Voraussetzungen
Eine Geschichte kultureller und künstlerischer Austauschprozesse zwischen "Europa und der Welt" ließe sich gewiss entlang der wesentlichen Marken eines historischen Expansionsnarrativs erzählen: Vom römischen Imperium der Antike und Spätantike, das etwa im Vorderen Orient auf altorientalische Kulturen traf über das Verhältnis zwischen arabischen Stammeskulturen und mediterranen Voraussetzungen, die die Ausbreitung des Islam begleiteten und wesentlich in das so genannte "globale Mittelalter"1 führten. Als bedeutende Globalisierungsmarke der Frühen Neuzeit kann die transatlantische Entdeckung Amerikas mit den daraus resultierenden Kolonialisierungsprozessen gelten, gefolgt von den missionarischen und kolonialen Bewegungen in Richtung der indischen und afrikanischen Subkontinente, Ostasiens und Ozeaniens. Insbesondere China stand während der Aufklärungszeit im Zentrum merkantiler und religiös motivierter Interessen – dies äußerte sich in reziproken Austauschprozessen, mit denen sich einerseits in der europäischen Mode, Architektur und angewandten Kunst der Topos der Chinoiserie entwickelte, andererseits aber auch europäische Architekturen und Darstellungskonventionen exportiert und adaptiert wurden. Ähnliche Prozesse wiederholten sich im Lauf der Neueren und Neuesten Geschichte bis hinein in die Moderne, wobei die Grundbedingungen höchst unterschiedlich sein konnten: So vollzog sich etwa die vergleichsweise späte Öffnung Persiens oder Japans für westliche Reisende und Akteure jenseits einer direkten Kolonialgeschichte, wohl aber unter hegemonialen Vorzeichen, während sich die Eroberung Ägyptens durch das französische Revolutionsheer unter Napoleon Bonaparte (1769–1821)[] oder die Kolonisierung afrikanischer Gebiete im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in militarisierten, von Gewalt geprägten Kontexten vollzog. Zwar nehmen wir an, dass im Verlauf der Moderne bis in die Gegenwart hinein künstlerische Austauschprozesse zunehmend reziprok werden – die oft asymmetrischen historischen Grundbedingungen wirken jedoch bis in moderne und zeitgenössische Diskussionen fort, wenn es um postkoloniale Ansätze der Kunstgeschichte und auch um Verortungen von Objekten geht.
In einer epochenübergreifenden historischen Perspektive bietet gerade der Blick auf Materialkulturen und den Austausch künstlerischer Gegenstände und Techniken produktive Einblicke: Eine so genannte 'globale Kunstgeschichte', die sich etwa auf Objekte und ihre Zirkulation konzentriert, bildet nicht zuletzt auch ein besonders exponiertes Segment sozialer und ökonomischer Kontakt- und Konfliktgeschichte ab. Eine solche Geschichte zeigt Europa zwangsläufig nicht konstant als Zentrum, sondern als Knotenpunkt eines umfassenden globalen Netzwerkes, womit die traditionell eurozentrischen, entwicklungsgeschichtlich geprägten Kategorien und Erzählungen westlicher Kunst- und Geschichtswissenschaft fundamental in Frage gestellt werden.2
Damit eng verbunden ist die Infragestellung geographischer oder politischer Grenzen als Ordnungskategorien – zumal jede Grenzziehung historischen Verläufen unterworfen und somit "porös" ist.3 Thomas DaCosta Kaufmann (geb. 1948) hat etwa gezeigt, wie sich wandelnde Konzepte von Geographie durchaus bereits in die Methodengeschichte der Kunstgeschichte eingeschrieben haben und es noch sind: Anhand von Fallstudien aus Europa und Zentraleuropa, Amerika und einem Ausblick auf Japan unterscheidet er physische, kulturelle, künstlerische und andere Geographien. Die Geographie der Kunst – mitsamt ihren Grenzen und Kontaktzonen – kann dabei eng mit Identitätsverhandlungen verbunden sein, sei aber nicht unbedingt deckungsgleich mit kultureller Geographie zu denken.4 Dieser Artikel strebt in diesem Sinne keine lineare, empirische Austauschgeschichte zwischen "Europa und der Welt" an, sondern versteht sich als eine exemplarisch aufzufassende Darstellung, die einige Momente des Austauschs zwischen unterschiedlichen europäischen Bau- und Bildkünsten im Verhältnis zur "Welt" in den Blick nimmt. Dabei sollen zentrale Begrifflichkeiten, Prinzipien und Akteure kultureller Austauschprozesse im Feld der Künste aufgezeigt werden. Dies zielt auch auf eine zukünftige Anschlussfähigkeit an fortschreitende empirische und konzeptuelle Kanonerweiterungen ab: Kunstgeschichte als Geschichte der Wanderungen von Menschen, Konzepten und Gegenständen kann in diesem Sinne dazu beitragen, eine Vorstellung von Europa als ideengeschichtlichem Substrat zu stärken, diese Vorstellung zugleich aber auch im Rahmen einer erweiterten Kunstgeschichte der globalen Bezüge immer wieder neu aufzustellen und einzuordnen. Die Wandelbarkeit und Relevanz des Konzepts Europa zeigt sich somit gerade anhand materialkultureller Austauschprozesse.
