Einleitung
Seit der Antike wird in der westlichen Kultur ein klarer Bezug zwischen literarischem und künstlerischem Schaffen und städtischer Gesellschaft hergestellt. Künstlerische und literarische Institutionen sind seitdem ein kennzeichnender Bestandteil des städtischen Lebens und haben die Rhetorik der städtischen Zivilisation entscheidend geprägt. Das Zeitalter der Moderne schuf das Konzept der "kreativen Stadt", welches eine direkte Wechselbeziehung zwischen städtischem Raum und kreativen Entwicklungen annimmt.1 Vor diesem Hintergrund stellte auch Jane Jacobs (1916–2006) ihre berühmte These in The Economy of Cities (1969) auf, dass durch das konzentrierte Zusammentreffen verschiedener Bevölkerungsgruppen im städtischen Raum die Voraussetzung für wegweisende Neuerungen und wirtschaftlichen Erfolg geschaffen würden.2 Ihr Argument traf vielerorts auf Skepsis: Städte sind nicht und sollten nicht als die alleinigen Orte gesehen werden, in denen Kreativität begünstigt und gefördert wird; genauso kann man nicht davon ausgehen, dass von einer Stadt von einer gewissen Größe und Verschiedenartigkeit an automatisch ein Kreativitätsschub ausgelöst wird. Jedoch setzt sich dieser Beitrag, auch wenn er sicher keine vollständige Erklärung für die komplexe Beziehung zwischen Kreativität und (städtischer) wirtschaftlicher Entwicklung geben kann, kritisch mit den Metropolen auseinander, denen es zwischen 1450 und 1930 gelang, zu literarischen und künstlerischen Zentren von globaler Bedeutung aufzusteigen.
Während alle städtischen Gesellschaften wahrscheinlich in irgendeiner Form kulturell produktiv waren und sind, hat es immer Städte gegeben, die als Zentren des literarischen und künstlerischen Schaffens besonders berühmt waren und als Metropolen der Literatur und Kunst bezeichnet werden können. Für diese Städte wurden die Produktion und der Konsum von Kunstwerken (ob Gemälde, Skulptur, Architektur oder Musik) und literarischen Texten wesentliche Bestandteile der städtischen Wirtschaft sowie der Identität und des Ansehens der Stadt. Nicht selten ist eine Stadt mit einer bestimmten kulturellen Form geradezu synonym: Beispielsweise setzt man gerne das Rom des 17. Jahrhunderts mit dem Barock und das Paris des 19. Jahrhunderts mit dem Beaux-Arts-Stil gleich. Unter einer Metropole der Literatur oder Kunst versteht der hier vorliegende Beitrag also Städte, die sich in dem Zeitraum 1450 bis 1930 prinzipiell in Europa und seinen Kolonien als Zentren der Produktion, des Konsums und der Verbreitung von Kunst und Literatur auf globaler Ebene hervortaten.3 Diese Metropolen der Literatur und Kunst entstanden zuletzt auch deshalb, weil sie Schnittstellen mit anderen Netzwerken der Kommunikation und des Austauschs waren und weil sie es verstanden, mit ihrem geistigen und materiellen Reichtum neue Ideen, neue Produkte und technische Innovation zu fördern. Dieses erlaubte diesen Städten eine kulturelle Führungsrolle einzunehmen. Somit lenkt der hier vorliegende Beitrag immer wieder den besonderen Blick auf die Verbindungslinien zwischen den Städten und folglich auf die Städte denen es gelang, ihre künstlerische Produktion anhand von bestehenden Netzwerken auf transkontinentaler Ebene erfolgreich zu verbreiten. Manchen Städten, darunter Rom, Paris und London, gelang es zu verschiedenen Zeiten in der europäischen Geschichte in einer geradezu ungebrochenen kreativen Dominanz als Zentren des literarischen und künstlerischen Schaffens hervorzutreten. Andere Städte, wie beispielsweise New York, machten sich erst später einen Namen. Dresden – oder Moskau am Anfang des 20. Jahrhunderts und in der Zwischenkriegszeit – blühten wiederum für nur viel kürzere Zeiten auf, werden aber bis heute von dieser früheren Entfaltung entscheidend geprägt, auch wenn ihr literarischer und künstlerischer Ruhm und Einfluss seitdem längst vergangen ist. Zahleiche andere Städte verdienen es näher untersucht zu werden; sie können in diesem Beitrag aber nur in einem breiter vergleichenden Zusammenhang berücksichtigt werden.
Das Entstehen künstlerischer und literarischer Werke ist nicht grundsätzlich ein städtischer Prozess, hat aber im städtischen Umfeld stets fruchtbaren Boden gefunden. Um zu verstehen wie und warum bestimmte Städte zu Metropolen der Literatur und Kunst avancierten, lohnt es nach den Gründen zu suchen, die einen solchen kulturellen Aufstieg ermöglichten. Zunächst einmal schuf die städtische Wirtschaft einen Großteil des notwendigen Wohlstands, der für den Kauf oder die Inauftraggabe von Kunstwerken und literarischen Texten unerlässlich war.4 Die Verfügbarkeit von Kapital und wirtschaftlichem Überschuss war auch eine der Grundvorrausetzungen für die Entwicklung technologischer Neuerungen, wie sie auch für das Schaffen künstlerischer und literarischer Werke ganz entscheidend war. Als Beispiel seien hier die hohen Investitionskosten genannt, die im 16. Jahrhundert bestimmte für ihre Druckerpressen bekannte Städte zu Metropolen der Literatur werden ließen, oder die im 19. Jahrhundert den Bau von Theatern und Opernhäusern ermöglichten. In den Städten entwickelte sich aufgrund ihrer höheren Bevölkerungsdichte auch eine höhere Nachfrage, die wiederum die Produktion von hochwertigen Waren auslöste. Ähnlich verhielt es sich mit der in den Städten festzustellenden höheren Konzentration an besonderen Fertigkeiten, wie sie – basierend auf dem Ausbildungsangebot der Gilden in der Frühen Neuzeit oder vergleichbar dem der Kunstakademien und Konservatorien in der Moderne – das Resultat einer besseren Allgemein- und Berufsausbildung sowie des stärkeren Wettbewerbs in den Städten war. Des Weiteren beruhte der Erfolg der Metropolen der Literatur und Kunst auf den Handelsverbindungen der städtischen Wirtschaftszentren: Diese boten Absatzmöglichkeiten für künstlerische und literarische Werke und Verbreitung von kulturellem Einfluss. Diese Handelsnetzwerke waren aber auch deshalb von großer Bedeutung, weil sie neuen Waren, neuen Ideen und (in der Form von Wanderarbeiter) neuem Talent und damit der Verbreitung von Neuerungen, wie sie schon immer das Rückrat kultureller Dominanz waren, ermöglichten.
In vielen Zentren wurde die zunehmend institutionalisierte Schaffung künstlerischer und literarischer Werke dazu genutzt, Verschönerungen oder Sanierungen der Städte zu rechtfertigen, ihr Prestige zu mehren und den Lokalpatriotismus zu fördern. Viele etablierte Metropolen der Literatur und Kunst nutzten ihren erreichten Status, weitere Innovationen, weitere Literaten und Künstler sowie weitere Investitionen in die Künste anzulocken; Zentren, die keine vergleichbare kulturelle Dynamik vorzuweisen hatten, versuchten diese oftmals durch Unterstützung des Herrschers, des Staates oder der Stadt zu erreichen. Metropolen der Literatur und Kunst verbreiteten ihren Einfluss demnach nicht nur durch den Austausch von Waren und Ideen, sonder auch im städtischen Wettstreit und durch versuchte Nachahmung. In manchen Fällen hat das "kulturelle Kapital", eine Metropole der Literatur und Kunst zu sein, auch Städten geholfen, den Folgen des kommerziellen und industriellen Niedergangs entgegenzuwirken. Zuletzt ist es wichtig, sich die Bedeutung sowohl des städtischen Raums als auch seiner Wirtschaft vor Augen zu führen, wenn es darum geht, künstlerisches und literarisches Schaffen anzuregen: Ohne die Nähe zum städtischen Leben gäbe es nicht die Möglichkeit der gegenseitigen Befruchtung von Ideen und Fertigkeiten, eine Konstellation, die Deborah Harkness als "städtische Sensibilität" (urban sensibility) beschrieben hat.5 Ohne Räume wie Kaffeehäuser und Kunstgalerien gäbe es nicht die Gelegenheit des Austauschs von Ideen, der Entwicklung von Sprache, von Geschmack und Kritik, oder aber der Begegnung mit einer Öffentlichkeit, die kulturelle Produkte konsumiert.
