Einleitung
Wissenschaft heute ist ohne Laboratorien undenkbar. Tatsächlich sind unser Begriff und unser Bild von Wissenschaft in tiefgreifender Weise durch jene besonderen Gebäude geprägt, in denen Spezialisten mit sehr großem technischem Aufwand an der Untersuchung von natürlichen Phänomenen und Prozessen arbeiten. Eine ganze Ikonographie stilisiert den Laborwissenschaftler inmitten ebenso komplizierter wie genauer Instrumente, wie er auf einen Gegenstand in seiner Hand, ein Modell neben seinem Körper oder in Richtung eines bunt leuchtenden Bildschirms blickt. Die damit verbundene Vorstellung des Labors wird durch die aktuellen Entwicklungen wissenschaftlicher Praxis zwar auch in Frage gestellt. Vor allem die großen Forschungszentren für Teilchenphysik, etwa das Fermilab in der Nähe von Chicago oder das CERN im Kanton Genf, sowie die wissenschaftliche Großunternehmungen der aktuellen Biologie, beispielsweise das Human Genome Project, haben zu einer netzwerkartigen Ausdehnung des Labors beigetragen, die kaum noch etwas mit dem traditionellen Bild von Table-top-Experimenten im geschlossenen Raum zu tun hat. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass das architektonisch umgrenzte Labor, ähnlich wie die Fabrik, der Bahnhof oder die Warenpassage, ein exemplarischer Ort der Moderne ist.1
Besonders im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts avancieren entsprechend gestaltete und ausgestattete Bauten zu zentralen Einrichtungen des Wissenschaftsbetriebs. Diesem Betrieb geht es nicht länger nur um den Erwerb individueller Bildung, sondern in zunehmendem Maße um die versachlichte Ausübung eines auf Innovationen abzielenden Berufs. Als Arbeitsplatz für den Chemiker, Physiker und Biologen, später auch für Psychologen, Archäologen oder etwa Sprachwissenschaftler wandelt sich das Laboratorium in dieser Epoche zu einem Raum des Wissens, der vor allem dazu dient, neue wissenschaftliche Tatsachen hervorzubringen. Ihrerseits sieht sich diese besondere Form der Hervorbringung einem ökonomischen Regime unterworfen, welches an Prinzipien der Spezialisierung, Mechanisierung und Standardisierung orientiert ist. Im Labor nimmt die Tätigkeit des Wissenschaftlers Züge der Fließbandarbeit an. Neuartige Fakten, so die häufig geäußerte Erwartung, manchmal aber auch die Befürchtung der historischen Akteure im späten 19. Jahrhundert, könnten dort nun im Sinne einer "Dutzendware" fabriziert werden.2
Es überrascht daher nicht, dass das Labor die oftmals gegenläufigen Tendenzen einer sich zunehmend industrialisierenden Gesellschaft aufnimmt und reflektiert. Wie eine Metropole im Kleinen ist das Laboratorium zunächst ein Ort, an dem Kombinationen und Konfrontationen von Mensch und Maschine, Körper und Technik, Organismus und Mechanismus stattfinden, deren Effekte registriert, gemessen und berechnet werden. Die vielgestaltige Materialität der Laborumgebung und ihrer Produkte bildet dabei einen Kontrapunkt zur Idealität wissenschaftlicher Kategorien und Werte, und die Sozialisierung des Forschungsprozesses kontrastiert mit der Individualisierung von Entdeckungen und Verdiensten – auf der persönlichen Ebene, allerdings auch dem Niveau ganzer Nationen. Darüber hinaus gerät die Routinisierung von Arbeitsabläufen immer wieder in Spannung zur Offenheit für das Unerwartete, die für die Tätigkeit des modernen Wissenschaftlers besonders charakteristisch ist. Dessen Aktivität wird zwar zur Arbeit, zur labour. Gleichzeitig muss er aber beständig darauf gefasst sein, mit seinem eigenen Alltag zu brechen, um dem Überraschenden, dem Neuen Raum und Zeit zu geben. Mit Blick auf eine sich selbst als fortschrittlich verstehende Gesellschaft lässt sich somit in der Tat sagen, dass das Labor einer der Orte ihrer "Verdichtung" ist. Das gilt in Hinsicht auf die Produktion des Neuen, aber auch bezüglich des Problems seiner Repräsentation. Es genügt nicht, eine neue wissenschaftliche Tatsache hervorzubringen, sie muss der Öffentlichkeit auch in geeigneter Weise mitgeteilt werden.3
Umso mehr darf verwundern, dass es bis heute keine Gesamtdarstellung zur Geschichte des Labors gibt. Dementsprechend weit ist man von einer vergleichenden Geschichte entfernt, die unterschiedliche nationale und kulturelle Traditionen der Laborforschung oder lokale Aspekte der "Laborrevolution" in unterschiedlichen Disziplinen erfassen würde. Nicht einmal Überblicksdarstellungen, wie sie für andere Räume des Wissens existieren – etwa die Klinik oder die Sternwarte – liegen in diesem Fall vor.4 Zwar haben sich im Gefolge des vor allem in der neueren Wissenschaftssoziologie erwachten Interesses für die ethnologische Erkundung des Laboralltags auch Wissenschaftshistoriker in den letzten Jahren immer wieder mit einzelnen Laboratorien auseinandergesetzt. Beispielsweise liegen detailreiche Studien zur Geschichte der physiologischen Laboratorien in Leipzig, Berlin und St. Petersburg vor, während für andere Disziplinen zumindest relevante Daten zur Entstehung und Ausbreitung von Laboratorien in bestimmten nationalen Kontexten zusammengestellt worden sind, beispielsweise für die deutschsprachige Physik sowie, in kleinerem Umfang, für die Ökologie, Ethologie und Evolutionsbiologie in den USA.5 Bislang fügen sich diese Beiträge jedoch nicht zu einem großen Bild. Und so unterschiedlich die genannten Studien im Einzelnen sind, sie zielen übereinstimmend auf eine Analogisierung von Labor und Fabrik, von Verwissenschaftlichung und Industrialisierung, ohne dabei ausdrücklich Platz für die Herausstellung von Unterschieden zu schaffen. Eine der Folgen ist, dass der Aspekt der Produktion gegenüber dem der Repräsentation ein Übergewicht erhält, das inhaltlich kaum zu rechtfertigen scheint. Aus der historischen Nähe betrachtet, ist das Labor nie nur ein Ort des Hervorbringens, sondern ebenso immer einer des Abbildens, Aufzeichnens und Aufschreibens gewesen.6 Selbst die Geschichte des Wissens von Laboratorien ist, wie wir sehen werden, stark von Zeichnungen und anderen Formen bildlicher Darstellung abhängig.