Denkmodelle und Terminologien
Die im Titel dieses Beitrags aufgerufene Verbindungslinie zwischen "Europa und der Welt" erfordert somit zunächst einen kritischen Blick auf einige Denkmodelle und Terminologien der Kulturwissenschaften, die schließlich auf unterschiedliche Lesarten "globaler" oder geo-historisch erweiterter Kunstgeschichte hinführen.5 Ein wichtiger Begriff ist der des Eurozentrismus, der im allgemeinsten Sinn eine Dominanz europäischer Werte, Normen, Metriken, Sprachen und Analysekategorien bezeichnet. Im Bereich der Künste kann dies etwa die kanonische Überrepräsentation europäischer Künstler (und, in geringerer Zahl, Künstlerinnen) in kunsthistorischen Narrativen, musealen Sammlungen und Präsentationen oder auf dem Kunstmarkt bedeuten. Unmittelbar damit verbunden ist die Höherbewertung von Kunstgattungen wie autonomer Malerei und Skulptur oder von Darstellungskonventionen wie mimetischer Naturnachahmung oder Zentralperspektive, die sich in Europa seit der Renaissance mit Bezug auf eine griechisch-römische Antike herausgebildet haben. Eine eurozentrische Betrachtungsweise blendet entweder aus, was außerhalb liegt, oder kategorisiert hierarchisch.
Historiographie
Hier zeigt sich die Auswirkung eines teleologischen Geschichtsverständnisses, in dem außereuropäische Kunst ebenso wie etwa prähistorische Kunst auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe verharrt, mithin also aus dem Bereich des Zivilisierten teilweise oder vollständig ausgeschlossen bleibt. Die Begrifflichkeit des "Primitiven" oder "Primitivismus" ist eng mit dieser Vorstellung verbunden: Sie wurde und wird oft überwiegend mit Kulturen und Kunsterzeugnissen aus dem sub-saharischen Afrika, aus Ozeanien oder den indigenen Völkern Nord- und Südamerikas verbunden, während der Islamischen Welt, Indien und China als so genannten "orientalischen Schriftkulturen" verhältnismäßig mehr eigene Geschichtlichkeit und Entwicklung zugestanden wird. Diese Kategorisierungen gehen mitunter aus anthropologischen oder philologischen Wissenschaftstraditionen hervor. Die Kunstgeschichte, die mit visuellen Medien, Materialkulturen und ihren häufig sozial konnotierten Erzeugnissen hantiert, scheint jedoch besonders anfällig für derartige Hierarchisierungen, bilden doch provenienz- und autorenzentrierte Narrative, höfische und andere Elitenkulturen sowie akademisierte oder institutionalisierte ästhetische Normen ihre zentralen historischen Bezugs- und Bewertungsrahmen. Praktisch zeigt sich dies insbesondere in historischer Perspektive dort, wo eine außereuropäische Kultur dann als höherwertiger oder "relevanter" gilt, wo sie in der mimetischen Naturnachahmung westlichen Kategorien näher scheint, oder wo sich höfische Kulturen ausmachen lassen, die Vergleichsmomente oder gar direkte Verbindungen mit einem "goldenen Zeitalter" der europäischen Geschichte wie etwa der Renaissance erlauben. In moderner, avantgardistischer Perspektive kann dieses Verhältnis sich dergestalt umdrehen, dass das so genannte "Primitive" als authentischer und unmittelbarer gilt – dies entspricht dem aufklärerischen Topos des "Edlen Wilden", der zwar affirmativ gelesen wird, aber dennoch vor allem außerhalb der westlichen Zivilisation verortet ist. Im oft bemühten Begriffspaar europäisch/außereuropäisch erweitert sich somit zwar die empirische Perspektive, zugleich bleiben aber streng genommen Norm und Abweichung gesetzt.
