Regional divisions have probably been more salient and their meaning more contested in Europe than in any other part of the world. The debate on this subject is complementary to the ongoing dispute on European exceptionalism, seen as a macro-regional or civilizational feature, and it is no more likely to be settled in definitive terms.
Johann P. Arnason 20051
"Raum" oder "Region"?
Die aktuelle Debatte über die vorgebliche "Wiederkehr des Raumes", wie sie im Zuge des spatial turn geführt wird,2 hat eine inhaltliche wie eine methodische Seite: Zum einen kehrt der "Raum" als Erklärungsdimension und Untersuchungskategorie in die "Geschichte" zurück. Zum anderen ist er aus fachhistorischer Perspektive nicht länger ausschließlicher Forschungsgegenstand benachbarter Disziplinen, wie etwa der Geographie. Stellenweise frappierend ist dabei das emotionale Engagement der neuen Raumprotagonisten wie auch dasjenige ihrer Rezipienten.3 Entsprechend interpretieren die Herausgeber eines Sammelbandes den spatial turn als Ablösung der "bisherige[n] Raumvergessenheit der Historiographie" durch "eine kaum weniger irreführende Raumversessenheit" und warnen:
Das "sexy label" Raum verdeckt vieles und hilft so, einem methodologisch, theoretisch und heute vor allem epistemologisch schlechtem Gewissen vorzubeugen. Bei genauerem Hinsehen verbirgt sich dahinter indes nicht selten alter Wein in neuen Schläuchen – oder präziser: ein empirieorientierter Neo-Positivismus, der in seinen diversen Spielarten längst als glücklich überwunden galt.4
Parallel zu dieser Debatte, zum Teil aber auch durch sie angestoßen, wird zunehmend ein älterer Diskursstrang sichtbar und definitionsmächtig, der nicht den "Raum" an sich, sondern dessen historische Einordnung in Gestalt der "Region" reflektiert. Gemeint ist die mittlerweile hochspezialisierte Forschungsrichtung geschichtsregionaler Konzeptionen, wie sie sich aufbauend auf transnational geführten Historikerdiskussionen in der Zwischenkriegszeit sowie solchen blockübergreifender Art im Kalten Krieg vor allem in der historischen Teildisziplin der Osteuropäischen Geschichte in den deutschsprachigen Ländern seit den 1970er Jahren entwickelt hat. Deutlicher Beleg hierfür ist, dass die beiden deutschen Historiker, die die Debatte um die "Wiederkehr des Raumes" mit einschlägig betitelten Beiträgen hierzulande angestoßen haben, also Jürgen Osterhammel5 und Karl Schlögel6, in jüngeren Veröffentlichungen das Untersuchungsdesign der Geschichtsregion als zentralen Zugang werten.7 Dabei können sie an Jürgen Kocka und Hannes Siegrist anknüpfen, die schon zuvor auf diesen Forschungsansatz hingewiesen haben.8
Was ist eine Geschichtsregion?
Ein vorläufiger Definitionsvorschlag dafür, was unter einer geschichtsregionalen Konzeption zu verstehen ist, könnte lauten: Es handelt sich um eine geschichtswissenschaftliche Methode transnational-vergleichender Art mit dem Potential zu einer Theorie mittlerer Reichweite, um eine Forschungsstrategie, in die Kontrollmechanismen mittels Quellenbiss und Komparation gleichsam eingebaut sind. Der kulturwissenschaftliche Untersuchungsrahmen "Geschichtsregion" ist dabei ein heuristischer Kunstgriff, mittels dessen nicht-territorialisierte, aber epochal eingegrenzte historische Mesoregionen staaten-, gesellschaften-, nationen- oder gar zivilisationenübergreifender Art zur Arbeitshypothese komparativer Forschung genommen werden, um spezifische Cluster von Strukturmerkmalen langer Dauer zu ermitteln und voneinander abzugrenzen. Nicht die einzelnen Merkmale sind dabei einzigartig und somit clusterspezifisch, sondern ihre jeweilige Kombination. Großflächige, indes epochengebundene Cluster dieser Art können als Geschichtsregionen bezeichnet werden.9 Diese sind dabei "fluktuierende Zonen mit fließenden Übergängen", die in sich entsprechend in Zentren und Peripherien gegliedert werden können.10 Auch hier ist das Spezifische nicht ohne ein Umfeld denkbar, ist die eine Geschichtsregion nur im Kontext anderer zu fassen. Entsprechend sind also Relationalität und Beziehungshaftigkeit komplementär zur Binnenstruktur einer Geschichtsregion.