Laboratorien in der Frühen Neuzeit
Der lateinische Begriff laboratorium (zu lat. labor: Anstrengung, Mühe, Arbeit) wurde bereits im Mittelalter verwendet. Erst im späten 16. Jahrhundert nahm er aber die Bedeutung an, die in den modernen Sprachen bis heute nachwirkt. Im 14. Jahrhundert wurde unter laboratorium zunächst einfach eine Aufgabe oder Arbeit verstanden. Um 1450 lassen sich erste Verwendungen im Klosterkontext nachweisen, die sich auf Werkstätten bezogen. Anscheinend wurde der Begriff dabei parallel zu Ausdrücken wie scriptorium (Schreibstube) und dormitorium (Schlafsaal oder Zellengang) benutzt. Im 16. Jahrhundert bezeichnete laboratorium dann hauptsächlich Arbeitsstätten von Alchemisten, Apothekern und Metallurgen, um sich in der folgenden Zeit nach und nach auf alle Räumlichkeiten zu beziehen, an denen eine werkzeugbasierte Erforschung von natürlichen Phänomenen und Prozessen verfolgt wurde.7
Die moderne Verallgemeinerung des Laboratorium-Begriffs, die zugleich eine Fokussierung auf Wissenschaft bedeutete, erfolgte erst um die Wende zum 20. Jahrhundert. Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet dieser Begriff, wie z.B. die Brockhaus Enzyklopädie erklärt, einen "Arbeitsraum für wissenschaftliche und technische Versuche, Messungen, Auswertearbeiten, Kontrollen usw., mit den dazu erforderlichen Einrichtungen". In ähnlich allgemeiner Weise definiert das aktuelle Oxford English Dictionary "Labor" als ein "building set apart for conducting practical investigations in natural science".8
Die Geschichte des Labors ist aufgrund ihrer Ausrichtung auf die materielle Praxis der Wissensgewinnung in enger Verbindung mit der Geschichte des Anatomischen Theaters, des Kuriositätenkabinetts, der Botanischen Gärten, der Sternwarten und anderer Wissensräume zu sehen. Tatsächlich war eines der ersten Laboratorien, über das ausführliche Berichte vorliegen, in Uraniborg untergebracht, jenem Forschungszentrum, das im späten 16. Jahrhundert für den dänischen Astronomen Tycho Brahe (1546–1601) gebaut und eingerichtet worden war. Brahes schlossartiges Gebäude auf der Insel Ven im Öresund gliederte sich in drei Teile: das oberste Geschoss, das mit astronomischen Geräten ausgestattet war und zur Sternenbeobachtung diente, darunter ein Stockwerk mit Rechen- und Kartentischen, das mathematische Labor, sowie im Keller das Labor des Alchemisten. Einer der Grundgedanken für diese Aufteilung und Einrichtung war Brahes Annahme, dass sich Mikro- und Makrokosmos einander entsprechen: "Emporschauend sehe ich hinab, herabschauend sehe ich empor." Die Astronomie korrespondierte mit der Alchemie und vice versa, ohne dass jedoch an dieser Stelle deutlich würde, um welche Art von alchemistischer Tätigkeit es dabei im Einzelnen ging.9
Keine expliziten Bezüge zur Astronomie finden sich in den Stichen und Holzschnitten, auf denen im 16. Jahrhundert Laboratorien dargestellt wurden. Bei Hans Weiditz (ca. 1500–1536) etwa oder Pieter Brueghel dem Älteren (1525/1530–1569) erschient das Labor als unübersichtlicher Arbeitsraum, in dem eine Unzahl von Gefäßen und Werkzeugen herumliegt. Inmitten von Gleichgesinnten macht sich der Alchemist mit Blasebalg, Retorte und ähnlichem Gerät auf eine nicht näher bestimmte Weise an einer Feuerstelle zu schaffen.10 Im Unterschied dazu zeigt die Darstellung bei Brahe, aber auch das Chemikerhaus von Andreas Libavius (1555–1616), eine weitläufig anmutende Räumlichkeit, in denen die Instrumente so ordentlich verteilt sind, als warteten sie auf eine genau kontrollierte Benutzung.11
Ein Bild aus derselben Zeit zeigt die Grundbestandteile des alchemistischen Labors, das Graf Wolfgang II. von Hohenlohe (1546–1610) auf Schloss Weickersheim hatte einrichten lassen. Wie bei Weiditz und Brueghel bildet Paul van der Doort (um 1600) in diesem Kupferstich eine Feuerstelle samt Luftabzug ab, arrangiert Retorten und andere Gefäße aber sorgfältig auf Simsen, Regalen und Fensterbänken. Zudem handelt und hantiert der Alchemist auf dieser Darstellung nicht. Vielmehr ist er in andächtiger, ehrfurchtsvoller Pose den Büchern zugewandt.12 Ähnlich statisch, allerdings weniger hell und übersichtlich geht es auf den Gemälden von David Teniers dem Jüngeren (ca. 1610–1690) zu, der während des 17. Jahrhunderts das Motiv "Alchemist im Labor" in vielfachen Variationen gemalt hat. Bei diesen Gemälden handelt es sich allerdings um stark konventionalisierte Darstellungen, die sich weniger an der zeitgenössischen Laborwirklichkeit als an anderen Genrebildern und Stillleben orientierten.13