In diesem Zusammenhang ist auch der Stellenwert zu betrachten, der außereuropäischen Kulturen im Rahmen der Universalkunstgeschichten zukommt, wie sie sich seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts als historiographisches Genre etablierten. Deutsche Gelehrte waren hier oft federführend – so gilt Franz Kuglers (1808–1858) Handbuch der Kunstgeschichte, erstmals erschienen 1842, als erstes Überblickswerk mit globalem Anspruch, da es seinen gesamten ersten Abschnitt der Kunst außereuropäischer "Völker" widmet. Zusammen mit prähistorischer Kunst sind sie jedoch als "frühere[n] Entwicklungsstufen" kategorisiert.6 In den folgenden Jahrzehnten festigt die Kunstgeschichte sich endgültig als Fachdisziplin. Methodisches Instrumentarium und Gegenstandsbasis erweitern sich in dieser Zeit kontinuierlich – letzteres auch als Begleiterscheinung einer zunehmend expansionistischen Politik. Technische Fortschritte in Bildgebung und Reproduktion beschleunigen die Zirkulation von Abbildungen, was wesentlich zur Bekanntheit außereuropäischer Objekte beiträgt, insbesondere sofern sie sich bereits in westlichen Sammlungen befinden. Das von Kugler geprägte Format des Handbuchs bleibt während dessen ein bedeutendes Instrument der Kanonbildung, immer an der Schnittstelle zur breiteren gesellschaftlichen Kunstwahrnehmung. 1929 etwa erscheint in Leipzig eine Neuausgabe des Handbuchs der Kunstgeschichte, die in verdichteter Weise anschaulich macht, wo sich die Kunstgeschichte allgemein und im Verhältnis zur Kunst der "Welt" während der Zwischenkriegszeit befindet: Der sechste und letzte Band fasst Die aussereuropäische Kunst zusammen. Die Kapitel "Ostasiatische Kunst", "Indische Kunst", "Islamische Kunst", "Afrikanische Kunst", "Indianische Kunst Amerikas" und "Malaiisch-Pazifische Kunst" werden hier als summarische Kategorien aufgerufen, die von ausgewiesenen europäischen Experten (unter ihnen als einzige weibliche Autorin Stella Kramrisch (1898–1993)) anhand bedeutender Museums- und Sammlungsbestände geschildert werden.7 Die Einleitung des Asienspezialisten Curt Glaser (1879–1943) – eines Berliner Museumsmannes – demonstriert, wie aus Ethnographica im Blick der Europäer und in europäischen Institutionen nach und nach Kunst wurde – und wie diese Entwicklung an eine Idee von Form und Stilgeschichte gebunden war, die historische Hintergründe und Kontexte weitgehend ausblenden konnte.8 So wurden die Objekte sozusagen im Moment ihrer "Kunstwerdung" aus ihren Herkunftskontexten herausgelöst, rückten ein Stück weit näher an den europäischen Kanon, wurden aber auch auf ihre formalen Eigenschaften reduziert. Dies stellt einen klaren Akt der Appropriation dar, in dem die Herkunftskulturen kaum eine Artikulationsmöglichkeit behalten. Diese Übernahme von Gegenständen in einen vermeintlich universalen Diskurs war offenbar auch eine notwendige Voraussetzung dafür, das große Thema der Kunst der gesamten Welt manövrierbar zu halten: Die Konzentration auf formale und technische Betrachtung erlaubte es, Objekte unterschiedlichster Provenienz zu beurteilen und zu kategorisieren. Dies führte unweigerlich zu Essentialismen und Reduktionen. Der Band des Handbuchs führt dies anschaulich vor Augen: Die materialkulturellen Erzeugnisse mehrerer, weit voneinander entfernter Erdteile oder Kulturen, beinahe jeder von ihnen geographisch weit ausgedehnter als Europa, werden in einem einzigen Band zusammengefasst. "Afrika" erscheint dabei ebenso als undifferenzierte Großkategorie wie "der Islam". Dem gegenüber stehen fünf einzelne Bände für die wichtigsten Epochen europäischer Kunst – europäische Kunstgeschichte hat also einen Verlauf, eine innere Dynamik, während die außereuropäischen Themen als eine Art Annex dazu statisch an grobe geographische oder kulturalistische Schlagwörter gebunden bleiben. Exemplarisch zeigt sich hier eine epistemische Schieflage europäischer Kunstrezeption im Verhältnis zur Welt außerhalb Europas.