Dieser Beitrag beginnt mit den Städten, welche die Blüte der städtischen Kultur im späten 15. Jahrhundert, gewöhnlich als Zeitalter der Renaissance bezeichnet, prägten. Hier ist nicht der Ort der Frage nachzugehen, woher der Begriff "Renaissance" stammt und wie er unterschiedlich ausgelegt worden ist; es sollte aber betont werden, dass die Renaissance vor allem ein städtisches Phänomen war, das sich in den städtischen Zentren Europas – in Nord- und Mittelitalien und in den Niederlanden – entfaltete.
Die Renaissancestadt in Italien und in den Niederlanden
Die traditionelle Geschichtsschreibung zur Renaissance konzentriert sich oftmals auf die Stadtrepublik Florenz, in der Giotto di Bondone (ca. 1266–1337) und Dante Alighieri (ca. 1265–1321) sich am Ende des 14. Jahrhunderts um die Wiedergeburt einer literarischen und künstlerischen Kultur verdient machten. Der Fall von Florenz zeigt beispielhaft, wie ein auf Produktion und Kommerz beruhender Wohlstand und die in der Textilwirtschaft verankerten Fertigkeiten und Kompetenzen sowohl literarisches als auch künstlerisches Schaffen bewirken konnten. Das Fallbeispiel veranschaulicht zudem die damals so enge Beziehung zwischen Kunst und städtischer Identität. Der Reichtum von Florenz gründete sich auf dem Bankwesen und der Textilwirtschaft: In der Tat erstreckte sich das Handelsnetz der Stadt über ganz Europa hinweg bis weit in den Osten und stellte damit die Versorgung mit Rohstoffen wie Wolle und Farbstoffen sicher, band die Stadt zugleich aber auch in Netzwerke des intellektuellen und künstlerischen Austauschs ein. So flüchteten beispielsweise die Gelehrten Konstantinopels nach der Eroberung der oströmischen Hauptstadt durch die Osmanen im Jahre 1453 nach Florenz, wo sie der Tradition des Humanismus wertvolle Impulse gaben. Über die Netzwerke der Bankiers wiederum kamen neue Stilrichtungen und künstlerische Techniken aus den Niederlanden, wie man sie in der Ölmalerei und insbesondere bei dem Portinari-Triptychon wiederfindet. Der lange in Brügge ansässige italienische Bankier Tommaso Portinari (1429–1501) gab das Altarbild bei dem niederländischen Maler Hugo van der Goes (ca. 1440–1482) für die Portinari-Familienkapelle in Florenz in Auftrag.6
Während des 14. und 15. Jahrhunderts erlaubte der aus dem internationalen Handel erwirtschaftete Wohlstand eine großzügige Förderung der Künste. Gerade die verschiedenen Gilden – damals die maßgeblichen politischen Institutionen der Stadt –, wetteiferten miteinander, um Kirchen, Hospitäler und andere religiöse und städtische Gebäude und Räume mit Kunstwerken auszuschmücken. Ebenso löste der überschüssige Reichtum eine Nachfrage nach Luxusgütern und anderen kleinen Kunstwerken aus. Kunst erlaubte es Macht und Prestige sowie kommerziellen Erfolg und politischen Einfluss zum Ausdruck zu bringen. Die Gestaltung des Duomo beispielsweise wurde der Arte della Lana (der Wollgilde) anvertraut, die Filippo Brunelleschi (1377–1446) damit beauftragte, eine Kuppel für das monumentale Bauwerk zu schaffen. Brunelleschi beeindruckte mit einer großartigen Ingenieurarbeit, einer achteckigen Doppelschalenkonstruktion, die im Jahr 1436 fertiggestellt wurde. Die Arte della Lana war auch für die Gestaltung des wichtigsten öffentlichen Platzes in Florenz, der Piazza della Signoria, verantwortlich, während sich die Arte dei Mercanti (die Gilde der Textilhändler) der Gestaltung des Baptisteriums annahm. Die Florentiner Kunst des 15. Jahrhunderts war folglich zu einem großen Teil öffentliche Kunst, die ausgehend von religiöser Frömmigkeit und städtischem Stolz in Auftrag gegeben wurde und im Dienste des Stadtstaates, der Gilden und der religiösen Institutionen geschaffen wurde.7
Bei Beginn des 15. Jahrhunderts befand sich Florenz, obwohl formal noch immer eine Republik, zunehmend unter der Vorherrschaft einer einzigen Familie, die der Medici. Dementsprechend verlagerte sich auch das Stiftungswesen von den Körperschaften zu den privaten Familien, insbesondere den Medici und ihren Anhängern. Sie nahmen sich die Patrizierelite des alten Roms zum Vorbild und sammelten privat Kunst, sowohl zur ästhetischen Erbauung und zur eigenen Freude als auch um ihren Reichtum, ihren städtischen Stolz und ihre religiöse Frömmigkeit zum Ausdruck zu bringen. Lorenzo de' Medici (1449–1492)[] war sich wie jeder Fürst der Bedeutung von Kunst zur Machtausübung und deren Rechtfertigung sehr wohl bewusst und nutze diese Eigenschaft geschickt, sowohl in Florenz, als auch an weiter entfernten Orten, wo er Kunst als ein Instrument der Diplomatie einsetzte.8 Er war, selbst als sein Bankimperium bereits zusammenbrach, die zentrale Figur wenn es darum ging, die künstlerischen Errungenschaften von Florenz der weiteren Welt darzustellen.9 Im 16. Jahrhundert kehrten die Medici als Herzöge der Toskana nach Florenz zurück. Der Künstler und Höfling Giorgio Vasari (1511–1574) ließ sich von der berühmten Großzügigkeit der Medici und der Exzellenz der Florentiner Künstler inspirieren. In seinem Werk Das Leben der Künstler, erstmalig im Jahre 1550 publiziert, schuf er eine Geschichte der Renaissance, die sich auf Florenz konzentrierte und das Stiftungswesen der Medici in den Mittelpunkt stellte. Anhand verschiedener Formen des künstlerischen und literarischen Schaffens stellte er 200 Jahre der Geschichte von Florenz dar. Er zeigte, wie der Ruf einer Stadt ein Zentrum künstlerischer Vortrefflichkeit zu sein ein in sich selbst wertvolles Erbe ist, ein Gut, das nachfolgende Generationen mit viel Arbeit bis heute haben erhalten können.10
Florenz gehörte zu einem Netzwerk wohlhabender Städte in Nord- und Mittelitalien. In den Niederlanden gelangten Brügge, Antwerpen und Brüssel durch einen allgemeinen Schub in der Stadtentwicklung, der ebenfalls auf der Textilwirtschaft und dem Fernhandel beruhte, zu Bedeutung. In diesen Städten war die gleiche Konzentration von besonderen Fertigkeiten und ein von Gilden geprägtes Ausbildungssysteme hoher Qualität vorzufinden, wie auch ein vergleichbar großer Reichtum, der aus Gründen der religiösen Frömmigkeit, des städtischen Stolzes oder des Prestigekonsums die Inauftraggabe von Kunstwerken förderte. Im Gegensatz zu den italienischen Städten aber konzentrierte sich das künstlerische Schaffen in den Niederlanden auf kleine auf Holz gemalte Kunstwerke, die einfach transportiert werden konnten, beispielsweise auch zum Pand-Markt nach Antwerpen, der seinerzeit der wichtigste öffentliche Kunstmarkt in Europa war.11 Venedig wiederum unterschied sich hiervon deutlich: Als Brücke zwischen Ost und West stellte die Lagunenstadt die Bedeutung, welche die Verbindungen nach Übersee für den Bestand als Metropole der Kunst hatte, in den Vordergrund.12 Der ständige Warenaustausch und die Gegenwart von Menschen aus aller Welt unterstützten die Einführung neuer Handelsgüter und künstlerischer Techniken, wie sie sich in dem Eklektizismus des einzigartigen architektonischen Erbes der Stadt und dem von Gentile Bellini (ca. 1429–1507) im Jahre 1480 gemalten Portrait von Mehmet II. (1423–1481)[], welches ganz eindeutig und unmittelbar den Einfluss des Osmanischen Reiches aufweist, widerspiegeln.13
Rom: Kunst, Religion und der Aufstieg des Barock
