Einführung
Als die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung 2013 ihr 150-jähriges Bestehen feierte, konnte sie sich ihrer weltweiten Bekanntheit gewiss sein. Trotzdem herrscht oft aber auch Verwirrtheit bezüglich der genauen Strukturen dieser großen Bewegung. Diese sind in der Tat aufgrund ihrer historischen Entwicklung sehr komplex: neben dem ältesten und bekanntesten Organ, dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) in Genf, versehen aktuell 190 nationale Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften vor allem im eigenen Land humanitäre Dienste. Schließlich gibt es noch die Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, die ebenfalls in Genf sitzt und deren Hauptaufgabe in der Koordination der Aktivitäten der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften untereinander liegt. Diese Institutionen treffen sich alle fünf Jahre zu den Internationalen Rotkreuzkonferenzen, wo sie über konkrete Aktivitäten, längerfristige Ziele der Bewegung und vorbereitende Beschlüsse zum humanitären Völkerrecht in Form der Genfer Konventionen beraten.1
Auch wenn die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung in Teilen sehr gut erforscht ist, gibt es auch einige "blinde Flecken" was die Geschichte dieser Bewegung angeht, wozu insbesondere die Geschichte der Rothalbmondgesellschaften gehört, die bisher nur wenig erforscht wurden. Diese in die allgemeine Geschichte der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung im 19. und 20. Jahrhundert im Zeitalter von Imperialismus, Nationalismus und Dekolonisation zu integrieren, ist Ziel dieses Beitrags.
Vorgeschichte: Henri Dunant und Solferino 1859
Am Anfang war Henri Dunant (1828–1910). Eigentlich befand sich der Genfer Geschäftsmann im Juni 1859 auf einer Geschäftsreise, als er im norditalienischen Solferino unerwartet Zeuge einer blutigen Schlacht im Rahmen des Krieges zwischen dem Kaisertum Österreich und dem Königreich Piemont-Sardinien sowie dessen Verbündetem Frankreich unter Napeoleon III. (1808–1873) wurde.2 Dunant war erschüttert über das Ausmaß des Leids (man geht heute von 60.000 toten, 2.000 verwundeten und 12.000 vermissten Soldaten auf beiden Seiten aus) und über die mangelhafte medizinische Hilfe, die den Soldaten zuteil wurde, zumal viele Ärzte selbst gefangen genommen worden waren. Gemeinsam mit lokalen Zivilisten versuchte Dunant, so vielen Verwundeten wie möglich zu helfen. Zurück in Genf, verarbeitete er in zwei Jahren diese Erlebnisse zu dem Buch Erinnerung an Solferino (im französischen Original "Un souvenir de Solférino"), das 1862 erstmals erschien und in den darauffolgenden Jahrzehnten weltweit zu einem Bestseller wurde. Dunants Appell war deutlich:
"... in einer Epoche, in der man so viel von Fortschritt und Zivilisation spricht, können bedauerlicherweise Kriege nicht immer verhindert werden; aber ist es nicht dringend geboten, im Geist der Humanität und der wahren Zivilisation, nach Wegen zu suchen, deren Grausamkeiten zu verhindern oder zumindest zu lindern?"3
Aus diesem Grund entwickelte Dunant die zwei großen Ideen von der neutralen medizinischen Hilfe für verwundete Soldaten ungeachtet ihrer nationalen Zugehörigkeit und von der Schaffung nationaler Hilfskomitees. Um es aber erst einmal bekannt zu machen, schickte Dunant das kleine Buch an den Genfer Juristen Gustave Moynier (1826–1910), der, ähnlich wie Dunant, auch stark in verschiedene karitative Tätigkeiten und Organisationen in seiner Heimatstadt involviert war.4 Moynier war von dem Buch stark beeindruckt und veranlasste ein Treffen mit Gleichgesinnten, um Dunants Ideen in die Tat umzusetzen. Dunant selber konnte diesen Erfolg nicht mehr genießen, denn er machte als Geschäftsmann Bankrott und wurde in Genf zur persona non grata. Auch das IKRK ließ ihn in Vergessenheit geraten.5 Zwar erhielt er 1901 noch den Friedensnobelpreis, aber seine Ehrung durch die Rote Kreuz-Bewegung erfolgte erst viele Jahrzehnte später.