Diese Schieflage bleibt also auch dann bestehen, wenn im Verlauf der Ideen- und Kulturgeschichte affirmativ auf "das Andere" zugegriffen wird – etwa in der Vorstellung des "edlen Wilden" der Aufklärungszeit oder im künstlerischen "Primitivismus" der Expressionisten: Gerade die vergleichende Methodik einer stilgeschichtlich operierenden Kunstgeschichte trug dazu bei, dass die Ästhetik des so genannten "Fremden" in solchen Kontexten typischerweise als Gegenlager, Bestätigung oder Katalysator eigener Vorstellungen dienen konnte, etwa wenn es um die Überwindung der mimetischen Naturnachahmung ging.9 Der schließlich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte Begriff der "Weltkunst" ist kritisch vor diesem Hintergrund zu betrachten, da seine Genese innerhalb einer universalistisch geprägten deutschsprachigen Ideengeschichte verankert ist.10 Konzepte wie etwa André Malraux' (1901–1976) Musée Imaginaire bezeugen seine transnationalen Varianten in Europa, deren Wirkung sich bis heute fortschreibt.11
Den Versuch, die Künste Europas im Verhältnis zu den Künsten der Welt innerhalb eines empirisch umrissenen Kanons und als Element einer linearen Welt- oder Europageschichte summarisch darzustellen, dürfte vor diesem Hintergrund heute also niemand mehr ernsthaft in Erwägung ziehen. Insbesondere die postkolonial geprägten Regional- und Kulturwissenschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich zu einer Erweiterung der Perspektiven beigetragen. Dazu zählen etwa die Diskussionen um Verflechtungsgeschichten (Histoires Croisées / Entangled Histories),12 um kulturellen Austausch,13 um Kontaktzonen und Objektbiografien.14 Indem Kunstgeschichte, Museum und künstlerische Praxis solche Denkmodelle aufgreifen und entwickeln, ermöglichen sie einen differenzierteren Blick auf die Gegenseitigkeit und Komplexität von Austauschprozessen, die über binäre Vorstellungen von "Europa und der Welt" hinausgehen. Auf diese Weise können die primären Kontexte und die europäischen Wirkungsgeschichten von Kunstwerken kritisch miteinander in Beziehung gesetzt werden. Zugleich erweist sich an solchen Fragestellungen die Notwendigkeit einer interdisziplinären Betrachtungsweise: So bald es darum geht, die Welt nicht nur von Europa aus zu betrachten, sondern unterschiedliche, differenziert zu betrachtende Kulturen in ein reziprokes Verhältnis zu europäischen Kunsttraditionen zu setzen, erfordern die dafür relevanten sprachlichen, historischen und kulturellen Kontexte ein breites Spektrum von Perspektiven und Kompetenzen. Sie legen eine enge Zusammenarbeit mit Nachbardisziplinen wie Ethnologie, Anthropologie, Geschichtswissenschaft, Area Studies und anderen Feldern nahe.
