitschrift seit den 1660er-Jahren bereicherte die bereits komplexen gelehrten Netzwerke um eine weitere Ebene, in der gelehrte Journalisten und interessierte Laien als Wissenskonsumenten mit Unternehmern im florierenden Druckgewerbe in Verbindung kamen.
Antike und Mittelalter
Obwohl die Vorstellung intellektueller Netzwerke in Europa aufs engste mit dem Aufkommen des Begriffs einer Respublica literaria im späten 15. Jahrhundert verbunden ist, lässt sich das darin zum Ausdruck kommende Gemeinschaftsempfinden viel weiter zurückverfolgen. Intellektuelle Netzwerke gab es in der griechisch-römischen Antike ebenso wie in der Spätantike und im Frühmittelalter. In China, Zentralasien und dem Nahen Osten reisten Gelehrte von einer Schule zur nächsten oder suchten andere Gelehrte auf (berühmte Literaten, Salons, Medressen, Klöster). Durch den Austausch von Manuskripten und Ideen schufen sie Verbindungen zwischen diesen Zentren der Gelehrsamkeit.
Zu den am besten erforschten "Ego-Netzwerken" – so die Bezeichnung für ein auf einen einzelnen Autor zentriertes Korrespondenznetzwerk – gehören die Briefe Ciceros.6 In der Ära der germanischen Nachfolgestaaten, von ca. 500 u. Z. bis zum Ende des karolingischen Reiches, existierten nicht nur Briefnetzwerke, sondern auch solche, die aus Reiserouten bestanden. Solche Routen, die Zentren der Gelehrsamkeit verbanden, lassen sich aus Belegen rekonstruieren, aus denen eine Mobilität von Texten und deren Trägermedien (z. B. Manuskripten) hervorgeht. Hierbei bildeten christliche Klöster die Knotenpunkte dieser intellektuellen Netzwerke. Gerade das Ziel einer Rettung des literarischen Erbes der Antike verlieh diesen Netzwerken eine Gemeinsamkeit, wenn auch noch kein Gefühl einer kollektiven Identität. Magnus Felix Ennodius (473–521), Sidonius Apollinaris (431–487), Ruricius Lemovicensis (ca. 485/507) und Alcimus Ecdicius Avitus (455–518), die alle um das Jahr 500 u. Z. im unter westgotischer Herrschaft stehenden Gallien lebten, bildeten ein Briefnetzwerk, das teilweise über den westgotischen Einflussbereich hinausreichte. Während nur wenige ihrer Briefe überliefert sind, haben sich jene Isidors von Sevilla (560–636) im 7. Jahrhundert oder Gerberts von Aurillac (950–1003) im 10. Jahrhundert in größeren Mengen erhalten und zeugen von intellektuellen Netzwerken, die Mittel-, West- und Südeuropa umspannten. Verbunden durch Ciceronische Vorstellungen von Freundschaft, Vertrautheit und Verbundenheit, die ihren Ausdruck in dem Genre des Briefes gemäßen Stilkonventionen fanden, waren diese Briefeschreiber darauf bedacht, Texte zu teilen und die Entwürfe der anderen zu korrigieren. Somit entstand ein auf gegenseitiger Verpflichtung beruhender Diskurs.
Als Brennpunkte intellektuellen Austauschs dienten Klöster, zwischen denen sich Menschen, Briefe und Manuskripte hin- und her bewegten. Doch mit dem Aufstieg der Universitäten ab dem 12. Jahrhundert wurde die Gemeinschaft der Gelehrten um ein neues Element bereichert, das sich der Mobilität der "Wandergelehrten" bediente und zu dieser anspornte. Als Petrarca (1304–1374) 1345 Ciceros Atticus-Briefe entdeckte, hatte er sich bereits ein ganz Europa umspannendes Korrespondenznetzwerk aufgebaut.7 Wichtige Bestandteile solcher Korrespondenznetzwerke waren auch die Kanäle diplomatischer und politischer Kommunikation, die vom Papsttum ausgingen, insbesondere da die frühen Humanisten oft Ämter in Kirche oder Staat (als Sekretäre, Redner oder Diplomaten) innehatten. In Petrarcas Selbstdarstellung als Gelehrter, der die Kunst des Briefeschreibens pflegte, spielte Cicero eine wichtige Rolle. Auch wenn die Vorstellung einer respublica literaria sich erst anderthalb Jahrhunderte nach Petrarcas Tod durchsetzte, so bewahrten er und andere Humanisten der italienischen Halbinsel eine gelehrte Kultur des Gesprächs über lateinische Philologie und des Austauschs von Neuigkeiten aus dem Geistesleben.