"Ost(mittel)europa" als "Mutter aller Geschichtsregionen"
Obwohl von universalem Zuschnitt ist das Konzept der Geschichtsregion in einer internationalen Historikerdiskussion zunächst über "Slawentum", dann über "Osteuropa" in den 1920er und 1930er Jahren entwickelt worden. Maßgeblich beteiligt hieran waren polnischerseits Oskar Halecki und Marceli Handelsman sowie auf tschechoslowakischer Seite Jaroslav Bidlo und Josef Pfitzner.11 Im US-amerikanischen Nachkriegsexil baute Halecki seine Überlegungen dann zu einem ganz Europa einschließenden Modell aus. In seinem Buch The Limits and Divisions of European History (1950) identifizierte er, zusätzlich zur Unterscheidung zwischen einem auf antiken Grundlagen basierenden Alteuropa einerseits und einem außerhalb der historischen Grenzen des Imperium Romanum liegenden Neueuropa andererseits, vier neuzeitliche europäische Geschichtsregionen mit mittelalterlichen Wurzeln: Westeuropa, Westmitteleuropa (Deutschland und Österreich), Ostmitteleuropa und Osteuropa. Letzteres war identisch mit Russland beziehungsweise der Sowjetunion.12 Sein Hauptanliegen, nämlich die Markierung einer kulturellen Grenze zwischen dem westkirchlichen Ostmitteleuropa auf der einen und dem ostkirchlichen Osteuropa auf der anderen Seite – bei gleichzeitiger Relativierung der Trennlinien zwischen Ostmittel-, Westmittel- und Westeuropa – , akzentuierte Halecki weiter in seiner Gesamtdarstellung Borderlands of Western Civilization (1952).13 In der historischen Osteuropaforschung der Bundesrepublik ist das Ostmitteleuropa-Konzept unter dem Einfluss Haleckis sowie unter partiellem Rückgriff auf Vorläuferkonzepte wie dasjenige der (kleinräumigeren) "Geschichtslandschaft"14 und indirekt das des (stark ideologisierten) "geschichtlichen Kulturraums"15 weiterentwickelt worden. Dies geschah in Form der geschichtsregionalen Kategorien "Ostmitteleuropa", "Südosteuropa" bzw. "Balkan", "Nordosteuropa" und "Osteuropa" – Letzteres sowohl als auf den ostslawischen Raum bezogene Teilregion wie auch als übergeordnete Gesamtkategorie.16 Das Konzept "Geschichtsregion" als Rahmen vergleichender Analyse wurzelt also in einem doppelten Sinne im östlichen Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit: zum einen in den damaligen Selbstvergewisserungsversuchen der Historiker der 1918 neu bzw. wieder entstandenen Staaten der "entimperialisierten" und jetzt explizit als "Ostmitteleuropa" bezeichneten Region, zum anderen in der im Zuge der Versailler Nachkriegsordnung aufkommenden Kulturbodenforschung germanozentrischer Prägung. Mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum kann daher festgestellt werden, dass sowohl geschichtsregionale Konzeptionen im Allgemeinen als auch gerade "Ostmitteleuropa" im Besonderen vom bekannten Dualismus zwischen historischer Osteuropaforschung einerseits und deutschtumszentrierter Ostforschung andererseits gekennzeichnet sind.