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts avancierte das Labor des Alchemisten zum ersten Ankerpunkt für eine neue Art von Wissenschaft. Ziel dieser Wissenschaft war es, durch konkrete Handlungen nützliche Erkenntnisse über die Natur zu gewinnen und damit insgesamt auch zu einer Erneuerung der Welt beizutragen. So vertraten Francis Bacon (1561–1626) und Robert Boyle (1627–1691) die Ansicht, dass die menschliche Kunst die Natur "herausfordern" sollte, um sie im Dienste der Wahrheit und Nützlichkeit zu "bemeistern". Besonders Boyle, der als Chemiker und Physiker im eigenen Labor experimentierte, etablierte eine Praxis, in der entsprechende Versuche unter Anteilnahme eines gelehrten Publikums durchgeführt und in möglichst nachvollziehbarer Weise veröffentlicht wurden. Dieser neuen, aktiven Methode des "Philosophierens" verschrieben sich auch die ersten Wissenschaftsakademien, die Academie dei Lincei in Rom (1603), die Academia Naturae Curiosorum (später Leopoldina) in Schweinfurt (1652) sowie die Royal Society in London (1660).14
Wenn die frühe Ikonographie des Labors neben Instrumenten immer wieder auch Bücher zeigt, hat dies also durchaus seinen Sinn. Damit wird eine neuartige Synthese von manuellem und textlichem Wissen ins Bild gesetzt, die das Labor nicht nur als einen Ort des Hantierens, sondern auch als einen Raum des Lesens und Schreibens definiert.
Möglicherweise liegt hierin der entscheidende Umbruch in der modernen Geschichte des Labors. Werkstätten hatte es nämlich schon lange gegeben. Das Vorhaben aber, in solchen Räumen durch körperliche Tätigkeit wissenschaftliche Erkenntnisse hervorzubringen, abzubilden und schriftlich zu verarbeiten, war jüngeren Datums:
Diese Wechselwirkung zwischen wissenschaftlichen und handwerklichen Kulturen in der Renaissance ist die wichtigste Quelle für die Umwandlung der Werte, die zur Legitimierung der körperlichen Arbeit in einem speziell gestalteten Raum als ein Mittel für die Hervorbringung wissenschaftlichen Wissens führte.15
Man könnte auch sagen, erst durch diese Wechselwirkung zwischen Wissenschaft, Handwerk und Schreibarbeit erhielt der Begriff des Labors seine volle Bedeutung: als Produktionsstätte wissenschaftlichen Wissens.
Noch das späte 18. Jahrhundert zögerte aber, sich diesen Begriff des Labors zu eigen zu machen. Trotz der besonders durch Antoine Lavoisier (1743–1794) vorangebrachten Entwicklung der chemischen Wissenschaft blieb das Labor zunächst in erster Linie eine Werkstatt, ein Ort des materiellen Herstellens. Selbst in den 1770er Jahren ist die Wahrnehmung des Labors auf den Aspekt einer zunehmend rationalisierten Aktivität im sich entwickelnden Bereich der chemischen Produktion fokussiert. So wird das Labor in der Encyclopaedia Britannica als "the chemists work-house" beschrieben, als jene Stätte also, an der Pharmazeuten und Pyrotechniker ihrer Tätigkeit nachgehen.16 Ähnlich verfährt die Encyclopédie (1765) von Denis Diderot (1713–1784) und Jean-Baptiste le Rond d'Alembert (1717–1783). Sie definiert das Labor als "lieu clos & couvert, salle, piece de maison, boutique qui renferme tous les ustensiles chimiques qui sont compris sous les noms de fourneaux, de vaisseaux, & d'instruments & dans lequel s'exécutent commodément les opérations chimiques".17
Die zugehörige Tafel bereichert die Ikonographie des Labors allerdings um einen neuen Aspekt: den des arbeitsteilig organisierten Vorgehens. Zwar dominieren auf dieser Abbildung erneut eine Feuerstelle und eine Abzugshaube den Raum. Auch der Blasebalg für die Schmiede lässt an die deutlich älteren Darstellungen des Alchemisten bei Weiditz und Brueghel denken, zudem ist auf dem Sims des Kamins eine sorgfältig arrangierte Reihe von Gefäß
Die Laborrevolution des 19. Jahrhunderts
Im frühen 19. Jahrhundert waren es zwei Faktoren, die die Entwicklung des Labors vorantrieben. Zum einen fungierte die Reform und Neugründung von Universitäten als wichtiger Impulsgeber. Nach 1800 sollten die Universitäten nicht mehr nur Orte des Sammelns und Ordnens von Wissen sein, sondern zunehmend auch Stätten der naturwissenschaftlichen und technischen Forschung werden. Signalwirkung in diesem Zusammenhang hatte die Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin (1810), die international schnell an Renommee gewann. Zum anderen und vor allem aber war es der Erfolg einzelner privater Ausbildungs- und Forschungslaboratorien, der zum Aufkommen eines dynamisch expandierenden verteilten Laborsystems beitrug. Von engagierten Hochschullehrern zunächst in Eigeninitiative eingerichtet und geleitet, wurden einzelne dieser Privatlaboratorien in kurzer Zeit zu Attraktoren, die alsbald auch in die reformierten Universitäten integriert wurden.