Renaissance und Reformation
In ihrer Einleitung zu dem bereits erwähnten Band Reassembling the Republic of Letters beschreiben Howard Hotson (geboren 1959) und Thomas Wallnig (geboren 1975), wie Gelehrte in Europa in den Jahrhunderten zwischen 1450 und 1650 eine "Revolution" in den Möglichkeiten der Kommunikation untereinander erlebten.8 Die Zahl der Universitäten vervierfachte sich (beinahe) von 45 auf 160, während die Einführung der Druckerpresse intellektuelle Handelsnetzwerke zwischen den Städten Europas aufkommen ließ. Schätzungen gehen davon aus, das vor 1500 etwa 20 Millionen Bücher gedruckt wurden, eine Zahl, die sich ein Jahrhundert später auf 200 Millionen verzehnfacht hatte. Das vom Fürstenhaus Thurn und Taxis betriebene Postsystem soll 20.000 Kuriere beschäftigt haben, die den Austausch von Waren und Briefen für kommerzielle, diplomatische und geistige Zwecke ermöglichten. Noch effektiver wurde das Postwesen ab ca. 1650. Nicht alle Gelehrte waren große Briefeschreiber, doch bildeten Hochschulprofessoren oft den Mittelpunkt ortsgebundener Studentengemeinschaften, die zu Vorlesungen zusammenkamen und/oder gemeinsam untergebracht waren. Die Matrikel (alba studiosorum) der europäischen Universitäten bilden somit Knotenpunkte, von denen nach prosopographischer Analyse Netzwerke von Studenten und Professoren ausgehen. Kamen diese vielleicht auch nie zu Ruhm, so waren sie doch am alltäglichen Geschäft des Wissensaustauschs beteiligt. Studenten besuchten oft mehrere Universitäten und betrieben dort ihre Studien durchaus mit ernstem Bemühen. Den bessergestellten unter ihnen dienten die Bibliotheken von weltlichen und Kirchenfürsten, von Hochschulen und Klöstern, von Städten und Gelehrten ebenso sehr als Knotenpunkte ihrer Netzwerke wie die Gelehrten und deren Gönner selbst. Erasmus ist ein berühmtes Beispiel eines solchen Wandergelehrten, doch der Umfang des erhaltenen Briefwechsels seines Zeitgenossen Heinrich Bullinger (1504–1575) übersteigt die 3.100 von Erasmus überlieferten Briefe um ein Vierfaches. Von ihren Zeitgenossen Philipp Melanchthon (1497–1560), Johannes Dantiscus (1485–1548) und Martin Luther (1483–1546)[] sind insgesamt ca. 20.000 Briefe erhalten. Die Reformation gab den Anstoß zu allerlei geistiger Erregung und Kommunikation, wobei parteiliche Netzwerke entstanden. Dementsprechend lassen sich intellektuelle Netzwerke auch an der religiös-polemischen Pamphletistik dieser Jahre ablesen: Diese ephemeren Drucksachen, die von Kurieren über weite Strecken getragen und von fliegenden Händlern aller Art billig verkauft wurden, erreichten ein großes und räumlich verstreutes Publikum. Erasmus und Luther wussten nur zu gut um den Verkaufserfolg polemischer Texte. Unter Mitarbeit des Druckgewerbes entstand so ein verbaler Kriegs-, Verhandlungs- und Programmschauplatz. Diese Print-Netzwerke bezogen ihre Dynamik aus dem Zusammenprall widerstreitender Kräfte. Die physischen Knotenpunkte dieser Austauschnetzwerke bildeten die im halbjährlichen Wechsel stattfindenden Buchmessen in Frankfurt am Main und Leipzig, wo sich Buchhändler aus Italien und den Niederlanden trafen und Geschäfte machten. Die politische Zersplitterung Europas und die damit verbundene begrenzte Machtfülle weltlicher und einiger geistlicher Potentaten hinderten einzelne Herrscher daran, diesem Austausch wirksame Riegel vorzuschieben. Zwar hatte das Konzil von Trient der Verbreitung und des Konsums von Literatur in katholischen Gebieten Herr zu werden versucht, doch der Index der verbotenen Bücher konnte nicht verhindern, dass Katholiken diese aus dem Ausland bezogen oder dort drucken ließen. Verbote blieben freilich nicht ganz ohne Wirkung, doch aufs Ganze gesehen – auf der Ebene Europas, seines politischen Flickwerks und in Anbetracht der relativen Freiheit in einigen Fürstentümern, Stadt- oder gar Territorialstaaten – verfehlten repressive Maßnahmen ihr Ziel, selbst wenn Autoren verfolgt wurden und bisweilen auf dem Scheiterhaufen endeten, wie etwa Michel Servet (1511–1553).