Die Gründung 1863 in Genf: Eine Schweizer Institution entsteht
Henri Dunant war zunächst aber noch Mitglied und Sekretär einer Gruppe von fünf Genfer Honoratioren (dem sogenannten "Comité des Cinq"6) um Gustave Moynier, allesamt Mitglieder der calvinistischen Bourgeoisie der Stadt, die im Februar 1863 das Internationale Komitee für die Hilfe an Verwundeten (franz. Comité international de secours aux blessés) gründeten, aus dem das spätere IKRK hervorging.7 Ende Oktober 1863 organisierte dieses Komitee eine internationale Konferenz in Genf, an der neben philanthropischen Organisationen 15 Staaten, darunter Frankreich, Großbritannien, Preußen, Österreich und Spanien, aber auch Mexiko und das Osmanische Reich teilnahmen. Die Konferenzteilnehmer beschlossen die Neutralisierung der Verwundeten und des Hilfspersonals mit Hilfe eines Rotkreuzarmbands und die Errichtung nationaler Hilfsgesellschaften: Die ersten Genfer Konventionen erblickten 1864 das Licht. An dieser Konstellation wird schon die für das Rote Kreuz charakteristische Nähe zu Staaten und Regierungen deutlich, die die Bewegung von anderen humanitären Organisationen unterschied. Immer wieder für diese Staatsnähe kritisiert, betonen die Organe der Bewegung zum einen ihre Unabhängigkeit und stellen andererseits die Möglichkeiten heraus, die das Vertrauen der Regierungen ihnen beispielsweise für den Austausch von Kriegsgefangenen bietet.8 Drei Kriterien entwickelten sich für die Anerkennung von nationalen Rotkreuzgesellschaften: Der zugehörige Staat musste die Genfer Konventionen unterschrieben haben, dieser Staat musste souverän sein, und es durfte nur eine Rotkreuzgesellschaft pro Staat geben. Diese Kriterien unterstrichen nicht nur die oben erwähnte Staatsnähe der Rotkreuzbewegung, sie zeigten auch, dass das Rotkreuzsystem eng an ein europäisches und koloniales Staatsverständnis9 angelehnt war. So durften im imperialen Kontext in Staaten unter kolonialer Herrschaft nur Untergesellschaften der Rotkreuzgesellschaften in der "Metropole" gebildet werden, die auch in den Kolonien fast ausschließlich europäische Mitglieder hatten.
Eine schnelle Ausweitung: Die Etablierung nationaler Rotkreuzgesellschaften in Europa...
Die Idee für die Gründung des Roten Kreuzes muss damals genau den Nerv der Zeit getroffen haben, denn sie erlebte in kürzester Zeit einen großen Erfolg. Sehr schnell nach der Gründung des Komitees in Genf gab es die ersten Rotkreuzgründungen in Europa. In Baden und Württemberg wurden Vorläufer des Deutschen Roten Kreuzes bereits 1859 (Badischer Frauenverein, Karlsruhe) und 1863 (Württembergischer Sanitätsverein, Stuttgart) ins Leben gerufen, dem folgten Frankreich 1864 und Großbritannien 1870. Natürlich geschahen diese Gründungen nicht im luftleeren Raum, sondern passten sich vielmehr in die dichte Landschaft wohltätiger Gesellschaften im Europa des 19. Jahrhunderts ein.10 In der Tat gab es eine Vielzahl philanthropischer Initiativen, die sich aus religiösen, aufklärerischen oder sozialpolitischen Motiven speisten.11 Aufgrund der Industrialisierung kam es vor allem in den Metropolen zu großer Armut und