Einschlägiges Beispiel dafür ist erneut ein chemisches Laboratorium: dasjenige, das Justus Liebig (1803–1873) in den 1820er Jahren nach einem Forschungsaufenthalt in Paris an seiner Heimatuniversität Gießen einrichtete. Liebigs Labor steht exemplarisch für das Bestreben, einen fundierten Experimentalunterricht zu realisieren, in dem Wissenschaft und Handwerk keinen Gegensatz mehr darstellten, sondern sich vielfältig ergänzende Aspekte einer einzigen Tätigkeit, die hauptsächlich am Ziel der Erkenntnis ausgerichtet war. Eine berühmte Zeichnung von Wilhelm Trautschold (1815–1877) und Hugo von Ritgen (1811–1889) zeigt Liebigs Labor in seinem Zustand zu Anfang der 1840er Jahre. Trautschold und von Ritgen geben mit ihrer "Inneren Ansicht des Analytischen Laboratoriums in Giessen" erstmals einen Blick auf das Labor als belebte Unterrichtsstätte frei. Jedenfalls brechen sie mit der statischen Übersichtlichkeit der Encyclopédie und zeigen einen Raum des kollektiven Arbeitens von mehr oder weniger fortgeschrittenen Lernenden und Lehrenden aus unterschiedlichsten Ländern.18
Im Mittelpunkt steht dabei bezeichnenderweise nicht etwa Liebig, sondern der Laborassistent, der unter anderem für die Beschaffung der Grundchemikalien sowie von Glas- und Porzellangefäßen verantwortlich war. Auch das Prinzip der Arbeitsteilung wird erneut bekräftigt und zusätzlich akzentuiert. Das Labor erscheint hier nicht nur als Werkstatt, als Manufaktur, sondern auch als eine Art Börse, als Umschlagplatz von Diskursen, von Konzepten und Rezepten, auf dem Ideelles und Materielles auf immer neue Weise miteinander konfrontiert und kombiniert werden konnte. Darüber hinaus lässt sich eine der innenarchitektonischen Neuerungen von Liebig erkennen. In älteren Laboratorien waren die Experimentiertische in der Regel nur gegen die Wand gestellt und ein freier Tisch in der Mitte platziert. Liebigs Beitrag zur Neugestaltung des Labors war es, die Experimentiertische über den ganzen Raum zu verteilen. In einem solchen Arrangement konnten mehr Studenten aufgenommen und mehr Versuche zur gleichen Zeit durchgeführt werden, während der Laboratoriumsleiter relativ einfach den Überblick behalten und von Platz zu Platz wandern konnte.19
Die im Gefolge von Liebig stattfindende Etablierung der modernen Chemie im deutschsprachigen Raum gilt als eine der Erfolgsgeschichten der Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Um 1850 etablierte sich unter der Leitung von Robert Bunsen (1811–1899) in Heidelberg ein weiteres Lehr- und Forschungslaboratorium der Chemie, dem eine internationale Vorreiterrolle zukam, nicht zuletzt wegen eines Unterrichts, der durch virtuose Demonstrationsversuche angereichert wurde. Neben den Arbeits- und Übungsräumen, neben Waagenzimmer, Vorratslager und Bibliothek, wurde damit der Hörsaal samt rückwärtiger Vorbereitungskammer zum wichtigen Bestandteil von Laboratoriumsbauten. In den 1860er Jahren entstanden unter anderem in Bonn und Berlin gänzlich neue Institute für Chemie, die in Hinblick auf ihre äußere und innere Architektur sowie ihre technische Ausstattung auch im europäischen Ausland schnell als vorbildlich anerkannt wurden.20
In anderen Disziplinen ließ die "Laborrevolution" länger auf sich warten. Das erste physikalische Laboratorium im modernen Sinn wurde 1833 durch Wilhelm Weber (1804–1891) an der Universität Göttingen eröffnet. Zuvor hatte es zumeist nur physikalische "Kabinette" gegeben, also einzelne Zimmer, in denen Instrumentensammlungen untergebracht waren. 1843 richtete Heinrich Gustav Magnus (1802–1870) ein physikalisches Laboratorium in Berlin ein, Franz Neumann (1798–1895) in Königsberg zog 1847 nach. In beiden Fällen handelte es sich allerdings um "private Laboratorien, die sich in den Wohnungen der Gründer befanden und anderen nur mit deren besonderer Genehmigung zugänglich waren".21 Erst 1846 wurde ein öffentliches (Lehr‑)Laboratorium an der Heidelberger Universität eröffnet, 1874 erfolgte ein entsprechender Neubau in Leipzig, um in den Folgejahren auch in Berlin (1878), Würzburg (1879) oder etwa Straßburg (1882) zur Einrichtung entsprechender Lehr- und Forschungslaboratorien zu führen. Als 1887 in Berlin die Technisch-Physikalische Reichsanstalt22 eröffnet wurde, war dies bis zum Ersten Weltkrieg der weltweit größte Laborkomplex für Ingenieurwissenschaft und physikalische Grundlagenforschung.