Parallel zur Aufnahme Haleckis in der neuen Bundesrepublik entwickelten seine Ideen auch im sowjetischen Machtbereich subkutane Wirkung. In Ungarn griffen Jenő Szűcs17, Domokos Kosáry18 und Emil Niederhauser19, in Polen Jerzy Kłoczowski20 und Henryk Samsonowicz21 seine "Ostmitteleuropa"-Konzeption auf. Im Kern ging es dabei um das Herauspräparieren von strukturellen Faktoren, die über längere Zeiträume, in der Regel über mehrere Jahrhunderte hinweg, prägend waren. Mit Blick auf das Mittelalter wurden dabei Christianisierung, Bildung von Nationes-Staaten, das Magdeburger Recht, jüdisch-askenasische Besiedlung und deutscher Landesausbau (Stichwort Germania Slavica) genannt – auch die häufig übersehenen Armenier wären hier anzuführen; für die frühe Neuzeit ein hoher Adelsanteil, das Metropolenpotential der Trias Bistum – Universität – Residenz, libertäre Ständegesellschaften und "zweite Leibeigenschaft"; für das 19. Jahrhundert Großmachtdominanz und Sprachnationalismus und für das 20. Jahrhundert "Kleinstaatenwelt", nationalsozialistische Überformung, sowjetische Hegemonie, Flucht, Vertreibung, ethnische Säuberung, Holodomor, Holocaust und Porrajmos, Sowjetisierung, aber auch kirchlich-proletarische Opposition, politisch-intellektuelle Dissidenz und ultimativ das Epochen- und Wendejahr 1989 mit so genuin ostmitteleuropäischen Innovationen wie dem Runden Tisch, der "samtenen Scheidung" und der Kooperation der Visegrád-Staaten (Polen, Tschechische Republik, Slowakische Republik, Ungarn).22 Bis heute ist vor allem die Modifizierung eines dreigeteilten Europa nach Halecki durch Szűcs prägend, die Westmittel- und Ostmitteleuropa nicht zu Mittel- oder Zentraleuropa, sondern – terminologisch nicht ganz folgerichtig – zu Ostmitteleuropa zusammenfasst und entsprechend von den "drei historischen Regionen Europas" spricht. Während das Szűcssche Ostmitteleuropa gleich dem Haleckischen von Osteuropa bzw. Russland durch die Trennlinie zwischen Orthodoxie und Katholizismus geschieden war, sah der ungarische Historiker gegenüber Westeuropa eine deutliche sozioökonomische sowie kulturelle Scheidelinie, die vom Aufkommen der "zweiten Leibeigenschaft" in der frühen Neuzeit bis in den Kalten Krieg hinein wirkungsmächtig gewesen sei.
Während "Ostmitteleuropa" sowohl in einem engeren wie einem weiteren Sinne als geschichtsregionale Konzeption im Kontext des Kalten Krieges frühzeitig weithin akzeptiert wurde, geriet das mesoregional-historische Konzept "Südosteuropa" in seiner Engführung als "Balkan" im Zuge der jugoslawischen Nachfolgekriege in eine heftige Diskussion. Der Berliner Historiker Holm Sundhaussen bestritt Maria Todorovas Entwertung des kulturwissenschaftlichen Regionalbegriffs "Balkan" einschließlich seiner "Entlarvung" als exklusionistisches Stereotyp,23 was eine intensive Debatte auslöste.24 Als deren Resultat näherten sich die Standpunkte indes deutlich an: Während Sundhaussen weiterhin von einer "Geschichtsregion Balkan" sprach,25 bot Todorova die Kompromissformel des "historischen Vermächtnisses" an. Damit meinte sie mit Blick auf den Balkan Prägungen wie diejenigen durch Byzanz und das Osmanische Reich, welche die europäischen Territorien dieser versunkenen Imperien bis heute prägten und sie zu einer "historischen Region" machten26 – quod erat demonstrandum.
"Ostmitteleuropa" als Analyserahmen von Kunstgeschichtsforschung und Literaturgeschichtsschreibung
Ebenso wie in der historischen Forschung die Geschichtsregion "Ostmitteleuropa" den Ausgangspunkt für das Nachdenken über geschichtsregionale Konzeptionen im Allgemeinen bildet, ist auch in der neueren kunsthistorischen Forschung über das, was der polnische Kunsthistoriker Jan Białostocki "Kunstregionen" (artistic regions) genannt hat,27 ein mit dem "Ostmitteleuropa"-Begriff der Geschichtswissenschaft weitgehend deckungsgleicher "Ostmitteleuropa"- bzw. "East Central Europe"-Terminus samt gleichnamiger kunstregionaler Konzeption in den Fokus gerückt. Dieser knüpfte kritisch an das in der Zwischenkriegszeit in Deutschland entwickelte (und stark deutschtumszentrierte) Konzept der "Kunstgeographie" an.28 So untersuchte 1993 der slowakische Kunsthistoriker Jan Bakoš "die Vorstellung von Ostmitteleuropa als einer Kunstregion" am Beispiel mittelalterlicher Malerei und Bildhauerei.29 Eine 1998 in Großbritannien stattfindende Tagung über "Grenzen in der Kunst" überprüfte den Ansatz der "Kunstgeographie" an ostmitteleuropäischen Fallbeispielen30 und die Leipziger Kunsthistorikerin Marina Dmitrieva beantwortete die Frage "Gibt es eine Kunstlandschaft Ostmitteleuropa?" überwiegend positiv.31 Wie innovativ und damit exportfähig die kunstgeschichtsregionale Konzeption "Ostmitteleuropa" ist, hat schließlich 2004 der US-amerikanische Kunsthistoriker Thomas DaCosta Kaufmann demonstriert, der den am ostmitteleuropäischen Beispiel entwickelten Zugang auf Mittelamerika und Japan angewendet hat.32