Bei Beginn des 16. Jahrhunderts waren Florenz, Brügge und zuletzt auch Antwerpen vom wirtschaftlichen Niedergang gezeichnet, da andere Städte jetzt ihre Handelsnetzwerke dominierten. Dennoch verloren sie nicht gänzlich ihren künstlerischen und literarischen Einfluss, und ihr ehemaliges Ansehen sollte auch in den nächsten Jahrhunderten das Bild dieser Städte prägen. Die Dynamik dieser kreativen Drehscheiben verlagerte sich jedoch nach Rom und am Ende des 16. Jahrhunderts auch nach Amsterdam. Im Gegensatz zu Florenz war das nachantike Rom niemals ein bedeutendes kommerzielles oder industrielles Zentrum gewesen, verfügte jedoch aufgrund der römisch-katholischen Kirche aber über einen enormen Reichtum und ein umfangreiches Stiftungswesen. Seit das Pontifikat im Jahre 1420 aus dem Exil in Avignon nach Rom zurückgekehrt war, war es ein Anliegen der Päpste, ihre Autorität durch die Förderung der Künste zu stärken. Oft griffen sie dabei auf in Florenz ausgebildete Künstler, hierunter so namhafte Persönlichkeiten wie Raffael (1483–1520) und Michelangelo (1475–1564), zurück. Im 16. Jahrhundert, dem Zeitalter der Gegenreformation, bekam dieses Vorhaben eine neue Dringlichkeit, da die Künste immer wieder in den Kampf gegen Ketzerei und das Bestreben der Kirche, ihre spirituelle und weltliche Autorität geltend zu machen, einbezogen wurden. Die politische, religiöse und kulturelle Bedeutung Roms war niemals größer gewesen und schon bald genoss die Stadt den Ruf das Zentrum künstlerischer Neuerungen und der Schaffung eines neuen Kunststils – dem des Barock – zu sein. Der Einfluss dieses Kunststils, wie er in der Malerei, Architektur, Musik und Skulptur zum Ausdruck kam, ist bis heute in Städten weltweit zu sehen.14
Während Florenz und Antwerpen hinsichtlich der Verbreitung von Waren, Handwerkern und künstlerischen Stilrichtungen von den internationalen Handelsverflechtungen profitierten, waren es in Rom die Verbindungen der römisch-katholischen Kirche, was deren Administration angeht, eine der fortschrittlichsten transnationalen Organisation der Frühen Neuzeit. Zudem war Rom jedes Jahr das Ziel von Tausenden Pilgern, die die außerordentlichen künstlerischen Leistungen bewundern konnten. Der Reichtum der Kirche bot zahlreiche Möglichkeiten für Künstler und Handwerker und schon bald entstanden in Rom Institutionen wie die Accademia di San Luca (1577), die sich der Ausbildung zukünftiger Künstler widmeten. Roms Bedeutung als Zentrum der künstlerischen Ausbildung ist auch an der Anzahl ausländischer Künstler ersichtlich, die zu Studienzwecken in die Stadt kamen, sowie an der Gründung solcher ausländischen Akademien wie der Académie de France (1661). Folglich wurde der Ruf der Stadt, ein Zentrum künstlerischer Exzellenz zu sein, ein immer wichtigerer Aspekt der Selbstdarstellung, der aktiv vom Pontifikat gefördert wurde, dessen Sammlungen in den Vatikanischen Museen zudem zu den ersten zählten, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Die Kunst wurde Teil der Identität und des historischen Erbe Roms, wie sie seit dem 17. Jahrhundert in den von Pilgern und Kunstreisenden gekauften Reiseführern gefeiert wurde.15 Aber Rom war nicht nur ein Zentrum für die Auftragsvergabe und Schaffung innovativer Kunst, sondern zunehmend auch ein Zentrum für deren Handel und Verbreitung. Während des 17. Jahrhunderts eröffnete eine Vielzahl an Läden, die sich auf den Verkauf von Gemälden und antiken Objekten spezialisierten. Zugleich waren immer mehr Mittelsmänner und Kunsthändler mit der Auftragvergabe und dem Handel von Kunstwerken befasst. Des Weiteren entwickelte sich im damaligen Rom ein anonymer Kunstmarkt, auf dem Kunsthändler wie Pellegrino Peri (1624–1699) tätig waren. Diese beschäftigten zugewanderte ausländische Maler um Auftragsarbeiten auszuführen, die dann an die jeweiligen Sammler verkauft wurden.16
Die Dynamik, wie sie einst von den Innovationen der Barockzeit ausgegangen war, schwand ab Ende des 17. Jahrhunderts. Dennoch konnte Rom noch das ganze 18. und 19. Jahrhundert hindurch seine Vorrangstellung als Zentrum der künstlerischen Produktion erhalten.17 Dieses beruhte auf der Konzentration herausragender Kunstwerke in Rom, die den Kanon des europäischen Kunstgeschmacks bestimmten, zum anderen auf den Institutionen und der Infrastruktur, wie sie sich in Rom entwickelt hatte (Kunstakademien genauso wie der Kunstmarkt) und sowohl Künstler als auch Sammler anzog. Ein Aufenthalt in Rom wurde als Vorteil in der Karriere eines jeden aufstrebenden Künstlers oder Architekten gewertet. In der Tat war es Roms unbestrittener Ruf als Metropole der Künste und das antike Erbe der Stadt, die lange, wenn nicht sogar bis heute, die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt entscheidend prägten.18
Städte der Druckkunst: Von Venedig nach Antwerpen und Amsterdam
Bei Beginn des 16. Jahrhunderts erlaubte die weite Verbreitung von Druckerpressen und die damit zusammenhängende Entwicklung der Druckkultur von Städten als Metropolen der Literatur zu sprechen: Zentren des literarischen Schaffens und Konsums, wie es selbst Florenz, eine Perle des Humanismus zurzeit der Renaissance, nicht waren. Venedig beispielsweise konnte wie andere Renaissancestädte auf eine reiche humanistische Tradition zurückblicken, unterschied sich aber von diesen aufgrund der Geschwindigkeit mit der sich Druckerpressen in der Stadt verbreitet hatten. Der Reichtum, den die Lagunenstadt aus dem Handel erwirtschaftet hatte, bedeutete, dass genug Kapital vorhanden war, das in die neuen Druckpressen investiert werden konnte. Im Jahre 1500 kannte man bereits 150 Druckerpressen in Venedig, die über 4.000 Ausgaben verschiedener Bücher produzierten. Diese Produktionsleistung entsprach zwischen einem Achtel und einem Siebtel der Gesamtproduktion von Büchern in Europa zu diesem Zeitpunkt. Als Zentrum des Buchdrucks war Venedig zugleich Zentrum des Austauschs von Ideen. So verwundert es auch wenig, dass zwanglose Akademien im Umkreis von Verlegern wie Aldus Manutius (ca. 1450–1515) entstanden.19 Venedig war zudem eines der frühesten Zentren des Notendrucks. Diese Tatsache spiegelte sowohl die reiche musikalische Tradition der Stadt wider, als auch den internationalen Ruf, den sie für ihre spezielle Fertigkeiten auf dem Gebiet der Druckkunst genoss und der Komponisten und Musiker aus ganz Europa nach Venedig reisen ließ.20
Der Ruf Venedigs, die führende Stadt der Druckkultur zu sein, wurde zuerst von Antwerpen und dann, während des 17. Jahrhunderts, zunehmend auch von Amsterdam infrage gestellt. Für die beiden Städte, genauso wie zuvor für Venedig, war es der durch den internationalen Handel erwirtschaftete Reichtum, und damit der Zugang zu zinsgünstigem Kapital, der unternehmerische Investitionen in die neue Technologie der Druckpressen begünstigte. In der Mitte des 16. Jahrhunderts gründete Christoph Plantin (ca. 1520–1589) eine "Druckfabrik" namens De Gulden Passer (Der Goldene Kompass) in Antwerpen, in der 160 Arbeiter an 22 Druckpressen arbeiteten und Bücher und andere gedruckte Produkte in verschiedenen Sprachen und Schrifttypen für den ganzen europäischen Markt herstellten.21 Als Amsterdam im 17. Jahrhundert Antwerpen als wichtigste Handelsmetropole Europas ablöste, übernahm die Stadt neben den Handelsverbindungen gleichzeitig einen aufnahmefähigen Markt für den Massenexport gedruckter Bücher, hierunter englischsprachige Bibeln, hebräische Texte für Interessenten in Osteuropa und verbotene Texte für Oppositionelle im benachbarten Frankreich.22 Als Handelsstadt mit einer republikanischen Regierungsstruktur war Amsterdam frei von der Zensur von Politik und Religion wie sie die Debatten anderswo in Europa unterdrückte. So strömten auch zahlreiche politische und religiöse Flüchtlinge nach Amsterdam und in die nördlichen Niederlande und brachten ihre Wissenschaftstraditionen und Ideen mit, zu deren Verbreitung Amsterdam mit seiner Tradition der Druckkultur und seinen ausgebauten Handelsnetzwerken wiederum maßgeblich beitrug.23 Am wichtigsten aber war, dass Amsterdam sich zu einem Zentrum der Nachrichtenmeldungen und Zeitungsproduktion entwickelte und damit eine Kommunikationsform schuf, die heute in der ganzen Welt allgegenwärtig ist. Amsterdam war damals sowohl intellektueller als auch kommerzieller Umschlagplatz.24