Einen ähnlichen Verlauf zeigt die Laborrevolution in einem weiteren bedeutenden Wissenschaftsbereich des 19. Jahrhunderts, dem der experimentellen Physiologie. Das erste physiologische Laboratorium im deutschsprachigen Raum war das offiziell seit 1839 von Jan Purkinje (1787–1869) geleitete Institut in Breslau. Während Purkinje, inspiriert durch die sensualistische Pädagogik Johann Heinrich Pestalozzis (1746–1827), einen auf "Anschauung" ausgerichteten Experimentalunterricht praktizierte, wurde dieses Ideal bis in die 1870er Jahre nur selten in die Tat umgesetzt – sowohl aus Mangel an entsprechend ausgestatteten physiologischen Lehr- und Forschungsstätten wie auch aufgrund der Kosten für geeignete Gerätschaften. So sah das Institut von Johannes Müller (1801–1858), aus dem viele bedeutenden Physiologen des 19. Jahrhunderts hervorgingen, zwar die Teilnahme an praktischen Übungen in Physiologie vor, Instrumente konnten für diesen Zweck aber nicht zur Verfügung gestellt werden. Diese waren vielmehr von den Studenten selbst zu bauen oder zu erwerben und mitzubringen. Um 1840 war es zudem für Physiologen wie Theodor Schwann (1810–1882) oder Emil Du Bois-Reymond (1818–1896) keineswegs ungewohnt, in den eigenen vier Wänden oder im Hotelzimmer zu experimentieren. Moderne Laboratorien für Physiologie entstanden erst in späteren Jahren: 1869 in Leipzig,23 1872 in Utrecht,24 1877 in Budapest25 und Berlin,26 1885 in Straßburg27 usw. Welche Bedeutung auch in diesem Zusammenhang der Demonstrationsvorlesung bei der Vermittlung experimentellen Wissens zukam, verdeutlicht die Tatsache, dass der Purkinje-Schüler Johann N. Czermak (1828–1873) in den frühen 1870er Jahren in Leipzig aus privaten Mitteln ein Spektatorium für den physiologischen Unterricht errichten ließ,28 das in den Folgejahren als Vorbild für die Einrichtung ähnlicher "Sehsäle" an Universitätsinstituten diente.29
Erst vor dem Hintergrund dieser Entwicklung – der besonders im deutschsprachigen Raum stattfindenden Herausbildung von spezifischen Laborkulturen in Chemie, Physik und Biologie – findet der Begriff des Laboratoriums zu der Weite, die uns heute geläufig ist. In den Wörterbüchern und Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts wird "Laboratorium" fast durchgängig mit "chemischem Laboratorium" identifiziert. Erst 1898 ist eine Revision dieser dominanten Bestimmung zu beobachten, da der Ausdruck nun "im allgemeinen" als Bezeichnung für einen Raum begriffen wird, "in dem chemische, pharmaceutische, physikalische oder technische Arbeiten ausgeführt werden".30
Auch die Ikonographie des Labors hat sich zu diesem Zeitpunkt merklich gewandelt. Einerseits erscheint das Labor als Hintergrund in Gemälden, die Wissenschaftsgrößen wie Louis Pasteur (1822–1895) in einer Weise porträtieren, die sie als weitgehend isoliert arbeitende Genies zeigen – sich damit aber auch wieder dem Bildthema des Alchemisten annähern. Andererseits taucht das Labor im Sinn des anonymisierten Architekturplans und der Photographie von Innenräumen auf, die in der Regel menschenleer sind.
Seit den 1870er Jahren finden sich detaillierte Beschreibungen von Laboratorien auch in wissenschaftlichen Zeitschriften. In der Regel sind diese Beschreibungen von den Direktoren der fraglichen Einrichtung verfasst worden. Neben Grundrissen werden dort auch Ansichten, Querschnitte sowie Zeichnungen von Details präsentiert, etwa von Experimentiertischen, Schränken oder Verdunklungseinrichtungen im Hörsaal. Seit Ende der 1880er Jahre finden sich entsprechende Darstellung auch in Bauzeitungen und Handbüchern der Architektur.