vielen Krankheiten, auf die die Fabrikbesitzer und Regierungen nur sehr mangelhaft reagierten. Die sogenannte "Soziale Frage" führte viele katholische, protestantische, jüdische, sozialdemokratische und andere Institutionen zur Gründung von wohltätigen Vereinen, die sich bestimmten hilfsbedürftigen Gruppen verschrieben; ein häufiger Fokus waren Frauen, Kinder und als "arm" deklarierte Personengruppen.12 Häufig überschnitten sich dabei nationales und koloniales Engagement, was auch auf die Aktivitäten der Rotkreuzgesellschaften zutraf.13 Alle Initiativen zeichnete eine hohe Institutionalisierung aus, die mit der bewussten Nutzung von Medien, der Sammlung von Spenden und der Organisation und Motivation ihrer Mitglieder einherging.14 Gerade Frauen gestalteten diese Prozesse aktiv mit.15 Aus diesen Gründen kam es zu vielen personellen Überschneidungen zwischen verschiedenen Vereinen und den neu gegründeten Rotkreuzgesellschaften, indem viele Mitglieder in mehreren Vereinen aktiv waren bzw. blieben.16
Auch wenn schon auf der Zweiten Internationalen Rotkreuzkonferenz in Berlin 1869 beschlossen wurde, dass die nationalen Rotkreuzgesellschaften in Friedenszeiten ihre Arbeit fortsetzen sollten,17 bildeten Kriege ein häufiges Betätigungsfeld der jungen Bewegung und waren manchmal sogar der Grund für eine Rotkreuzgründung, wie dies für das Britische Rote Kreuz im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 der Fall war.18
Die Regierungen unterstützten in der Regel die Gründung von Rotkreuzgesellschaften, weil diese die Arbeit des Militärs ergänzten, und Monarchen oder hohe Amtsträger fungierten häufig als (Ehren-)Präsidenten der nationalen Vereinigungen.19 Die besondere Regierungsnähe der Rotkreuzgesellschaften gab letzteren einen großen Handlungsspielraum. Allerdings verführte die Nähe zur Macht auch zur "Identifikation mit dem jeweiligen Herrschaftssystem und seiner politischen und militärischen Agenda".20 Immer wieder drohten Nationalismus, Patriotismus und Militarismus, aber auch Kolonialismus die Rotkreuz-Idee einer transnationalen Bewegung zu unterminieren. Dies zeigte sich beispielsweise im Krimkrieg, in dessen Folge die britische Krankenschwester Florence Nightingale (1820–1910)[] zu einem besonderen Beispiel der sich aufopfernden humanitären Helferin stilisiert wurde.21 Außerdem trafen in diesem Krieg europäische Heere auf die Armeen Russlands und des Osmanischen Reichs, die in den europäischen Medien zwar beide als weniger zivilisiert und als am Rande Europas stehend dennoch der europäischen Zivilisation zugehörig dargestellt wurden.22
Diese ambivalente Einschätzung des Osmanischen Reiches zeigte sich auch im Bereich des Internationalen Völkerrechts, wo ein christlich fundiertes Verständnis von "Zivilisation" im 19. Jahrhundert zum Maßstab für die Qualifizierung eines Staates wurde, und das Osmanische Reich einerseits den Kriterien der westeuropäischen Völkerrechtler nicht genügte, andererseits aber als machtpolitische Größe wichtig und ernst genommen wurde.23 Diese Sichtweise spiegelte sich auch in der Ausbreitung der Rotkreuz-Bewegung im Osmanischen Reich wider.