Neue Förderer und Verbraucher: Von der Aristokratie zum Bürgertum
Rom und Florenz genossen auch noch im 18. und 19. Jahrhundert den Ruf, Zentren literarischer und künstlerischer Exzellenz zu sein. Dieser Ruf war jedoch in erster Linie historisch bedingt und beruhte mehr auf altem, als auf neuem Glanz. Zeitgenossen vertraten vielmehr die Meinung, dass sich der für das künstlerische Schaffen unabdingbare Impuls nach Norden und Westen in Städte wie Paris und London, in geringerem Maße auch Berlin, Wien und Dresden verlagert hatte. In den letzteren Städten trat der vor Ort residierende Hof und Adel als Auftraggeber in Erscheinung und verlieh dem künstlerischen Schaffen ein Ansehen, das sowohl Künstler als auch andere Verbraucher anzog. In den Haupt- und Residenzstädten wurden die Künste dazu genutzt, das Projekt eines aufgeklärten Absolutismus voranzutreiben und die Autorität des jeweils regierenden Fürsten zu legitimieren und zu verherrlichen.25 Das ganze 18. Jahrhundert blieben alle Kunstformen von königlichen und adligen Aufträgen, ob in der Form von Vorbestellungen oder Bezuschussungen, abhängig.26 Wenngleich Kunst, Musik und Literatur selbstverständlich ihren Preis hatten, ist doch festzustellen, dass sich der Markt für kulturelle Produkte im 18. Jahrhundert mit der steigenden Bedeutung des städtischen Bürgertums als Konsumenten künstlerischer und literarischer Werken, an deren Produktion sie teils auch teilhatten, ausdehnte. Dieser Wandel führte zu weiteren Entwicklungen, wie beispielsweise der Entstehung von professionellen Kunstmärkten in den Städten. Ebenfalls entstand eine Kultur des öffentlichen Betrachtens, der öffentlichen Diskussion und der öffentlichen Bewertung von Kunstwerken, kurz, der Definition von künstlerischem Geschmack; ebenso entstand eine allgemeine Kommerzialisierung der Künste und was im weitesten Sinne als Freizeit bezeichnet werden kann. Überall in Europa setzte sich schon bald die Auffassung durch, dass die Wertschätzung und Förderung der Künste ein Indiz für den zivilisatorischen Entwicklungsgrad einer Stadt oder eines Staates waren. Dieses sind Themen, welche die folgenden Absätze näher untersuchen.
Die Vermarktung von Kunst und die Definition von künstlerischem Geschmack
Am Beispiel von London zeigt sich deutlich, dass es die Verbraucher aus der Mitte der Gesellschaft waren, welche die rasante Entwicklung des Londoner Kunstmarkts im späten 17. Jahrhundert entscheidend prägten. Genauso wie London seine marktbeherrschende Rolle im internationalen Handel gegenüber Amsterdam errungen hatte, löste die schnell wachsende Stadt an der Themse schon bald ihren holländischen Konkurrenten im Kunsthandel ab. Im 17. Jahrhundert hatte der Reichtum der wohlhabenden Amsterdamer Mittelschicht eine rege Nachfrage nach kleineren Kunstwerken ausgelöst. Diese eigneten sich für das eigene Heim und stellten Szenen dar, die der Mittelschicht vertraut waren. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich beispielsweise auch die neue Bildgattung der Stadtlandschaften. Diese wurden von Hunderten von Künstlern hergestellt und dann zu Tausenden auf Aktionen angeboten, wo sie von Käufern verschiedener sozialer Schichten wie Kaufleuten, Handwerkern, Kunsthändlern und Kunstsammlern für den Privatgebrauch erworben wurden.27 Wie die Holländer waren die Londoner angeblich ebenfalls anspruchsvolle Kunden, deren Häuser voller Bilder, wenn nicht sogar voller herausragender Kunstwerke hingen. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte die Stadt an der Themse eine nicht kleine Künstlergemeinde, die der Nachfrage einer rapide wachsenden Bevölkerung nachkam, die über ausreichendes Einkommen verfügte, um Kunst zu kaufen und ihre Häuser damit zu schmücken.28 Der andere Teil des Marktes wurde von gut betuchten Kunstsammlern mit Gemälden (und Künstlern), die sie aus Europa mitbrachten, versorgt, oder aber sie kauften diese auf einer Auktion.29 Schon bald avancierte London aufgrund der Auktionen, wie sie regelmäßig in den Kaffeehäusern der Stadt stattfanden, zu einem der führenden Zentren für den Verkauf von Bildern in Europa. Immer wieder entstanden neue Märkte, so dass Käufer, denen Ölgemälde zu teuer waren, beispielsweise in Stiche investierten. Das Zusammentreffen von hoch qualifizierten Handwerkern, darunter viele Hugenotten, die vor Verfolgung in Frankreich nach London geflohen waren, und einer stark wachsenden Nachfrage der Londoner Mittelschicht, führte zu einem permanenten Wettbewerb und ständigen Neuerungen unter den Stechern. Die in Kupfer gestochenen Moralstücke – Modern Moral Subjects – von William Hogarth (1697–1764), in denen die Stadt London als Hintergrund seiner Satire und seines Sozialkommentars eine wichtige Rolle spielte, vereinten technische Innovation und die moralischen Werte des damals deutlich vom Bürgertum geprägten Marktes.30 London avancierte darüber hinaus auch zu einem Ausstellungszentrum, wo künstlerische Geschmacksrichtungen ernsthaft diskutiert wurden. Schon bald etablierten sich verschiedene Veranstaltungsorte: neben den vielfältig verwendbaren Räumen der Kaffeehäuser und den Verkaufssälen der Auktionshäuser auch solche öffentlichen Räume wie das Foundling Hospital, einer im Jahre 1739 gegründete Findlinganstalt, wo Hogarth und Joseph Highmore (1692–1780) ihre Werke ausstellten, und die im Jahre 1768 gegründete Royal Academy of Arts (Königliche Akademie der Künste), in der Ende des 18. Jahrhunderts die alljährliche Ausstellung für reichlich Gesprächsstoff sorgte.31 Im Fall von Paris haben Historiker mit der Einrichtung des Salons im Jahre 1737 eine gleichartige Verlagerung der Kunstförderung festgestellt; auch hier war diese nicht mehr ausschließlich privat und das Privileg der Aristokratie, sondern zunehmend öffentlich und von einem breiteren Publikum geprägt. Unter dem Salon verstand man in diesem Fall eine von der Académie royale de peinture et de sculpture (Königlichen Akademie der Malerei und Bildhauerei) im Louvre veranstaltete Gemäldeausstellung, die, ungewöhnlich für die damalige Zeit, für die allgemeine Öffentlichkeit zugänglich war. Im Jahre 1781 zog sie bereits etwa 30.000 Besucher an und es wurden nicht weniger als 10.000 Kataloge gedruckt.32 Wenngleich sich viele über den Einmarsch der "Vulgären" in das Reich des "Geschmacks" beschwerten, gab es kein Zurück mehr. Sowohl in Paris als auch in London avancierten Geschmack und Kennerschaft durch Zeitungen und Zeitschriften sowie Kaffeehäuser und Salons zu Themen der öffentlichen Diskussion, wobei auch hier der Einfluss der Aristokratie zunehmend dem des Bürgertums weichen musste.33
Druckkultur und städtischer Raum