Überdies wird das Regionalisierungsmuster "Ostmitteleuropa" auch von der vergleichenden literaturhistorischen Forschung verwendet, so von dem ungarischen Literaturwissenschaftler István Fried bezüglich der "ungarisch-slawisch-österreichischen literarischen Beziehungen"33:
Ostmitteleuropa ist eine Kategorie, die eine umfassende synthetische Untersuchung der … Nationalliteraturen nicht durch eine willkürliche Vergleicherei, sondern durch die "Konfrontation" mit den Haupttendenzen der Literaturen ermöglicht … Die behandelte Region ist eine Literaturgruppe der vielfarbigen europäischen Literatur (Literaturen in europäischen Sprachen), die über eine relative Selbständigkeit und von den anderen Regionen abweichende Besonderheiten verfügt.34
Mit Blick auf die polnische und die slowakische Gegenwartsliteratur wird zudem verstärkt eine "narrative Modellierung kultureller Interferenzräume" durch Autoren wie Andrzej Stasiuk oder Dušan Šimko konstatiert, die der geschichtsregionalen Konstruktion "Ostmitteleuropa" auffallend ähneln.35 In typologischer Hinsicht hat vor allem das politische Exil die Kohärenz Ostmitteleuropas als literaturregionale Konzeption plastisch hervortreten lassen.36 Auch die transnationalen literarischen Wirkungen der historischen Prägung durch die Habsburgermonarchie sind weiterhin unverkennbar.37 Die literaturwissenschaftliche Rezeptionsforschung operiert ebenfalls mit dem Ostmitteleuropabegriff und erklärt beispielsweise den gewaltigen regionalen Popularitätsvorsprung, den Ivan Turgenev (1818–1883) – weit vor Lev Tolstoj (1828–1910), Fëdor Dostoevskij (1821–1881) und anderen Vertretern der klassischen russischen Literatur – beim polnischen, ungarischen und kroatischen, aber auch beim tschechischen, slowakischen und slowenischen Lesepublikum traditionell genießt, mit einem sozialgeschichtlichen Argument: Seiner adelskulturellen Sujets wegen, so die ungarische Slawistin Zsuzsa Zöldhelyi-Deák, sei die Affinität zu Turgenev in kulturell noch immer kleinadlig geprägten Gesellschaften wie denjenigen Ostmitteleuropas besonders hoch.38
Risiken und Nebenwirkungen geschichtsregionaler Konzeptionen
Wie steht es nun um das Verhältnis zwischen Vorteilen und Risiken bei der Anwendung geschichtsregionaler Konzeptionen? Die Risiken sind in der Ausbreitung solcher Regionalbegriffe im politischen Raum zu sehen, die zugleich eine geschichtsregionale Konzeption wie andere Raumkategorien – Aktionsraum, Erfahrungsraum oder Vorstellungsraum – benennen, bzw. in den dadurch zwangsläufig entstehenden Missverständnissen. Ein schlagendes Beispiel für eine solche Verwirrung von Regionalbegriffen auf unterschiedlichen semantischen Ebenen ist die Benennung der beiden Auflagen von Paul Magocsis ebenso autoritativem wie profundem historischen Atlas Ostmitteleuropas, deren erste Auflage Historical Atlas of East Central Europe (1993) hieß, wohingegen die zweite als Historical Atlas of Central Europe (2002) erschien – bei Beibehaltung desselben Kartenausschnitts von Kaliningrad nach Kreta bzw. von Odessa nach Triest. Magocsi begründet dies mit einem außerwissenschaftlichen, nämlich politischen Argument:
It has ... become clear since 1989 that the articulate elements in many countries of the region consider eastern or even east-central to carry a negative connotation and prefer to be considered part of Central Europe ... If Central Europe responds to the preference of the populations of the countries in question, this would seem to lend even greater credence to the terminological choice.39
Um dem Dilemma multipler Begriffskonnotation zu entgehen, hat daher die polnisch-britische Kunsthistorikerin Katarzyna Murawska-Muthesius zu einer radikalen Maßnahme gegriffen: Sie bezeichnet die kunstgeschichtsregionale Konzeption "Ostmitteleuropa" bzw. "East Central Europe" nicht mit diesem, wegen seiner Bedeutungspluralität samt Politisierungsgrad in ihrer Sicht gleichsam verbrannten, Terminus, sondern mit einem aus der Gegenwartsliteratur entlehnten. Es handelt sich um das in Malcolm Bradburys Roman Rates of Exchange (1983) verwendete Label "Slaka"40, unter dem der Autor Charakteristika dreier kommunistischer Gesellschaften, nämlich Polens, Bulgariens und Chinas, amalgamiert. Neben Regionalisierungen, die auf die politische Geographie bezogen sind, bewirken natürlich auch kognitive Karten Interferenzen mit geschichtsregionaler Begrifflichkeit. Entsprechend hat Holm Sundhaussen vor der "Vermengung von mental map und historischer Region" gewarnt.41 Kaum mehr problematisch hingegen ist die zwar wissenschaftshistorisch gegebene, heute aber biographisch, politisch wie forschungspraktisch eigentlich unbedenkliche begriffliche Nähe zur Kulturboden- und Ostforschung Weimarer Prägung samt Bonner Ostkunde-Appendix.