... und außerhalb Europas: Die Konfrontation mit kolonialen Gesellschaften und lokalen Traditionen
In der Tat kam es auch außerhalb Europas zu einer raschen Ausbreitung der Rotkreuzbewegung. So gründeten sich in Japan bereits 1877 oder in Venezuela 1895 eigene Rotkreuzgesellschaften. Wie am Chinesischen Roten Kreuz gut erforscht ist, bestand dessen besondere Herausforderung darin, die oben aufgeführten Kriterien zu erfüllen, insbesondere jenes der staatlichen Souveränität24 – die Gründung selbst nutzte die Regierung dann als Beweis für die "moderne" Entwicklung des Landes. 25 So gab es über die oben beschriebenen Zweigstellen europäischer Rotkreuzgesellschaften in den Kolonien hinaus genuin lokale Gründungen. Auch hier fiel die Rotkreuzidee, ähnlich wie in Europa, nicht in einen luftleeren Raum, sondern fand auch deshalb Widerhall, weil in den nicht europäischen Gesellschaften lokale, religiöse und kulturelle Formen von Wohltätigkeit über die Jahrhunderte gewachsen waren.26 So hatte es beispielsweise in Japan schon vor dem Japanischen Roten Kreuz eine lange Tradition der Philanthropie gegeben.27 Ebenso zeichneten sich die Gesellschaften der islamischen Welt durch viele wohltätige Institutionen aus, die entweder durch Spenden und Almosen (die islamische Pflicht des zakat bzw. das Almosengeben der sadaqa) oder durch das Kapitel religiöser Stiftungen, der sogenannten awqaf (Singular waqf), finanziert wurden.28 Das arabische Wort insaniyya, welches sowohl Humanität als auch Humanitarismus bezeichnet und vermutlich das Produkt einer Übersetzung ist,29 vereinigte religiöse und kulturelle Auffassungen von Wohltätigkeit. Ähnliche Traditionen gab es in den christlichen und jüdischen Gemeinschaften des Nahen Ostens.30 Dass die Hilfe für Andere dabei auch über die eigenen nationalen und kulturellen Grenzen hinausging, zeigt das Beispiel der humanitären Hilfe aus dem Osmanischen Reich für Irland während der Hungersnot 1845–1852.31
Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gründeten wohlhabende Männer und Frauen in der arabischen Welt viele wohltätige Gesellschaften, um damit einerseits auf die steigende Aktivität europäischer Missionsgesellschaften zu reagieren, die wohltätiges Engagement mit Bildungsangeboten und Konversionsbemühungen verbanden. Andererseits waren wohltätige Institutionen auch eine Möglichkeit und Notwendigkeit, die von kolonialen Mächten (ohne oder mit Zusammenarbeit lokaler Regierungen) geschaffenen staatlichen Strukturen zu ergänzen, die gerade im Bereich der Gesundheits- und Sozialversorgung die Bevölkerung häufig nicht ausreichend versorgten.32
Die Begegnung mit der islamischen Welt sollte die Rotkreuzbewegung für die nächsten Jahrzehnte und bis heute maßgeblich prägen, führte sie unter anderem doch zur Einführung eines zweiten Symbols: das des (Roten) Halbmonds neben dem des (Roten) Kreuzes. Die erste Rotkreuzgesellschaft im Osmanischen Reich entstand 1869, allerdings ging hier die Initiative vornehmlich vom IKRK aus. Moynier hatte auf einem Kongress in Paris 1867 Dr. Abdullah Bey (1801–1874) getroffen, der als Arzt in der osmanischen Armee und im Krankenhaus Haydar Pasha tätig war und diesen zur Gründung einer Rotkreuzgesellschaft ermutigte. Die erste Gesellschaft bestand mehrheitlich aus Christen,33 deren Anzahl sich im Laufe der Jahrzehnte verringerte. Dies war aber nicht der Grund dafür, dass sich das Symbol der osmanischen Gesellschaft bald veränderte. Vielmehr weigerten sich die osmanischen Soldaten im türkisch-russischen Krieg 1876–1877, eine Binde mit dem Symbol des Roten Kreuzes zu tragen, welches sie als christliches Symbol wahrnahmen.34 Auch wenn das IKRK immer betont hat, es handele sich bei dem Symbol des Roten Kreuzes um die Umkehrung der Schweizer Flagge ohne Bezug zum christlichen Kreuz, setzten es die nahöstlichen Gesellschaften auch mit den mittelalterlichen Kreuzzügen in Verbindung, deren Fahnen oft ein Rotes Kreuz auf weißem Grund zierte.