Anderseits bemühten sich eher liberal gesinnte Zentren des Geisteslebens um protestantische ebenso wie um katholische Gelehrte. Ein solcher Mittelpunkt war der Hof Kaiser Rudolfs II. (1552–1612)[], wo sich nicht nur Künstler versammelten, sondern auch Gelehrte und Wissenschaftler. Rudolfs Hofbibliothekar Hugo Blotius (1533–1608) war bestrebt, die kaiserlichen Sammlungen in eine "europäische Bibliothek für die Menschheit" zu verwandeln, in der Kunstwerke und wissenschaftliche Instrumente ebenso einen Platz finden sollten wie Flugschriften und Sammlungen unveröffentlichter Gelehrtenbriefe – neben den üblichen Büchern und Altertümern.9 Selbst wirkte Blotius nicht als Gelehrter mit Veröffentlichungen unter eigenem Namen, doch er war ein veritabler Wissensvermittler und darin Vorläufer späterer Gestalten wie dem französischen Datensammler Nicolas-Claude Fabri de Peiresc (1580–1637),10 dem Sekretär der Royal Society, Henry Oldenburg (1618–1677), dem Bibliothekar der Medici, Antonio Magliabechi (1633–1714) und Gisbertus Cuper (1644–1716), dem niederländischen Gelehrten und Politiker. Ihre Briefe haben sich zu Tausenden erhalten, von den 3.176 Stück aus dem Briefwechsel Oldenburgs bis zu fast 21.000 Briefen aus dem Nachlass Magliabechis. Diesem im Umfang vergleichbar ist der Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)[], der allerdings weitaus besser erschlossen (wenn auch noch nicht vollständig ediert) ist. Während Leibniz weltberühmt ist, kennt kaum jemand seinen Zeitgenossen, den lutherischen Pädagogen Christian Daum (1612–1687), obwohl er eine Bibliothek von über 10.000 Bänden besaß und sein (weitgehend auf Sachsen und Thüringen beschränkter) Briefwechsel 5.177 Objekte umfasst. Doch auch solche scheinbaren Nebenfiguren auf der Bühne der Gelehrtenrepublik rücken zunehmend ins Rampenlicht, denn hier erweitert die Geistes- die Ideengeschichte um eine genauere Erforschung von Praktiken des Lernens. Der so genannte cultural turn hat auch dem alltäglichen Geistesleben von Intellektuellen, Professoren und Lehrern, die zwar selbst nie zu Ruhm kamen, aber für die Erziehung jeder nachrückenden Generation zuständig waren, vermehrt Aufmerksamkeit zukommen lassen.11
Als Knotenpunkte dienten nicht nur Hoch-, sondern, wie im Fall Daums, auch Sekundarschulen. Ein früheres Beispiel solcher institutioneller Knotenpunkte im Netzwerk des gelehrten Europas bietet die Lateinschule der aragonischen Kleinstadt Alcañiz im 16. Jahrhundert. Dieses Beispiel zeigt, dass selbst kleine Schulen in eher ländlich-abgeschiedenen Gegenden einen Platz im europaweiten intellektuellen und akademischen Netzwerk finden konnten. Möglich machten dies die lateinische Sprache, der Erfolg der Druckerpresse und die hohe Mobilität, wie sie unter frühneuzeitlichen Intellektuellen Tradition hatte. Alcañiz war der Geburtsort von Juan Lorenzo Palmireno (1524–1579), dem Autor zahlreicher Lehrbücher, die sich insbesondere der Schulung neuer Studenten in klassischer Rhetorik, Ciceronischem Latein und gutem Betragen widmeten. Dies tat Palmireno als Professor in Valencia und Zaragoza ebenso wie als Lehrer in seiner Heimatstadt. Palmireno gehörte zu einer Reihe von Humanisten, die aus der Lateinschule von Alcañiz hervorgegangen waren. Dazu gehörte, eine Generation vor Palmireno, der Lehrdichter Juan Sobrarias (ca. 1464–1528), Professor an der Universität Zaragoza. Zu nennen wäre außerdem der Dichter Pedro Ruiz de Moros (1506–1571), der auch in Bologna studierte und später als juristischer Berater König Sigismunds II. August (1520–1579) von