Beispiele dafür, wie Kunst und Kunstgeschichte produktiv in solchen Zusammenhängen erscheinen, lieferte etwa der Bereich der Mittelmeerstudien. Kunsthistorische Ansätze, die sich mit der Mobilität von Objekten und künstlerischen Praktiken beschäftigten, trugen hier wesentlich zu einer Erweiterung der historiographischen und geographischen Perspektiven bei. Dabei wird nicht nur der Mittelmeerraum selbst als unmittelbare Kontaktzone zwischen einem geo-historischen und kulturellen Norden und Süden gelesen – er wird auch in eine Geschichte der größeren globalen Bezüge eingeordnet.15
Ein solches Projekt ist eng mit dem weniger geographisch als konzeptionell gedachten Denkmodell der "multiple histories" verbunden. Es geht davon aus, dass einzelne Objekte oder Ereignisse aus unterschiedlichen Vorgeschichten erklärbar sind – oder dass es unterschiedliche Auffassungen von Geschichte zur gleichen Zeit geben kann. Insbesondere für die koloniale und postkoloniale Periode hat sich die Vorstellung multipler Modernen gerade in der Kunstgeschichte als fruchtbar erwiesen.16 Die damit einhergehende Erweiterung der Gegenstände und Fragestellungen korrespondiert schließlich mit der Dezentrierung Europas, wie sie postkoloniale Autoren definiert und gefordert haben.17 Vor diesem breiteren Hintergrund ist die thematische Ausrichtung dieses Artikels zu verstehen: Die grundsätzliche Aufforderung, eine Kunstgeschichte über "Europa und die Welt" zu zeigen – also mit einer primär von Europa aus gedachten Rezeptionsrichtung – ist einerseits nur einer von vielen möglichen Blickwinkeln innerhalb einer größeren Konstellation. Andererseits ist "die Welt" als Bezugsrahmen so universell, dass jeder Versuch einer umfassenden Darstellung zwangsläufig zurück zu Essentialismen und Generalisierungen führen müsste. Dies mag einer der Gründe sein, warum kaum wirklich aktuelle Gesamtdarstellungen "globaler Kunstgeschichte" vorliegen.18
Verflechtungsgeschichten: Das Beispiel Europas und der Islamischen Welt
Vor Europa: Verflechtungs-Kunstgeschichten und longue durée
Die im Folgenden herangezogenen Beispiele zu einer Austausch- und Kontaktgeschichte werden sich überwiegend auf das Verhältnis zur islamisch geprägten Welt beziehen. Diese Wahl ist nicht nur einem besonderen Interessenschwerpunkt der Verfasserin geschuldet. Sie erscheint auch plausibel durch die historische Kontinuität der Kontakte, die sich allein durch die relative geographische Nähe ergab. Der Gedanke der Verschränkung ist dabei auch geographisch durchaus wörtlich zu nehmen, denn sowohl historische Zeugnisse als auch lebendige Kontinuität islamischer Kulturen sind heute auf europäischem Boden zu finden – von den Stätten und Auswirkungen des so genannten "maurischen" Spanien oder des fatimidischen Sizilien über die westlichen Ausläufer des Osmanischen Reiches auf dem Balkan bis zur lebendigen und vielfältigen islamischen Diaspora-Kultur der Gegenwart. Manche Beispiele reichen weit zurück und sind wesentlich älter als das moderne Konzept Europa, wirken jedoch bis heute fort – so ist etwa die in der Geschichte von Al-Andalus begründete Diskussion um das Prinzip einer Convicencia der Kulturen eng mit der modernen Identität Spaniens verknüpft, und sie prägt bis heute die Rezeption bedeutender Monumente wie der Alhambra oder künstlerischer Stile wie des Mudéjar.19 Mithin findet sich beim Blick auf Europas Kontakte mit der islamischen Welt eine große qualitative Bandbreite des Austauschs durch unterschiedliche historische Konstellationen hindurch, von diplomatischen Beziehungen auf Augenhöhe bis zur kolonialen Ausbeutung, von lokal begrenzten bis zu Kontinente überschreitenden Kontakten. Zudem scheint das Verhältnis zum Islam bis heute eine besondere Indikatorfunktion für das Potenzial transkultureller Offenheit in europäischen Gesellschaften zu transportieren. Europas Haltung zu islamischen Kulturen zeigt eine besondere Schwankungsbreite – zwischen den Extremen schwärmerischer Idealisierung[][] und irrationaler Dämonisierung. Es ist evident, dass diese Voraussetzungen vielfach nicht vergleichbar sind mit denen anderer Kulturen und Erdteile, die geographisch weiter entfernt sind, die nicht durch die Gemeinsamkeit einer monotheistischen Schriftkultur mit Europa verbunden waren, die seit der Frühen Neuzeit in erster Linie Ziel kolonialer Unterdrückung und Ausbeutung waren. Genau darin liegt aber ein weiterer Grund, weshalb eine Kunstgeschichte Europas und der Welt nicht universal oder auch nur summarisch zu erzählen ist.