Das IKRK weigerte sich zunächst, den Roten Halbmond offiziell anzuerkennen, erlaubte aber das Tragen des Roten Halbmond-Armbands und brachte die Diskussion in die internationalen Rotkreuzkonferenzen mit ein. Erst nach langwierigen Debatten, in denen sich viele europäische Vertreter gegen die Aufnahme des Symbols des Roten Halbmonds aussprachen, wurde es 1929 neben dem Roten Kreuz anerkannt.35 Dieser Akt, der zum einen die Öffnung der Rotkreuzbewegung symbolisierte, kann aber zum anderen auch als Ende ihres neutralen Symbols gesehen werden, weil nun religiöse Partikularinteressen deutlich wurden.36 Auch wenn andere Staaten ihrerseits neue Symbole beanspruchten (so der Iran, der einen Roten Löwen und eine Sonne forderte), konnte sich nur der Rote Halbmond (und seit 2005 der Rote Diamant für Israel) als weiteres Symbol der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung durchsetzen. Dieser wurde auch zum Symbol anderer Gründungen in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften, wie etwa in Ägypten. So wurde 1912 der Rote Halbmond auf ägyptische Initiative hin in Kairo durch den Zeitungsverleger Shaykh 'Aly Yussif37 gegründet, um die osmanische Armee zu unterstützen. Auslöser waren der tripolitanische Krieg von 1911 und die Balkankriege von 1911 bis 1912 gewesen, die auch den Osmanischen Roten Halbmond wieder belebt hatten.38 Allerdings wurde der Ägyptische Rote Halbmond erst 1923 mit der unilateralen Unabhängigkeitserklärung Ägyptens von Großbritannien vom IKRK anerkannt. Hier zeigte sich ein häufiges Dilemma des IKRK: einerseits wünschte und begrüßte dieses die Neugründung von Rotkreuzgesellschaften weltweit, andererseits wurde es sowohl mit seinen eigenen engen Kriterien der Anerkennung neuer Gesellschaften als auch mit seinen Vorbehalten gegenüber nicht europäischen Initiativen konfrontiert, wenn die Anfragen von nicht christlichen und nicht westlichen Ländern kamen. Denn wie sollte sich sonst erklären lassen, dass das IKRK nicht den Ägyptischen Roten Halbmond, aber schon 1875 das montenegrinische Rote Kreuz anerkannte,39 welches bis 1878 ebenfalls noch unter der formalen Herrschaft des Osmanischen Reiches stand. Zu vermuten ist, dass das Genfer Komitee im Zuge der im 19. Jahrhundert in Westuropa florierenden Solidaritätsbekundungen mit den Christen des Osmanischen Reiches40 Montenegro aufgrund seiner mehrheitlich christlichen Bevölkerung besonders unterstützen wollte.
Der internationalen Achtung, der sich die Rotkreuzbewegung erfreute, tat dies keinen Abbruch: Für sein Engagement wurde Henry Dunant schon 1901 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, sehr zum Bedauern des IKRK, das einen Gegenkandidaten vorgeschlagen hatte.41 Zwei weitere Friedensnobelpreise 1917 und 1944 zeigten das stetige Wirken der Rotkreuzbewegung, aber auch den Appell an diese Organisation, sich der Herausforderungen der zwei Weltkriege anzunehmen.
Erfolge und Grenzen von humanitärem Völkerrecht und humanitärer Praxis: Die Bewährungsprobe des Roten Kreuzes in den Zwei Weltkriegen
Der Erste und Zweite Weltkrieg stellten die Rotkreuzbewegung vor enorme Probleme, die sie nur zum Teil erfolgreich bewältigen konnte. Während die einzelnen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, gemeinsam mit dem IKRK, wichtige humanitäre Hilfe für verwundete, vermisste und gefangene Kriegsgefangene leisteten und damit das humanitäre Völkerrecht ein großes Stück nach vorn brachten, wurde auch Kritik an der politischen Positionierung der verschiedenen Rotkreuzorgane laut: viele nationale Rotkreuzgesellschaften betonten und überhöhten ihre nationalstaatliche Zugehörigkeit, während das IKRK Unrechtsregime wie das Dritte Reich und die Verfolgung der Juden aufgrund seiner proklamierten "Neutralität" kaum oder gar nicht anprangerte.