Die Druckkultur war also die Basis, auf der das öffentliche Interesse an Kunst aufbaute. In der Tat war die Entwicklung der Kunstwelt untrennbar mit ihrer literarischen Umgebung verbunden. In ganz Europa erlaubten fallende Preise und erhöhte Produktion, dass Drucke zu einem erschwinglichen und zugänglichen Merkmal des städtischen Lebens wurden. Aus Gründen der staatlichen Zensur, aber auch Fragen der Infrastruktur, Logistik und Märkte, konzentrierte sich die Zeitungs- und Buchproduktion stark in den Hauptstädten, insbesondere in Wien, Paris und London. Neue Publikationsformen, wie Periodika und wissenschaftliche Zeitschriften, und neue Buchgattungen, wie Romane und Aufsatzsammlungen, boten Schriftstellern und Verlegern ein immer weiteres Spektrum an Möglichkeiten; dagegen fanden in den Kaffeehäusern, Salons, Leihbüchereien und der wachsenden Zahl an Buchläden zunehmend literarische Diskussionen und Debatten statt.34 Meilensteine des Verlagswesens, wie die Veröffentlichung der 28 Bände umfassenden Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers,35 dem maßgeblichen Text der Aufklärung,36 zeugten von dem hohen Entwicklungsstand der Pariser Druckindustrie und den literarischen und physischen Räumen der Kommunikation im Paris der damaligen Zeit. Diese erlaubten es auch der für das Zeitalter der Aufklärung bezeichnenden Kultur der Debatte und des Hinterfragens sich zu entfalten. Wie Robert Darnton aber gezeigt hat, war die kostengünstige und verbotene Druckkultur noch weiter verbreitet und noch wirkungsvoller, um die subversiven Ideen der vorrevolutionären Ära durch die Kommunikationsnetzwerke des Paris des 18. Jahrhunderts zu verbreiten.37 Die Möglichkeit vom Schreiben zu existieren zog viele Schriftsteller, wie auch bildende Künstler und Musiker in die Metropolen, wo sie sich oftmals in bestimmten Stadtteilen, wie beispielsweise Grub Street in London (ein Name, der heute für geringe literarische Qualität bzw. nach Worten bezahlte Autoren steht), ansiedelten.38 Auf die gleiche Weise begannen Buchhändler sich mit der Verbreitung des Buchhandels in verschiedenen Teilen von London auf den Handel bestimmter Publikationen zu spezialisieren, genauer gesagt auf Romane und Zeitschriften in Covent Garden und Zeitungen und politische Schriften in der Nähe von Westminster Hall.39 Im 18. Jahrhundert, dem ersten Zeitalter prominenter Persönlichkeiten (in sich selbst ein Produkt der Druckkultur), war es möglich ein Literat oder "man of letters" zu werden, unter denen in London der Essayist und Kritiker Samuel Johnson (1709–1784) der namhafteste war. Es war Johnson, der den vielzitierten Satz prägte, wonach ein Mann, der London überdrüssig sei, wohl des Lebens selbst müde sein müsse. Das reichhaltige Potential, das London für literarische Darstellungen bot, wurde zuerst im 18. Jahrhundert als Mittel in der Satire und als Hintergrund für Romane von Daniel Defoe (1661–1731) bis Fanny Burney (1752–1840) genutzt.40
Die Musik und der transnationale Austausch
Die Entstehung eines für die Öffentlichkeit zugänglichen Musik- und Theaterlebens ähnelte in vielerlei Hinsicht den Entwicklungen, die die Kunst und Literatur nahmen. So wich auch hier die Gunst einer kleinen höfischen Elite einem viel kommerzielleren unternehmerischen System, in dem der Geschmack und die Mode des Bürgertums eine immer wichtigere Rolle spielten. Die in Venedig geborene Opernsängerin Teresa Cornelys (1723–1797) war die bekannteste Vertreterin der neuen Art von Musikmanagern in London.41 Hauptstädte wie London und Paris entwickelten sich gerade deshalb zu kulturellen Mittelpunkten, weil sich Möglichkeiten des unternehmerischen Erfolgs in den Künsten boten und weil sie den Ruf erworben hatten, Zentren der Mode, des Geschmacks und der Neuerungen zu sein.42 Als Regierungssitze, Treffpunkte der gesellschaftlichen Elite und Drehscheiben des Handels übten diese Städte eine starke Anziehungskraft auf das kulturelle Leben der Nation aus. Das Theater, die von der feinen Gesellschaft bevorzugte Form der Unterhaltung, nahm eine immer bedeutendere Stellung ein: Am Vorabend der Revolution konnten die Theater in Paris bei einer Bevölkerung von ca. 650.000 Menschen mit insgesamt 13.000 Sitzplätzen aufwarten; in London erlaubte die Gesetzgebung nicht mehr als drei Theater, dessen größtes in Covent Garden am Ende des 18. Jahrhunderts über 3.600 Sitzplätze verfügte.43 Die Anzahl und Qualität der Theater wurde schon bald zum allgemein gültigen Maßstab, an dem der Anspruch einer Stadt Zentrum der Gesellschaft, Kunst und Mode zu sein, gemessen wurde. In Großbritannien war die Oper eine noch viel teurere Form der Unterhaltung und zog ausschließlich ein sehr exklusives Publikum an, wobei es bemerkenswert für die damalige Zeit war, dass sie kommerziell betrieben wurde und damit nicht von der Unterstützung einer kleinen höfischen Elite, sondern von Kartenverkauf und vor allem von Abonnements abhängig war.44 Für die Personen aber, die aufgrund der exorbitanten Preise von diesem Vergnügen ausgeschlossen waren, gab es in kommerziell betriebenen Lustgärten wie Vauxhall Gardens musikalische Darbietungen, die wesentlich bezahlbarer waren; hier kostete der Eintritt lediglich einen Shilling.45
Anderswo in Europa, in italienischen Städten wie Neapel, Venedig und Rom oder deutschen Städten wie Dresden, sollte das Musik- und Theaterleben mangels bedeutender kommerzieller und industrieller Entwicklungen vor Ort einen noch größeren Stellenwert erlangen. In diesen Städten trugen die musikalische und schauspielerische Darbietungen entscheidend zu der städtischen Wirtschaft bei, wobei sie sowohl dem Interesse des vor Ort residierenden Adels als auch der Nachfrage wohlhabender Reisender nachkamen. Zu einem wesentlichen Teil waren sie dabei von privater als auch von der Monarchie oder dem Adel erbrachter Förderung abhängig.46 Venedig, der Geburtsort der Oper, konnte mit nicht weniger als sieben Bühnen aufwarten, mehr als jede andere Stadt in Europa. In Neapel beeindruckte das prächtige, unter königlicher Schirmherrschaft stehende Teatro San Carlo, welches allein schon eine Touristenattraktion war.47 Musiker, die in Neapel oder Venedig ausgebildet wurden, waren in ganz Europa gefragt: Im Jahre 1734 beispielsweise war der Kastratensänger Farinelli (Carlo Broschi, 1705–1782) im Rahmen einer ein Jahrzehnt andauernden Konzertreise und nach Stationen in Rom, Wien, Neapel, Mailand, Bologna, München, Venedig und noch einmal Wien in London zu Gast; er konzertierte zuletzt dann noch in Paris und Madrid.48 Auf ähnliche Weise reisten Metastasio (Pietro Trapasisi, 1698–1782), dessen Libretti für die opera seria in alle großen Sprachen des damaligen Europas übersetzt wurden, und Carlo Goldoni (1707–1793), der venezianische Librettist, der entscheiden dazu beitrug, die opera buffa in eine anerkannte Kunstform zu verwandeln, von einer Musikmetropole des 18. Jahrhunderts zur nächsten: von Rom nach Wien, von Venedig nach Paris.49 Die Karriere Farinellis veranschaulicht beispielartig das Netzwerk, das zwischen den Zentren der musikalischen und insbesondere stimmlichen Ausbildung, den Zentren der königlichen und höfischen Macht und, wenn nicht identisch mit dem letzteren, den Zentren großer Zuhörerkreise bestand. Der Erfolg, den italienische Kastratensänger und später Opernsänger, Komponisten, Virtuosen und reisende Musikensembles in ganz Europa vor zunehmend modernen bzw. städtischen Zuhörern feierten, wäre ohne die Existenz dieses Netzwerks undenkbar gewesen. Als der Hof und der Adel begannen sich permanent in den Städten aufzuhalten, wurde auch die musikalische Ausbildung immer mehr zu einer städtischen Angelegenheit, die sich im 19. Jahrhundert dann in der Gründung von Konservatorien widerspiegeln sollte. Wenngleich die italienischen Ausbildungszentren für den Aufstieg von Musikstars wie den Kastratensängern und später den Opernsängern eine Schlüsselrolle beibehalten sollten, waren es doch bald europäische Hauptstädte wie Paris, London und Wien, die über ihren Erfolg entscheiden sollten. Es ist nicht schwer zu verstehen warum dieses so war: Zum einen brauchten die Superstars der Musikszene große Zuhörerkreise, wie sie nur die großen Städte boten; zum anderen waren sie zunehmend von der Presse abhängig, die nicht nur ihren Erfolg feierte und verbreitete, sondern auch eine Atmosphäre der Erwartung und Vorfreude in den Städten schuf, in denen sie auftraten.50 Dieses führte schließlich dazu, dass eine kleine Anzahl von Musikmetropolen – Paris, Mailand, Dresden und Wien – über den musikalischen Geschmack und den Erfolg aufstrebender Talente im 18. und 19. Jahrhundert entschied.