Was indes den potentiellen Nutzen des Konzepts "Geschichtsregion" betrifft, hat der Münchner Russlandhistoriker Frithjof Benjamin Schenk fünf Gründe aufgezählt, welche die Anwendungs- und Erkenntnismöglichkeiten solcher Konzeptionen im Forschungsalltag des Historikers demonstrieren und deren Potentiale aufzeigen. Diese sind ihm zufolge
- die Überwindung nationalgeschichtlicher Engführung mittels transnationaler Vergleiche;
- die Dynamisierung und Flexibilität solcher Konzeptionen entlang der Zeitachse;
- der gleichsam klinisch reine Charakter als von der historischen "Realität" nicht kontaminierter wissenschaftlicher Vergleichs- und Analyserahmen;
- ihr immanenter selbstkritischer Verweis auf die self-fulfilling prophecy-Wirkung von Regionalbegriffen;
- ihre Anwendbarkeit auf Europa als Ganzes, jene implizite Geschichtsregion, die so häufig als gesetzt aufgefasst wird.42
Näherer Erläuterung, ja Erweiterung, bedarf dabei der zweite Punkt, nämlich der Faktor "Zeit", da hier die Gefahr besteht, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn trotz aller Konzentration auf die konkreten wie strukturellen Raumbezüge der unterschiedlichen geschichtsregionalen Konzeptionen ist deren Prozesshaftigkeit und damit eben die Zeitdimension nicht zu übersehen. Der Historiker Wolfgang Schmale hat daher zur Inkorporation von Reinhart Kosellecks Zeitschichtenmodell geraten und dafür den von Norman Davies geprägten Begriff eines "Gezeiten-Europa" ("tidal Europe") adaptiert43 – ein Europa, dessen Gestalt wie Gehalt von der Antike bis zur Gegenwart gleichsam pulsiert, mal größer, mal kleiner wird. Maria Todorova hat am Beispiel der Nationsbildungsprozesse in Ostmitteleuropa demonstriert, dass die Anwendung eines longue durée-Zeitrahmens die differentia specifica der von ihr gewählten Geschichtsregion gegenüber dem "eigentlichen" Europa, also "Westeuropa", wenn nicht aufhebt, so doch deutlich relativiert.44 Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist eben dann nicht zwingend ungleichzeitig, wenn sie statt auf einen Zeitpunkt auf einen Zeitraum im Sinne eines historischen Prozesses bzw. einer Epoche bezogen wird. Das scheint eine besonders vielversprechende Dimension künftigen Umgangs mit geschichtsregionalen Konzeptionen zu sein – den intra- wie vor allem den inter-regionalen Vergleich nicht wie bisher primär synchron, sondern vermehrt diachron zu unternehmen, entlang an bekannten Parametern wie Modernisierung sowie Staats- und Nationsbildung, aber auch mit Blick auf wenig ausprobierte wie Rechtskultur und politische Kultur, Industrialisierung und Urbanisierung.
"Geschichtsregion": Ein (teil-)disziplinärer Durchbruch?