Polen-Litauen wirkte. Er gründete eine Universität in Vilnius und ermöglichte spanischen Jesuiten den Bau von Schulen in Litauen. Der Wandertheologe Bernardino Gómez Miedes (1515–1589), Autor einer enzyklopädischen Abhandlung über Salz, und der Dichter Domingo Andrés (16. Jahrhundert), der seine zahlreichen Werke auf lateinisch verfasste, hatten beide in Alcañiz eine gründliche Einweisung in die alten Sprachen erhalten, ehe sie in Valencia und Rom studierten. Andrés kehrte später in seine Heimatstadt zurück, um dort seinerseits Lehrer zu werden.12
Freilich unterlag die Mobilität solcher Gelehrter Schwankungen, die politischen, wirtschaftlichen und religiösen Entwicklungen folgten. Um 1500 zählten die Universitäten Norditaliens mehr Absolventen von nördlich der Alpen als solche von der Halbinsel selbst.13 Doch überall in Europa gab es Universitäten, die Wandergelehrte in großer Zahl anzogen. Unterwegs begegneten sich Studenten unterschiedlicher Herkunft und taten sich mitunter zusammen. Die daraus entstehenden Freundschaften wurden später im brieflichen Verkehr fortgeführt und gefestigt. Mobilität bildete somit eine der wesentlichen Bedingungen für die ständige Erneuerung gelehrter und akademischer Netzwerke.
Die Reformation hatte tiefgreifende Auswirkungen auf diese Wanderrouten. Katholische Universitäten verboten ihren Studierenden den Besuch protestantischer Universitäten, während Protestanten weiterhin in Frankreich und Italien studierten. Insgesamt fanden sich die deutschen Universitäten infolge der Reformation weitaus stärker in das akademische Netzwerk eingebunden. Um 1550 kam ein Drittel der Studierenden an der Universität Leipzig aus dem Ausland. Im 17. Jahrhundert avancierte Leiden zu Europas am stärksten international geprägten Universität, doch auch die Universität im friesischen Franeker zog fast die Hälfte ihrer Studierenden von jenseits der Grenzen der niederländischen Republik an.14 Katholische Universitäten zeigten sich in der Regel weniger offen, insbesondere jene auf der iberischen Halbinsel, auch wenn sich eine hohe spanische Binnenmigration nachweisen lässt. Die jesuitischen Hochschulen bildeten etwas wie ein eigenes Netzwerk. Päpstlichen Universitäten wie jene in Bologna oder Rom verschlossen ihre Tore vor Studenten aus dem Norden, während andere – etwa Padua oder Venedig – sich toleranter zeigten. Die Kriege Ludwigs XIV. (1638–1715)[] wirkten sich negativ auf die gelehrte Mobilität aus, indem sie Wanderstudenten den Zugang zu französischen Hochschulen erschwerten. Manche Universitäten wirkten Kraft ihrer Funktion als religiöse Zufluchtsorte als Knotenpunkte im akademischen Netzwerk, so etwa Wittenberg und Genf für Protestanten und Löwen und Douai für Katholiken. Letztere schickten ihre begabtesten Absolventen direkt an die päpstlichen Hochschulen Roms. Das Erfolg des Netzwerks hing ab von der Vielfalt der Wahlmöglichkeiten: Manche Universitäten widmeten sich der Ausbildung ihrer Studierenden, während andere eher darauf angelegt waren, ausländischen Studenten einen schnellen (und zuweilen teuren) Doktorgrad zu ermöglichen. Wiederum andere verfügten über eine Attraktivität eher touristischer Art.15 Die lebendigen Bindeglieder des den europäischen Raum überspannenden Netzwerks von Universitäten waren damit sowohl akademische Pilger (Studenten auf peregrenatio academica) als auch eher touristisch interessierte junge Männer aus gutem Haus (oft Adelige auf Kavalierstour), die Anschluss an die gesellschaftlich relevanten Kreise in den europäischen Machtzentren suchten.