Der Aufstieg von Paris
Wenigen Städten ist in der Literatur, der Kunst und der Wissenschaft soviel Aufmerksamkeit geschenkt worden wie dem Paris des 19. Jahrhunderts.51 Walter Benjamins (1892–1940) Passagen-Werk folgend, in dem Paris als die "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" bezeichnet wurde,52 interpretierten Wissenschaftler die Stadt auf die verschiedenste Art und Weise: als Verkörperung der Revolution, der Moderne, dem Spektakel der kaiserlichen und bürgerlichen Repräsentation sowie als kulturelle und künstlerische Hauptstadt der Welt. Die außergewöhnliche Aufmerksamkeit, der Paris zuteil wurde, und der Einfluss, den die Stadt auf andere künstlerische und literarische Metropolen hatte, sind einmalig in der modernen Geschichte.53 Der literarische und künstlerische Ruf der einflussreichsten Pariser Schriftsteller und Künstler des 19. Jahrhunderts – Honoré de Balzac (1799–1850), Charles Baudelaire (1821–1867), Émile Zola (1840–1902) und die Impressionisten, um nur einige zu nennen – reichte weit über die Stadtgrenze der französischen Metropole hinaus. Jeder einzelne von ihnen verschrieb sich der Aufgabe Paris auf ganz individuelle Art darzustellen, wobei sie sich alle der neuen Poesie der städtischen Moderne bedienten. Baudelaires Gedichtband Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen, 1857) ist in vieler Hinsicht ein Werk, das sich der Modernisierung bzw. der Haussmannisierung der französischen Hauptstadt während des Zweiten Kaiserreichs widmet; hierbei sah der Dichter in diesem Projekt genauso viele Zeichen des positiven Wandels wie des Verfalls. Als einer der einfühlsamsten Autoren der modernen Stadt und als Erfinder des Konzepts des flâneur (wie Benjamin es später verherrlichen sollte) war er darüber hinaus sehr interessiert und extrem einflussreich im Bereich der anderen Künste, insbesondere der Malerei, Skulptur und Musik. Während sein literarischer Erfolg ebenso auf die Neuartigkeit und den herausfordernden Charakter seiner Themen wie auf sein schriftstellerisches Genie und Können zurückzuführen war, lässt sich der beispiellose, weit über Paris hinausreichende, ja in ganz Europa zu verzeichnende Erfolg insbesondere damit erklären, dass er das künstlerische Leben im Paris der damaligen Zeit analysierte und beschrieb und die dort ansässigen Künstlerszene in ein über die Hauptstadt hinausreichendes Netzwerk eingebunden war.54
Das Beispiel Baudelaires zeigt, wie Paris damals als Metropole der Literatur und Kunst andere große Städte in den Schatten stellte. In der Tat geschah es in der französischen Hauptstadt, dass sich mit der großen Ansammlung von akademischen wie professionellen Kunstinstitutionen, dem harten Wettbewerb in Kunst, Musik und Theater, dem Aufleben der Salons, der ungezwungenen Lebensart der Bohemiens und dem Entstehen neuer Kunstbewegungen ein grundlegender Wandel vollzog. Die neue, moderne Stadt und ihre besonderen Merkmale, wie etwa die extreme Bevölkerungsdichte, die sozialen Unterschiede, das Luxusleben der Oberschicht und die flânerie, wurden selbst zu einem Thema der Kunst.55 Die französische Malerei der Romantik, die exemplarisch gerne mit dem Gemälde Die Freiheit führt das Volk (1830) von Eugène Delacroix (1798–1863) in Verbindung gebracht wird, hatte bereits angefangen, die Stadt der Gegenwart zu ihrem Hauptgegenstand zu erheben. Das Entstehen der illustrierten und satirischen Presse sowie das Auftreten professioneller Karikaturisten sind zwei weitere Phänomene charakteristisch für die Julimonarchie.56 Honoré Daumier (1808–1879), dessen Karikaturen heute als eigenständige Kunstwerke ein hohes Ansehen genießen, machte sich in der bis dahin stark regulierten Kunstwelt durch die Zeitschrift La Caricature einen Namen.57 Nach dem Fall von Louis-Philippe I. (1773–1850) im Jahre 1848 und der Entstehung des Zweiten Kaiserreichs begann der Realismus zunehmend den öffentlichen Raum, einschließlich der inzwischen weniger restriktiven Salons, für sich in Anspruch zu nehmen. Gustave Courbet (1819–1877) proklamiert so auch in seinem Manifest des Realismus (1855), dass Kunst fortan nicht mehr im Dienste der kaiserlichen Repräsentation stehen würde. Wenngleich die großen Weltausstellungen, wie die Exposition Universelle von 1855, in deren Rahmen das Manifest verkündet wurde, in erster Linie dazu dienten, die jeweils regierenden Regime und die Fortschritte auf den Gebieten der Industrie und des Handels zu glorifizieren, sollte nicht vergessen werden, dass diese Ausstellungen auch große städtische Veranstaltungen waren, die oftmals mit wesentlicher Kommunalfinanzierung in den großen Städten organisiert wurden. Sie sprachen die städtische Öffentlichkeit an und boten neuer Kunst, die ganz neue Ziele verfolgte, eine Plattform. Courbets Pavillon du Réalisme, den der Künstler am Rande der Exposition Universelle aufstellte, illustriert deutlich, wie vielfältig und inspirierend Weltausstellungen sein konnten. Im Zusammenhang der für Paris so kennzeichnenden Konfrontation zwischen den etablierten und von offizieller Seite unterstützen Künstlern und der immer größer werdenden, nach neuen Ausdrucksformen suchenden Gruppe an unabhängigen Künstlern, ist auch die Abspaltung der Société Nationale des Beaux-Arts von der Société des Artistes Français im Jahre 1890 von großer Bedeutung. Dieser Bruch, der häufig als das erste Beispiel einer künstlerischen Sezession genannt wird, folgten gleichartige Entwicklungen in anderen künstlerischen Zentren Europas.58 In Paris gingen aus dieser Entwicklung zwei gleichermaßen prestigeträchtige Salons hervor, die die Kunstszene des ganzen Kontinents für Jahrzehnte dominieren sollten: der Salon du Champs de Mars und der Salon de Champs-Élysées.