Labor-Interaktionen um 1870
Das Wissen vom Labor wurde durch solche Veröffentlichungen in zunehmender Weise verbreitet. Doch Publikationen stellten keineswegs die einzige Quelle für dieses Wissen dar. Vor allem Reisen, Studienreisen ebenso wie Forschungsreisen, waren es, die diese Art von Laborwissen hervorgebracht haben. In der Tat waren es neben Aufsatz- und Buchveröffentlichungen zunächst persönliche Besuche und Aufenthalte im Ausland sowie, seit den 1910er und -20er Jahren, in zunehmendem Maße internationale Kooperationen und Austauschprogramme, die innerhalb Europas zur Kommunikation zwischen Laborarbeitern verschiedener Nationen und zur Interaktion unterschiedlicher Laborkulturen führten. Liebig war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nach Paris gegangen, um dort dem Experimentalunterricht von Joseph Louis Gay-Lussac (1778–1850), Louis Jacques Thénard (1777–1857) und anderen Chemikern zu folgen. In den frühen 1840er Jahren waren es dagegen Chemie-Studenten aus Frankreich und anderen Ländern, die den Experimentalunterricht in Liebigs Labor in Gießen besuchten. Zu ihnen zählten Victor Regnault (1810–1878), Jules Pelouze (1807–1867) und Adolphe Wurtz (1817–1884).31
Wurtz sollte im Anschluss an seine Rückkehr nach Paris an der dortigen Fakultät für Medizin ein eigenes Labor für organische Chemie leiten. Aufgestiegen zum Dekan, engagierte er sich in den 1860er Jahren für die Einrichtung von angemessenen Lehr- und Forschungsstätten für die Studenten der Medizin. In diesem Zusammenhang besuchte er Ende der 1860er Jahre eine Reihe von Laboratorien an deutschsprachigen Universitäten, die in dieser Hinsicht als vorbildlich angesehen wurden. Diese Reise erfolgte in offiziellem Auftrag. Der damalige Bildungsminister, Victor Duruy (1811–1894), hatte Wurtz am 5. Juni 1868 mit der Mission betraut, wissenschaftliche Einrichtungen an den deutschsprachigen Universitäten "zu besichtigen und zu studieren", vor allem diejenigen in Göttingen, Greifswald, Berlin, Leipzig, Prag, Wien, München, Würzburg und Heidelberg. Wurtz solle, wie Duruy sich ausdrückte, seine Aufmerksamkeit dabei besonders auf die Laboratorien, die wissenschaftlichen Sammlungen, die Kliniken und Institute für Physiologie und Pathologie richten. Das Motiv war nicht nur wissenschaftlich, sondern auch explizit politisch. Duruy forderte Wurtz auf, alle Auskünfte über die wissenschaftlichen Einrichtungen im Nachbarland zu sammeln, die zugunsten des "nationalen Unterrichts" in Frankreich verwandt werden konnten.32
Der entsprechende Rapport, den Wurtz 1870 veröffentlichte, konzentriert sich auf die Beschreibungen von Laboratorien. Der erste Teil enthält Darstellungen der chemischen Laboratorien, der zweite Teil behandelt die Laboratorien der Physiologie, während der dritte und letzte sich den Instituten für Anatomie und Pathologische Anatomie widmet. Den Zeichnungen kommt dabei entscheidende Bedeutung zu. Auf 17 Tafeln reproduziert Wurtz detaillierte Grundrisse der von ihm besichtigten Laboratorien. Zusätzliche Abbildungen im Text bieten Ansichten und Querschnitte der jeweiligen Laboratoriumsbauten. Die Kombination dieser Bilder mit einem beschreibendem Text, der die Prinzipien des Laboratoriumsbetriebs und die finanzielle Ausstattung der besichtigten Lehr- und Forschungseinrichtungen darlegt, war in den Augen von Wurtz der beste Weg, um der ihm gestellten Aufgabe gerecht zu werden. Wie er erklärte, stelle der Rapport seine Eindrücke und Erinnerungen in einer Weise dar, die gleichermaßen entfernt sei von einer Begeisterung, welche dazu führen würde, die "glorreichen Bemühungen" einer fremden Nation zu übertreiben, wie von einer Schwäche, die zur Folge hätte, sie zu verkennen und von ihnen zu schweigen.33
Als der Physiologe Claude Bernard (1813–1878) im Sommersemester 1870 seine Vorlesung in Allgemeiner Physiologie begann, griff er den Bericht von Wurtz auf. Bernard begann mit einem kurzen Überblick zur Geschichte seines Faches und betonte dabei, dass nicht nur "neue Entdeckungen und Ideen" für die Entwicklung der Physiologie entscheidend gewesen seien. Auch ihre "Arbeitsmittel", ihre "Kultur", sei ein entscheidender Faktor gewesen.34 Was Bernard meinte, war die institutionelle Verankerung und instrumentelle Ausstattung der physiologischen Forschung – ein Gesichtspunkt, der ihm umso vertrauter war, als er drei Jahre zuvor ebenfalls in offiziellem Auftrag einen Bericht über die Fortschritte der Allgemeinen Physiologie in Frankreich erstellt hatte.