Völkerrecht
Schon im späten 19. Jahrhundert hatten die vielen europäischen Kriege eine Ausweitung und Ausarbeitung des humanitären Völkerrechts nötig werden lassen. Die erste Genfer Konvention von 1864 erhielt nur zehn Artikel, bildete aber eine wichtige Basis für spätere Gesetze, "um die Leiden des Krieges zu mildern". Hierzu gehört etwa die Formulierung der Haager Landkriegsordnung von 1907. Denn nachdem bereits die Petersburger Erklärung von 1868 die Anwendung von Sprenggeschossen abgelehnt hatte, waren es die Friedenskonferenzen in Den Haag 1899 und 1907, die die Frage der Ächtung bestimmter, als besonders barbarisch angesehener Waffen wieder aufnahmen, aber auch das Problem der Kriegsgefangenen und des Besatzungsrechts zu regeln versuchten. Zum Glück für das IKRK wurde 1907 aber die Eigenständigkeit der Genfer Konventionen zugesichert, und so firmierten von diesem Zeitpunkt an sowohl die Regelungen der zulässigen Mittel zur Schädigung des Gegners nach dem sogenannten Haager Recht als auch solche zum Schutz der Konfliktopfer nach dem sogenannten Genfer Recht unter dem (Sammel-)Begriff des Humanitären Völkerrechts.42 Auch wenn das IKRK mangels Staatsqualität nicht selbst an Friedensverhandlungen teilnehmen konnte, nahm es Einfluss auf die Entwicklung des humanitären Völkerrechts, indem es eine eigene wissenschaftliche Institution, nämlich das sogenannte Institut de Droit international in Genf etablierte. Die Beschlüsse auf Rotkreuzkonferenzen flossen wiederum als Voten in die Konferenzen der Genfer Konventionen ein.
Nachdem sich die Frage der Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg völkerrechtlich als besonders dringend erwiesen hatte, wurde die Genfer Konvention von 1929 um einen entsprechenden Passus erweitert. Im Zweiten Weltkrieg wiederum wurde deutlich, dass der bisherige Fokus auf aktiv kämpfende Opfer des Krieges nicht ausreichte, und so wurde 1949 eine vierte Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung entwickelt. In den Dekolonisationskriegen der zweiten Jahrhunderthälfte wurde dann ersichtlich, dass die enge Definition von Kriegsgegnern als Staaten nicht der Praxis entsprach, und so nahmen die zusätzlichen Protokolle von 1977 schließlich auch Kämpfende in Bürgerkriegen und Unabhängigkeitskonflikten als legitime Kriegsparteien auf.43
Kriegsgefangene und Vermisste
Ein zentrales Tätigkeitsfeld der Rotkreuzbewegung und insbesondere des IKRK, das seine Kompetenzen aus den Genfer Konventionen ableitete und mit diesen begründete, betraf die Fürsorge von Kriegsgefangenen.44 Aufgrund ihrer proklamierten Neutralität bekamen die Rotkreuzmitarbeiter Zugang zu den zahlreichen Kriegsgefangenenlagern in Europa und in den europäischen Kolonien, inspizierten diese nach bestimmten Kriterien und konnten in manchen Fällen Verbesserungen für die Lebensumstände der Gefangenen erreichen. Dazu gehörte insbesondere der regelmäßige Briefverkehr zwischen den Insassen und ihren Familien, die oft weit entfernt lebten und deren Post über Genf deshalb sehr lange und umständliche Wegstrecken zurücklegte. Außerdem war das IKRK oft federführend beim Austausch von Kriegsgefangenen zwischen zwei Kriegsparteien. Ein weiteres wichtiges Betätigungsfeld lag in der Suche nach Vermissten. In beiden Weltkriegen zeichnete das IKRK für Millionen von Suchaktivitäten verantwortlich, die teilweise erfolgreich beendet werden konnten.45
Kritik am Roten Kreuz