Erst im 18. Jahrhundert ging diese studentische Mobilität wieder zurück – auch, weil die Zahl der Studierenden insgesamt zurückging. Wer doch studierte, blieb stärker regional gebunden, ein Erfolg entsprechender Maßnahmen der Landesherren und Städte. Selbst neue und "schicke" Universitäten wie Halle oder Göttingen waren weniger international, als wir es uns im Nachhinein gerne vorstellen, weil zeitgenössische Reiseberichte diese Orte gerne als Stätten der Gelehrsamkeit priesen. Insgesamt war die von der Aufklärung angestoßene studentische Mobilität eher interner denn internationaler Art.
Dasselbe Muster einer zunehmenden "Nationalisierung" im 18. Jahrhundert nach jahrhundertelanger ausgeprägt internationaler Orientierung zeigt sich auch in den außerinstitutionellen Netzwerken der Gelehrtenrepublik. Während das Lateinische auf der Halbinsel schon immer mit dem Italienischen konkurrieren musste, gewann im 16. Jahrhundert das Französische an Bedeutung. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde Englisch, im 18. Jahrhundert Deutsch zu einer gelehrten Sprache eigenen Rangs. Für den Internationalismus der Gelehrten blieb diese Entwicklung zunächst scheinbar folgenlos. Betrachtet man etwas das "Triumvirat der Gelehrsamkeit" um 1600 – bestehend aus dem katholischen Gelehrten Justus Lipsius (1547–1606) sowie den Reformierten Joseph Scaliger (1540–1609) und Isaac Casaubon (1559–1614) – so fällt auf, dass der Flame Lipsius sich auf Niederländisch und Latein verständigte, während das bekannte Netzwerk Scaligers, das gut 230 Gelehrte umfasste, zu einem Drittel französischsprachig war und Casaubon, ausweislich seines erhaltenen Briefwechsels, fast ausschließlich auf Latein korrespondiert hat. Ihr Zeitgenosse Carolus Clusius (Charles de l'Ecluse, 1526–1609) führte Briefwechsel in sechs verschiedenen Sprachen, auch über die Grenzen Europas hinaus.
Nicht weniger international vernetzt waren ihre Nachfolger Hugo Grotius (1583–1645)[], Daniel Heinsius (1580–1655) und Claude Saumaise (1588–1653). Obwohl selbst protestantischer Konfession, pflegten sie Kontakte zu katholischen Gelehrten, auch wenn ihr Kreis auf Westeuropa beschränkt blieb. Sie lebten in einer Blütezeit des französischen Geisteslebens, mit Protagonisten wie Nicolas-Claude Fabri de Peiresc, Marin Mersenne (1588–1648), Pierre Gassendi (1592–1655), André Rivet (1572–1651), Claude Sarrau (ca. 1603–1651), Denys Petau (1583–1652), Blaise Pascal (1623–1662) und René Descartes (1596–1650). Teilnehmer an diesem Netzwerk waren beispielsweise Constantijn Huygens (1596–1687), Gerard Vossius (1577–1649), Johann Valentin Andreae (1586–1654), Samuel Hartlib (gestorben 1662), Athanasius Kircher (1602–1680), Peter Paul Rubens (1577–1640), John Selden (1584–1654), Johannes Scheffer (1621–1679), Nicolaas Heinsius (1620–1681), Christian Huygens (1629–1695), Isaac Vossius (1618–1689) und Anna Maria van Schurman (1607–1678). Eine vergleichbare Liste ließe sich auch eine Generation später erstellen, als Korrespondenznetzwerke vom Baltikum bis nach England, von Schweden bis Italien, von Böhmen bis Frankreich reichten. Gestalten wie Henry Oldenburg, Pierre Bayle (1647–1706), Jean LeClerc (1657–1736) und Leibniz bildeten Knotenpunkte nicht nur von Korrespondenznetzwerken, sondern auch in den neuen, durch gelehrte, philosophische und wissenschaftliche Zeitschriften gebildeten Netzwerken. Doch nicht alle Länder waren gleichermaßen in dieses Netzwerk eingebunden. So fehlen zum Beispiel im Netzwerk Bayles spanische Gelehrte völlig, während seine Kontakte nach Italien alle durch das Netzwerk Antonio Magliabecchis vermittelt waren, dessen erhaltener Briefwechsel mehr als 20.000 Objekte umfasst. Andere Zeitgenossen, zum Beispiel Theodorus Janssonius al Almeloveen (1657–1712), waren stärker zu deutsch-niederländischen Netzwerken hin orientiert.16