Wenige Wochen vor dem Ausbruch des Krieges mit Preußen kontrastierte Bernard in seiner Vorlesung die schlechte Situation der Physiologie in Frankreich mit den "installations splendides", über die die Physiologen im Nachbarland verfügten. Um diesen Kontrast zu veranschaulichen, führte er seinen Zuhörern die Anlage und Ausstattung eines exemplarischen Laboratoriums vor Augen. Dabei handelte es sich um Carl Ludwigs (1816–1895) "Physiologische Anstalt", die 1869 in Leipzig eröffnet und als erste Einrichtung ihrer Art mit einer Dampfmaschine als zentraler Kraftquelle ausgestattet worden war. Bernard beschränkte sich dabei aber nicht auf die verbale Beschreibung. Er setzte Ludwigs Labor auch mit visuellen Hilfsmitteln in Szene:
Je mets sous vos yeux le plan d'un de ces laboratoires, c'est celui de Leipzig dirigé par Ludwig ... Je veux que vous voyiez par cet exemple la richesse de ces installations scientifiques dont nous n'avons pas même l'idée en France.35
Der erwähnte Grundriss ist derjenige aus dem Rapport von Wurtz. Die Hufeisenform des Leipziger Laborgebäudes ist darauf mit einem Blick zu erfassen. Innerhalb des hufeisenförmigen Gebäudes waren die Arbeitsräume für die Durchführung von vivisektorischen sowie biophysikalischen und biochemischen Experimenten untergebracht, darüber hinaus Räume für Spektroskopie, Mikroskopie und Quecksilberarbeiten sowie die Bibliothek. Im Zentrum lag dagegen der Hörsaal, der rund 150 Zuhörern Platz bot. Das Institut verfügte auch über Wohnräume für den Direktor und einen Mechaniker, während die Unterbringung der erforderlichen Versuchstiere im Garten erfolgte. Kaninchen, Vögel und Frösche wurden in Ställen, Käfigen und Aquarien gehalten, die oberhalb der Hufeisenöffnung aufgestellt wurden.
Es war diese Ausdifferenzierung, die Bernard mit Blick auf das Labor von Ludwig besonders hervorhob. Vor allem die Unterteilung in unterschiedliche Arten von Arbeitsräumen überzeugte ihn: "Il est très important pour une bonne économie expérimentale", erklärte er, "d'avoir des pièces séparées pour les expériences qui reclament une instrumentation spéciale. On évite ainsi toutes les pertes de temps qu'exigerait une nouvelle installation et la réunion de materiaux quelquefois très difficiles à rassembler. Cette disposition, qui n'est au fond qu'une bonne administration du temps, pourrait d'ailleurs s'étendre à tous les travaux scientifiques."36
Das Labor erscheint hier nicht nur als ein exemplarischer Raum des Wissens. Zugleich wird dieser Raum zum Inbegriff eines bestimmten Zeitregimes, das zugleich ein Regime der wissenschaftlichen Arbeit ist. "Zeit ist Raum", so lautet die paradoxe Formel, die Bernard, den Bericht von Wurtz in der Hand haltend, in Hinsicht auf die Tätigkeit im modernen Labor prägt.
Der Wurtz-Bericht von 1870 hatte keine direkte Übernahme des ausländischen Modells zur Folge. Der oben skizzierten Vielzahl von entsprechenden Einrichtungen im deutschsprachigen Raum, die nach Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften im Jahre 1911 noch weiter anwuchs, standen im französischen Nachbarland zunächst lediglich die Laboratorien von Wurtz an der Ecole de médicine und Bernard am Collège de France gegenüber, um in den 1880er Jahren dann durch Étienne-Jules Mareys (1830–1904) Station physiologique sowie das Institut Pasteur ergänzt zu werden. Entsprechend selten sind in diesem Zeitraum Laborbesuche von deutschen Physiologen in Frankreich.
Eines der wenigen Beispiele für einen solchen Besuch ist die "wissenschaftliche Reise", die der damals in Leipzig tätige Physiologe Maximilian von Frey (1852–1932) im Jahr 1886 nach Paris, Lyon und Bordeaux unternahm. Von Frey erwähnt in seinem kurzen Bericht nur die Laboratorien von Marey und Pasteur in Paris, beschränkt sich ansonsten auf technische Details über physiologische Instrumente, beispielsweise die Respirationsapparate von Auguste Chauveau (1827–1917) und Félix Jolyet (1841–1922) sowie die Kalorimeter von Arsène d'Arsonval (1851–1940).37
Damit verdeutlicht sich der an anderer Stelle mit Blick auf psychologische Laboratorien herausgestellte Sachverhalt,38 dass die Verbreitung moderner Laborkulturen innerhalb Europas kein einheitlicher und eindimensionaler Prozess war, der durch Schlagworte wie "Rationalisierung", "Mechanisierung" oder "Industrialisierung" angemessen abgebildet werden könnte. Vielmehr handelte es sich um einen durchaus facettenreichen Vorgang des Übersetzens und Übertragens, der Anpassung an lokale Kontexte und Traditionen, an dem sich im Einzelfall allerdings auch Tendenzen der Rück- und Gegenübertragung beobachten lassen. Tatsächlich fanden selbst da, wo eine explizite Ausrichtung an deutschsprachigen Vorbildern vorgenommen wurde, Vermittlungen auf unterschiedlichsten Ebenen statt, die das Vermittelte auch veränderten – auf der Ebene der Texte, der Instrumente und der experimentellen Vorgehensweise.39