Dass auch "Europa" an sich eine implizite Geschichtsregion darstellt, die gleichfalls kritischer Reflexion bedarf, versteht sich dabei von selbst.45 Der Osteuropa-Historiker Manfred Hildermeier hat darauf hingewiesen, dass "europäisch" kein Wertmaßstab ist, sondern eine Relation bezeichnet, dass der Gegensatz zu "europäisch" nicht "un-europäisch", sondern "außer-europäisch" ist.46 Auch dabei kann die Beschäftigung mit den Teilregionen Osteuropas, vor allem mit Nordosteuropa, Südosteuropa und Russland, gute Dienste leisten, grenzen diese doch an andere Geschichtsregionen an, die über "Europa" hinausreichen – an "Eurasien" und die "Arktis" etwa, aber auch an die "Schwarzmeerwelt" oder an die "Levante". Insofern ist dem "Allgemeinhistoriker" Jürgen Kocka gleich in doppeltem Sinne zuzustimmen, wenn er "das östliche Mitteleuropa als Herausforderung für eine vergleichende Geschichte Europas" begreift,47 gilt dies doch sowohl für die historische Mesoregion Ostmitteleuropa als auch für die geschichtsregionale Konzeption gleichen Namens. Generell ist zu konstatieren, dass die teildisziplinäre Gebundenheit des Analyserahmens "Geschichtsregion" in jüngerer Zeit eine Lockerung erfahren hat und dessen Attraktivität auch für Nicht-Osteuropahistoriker(innen) zunimmt. So hat Jürgen Osterhammel in einer Forschungsübersicht zu sieben historiographischen "Europamodellen" ein "Modell der Kulturräume" aufgeführt und darin unter explizitem Verweis auf Halecki und Szűcs auch das "Modell der Geschichtsregion" subsumiert.48 Desgleichen spricht der Kulturhistoriker Hannes Siegrist von "Geschichtsräumen" als zentralen Untersuchungsobjekten vergleichender historischer Forschung – neben "Kulturen", "Gesellschaften" und "Entwicklungspfaden".49 Der Ethnologe Christian Giordano hat den Analyserahmen "Geschichtsregion" unlängst in historisch-sozialanthropologischer Perspektive auf ganz Europa – einschließlich Nord-, West- und Südeuropas – angewandt.50 Der mit Zivilisationsvergleich befasste Soziologe Johan P. Arnason schließlich hat das steigende Interesse an geschichtsregionalen Konzeptionen in Bezug zur Debatte über den welthistorischen "Sonderweg" Europas gesetzt.51
Vor allem aber Kockas zitiertes Postulat, das die Überschrift zu einem Aufsatz bildet, der diese Herausforderung tatsächlich annimmt, belegt, dass sich ein Kreis geschlossen hat: Das in der Zwischenkriegszeit vom Entwicklungspfad des östlichen Europa abstrahierte universalhistorische Untersuchungsdesign der Geschichtsregion ist ein Dreivierteljahrhundert später durch Vermittlung der historischen Osteuropaforschung in der "allgemeinen" Geschichtswissenschaft und weiteren Kulturwissenschaften angekommen. Dass aus dem Trend zur Anwendung geschichtsregionaler Konzeptionen in Kombination mit dem neuen Interesse an space and place ein veritabler regional turn wird, ist mit Blick auf die anhaltenden multiplen Wirkungen des Epochenjahrs 1989 wenn noch nicht prognostizierbar, so doch denkbar.
Stefan Troebst
Anhang
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Anmerkungen
- ^ Arnason, Introduction 2005, S. 387.
- ^ Vgl. Döring / Thielemann, Spatial Turn 2008; Bachmann-Medick, Spatial Turn 2006; Middell, Die konstruktivistische Wende 2005; Weigel, Zum "topographical turn" 2002.
- ^ Vgl. etwa Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit 2003; [Schlögel], Über Räume und Register 2004.
- ^ Geppert / Jensen / Weinhold, Verräumlichung 2005, S. 18. Vgl. auch Schenk, Der spatial turn 2006.
- ^ Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes 1998. Vgl. auch Osterhammel, Raumbeziehungen 2000; Osterhammel, Raumerfassung und Universalgeschichte 2001.
- ^ Schlögel, Die Wiederkehr des Raumes 1999. Vgl. auch Schlögel, Kartenlesen, Raumdenken 2002; Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit 2003; Schlögel, Kartenlesen, Augenarbeit 2004.
- ^ Vgl. Osterhammel, Europamodelle 2004, S. 167–168; Schlögel, Die kulturelle Geographie 2006, S. 126, 131.
- ^ Vgl. Kocka, Das östliche Mitteleuropa 2000; Siegrist, Perspektiven 2003.
- ^ Vgl. grundlegend Strohmeyer, Historische Komparatistik 1999; Troebst, What's in a Historical Region? 2003; Giordano, Interdependente Vielfalt 2003; Schenk, The Historical Regions 2004; Sundhaussen, Die Wiederentdeckung des Raums 2005; Todorova, Spacing Europe 2005.
- ^ Strohmeyer, Historische Komparatistik 1999, S. 47.
- ^ Vgl. Wandycz, East European History 1992; Torke, Was ist Osteuropa? 1998; Zernack, Osteuropa 1977, S. 20–30, 88–92.