Diese Netzwerke erwiesen sich als sehr belastbar, denn sie hingen nicht allein an einzelnen Autoren, sondern auch an Akademien, Bibliotheken, Kabinetten und Salons. Ebenso wenig mussten sich diese Netzwerke auf eine einzige Einkommensquelle stützen: Ihre Teilnehmer standen im Dienst von Staaten, Fürsten, Universitäten, Kirchen und religiösen Orden. Die intellektuellen Netzwerke konnten zudem auf vorhandenen kommerziellen und diplomatischen Netzwerken aufbauen, etwa jenen der Bankiersfamilie Fugger, dem riesigen Netzwerk der Druckerei Plantin in Antwerpen, oder den diplomatischen Netzwerken um gelehrte Botschafter wie Jacques Bongars (1554–1612), Georg Michael Lingelsheim (1556–1636) oder Paul Choart de Buzanval (gestorben 1607) um das Jahr 1600, oder um Hugo Grotius, Constantijn Huygens und Axel Oxenstierna (1583–1654) in den 1640er-Jahren. Zudem handelte es sich bei diesen Netzwerken um keine bloße Anhäufung von Ego-Netzwerken: Ihre Zentralgestalten nutzten die Dienste von Mittelsleuten, deren lokale Netzwerke sich wiederum dem Zugriff des Auftraggebers entzogen. Solche Mittler und deren Zuschriften nutze etwa Pierre Bayle bei der Zusammenstellung seines berühmten Dictionnaire.17
Religiöse Netzwerke wie jene der Benediktiner führten ihrerseits wieder zu eigenen Unter-Netzwerken, während die Jesuiten über Asien, das Becken des Indischen Ozeans und den Atlantik hinausgriffen.18 Diplomatische und politische Netzwerke berührten sich vielfach mit solchen gelehrter und akademischer Art, wenngleich sich die beiden unterscheiden lassen. Zu den Netzwerken der Frauen der niederländischen Stadhouder, Elisabeths von Böhmen (1596–1662) oder des Staatsmanns Johan de Witt (1625–1672) gehörten zwar auch Gelehrte und Intellektuelle (der Briefwechsel der Tochter Elisabeths mit Descartes ist ein berühmtes Beispiel), doch das Netzwerk De Witts unterscheidet sich insgesamt deutlich von jenen seines Zeitgenossen J.F. Gronovius (1611–1671) oder seines Nachbarn Constantijn Huygens, dem am besten vernetzten Diplomaten seines Landes.19
Allmählich wandelte sich die Struktur der Gelehrtenrepublik. Einerseits wuchs die Zahl der Gelehrten, wie auch deren Kommunikationsmittel sich vermehrten – insbesondere mit dem Wachstum gelehrter und wissenschaftlicher Zeitschrift gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Digitale Untersuchen der Briefnetzwerke haben unlängst belegen können, dass das inländische Postwesen sich verbesserte.20 Zwar verzeichneten viele Universitäten schwindende Immatrikulationen, doch erklärt sich dies wenigstens teilweise aus der zunehmenden Zahl der Hochschulen sowie der stärker lokal orientierten Akademien. Mit der Zunahme der Universitäten traten auch andere höhere Bildungsanstalten auf den Plan, beispielsweise das akademische Gymnasium oder einflussreiche Schulen. Im Jahr 1790 kam in Europa eine Universität auf 1,2 Millionen Einwohner.21 Doch im Verhältnis dazu war die Mobilität im Lauf des 18. Jahrhunderts geschwunden und die kommunikative Reichweite war geringer. Freilich bestanden weiterhin hochgradig internationale Netzwerke, so etwa das hugenottische "Universum" nach der Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahr 1685, als Zentren calvinistischer Gelehrsamkeit in Berlin, Leiden und St. Andrews, an Orten wie Marsh's Library in Dublin oder auch außerhalb Europas bis ins südliche Afrika, in Nordamerika und in der Karibik.22
Aufklärung