Im 19. Jahrhundert löste Paris andere europäische Städte als touristisches Reiseziel und bevorzugter Ort der künstlerischen Ausbildung ab. Während sich noch immer viele auf eine Reise nach Italien begaben, wurde ein Aufenthalt in den Künstlervierteln von Paris schon bald ausschlaggebend für den Erfolg so vieler Künstler in ganz Europa, dass es im Rahmen dieses kurzen Beitrags nicht einmal möglich wäre, deren wichtigsten Namen zu nennen. Die Geburt und Entwicklung des Jugendstil in Berlin und München und der Sezession in Wien – oder vergleichbare Entwicklungen in Ost- und Mitteleuropa, wie beispielsweise die Entstehung der Zeitschrift Mir iskusstva (Die Welt der Kunst) in St. Petersburg – wäre ohne den intensiven Kontakt mit den künstlerischen Zentren in Paris, ob dem art nouveau verpflichtet oder nicht, unmöglich gewesen. Die Bewegung der Wiener Sezession, einer großen und sehr vielfältigen Gruppe von Künstlern, die sich in ihrer Abwendung von der vom Historismus dominierten akademischen Kunst der wichtigsten offiziellen Institution, dem Künstlerhaus, locker verbunden fühlte, hatte zum Ziel, eine Kunst ohne historisches Vorbild und ganz nach neuen ästhetischen Kriterien zu schaffen. Sie war weitgehend dafür verantwortlich, dem örtlichen Publikum den französischen Impressionismus nahezubringen. Zugleich wies ein Abkömmling der Sezession, die von Josef Hoffmann (1879–1956) und Koloman Moser (1868–1918) gegründete Wiener Werkstätte, eine viel engere Beziehung zu der britischen Arts-and-Crafts-Bewegung auf.59 Wie im Florenz und Amsterdam der Frühen Neuzeit wäre auch die Entwicklung der Kunstrichtung des Fin de siècle ohne eine große Gruppe von Kunstförderern und Kunstkennern, die der Bewegung die benötigte finanzielle Unterstützung boten, sowie einer aufmerksamen und enthusiastischen Öffentlichkeit unmöglich gewesen. Parallel dazu thematisierten Schriftsteller auch in anderen Hauptstädten die moderne Stadt in ihren Werken. Charles Dickens (1812–1870) in London, Arthur Schnitzler (1862–1931) in Wien, Franz Kafka (1883–1924) in Prag und Fyodor Dostoyevsky (1821–1881) in St. Petersburg sind lediglich die bekanntesten Schriftsteller, die in Kontakt miteinander, aufeinander eingehend, als auch in Reaktion auf das Werk von Balzac, Baudelaire und Zola ihre eigenen Visionen der modernen Metropole der Literatur schufen.60
Wenn auch die Wahl, die Stadt in der Kunst darzustellen, sowohl in Paris als auch anderswo eine lange Geschichte hat, so sind es vielleicht die Werke der Impressionisten, die einem zuerst in den Sinn kommen, wenn man an Kunst in der modernen Metropole denkt. Einer ganzen Reihe an Gemälden – angefangen mit Auguste Renoirs Ball im Moulin de la Galette (Bal du Moulin de la Galette, 1876), Claude Monets (1840–1926) Bahnhof Saint Lazare (Gare Saint Lazare, 1877), Édouard Manets (1832–1883) Bar in den Folies-Bergères (Un bar aux Folies-Bergères, 1881–1882) und den erst vor kürzerer Zeit wiederentdeckten Werken von Gustave Caillebotte (1848–1894), darunter Die Parkettschleifer (Les raboteurs de parquet, 1875), Die Europabrücke (Pont de l'Europe, 1876) und Straße in Paris an einem Regentag (Rue de Paris un jour de pluie, 1877) – gelang es, ein jedes auf seine Art, eine völlig neue Tradition der Darstellung der Stadt zu schaffen.61 Die Gründung einer Künstlerkolonie in Montmartre hatte zudem einen tiefgreifenden Einfluss auf die weitere Entwicklung von Paris und anderer Städte als Künstlermetropolen. Die Société des Artistes Indépendants wurde im Jahre 1884 in Paris ins Leben gerufen und sollte mit ihrem jährlichen Salon des Indépendants neben dem im Jahre 1903 von Frantz Jourdain (1847–1935) gegründeten Salon d'Automne jahrzehntelang die Kunstszene dominieren. Der Impressionismus blühte, neben anderen, weniger etablierten Kunstrichtungen im Grenzbereich zwischen Kunst, Innovation und populärer Kultur, auf und verbreitete sich dank eines engen Netzes an Künstlern und Institutionen auf dem ganzen Kontinent.
Kultureller Austausch in Architektur, Theater und Musik zurzeit des Fin de siècle
Die Art, wie neue, innovative Strömungen, beispielsweise der Impressionismus, die Karikatur, die Varieté- und Singspieltheater, die Music Hall und das Vaudeville, die Operette und das Kabarett, und die etablierte Populärkultur im täglichen Leben aufeinander wirkten, findet neuerdings viel Beachtung in der Wissenschaft.62 Überall auf dem Kontinent entstanden damals neue künstlerische und literarische Kreise, die sich in Kaffeehäusern trafen, dort diskutierten und manchmal sogar dort lebten – und damit ein weiteres charakteristisches Merkmal der modernen Metropole der Literatur und Kunst waren. In einer parallelen Entwicklung, wie sie das musikalische Leben der europäischen Metropolen der damaligen Zeit betraf, konnte eine allmähliche Diversifizierung sowohl der Musikgattungen als auch des Publikums beobachtet werden. Während die Opernhäuser, trotz wiederholter Versuche das Genre der Oper und deren Publikum zu reformieren, weiterhin der Selbstdarstellung der Oberschicht dienten,63 etablierten sich Music Halls, Varieté- und Singspieltheater, Operettenhäuser und Komödienhäuser mit einem eindeutig anderem Repertoire als Veranstaltungsorte für die Mittelschicht. Als die Haussmannisierung über den europäischen Kontinent hinwegfegte und die Städte vor dem Hintergrund neuer städtebaulicher Ideale und dem Wunsch historistischer Repräsentation neu angelegt wurden, spiegelten die Plätze der verschiedenenartigen kulturellen Veranstaltungen den symbolischen Wert, den die herrschende Elite mit den jeweiligen Kunstformen verband, wider: Während Opernhäuser entlang der repräsentativsten Boulevards und Plätze gebaut wurden, entstanden die anderen Bühnen an weniger zentralen und weniger angesehenen Standorten. Ironischerweise aber waren Viertel umso städtischer, je weiter sie von den Prachtavenuen entfernt lagen.64 Der Palais Garnier in Paris und die Semperoper in Dresden wurden von den führenden Architekten ihrer Zeit – Charles Garnier (1825–1898) und Gottfried Semper (1803–1879) – gebaut und waren das Vorbild für viele andere Opernhäuser in Europa, in denen die drei funktional voneinander getrennten Räume – das Foyer, der Zuhörer- bzw. Zuschauerraum und die Bühne – sowohl von Außen als auch von Innen klar zu unterscheiden waren. Dieses Baumodell diente auf dem ganzen Kontinent als Vorlage und beeinflusste die Gestaltung von Musikbühnen so verschiedenartig wie das Opernhaus Odessa (1887), das Wiener Burgtheater (1888) und das Teatro Massimo in Palermo (1897). Zugleich führten Richard Wagners (1813–1883) Neuerungen im Bereich der Bühnengestaltung und Rufe nach einer Umgestaltung des Zuhörer- bzw. Zuschauerraums, genauer gesagt der Reduzierung von Logen, um mehr Platz für Besucher aus der Mittelschicht zu schaffen, dazu, dass ein völlig neuer öffentlicher Raum entstand.65 Dieser erlaubte zuvor unmögliche soziale Begegnungen, bei der sich die Öffentlichkeit jedoch wesentlich gesitteter benahm, als das ungebärdige laissez-faire Publikum, für das die Opernhäuser vorher berüchtigt waren. Die Tatsache, dass dieser Bautyp bis zur Jahrhundertwende in Massen produziert werden konnte, und dass Architekturbüros wie Fellner & Helmer aus Wien in Mitteleuropa in ungefähr 30 Jahren mehr als 200 öffentliche Gebäude, zumeist Theater, bauen konnten, zeigt, wie eng die Netzwerke der Architektur, Kunst und Musik im Europa der Jahrhundertwende miteinander verflochten waren.66 Es waren diese Bühnen, auf denen die namhaften Künstler der damaligen Zeit – von Komponisten wie Franz Liszt (1811–1886) zu Sängern wie Enrico Caruso (1873–1921) und Schauspielern wie Sarah Bernhardt (1844–1923) – auftraten, als sie ihre Reisen durch Europa starteten.67 Es war auch zu dieser Zeit, dass die ersten reisenden Opernensembles entstanden, wie beispielsweise Angelo Neumanns (1838–1910) Wagner-Ensemble, welches nach Schätzungen allein in den Jahren 1882–1883 auf seinen Reisen durch Europa 135 Aufführungen des Rings des Nibelungen und 50 Wagner-Konzerte gab.68