- ^ Vgl. Halecki, The Limits and Divisions 1950, S. 105–141. Zu Person und Werk Haleckis siehe Morawiec, Oskar Halecki 2006; Bömelburg, Zwischen imperialer Geschichte 2007.
- ^ Vgl. Halecki, Borderlands 2000.
- ^ Faber, Was ist eine Geschichtslandschaft? 1968; Faber, Geschichtslandschaft 1979; Meier, Abgegrenzt oder offen? 2005. Siehe auch Irsigler, Raumkonzepte 1987.
- ^ Siehe dazu die Schlüsseltexte bei Aubin, Grundlagen 1965. Zur ideologischen wie wissenschaftspolitischen Verortung Aubins vgl. Mühle, Für Volk und deutschen Osten 2005. Aus geographischer Sicht gilt der Begriff des "Kulturraums" mittlerweile als dekontaminiert. Vgl. Ehlers, Kulturkreise 1996; Stöber / Kreutzmann, Zum Gebrauchswert von "Kulturräumen" 2001; Miggelbrink, Die (Un-)Ordnung des Raumes 2005; Jordan, Großgliederung Europas 2005. Zur gleichfalls ideologiefernen Verwendung des Begriffs "Kulturraum" / "Cultural Area" in Ethnologie und Volkskunde vgl. Lederman, Globalization 1998; Rolshoven, Von der Kulturraum- zur Raumkulturforschung 2003.
- ^ Vgl. dazu die einschlägigen Kapitel bei Roth, Studienhandbuch 1999, samt kritischem Echo in Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 49 (2000), S. 242–262, sowie Adanır u.a., Traditionen und Perspektiven 1996; Kappeler, Osteuropäische Geschichte 2001; Goehrke / Haumann, Osteuropa und Osteuropäische Geschichte 2004; Troebst, Geschichtsregionen 2003; Troebst, Nordosteuropa 1999; Troebst, Schwarzmeerwelt 2006; Troebst, Le Monde méditerranéen 2007. Beteiligt hieran waren vor allem Klaus Zernack (vgl. Zernack, Osteuropa, S. 31–66, 92–108; siehe auch Troebst, Zernack 2001), aber auch Werner Conze, Gottfried Schramm, Gotthold Rhode, Mathias Bernath und andere. (Vgl. Conze, Ostmitteleuropa 1992; Schramm, Polen – Böhmen – Ungarn 1985; Rhode, Die Geschichte Ostmitteleuropas 1975; Bernath, Südosteuropäische Geschichte 1970).
- ^ Szűcs, The Three Historical Regions 1983. Vgl. dazu Pók, Die historischen Räume Europas 1997; Landsteiner, Europas innere Grenzen 1993; Janowski, Why Bother About Historical Regions? 2005.
- ^ Kosáry, The Idea of a Comparative History 1988.
- ^ Niederhauser, Kelet-Európa története 2001; Niederhauser, A History of Eastern Europe 2003; Niederhauser, A történetírás törtenéte Kelet-Euroópában 1995.
- ^ Kłoczowski, Historia Europy Środkowo-Wschodniej 2000. Vgl. auch Kłoczowski, East Central Europe 1995 sowie aus exilpolnischer Sicht Wandycz, The Price of Freedom 1992. Zur polnischen Forschung siehe auch Essen, Das östliche Mitteleuropa 2003; Sosnowska, Zrozumieć zacofanie 2004.
- ^ Samsonowicz, La tripartition de l'espace européen 2000.
- ^ Zur geschichtsregionalen Konzeption "Ostmitteleuropa" vgl. Jaworski, Ostmitteleuropa 1991; Hadler, Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas 1998; Bahlcke, Ostmitteleuropa 1999; Zernack, An den östlichen Grenzen 2001; Eberhard, Ostmitteleuropa als historische Strukturregion 2003; Schmale, Die Europäizität Ostmitteleuropas 2003; Mühle, East Central Europe as a Concept 2005; Arnason, Introduction 2005; Troebst, Ostmitteleuropa 2007. Zum Stand der innerfachlichen Debatte vgl. Schramm, Ein Rundgespräch über "Ostmitteleuropa" 2000; Troebst / Schulze Wessel / Ohliger: Chancen und Risiken 2002; Troebst, Zur Europäizität 2006.
- ^ Todorova, The Balkans 1994; Todorova, Imagining the Balkans 1997.
- ^ Sundhaussen, Europa balcanica 1999; Todorova, Der Balkan als Analysekategorie 2002; Sundhaussen, Der Balkan 2003. Vgl. außerdem Kaser, Südosteuropäische Geschichte 2002; Müller, Southeastern Europe 2003.