Ein weiteres Ergebnis dieser Vermittlungs- und Veränderungsprozesse ist an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in der Herausbildung von "Industrielaboratorien" zu erkennen. Im europäischen Kontext ist diese Entwicklung mit dem rapiden Wachstum der Farbstoffindustrie verbunden, die ihrerseits nicht von der Geschichte der modernen Chemie zu trennen ist. Tatsächlich hatten Heinrich Caro (1834–1910), der 1868 in leitender Funktion zur kurz zuvor gegründeten Badischen Anilin- und Sodafabrik (BASF) kam, ebenso wie Eugen Lucius (1834–1903), der Mitbegründer der späteren Firma Hoechst, eine chemische Ausbildung erhalten, Lucius sogar direkt bei Bunsen. In den 1870er und 1880er Jahren begannen Unternehmen wie Hoechst, Agfa und Bayer in großem Stile Chemiker zu beschäftigen, zum Teil in eigens eingerichteten Laboratoriumsbauten. Ähnliche Entwicklungen sind im selben Zeitraum in den USA zu beobachten, allerdings in anderen Industriezweigen. 1875 richtete die Eisenbahngesellschaft Pennsylvania Railroad ein eigenes Forschungslaboratorium ein, 1886 folgte East Man Kodak und 1900 General Electric. Wie in Europa bestand das Ziel dieser Laboratorien in der Hervorbringung anwendungsrelevanten Wissens im Kampf um wirtschaftliche Vorteile. Statt Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften zu veröffentlichen, ging es den Forschern in diesen Laboratorien um die Anerkennung von Patenten und, damit verbunden, die Ausübung der markwirtschaftlichen Kontrolle über die entsprechenden Verfahren und Erzeugnisse. In gewisser Weise näherten sie sich damit wieder den Alchemisten im Labor an: Sie brachten in gezielter Weise Ergebnisse hervor, deren Entstehung nur den Eingeweihten zugänglich war.40
Das andere Ergebnis der Vermittlungs- und Veränderungsprozesse, denen das Labor an der Wende zum 20. Jahrhundert unterlag, war das Aufkommen von Großlaboratorien in zumeist militärischen Kontexten. Als repräsentativ dafür kann die durch Fritz Haber (1868–1934) im Verlaufe des Ersten Weltkriegs vorgenommene Umstrukturierung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin betrachtet werden. Ende 1918 waren in diesem Institut 1.450 Mitarbeiter mit der Entwicklung von Gaskampfstoffen und Mitteln zum Gasschutz beschäftigt. Noch gewaltiger waren die Forschungseinrichtungen, die während des Zweiten Weltkriegs entstanden. Eine der bekanntesten unter ihnen ist das 1943 durch die Regierung der USA eingerichtete Los Alamos National Laboratory, in dem im Rahmen des Manhattan-Projekts das Atomwaffenprogramm der Vereinigten Staaten begann. Dieses Projekt, an dem zeitweilig rund 120.000 Mitarbeiter beschäftigt waren, markiert den unwiderruflichen Eintritt in die Epoche der Big Science, in der das Wachstum von Wissenschaft nicht mehr ausschließlich an der Anzahl von Veröffentlichungen und Patenten, dem Wachstum wissenschaftlichen Personals und der Höhe staatlicher Forschungsmittel festgemacht wird, sondern ebenso an der exponentiellen Zunahme des Energieverbrauchs von Teilchenbeschleunigern.41 Im 20. Jahrhundert intensivierte beides, die Einrichtung der Industrielaboratorien wie auch die Entstehung von Großlaboratorien, die weltweite Konkurrenzsituation, in der sich die privaten und öffentlichen Laboratorien unterschiedlichster Art und Größe befinden. Zugleich setzte damit eben jene "Streuung des Labors" ein, die für unsere Gegenwart charakteristisch ist.
Schluss
Laboratorien sind exemplarische Orte der Moderne. Aber sie fungieren nicht nur als passive Abbilder einer zunehmend globalisierten Kultur und Gesellschaft, sondern ebenso als aktive Vorbilder, als gestaltende Kräfte, die ihre Wirkungen keineswegs nur innerhalb der Wissenschaft entfalten. Neben neuen Erkenntnissen und Techniken bringen Laboratorien auch Persönlichkeiten hervor. Sie bilden Wissenschaftler und Forscher aus, die es gelernt haben, mit Leib und Seele nach hohen Idealen zu streben und dabei innerhalb eines Kollektivs in einen leistungsbezogenen Wettbewerb einzutreten, der durch transparente Regeln und faires Verhalten bestimmt sein soll. Auch in dieser Hinsicht erscheint das Labor als eine Einrichtung, die nicht einfach mit einer Fabrik zu analogisieren ist. Als Ausbildungs- und Übungsort ist das Labor ebenso mit der Turnhalle und dem Sportplatz vergleichbar. Tatsächlich wird diese Parallele besonders an US-amerikanischen Universitäten gezogen, um die Leitlinien von akademischen Institutionen, die sich nach europäischem Vorbild an der Einheit von Forschung und Lehre orientieren, einer rasch anwachsenden Zahl von Studenten zu veranschaulichen und zu vermitteln. Nicht nur die Universität wird dabei zu "einem Labor, in dem jeder geschäftig ist und die Begeisterung für die Forschung das vorherrschende Merkmal ist",42 wie es 1883 der Gründungsdirektor der Johns Hopkins Universität ausdrückte. In der programmatischen Sicht von Daniel C. Gilman (1831–1908) ist vielmehr die ganze Welt "ein großes Labor, in dem die menschliche Gesellschaft eifrig experimentiert".43 Mit diesem Ausblick auf eine Experimentiergesellschaft ist eine weitere Facette jener Öffnung und Auffächerung des Labors angesprochen, die auch unsere Vorstellung dessen, was Wissenschaft heißt, tiefgreifend verändert hat.