Trotz des großen Erfolgs, den die Rotkreuzidee von Anfang an verbuchen konnte, befand sich das IKRK keineswegs in einer unangefochtenen Position. 1917 wurde, mitten während des Ersten Weltkrieges und vornehmlich auf Initiative des Amerikanischen Roten Kreuzes, in Paris die Liga, später Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften gegründet, deren Aufgabe, ergänzend zu denen des IKRK, in der Fortführung der Arbeit in Friedenszeiten und in der Koordination der Rotkreuzgesellschaften untereinander bestehen sollte. Das IKRK lehnte die Idee einer Föderation zunächst ab, weil es einen Einflussverlust auf die gesamte Bewegung befürchtete46, und es herrschte, auch aufgrund des größeren Budgets, das dem IKRK zur Verfügung stand, lange eine Konkurrenzsituation zwischen den beiden Institutionen.47 Erst mit dem Umzug der Föderation nach Genf und der schrittweise erfolgenden Ausdifferenzierung der Aufgaben beider Organe entspannte sich das Verhältnis zunehmend. Ein weiterer Kritikpunkt an der Rotkreuzbewegung, der schon während des Ersten Weltkriegs laut wurde, betraf die schon erwähnte patriotische Einstellung vieler nationaler Rotkreuzgesellschaften, die eigentlich neutral als sanitäre Helfer im Krieg aktiv werden sollten, aber oft vorrangig die eigene Armee unterstützten.48
Während des Zweiten Weltkrieges bemühte sich das IKRK zwar um humanitäre Hilfe für die in Deutschland und Europa verfolgten Juden, konnte dieser Aufgabe aber, wiederum wegen des Prinzips der Neutralität und Unparteilichkeit, nur in begrenzten Maßen gerecht werden.49 In der Folge gab es daraufhin massive Kritik an der Untätigkeit des IKRK, und zwar vornehmlich durch das sowjetische Rote Kreuz, welches sich für eine Internationalisierung des Genfer Komitees einsetzte, hierin aber viel Gegenwind von Seiten des Britischen Roten Kreuzes erfuhr, das sich auf die Seite des IKRK stellte.50 Verstärkt wurde die Krise des IKRK kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch durch seine prekäre finanzielle Lage, da während des Krieges viele Rotkreuzgesellschaften und Staaten ihre Beiträge nicht gezahlt hatten.51
In dieser Situation erwies sich der Israel-Palästina-Konflikt als Chance für das IKRK, sein angeschlagenes Renommee international wieder aufzubessern: Es leistete sowohl für den neu gegründeten Staat Israel und damit die jüdische Religionsgemeinschaft als auch für die internationale Gemeinschaft, der an einem friedlichen Ausgang des Konflikts gelegen war und dessen Mitglieder deswegen auch zu finanziellen Auslagen bereit waren, als auch für die anfangs sehr kritischen arabischen Staaten Pionier-Arbeit. Diese erfolgte durch die Schaffung neutraler Zonen, die Versorgung verwundeter Soldaten sowie durch die Betreuung und Rückführung von Kriegsgefangenen beider Seiten.52
Die neue globale Herausforderung im Zeitalter von Dekolonisation und Kaltem Krieg
Während der ebenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Dekolonisationskriege wartete eine schwierige, aber wichtige Rolle auf das IKRK. Oft verfügten dessen Mitglieder zwar über Sympathien für die europäischen Kolonialmächte, sie bemühten sich aber, in unterschiedlichem Maße, auch um Neutralität, so z.B. während des Algerienkrieges, in dem IKRK-Delegierte wie Pierre Gaillard zwischen französischer Regierung und algerischen Unabhängigkeitskämpfern des FLN vermittelten.53
Algerien bildet auch ein gutes Beispiel für die Entstehung zahlreicher Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften im Zuge der Dekolonisierung und nationalen Unabhängigkeit. Auf internationaler Ebene wie den Vereinten Nationen setzte sich der Algerische Rote Halbmond stark für die Anerkennung der algerischen Unabhängigkeit ein und verband so politisches und humanitäres Engagement.54