Im 18. Jahrhundert blieben Briefnetzwerke von zentraler Bedeutung für die europäische Gelehrsamkeit. Sie sorgten weiterhin für einen steten Strom von Neuankömmlingen in den Salons und Akademien. Beispielhaft hierfür steht der Briefwechsel Voltaires (1694–1778), dessen Briefe schon in die erste von mehreren Werkausgaben aufgenommen wurden. Die "maßgebliche" Ausgabe enthält mehr als 21.000 Briefe, von denen gut 15.000 aus der Feder Voltaires selbst stammen. Dieser Briefwechsel umspannt sieben Jahrzehnte und gut 1.800 Korrespondenten, womit es das möglicherweise größte überlieferte Ego-Netzwerk der frühen Neuzeit bildet. Während bis heute immer neue Briefe entdeckt werden, so treten auch die Lücken deutlich zutage. Besonders weibliche Autorinnen wurden im Prozess der Überlieferung links liegengelassen.23
Jean-Paul Bignon (1662–1743) mag beispielhaft stehen für den Typus einer nicht sonderlich prominenten Gestalt, die dennoch den Mittelpunkt verschiedener intellektueller Netzwerke bildete. Bignon stand ein halbes Jahrhundert lang den wissenschaftlichen Akademien von Paris vor, war 40 Jahre lang Staatsrat und drei Jahrzehnte Schriftleiter des Journal des Savants. Mit dem geerbten sozialen Kapital seines Großvaters Jérôme Bignon (1589–1656), der mit Grotius, Claude Saumaise (1588–1653), Gronovius, Peiresc und dem Kabinett Dupuy korrespondiert hatte, pflegte er einen immensen Briefwechsel, der sich unterteilen lässt in ein politisch-administratives Netzwerk, eines gelehrt-akademischer Art und eines, in dem es um den Erwerb von Büchern ging. Zwar ist Bignin selbst nicht als Autor gelehrter Publikationen in Erscheinung getreten, doch unter seinen gelehrten Korrespondenten findet sich eine beträchtliche Zahl weitere bestvernetzter und übereifriger Briefeschreiber, unter ihnen Gisbertus Cuper (1644–1716), Pierre Desmaizaux (1666–1745), Prosper Marchand (1678–1756), Jean LeClerc und Ludovico Antonio Muratori (1672–1750). Der Briefwechsel des letzteren übertrifft sogar den Voltaires. Die Gesamtedition wurde 1975 in Angriff genommen; von den projizierten 46 Bänden ist inzwischen (Stand 2023) fast die Hälfte erschienen.24 Zum Netzwerk Bignons gehörten sogar einige Gelehrte von der iberischen Halbinsel.25 Die Netzwerke der gelehrten Mittlerfiguren Desmaizaux und Marchand verbanden die gesamte hugenottische Diaspora Europas und ermöglichten Vertrieb, Austausch und Rezensionen gelehrter Werke aus den Druckereien der Niederlande, Frankreichs und Deutschlands, darunter auch gelehrte Zeitschriften. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nahm die französischsprachige Gemeinschaft der Hugenotten mit ihren Journalisten, Druckern und Buchhändlern eine beherrschende Stellung in den intellektuellen Netzwerken ein und ermöglichte vielfach die Zirkulation von Manuskripten und Büchern mitsamt den darin enthaltenen Ideen. Unter ihnen fanden sich zahlreiche "Journalisten", die das Geschäft des wissenschaftlichen Journalismus betrieben. Hugenotten machten fast die Hälfte der Briefpartner Marchands aus.26 Zu ihnen gehörte Jean Henri Samuel Formey (1711–1797)[], der Sekretär der 1700 von Leibniz begründeten Berliner Akademie. Formey band die Hugenotten der zweiten Generation in die deutschen Netzwerke ein. Dank seiner französischen, italienischen, englischen, holländischen, schweizerischen, österreichischen und skandinavischen Kontakte verhalf er Berlin zum Aufstieg in den Rang eines Zentrums für Wissenschaft und Gelehrsamkeit. Sein Briefnetzwerk steht neben jenen Voltaires, Muratoris und Benjamin Franklins (1706–1790) als eines der größten des 18. Jahrhunderts. Sein umfangreicher Briefwechsel mit Johann Albrecht Euler (1734–1800) unterstreicht abermals die Bedeutung wissenschaftlicher Akademien in den intellektuellen Netzwerken des 18. Jahrhunderts: Euler war Sekretär der 1724 mit Unterstützung von Leibniz gegründeten Akademie von St. Petersburg.27 Ein solches Interesse an Osteuropa lässt sich auch beim Dramatiker und Philosophen