- ^ Sundhaussen, Der Balkan 2003. Siehe auch Sundhaussen, Südosteuropa und Balkan 1999; Sundhaussen, Was ist Südosteuropa 2002.
- ^ Todorova, Historische Vermächtnisse 2003. Vgl. auch Todorova, Spacing Europe 2005.
- ^ Białostocki, The Baltic Area 1976. Siehe auch Białostocki, The Art of the Renaissance in Eastern Europe 1976.
- ^ Gerstenberg, Ideen zu einer Kunstgeographie Europas 1923; Pieper, Kunstgeographie 1936; Hausherr, Kunstgeographie 1970; Möbius, Von der Kunstgeographie 1983.
- ^ Bakoš, The Idea of East Central Europe 1993.
- ^ Vgl. Murawska-Muthesius, Borders in Art 2000.
- ^ Vgl. Dmitrieva-Einhorn, Gibt es eine Kunstlandschaft Ostmitteleuropa? 2004. Siehe auch Labuda, Zum kunsthistorischen Diskurs über Ostmitteleuropa 1993.
- ^ Vgl. DaCosta Kaufmann, Toward a Geography of Art 2004. Vgl. auch DaCosta Kaufmann, Court, Cloister & City 1995; DaCosta Kaufmann, Die Geschichte der Kunst Ostmitteleuropas 2004; DaCosta Kaufmann, (Ost-)Mitteleuropa als Kunstgeschichtsregion 2007.
- ^ Fried, Ostmitteleuropäische Studien 1994; Fried, East Central Europe 1997. Siehe außerdem Cornis-Pope / Neubauer, History of the Literary Cultures of East-Central Europe 2004. Gleichsam deckungsgleich wird in der Literaturgeschichtsschreibung auch die Konzeption "Mitteleuropa" verwendet, so von Konstantinović / Rinner, Eine Literaturgeschichte Mitteleuropas 2001.
- ^ Fried, Ostmitteleuropäische Studien 1994, S. 59.
- ^ Raßloff, Zur narrativen Modellierung kultureller Interferenzräume 2005. Vgl. auch als neueren literarischen Beleg Stasiuk, Jadąc do Babadag 2004.
- ^ Behring u.a., Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 2004; Neubauer / Török (Hg.): The Exile and Return of Writers from East-Central Europe 2009.
- ^ Vgl. Freise, Der Zerfall der Habsburgermonarchie 2002; Woldan, Der Österreich-Mythos 1996.
- ^ Vgl. Zöldhelyi-Deák, Gondolatok Turgenyev 2003; Zöldhelyi-Deák, Rol' nemeckogo posredničestva 2004.
- ^ Magocsi, Historical Atlas of Central Europe 2002, S. xiii. Bereits 1990 hatte der Politikwissenschaftler Charles Gati diese Rochade durch das Diktum "Eastern Europe is now East-Central Europe" vorbereitet. (Gati, East-Central Europe 1990, S. 129).
- ^ Murawska-Muthesius, Welcome to Slaka 2004. Zu weiteren vornehmlich literarischen Pseudonymen für Ost(mittel)europa bzw. seine Teilregionen vom Typus "Ruritanien", "Herzoslowakien" oder "Pottsylvanien" vgl. Orlinski, Ex oriente horror 2006, S. 144–150.
- ^ Sundhaussen, Die Wiederentdeckung des Raums 2005, S. 30. Siehe auch Sundhaussen, Die Wiederentdeckung des Raums 2005, S. 24, 31.
- ^ Schenk, The Historical Regions of Europe 2004, S. 23f.
- ^ Schmale, Die Europäizität Ostmitteleuropas 2003, S. 196. Siehe auch Koselleck, Zeitschichten 2000; Davies, Europe 1996, S. 9.
- ^ Vgl. Todorova, The Trap of Backwardness 2005.
- ^ Grundlegend Müller, European History 2003; Grundlegend Müller, Wo und wann war Europa? 2004.
- ^ Hildermeier, Wo liegt Osteuropa 2005, S. 349.
- ^ Kocka, Das östliche Mitteleuropa als Herausforderung für eine vergleichende Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 49 (2000), S. 159–174.
- ^ Osterhammel, Europamodelle 2004, S. 167–168.
- ^ Siegrist, Perspektiven 2003, S. 310.
- ^ Vgl. Giordano, Interdependente Vielfalt 2003.
- ^ Vgl. Arnason, Introduction 2005, S. 387.