Alle diese Entwicklungen führten dazu, dass Paris Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr die vorrangige Hauptstadt Europas war. Vielmehr gliederte sich eine immer größere Anzahl von Städten in die Reihe der alten Metropolen der Literatur und Kunst ein und beanspruchte mit diesen kulturell auf Augenhöhe zu stehen. Dieses kann auf zwei parallel verlaufende, zugleich verwandte Phänomene zurückgeführt werden: die Geburt einer wahren städtischen Kultur der Moderne und die Entwicklung eines modernen Nationalismus. Immer wieder entwickelten sich vorher weniger bedeutende Städte vor diesem Hintergrund zu Zentren der nationalen Literatur, Kunst und Kultur – Barcelona, Rom nach der Vollendung der Einheit Italiens (1870), Budapest nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich (1867), Prag um die Wende zum 19. Jahrhundert, Krakau, Lemberg, Kiew, Odessa, Moskau und die Hauptstädte der Balkanstaaten (Athen, Belgrad, Sofia), die aufblühten, nachdem das Osmanische Reich seine europäischen Territorien verloren hatte. Zur gleichen Zeit wurde Kunst bei den modernen nationalen Feiern genauso eingesetzt wie einst bei kaiserlichen Feiern und nahm eine immer wichtigere Rolle im städtischen Raum ein; alte städtische Zeremonien wurden wiederum der nationalen Agenda angepasst.69 Immer wieder wurde in den kulturellen Veranstaltungsorten vieler Städte diskutiert, ob die Künste international bleiben oder bevorzugt nationalen Zielen dienen sollten. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass insbesondere die Literatur, die Oper und das Theater unter Druck standen, sich mit Themen, die für die Nation wichtig waren, zu befassen; die Operette, das Komödientheater und das Varietétheater hingegen entwickelten sich zunehmend zu wahren städtischen Phänomenen.70 Die Literatur zu der Entwicklung nationaler Hauptstädte und deren Wettstreit mit kaiserlichen Zentren ist äußerst umfangreich, die zu kaiserlicher Repräsentation und kosmopolitischem Kulturleben in diesen Städten aber auch immer umfassender. Ein Aspekt, der besonders interessant ist, ist die neuere Forschung zu osmanischen Städten im 19. Jahrhundert, von der Metropole Istanbul hin zu regionalen Hauptstädten wie Thessaloniki, Aleppo, Beirut und Kairo. Was diese Forschung zeigt, ist was bereits für die "peripheren" Regionen in Ostmitteleuropa festgestellt wurde: zum einen, dass die kaiserliche Kultur keineswegs aufgrund der Modernisierungsprozesse zugrunde ging; zum anderen, dass die Entwicklung regionaler Metropolen weder ausschließlich von Kulturtransfers aus Westeuropa noch von dem Aufleben des modernen Nationalismus abhing.71
Städtische Künstlergruppen der Avantgarde im 20. Jahrhundert
In das 20. Jahrhundert fiel die Geburt der Moderne, mitsamt deren futuristischer und städtischer Poetik. In fast allen großen Städten fühlten sich die kleineren Avantgardekreise spezifischen Kaffeehäusern oder anderen städtischen Orten verbunden, waren zugleich aber auch in ständigem Kontakt mit ähnlichen Gruppen in anderen Städten. Ein Beispiel dieses kulturellen Phänomens ist die Entwicklung des Kubismus in Paris. Die sogenannte Montparnasse-Gruppe, der unter anderem Albert Gleizes (1881–1953), Jean Metzinger (1883–1956), Henri Le Fauconnier (1881–ca. 1945) sowie Robert Delaunay (1885–1941), Fernand Léger (1881–1955) und Marie Laurencin (1883–1956) angehörten, alles Künstler, die heute mit dem Kubismus gleichgesetzt werden, trafen sich und organisierten ihre Aktivitäten in einer Reihe von Cafés und Künstlerstudios in Montparnasse. Sie waren schließlich für die Hängung der Bilder im Salon des Indépendants verantwortlich und stellten sicher, dass bei der Ausstellung im Jahre 1911 alle kubistischen Werke in einem Raum gezeigt wurden. Dieses führte zu einem riesigen Skandal und bewirkte, dass der Kubismus schon bald eine der in Europa führenden künstlerischen Stilrichtungen wurde.72 Die Avantgarde und die Eigenheiten, die mit ihr in Verbindung gebracht wurden, wie beispielsweise der unkonventionelle Lebensstil seiner Anhänger, der Widerstand gegen die allgemein etablierten kulturellen Werte und gegen die Hochkultur als solches, waren im Wesentlichen städtische Phänomene, die nur in größeren Städten auftreten und sich dort entwickeln konnten. In diesem kurzen Beitrag können die verschiedenen künstlerischen und literarischen Gruppen, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Städten auftraten und deren Einfluss in manchen Fällen bis heute nachwirkt, nicht alle aufgezählt werden. Als die bekanntesten Beispiele seinen zumindest aber die folgenden genannt: der Dadaismus in Zürich und Berlin; der Kubismus, Fauvismus und Surrealismus in Paris; der Symbolismus in Paris, Brüssel und St. Petersburg; verschiedene Zweige des Expressionismus in Dresden, Berlin und München; der Futurismus in Rom, Moskau, St. Petersburg und Kiew; der Konstruktivismus in Moskau und anderen russischen Zentren; das Bauhaus in Weimar und Berlin; De Stijl in Amsterdam; sowie Einzelpersonen wie Oskar Kokoschka (1886–1980) und Egon Schiele (1890–1918) in Wien und Edvard Munch (1863–1944) in Paris, Berlin und Christiania (Oslo). Viele dieser Bewegungen und Künstler verherrlichten die moderne Metropole auf vielfältige Weise, und einige brachten auch grundlegende Kritik an der Gesellschaft der Moderne an. Wie bereits im Fall der Künstlerkolonie von Paris im 19. Jahrhundert, hätten diese im Kern städtischen Avantgardebewegungen ohne persönliche und professionelle Netzwerke, die oftmals auf gleichartiger Bildung beruhten und sich über ganz Europa hinweg erstreckten, nicht in der Art funktionieren, geschweige denn am Anfang des 20. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit den öffentlichen Raum derart dominieren können.73 Schon bald entstanden sich der Moderne verpflichtete Ausbildungszentren in Paris, Wien, München, Berlin und St. Petersburg, zwischen denen ein regelmäßiger Austausch von Künstlern bestand. Gleichzeitig setzten sich neue, auf die Moderne fokussierte Kunstzeitschriften – wie beispielsweise "Der Sturm" in Berlin – für die Ästhetik der Moderne und das literarische und künstlerische Schaffen ein. In diese Epoche fiel auch die Geburt der Moderne in der Musik: Die Kompositionen von Richard Strauss (1864–1949) und Béla Bartók (1881–1945) sowie Sergej Diagilews (1872–1929) Ballets Russes seien an dieser Stelle als die anschaulichsten Beispiele genannt. Zur gleichen Zeit gelangten die Stadtfotografie, der Journalismus und der Film zu Bedeutung: Fritz Langs (1890–1976) Film Metropolis und Dsiga Wertows (1896–1954) Film Der Mann mit der Kamera sind die herausragenden Beispiele einer Art Avantgardeehrung der modernen Stadt in diesem neuen Medium.74
Unter den vielen interessanten (aber auch besorgniserregenden) Phänomenen, die später mit der Generation von 1914, Génération au Feu oder auch Verlorenen Generation in Verbindung gebracht wurden, waren die Auswirkungen, die der Erste Weltkrieg auf Paris hatte. Die Stadt war immer eine ausgeprägt internationale Metropole gewesen; neben vielen anderen Künstlern und Literaten der Avantgarde hatten auch einige der wichtigsten Autoren der amerikanischen Moderne – Henry James (1843–1916), T. S. Eliot (1888–1965), F. Scott Fitzgerald (1896–1940) und Ernest Hemingway (1899–1961) – ein Jahrzehnt oder mehr in Paris verbracht und dort unter der Förderung von Gertrude Stein (1874–1946) – ihr geistiges Zuhause gefunden. Vor dem Hintergrund, dass "alle Götter tot waren, alle Kriege gekämpft worden waren, und jeder Glaube erschüttert worden war",75 hatten diese Künstler zur Entfaltung von Paris in eine Metropole der Literatur und Kunst und zugleich auch zur Entstehung der amerikanischen Moderne beigetragen. In der Tat charakterisierten parallele Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit das städtische Leben von Berlin und anderen Städten. Zu dieser Zeit entwickelten sich auch das Kabarett und der Jazz zu einem zentralen städtischen Phänomen.76
Fazit
Das 20. Jahrhundert zeichnet sich, unterstützt von schnellen technologischen Entwicklungen wie dem Radio, dem Fernsehen und des elektronischen Zeitalters, durch eine beispielslose Vielfalt des künstlerischen Ausdrucks und dessen Darstellung aus. Diesem Thema könnte man nur in einem eigenständigen Beitrag gerecht werden. Was der hier vorliegende Beitrag jedoch gezeigt hat ist, wie und warum bestimmte Städte eine herausragende Rolle in dem Prozess des künstlerischen und literarischen Schaffens und der Verbreitung und dem Austausch von künstlerischen und literarischen Werken eingenommen haben. Er zeigt auch warum es vielen von ihnen gelang, den guten Ruf ihrer Stadt über Generationen hinweg zu sichern. Obwohl wir heute in einer Welt leben, in der mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Städten lebt und durch persönlichen Kontakt und virtuelle Netzwerke immer enger miteinander verbunden ist, genießen noch immer bestimmte historisch geprägte Städte – Paris, Rom, London und Wien – einen hervorragenden Ruf für ihre kulturelle Kreativität, der zu einem großen Teil auf die historische Vergangenheit zurückgeht, wie sie in diesem Beitrag vorgestellt wurde.