Johann Christoph Gottsched (1700–1766) konstatieren. Von dessen Korrespondenz haben sich gut 5.000 Briefe erhalten, deren Bedeutung nicht zuletzt darin liegt, dass sie ein Korrektiv zur einseitig westlichen Orientierung eines Großteils der Netzwerkstudien zur Aufklärung bilden.28 Die Netzwerke Gottscheds und Formeys stehen in direkter Verbindung zu jenen Immanuel Kants (1724–1804) (1.243 Briefe) und anderer deutscher Idealisten wie Fichte (1762–1814) (1.559 Briefe) und Schelling (1775–1854) (5.509 Briefe). Von den Briefnetzwerken eines Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) (über 14.000 Briefe), Friedrich Gustav Schilling (1766–1839) (5.261 Briefe) oder Christoph Martin Wieland (1733–1813) (9.275 Briefe) ist dabei noch gar nicht die Rede. Selbst von der niederländische Schriftstellerin Isabelle de Charrière (Belle van Zuylen, 1740–1805), deren überlieferter Briefwechsel von 2.667 Objekten sich auf einen relativ kleinen Kreis beschränkt, führen nur zwei Schritte zu Friedrich Schlegel (1772–1829), Schiller (1759–1805), Goethe oder Jacob Grimm (1785–1863) oder David Hume (1711–1776). Als Mittler fungierten so produktive Briefeschreiber wie der Essayist und Kritiker Benjamin Constant (1767–1830, ca. 6.000 Briefe),29 der Botaniker und Journalist Paul Usteri (1768–1831) sowie die Autorin und Redakteurin Therese Forster-Huber (1764–1829) und ihr Ehemann Ludwig Ferdinand Huber (1764–1804). Von beinahe jedem damals lebenden Korrespondenten in Europa und Nordamerika war van Zuylen nur drei Handschläge entfernt.
Moderne
Während der Aufstieg des Nationalstaats die Anziehungskraft der Idee einer internationalen Republic of Letters geschmälert haben mag,30 so überdauerte das Ideal doch bis ins 20. Jahrhundert. Die Praxis des Briefeschreibens und der Publikation von Kritiken in Zeitschriften nahm jedenfalls immer weiter zu, auch wenn die meisten Briefnetzwerke nun stärker im nationalen Rahmen verblieben. Die wachsende Zahl der Wissenschaftler und Gelehrten sowie die Neuausrichtung der frühneuzeitlichen Universität schuf neue Vektoren für den internationalen Austausch, beispielweise die internationale wissenschaftliche Konferenz. Damit begann eine neue Ära in der Geschichte intellektueller und akademischer Netzwerke. Doch festzustellen bleibt auch, dass die neuen Medien frühere Techniken des Netzwerkens nicht hinfällig machten: Der Besuch von Vorlesungen, akademische Mobilität, internationaler Briefwechsel und wissenschaftlich-gelehrter Journalismus konnten sich alle behaupten, ebenso die alte Gewohnheit des gemeinsamen Tafelns, ob nun im Sinn des altgriechischen Symposions, der Tischgespräche des 17. oder der Salons des 18. Jahrhunderts. Vielleicht ist es der Salon als Ort informellen, aber mitunter ritualisierten Austauschs, der sich in der Nachkriegszeit am deutlichsten gewandelt hat: Er hat sich beinahe bis zur Unkenntlichkeit fragmentiert und hat seine Nachfolger in den zahlreichen Formen akademischer Zusammenkünfte, die den modernen Universitätsbetrieb ausmachen, ebenso wie in den öffentlichen Lesungen literarischer Autoren, wie sie von der Verlagsbranche veranstaltet werden. Wollen wir akademische und intellektuelle Netzwerke als Kommunikationssysteme verstehen, dann ist die Gelehrtenrepublik durchaus noch quicklebendig, wenn auch eher unter dem Namen der internationalen Wissenschaftsgemeinde (international scientific community).31
Mit gutem Grund trägt die von der Europäischen Union getragene Institutionalisierung der akademischen Mobilität den Namen Erasmus und beruft sich damit auf den Schutzheiligen des intellektuellen Netzwerkens im europäischen Maßstab. Doch als Namensgeber hätten sich noch Dutzende weitere Wissenschaftler und Gelehrte der frühen Neuzeit angeboten.