Ähnlich verbarg sich hinter der Forderung arabischer nationaler Gesellschaften auf internationalen und regionalen Rotkreuz- und Rothalbmondkonferenzen nach der Anerkennung des Palästinensischen Roten Halbmonds immer auch ein politisches Statement für die Gründung eines eigenen palästinensischen Staates. So formulierte der ägyptische Regierungsvertreter Hussein Rady auf der 17. Internationalen Rotkreuzkonferenz in Stockholm im August 1948, die Akzeptanz Israels als Konferenzteilnehmer bedeute nicht die politische Akzeptanz Israels.55 Auch in anderen Aspekten äußerten nicht westliche Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften Kritik an der Übermacht des IKRK, an der christlich-westlichen Orientierung der Bewegung sowie an deren Festhalten an ihrem unpolitischen Charakter. Dem setzte beispielsweise der Delegierte des indonesischen Roten Kreuzes auf der internationalen Rotkreuzkonferenz 1963 bewusst die Verbindung politischer und humanitärer Belange entgegen.56
Das IKRK reagierte auf unterschiedlichen Ebenen auf diese Kritik: zum einen betonte es beispielsweise in seiner eigenen Zeitschrift, der International Red Cross Review, seit den 1950er Jahren die vielfältigen religiösen und kulturellen Wurzeln der Rotkreuzbewegung, die im indischen Mahabharata genauso zu finden seien wie in dem Verhalten des arabischen muslimischen Heerführers Salah ald-Din (ca. 1137–1193) gegenüber seinen christlichen Gegnern während der Kreuzzüge.57 Allerdings vertraten hier auch die Mitglieder des IKRK unterschiedliche Ansichten: So hielt der IKRK-Präsident Max Huber (1874–1960) lange an den christlich-konservativen Wurzeln des Roten Kreuzes fest und befürchtete, eine "désoccidentalisation" des IKRK würde diese zu nahe an "orientalische" und vor allem materialistisch-marxistische Ideen heranführen.58
Eine andere Reaktion auf die Eurozentrismus-Kritik war die Beschäftigung mit den sogenannten humanitären Prinzipien der Rotkreuzbewegung. Nachdem das IKRK, vor allem sein "Chef-Theoretiker" Jean Pictet (1914–2002), verschiedene Reflexionen über diese Prinzipien angestellt hatte, verabschiedete die Internationale Rotkreuzkonferenz in Wien 1965 schließlich die sieben humanitären Prinzipien Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität. Auf diese Art und Weise konnte die Bewegung sowohl ihre Offenheit und Selbstreflexionsfähigkeit demonstrieren als auch ihr Profil schärfen.59 Das wurde besonders in den 1970er Jahren wieder virulent, als mit dem "Aufstieg" der Menschenrechtsbewegung ein neuer Konkurrent auftauchte, der der Rotkreuzbewegung ihre Neutralität vorwarf und sich selbst im Gegensatz zu ihr als politisch engagiert artikulierte. In der Tat hatte sich das IKRK immer gegen die offene Kritik an autokratischen Staaten gewandt, um deren Vertrauen nicht zu verlieren und auf diese Weise beispielsweise freien Zutritt zu den Gefängnissen zu behalten. Nach einer Phase der strikten Neutralität gegenüber Menschenrechtsbelangen kam es aber im Laufe der folgenden Jahre zu einer Annäherung und Entspannung zwischen beiden Bewegungen.60
Schließlich flammte auch die Frage der Internationalisierung des Komitees wieder auf, die dieses schon seit den Gründungsjahren begleitet hatte.61 Zwar ist die Mitgliedschaft im IKRK aufgrund der besonderen Statuten bis heute Schweizern vorbehalten, aber zu den Mitarbeitern zählen mittlerweile nicht nur Frauen, sondern auch viele Menschen aus nicht europäischen Ländern.