Mittelalterliche Kulturkontakte: geteilte Elitenkulturen, hybride Objekte
Ein Gegenstand, der etwa beispielhaft mit den oben geschilderten Fragekomplexen verbunden ist, ist das so genannte Arenberg Becken, ein Bassin von 50 cm Durchmesser aus Messing mit Silbertauschierung. 1955 gelangte es in die Freer and Sackler Galleries in Washington – zuvor hatte es der herzoglichen Familie von Arenberg gehört. Bis heute ist es bekannt unter dem Namen seines modernen europäischen Besitzers. Entstanden ist es vermutlich um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Damaskus. In ayyubidischer und mamlukischer Zeit entwickelten sich zunächst Damaskus und Kairo zu besonderen Zentren der Metalltauschierkunst. Solche prächtigen und großformatigen Gefäße kursierten bald als luxuriöse Statussymbole in der islamischen Welt, wurden sogar bis in den Jemen exportiert – und schließlich, sicher auch vermittelt durch die Kreuzzüge – nach Europa. So erklärt es sich, dass manche dieser figürlich gestalteten Objekte eine christliche Ikonographie zeigen. Auch eine der Figurengruppen am Arenberg-Becken wurde mitunter als "Einzug Christi in Jerusalem" gelesen. Bei einer ganzen Reihe von Metallobjekten, die bis ins 16. Jahrhundert hinein datiert werden, diskutiert die Kunstgeschichte darüber, ob sie Exportprodukte aus dem Nahen Osten sind, oder europäische Abwandlungen "orientalischer" Vorbilder, oder ob levantinische Handwerker in europäischen Kunstzentren wie Venedig ansässig gewesen sein könnten, wo sie solche Stücke herstellten.20 Hier haben wir es also mit einer ganz besonders engen Verschränkung von islamischer und europäischer Materialkultur und Ästhetik zu tun, in der beide Sphären kaum mehr zu trennen sind. Es handelt sich um eine anscheinend recht selbstverständliche Assimilierung oder Verschmelzung unterschiedlicher ästhetischer Konventionen, wenn solche und ähnliche Objekte auch zum universalen Element einer europäisch-mediterranen Elitenkultur wurden. Solche Gegenstände, die sich an der Grenze zwischen Gebrauchsgegenstand und repräsentativem Kunstwerk befinden und durch Format, Material und Funktion prädestiniert dafür sind, weite Strecken als Konsum- und Exportgüter, in manchen Fällen auch als Geschenke oder Beutestücke (etwa während der Kreuzzüge) zurückzulegen, waren über geographische und epochale Grenzen hinweg stets bedeutende Träger von Austauschprozessen. Zahlreiche Beispiele für solche prä- oder frühmodernen Objektwanderungen finden sich auch im sakralen Kontext, wenn etwa Gefäße, Textilien oder andere Artefakte aus der islamischen Welt in Kirchenschätze aufgenommen und sogar zu Reliquiaren umfunktioniert wurden.21
Die 'globale' Dimension der Frühen Neuzeit
Dies steht in direkter Kontinuität mit der globalen Dimension der Frühen Neuzeit: Diese erste Periode europäischer Expansion im großen Format erweiterte nicht nur buchstäblich das Weltbild durch die Entdeckung und Kolonisierung beider amerikanischer Kontinente. Die imperialen, merkantilen und wissenschaftlichen Bestrebungen dieser Zeit führten auf vielfache Weise zu einem vermehrten Austausch. Wo Europäer dabei auf imperiale Strukturen und Schriftkulturen stießen, war die Begegnung tendenziell in höherem Maß von Gegenseitigkeit geprägt. Dass die Kunst- und Wunderkammern der Renaissance dabei zum epistemischen Fluchtpunkt einer umfassenden humanistischen Welterfassung wurden, in dem sich Naturalia und Artificialia unterschiedlichster historischer und geographischer Provenienzen begegneten, ist nur ein Aspekt frühmoderner Austauschgeschichte.22 Venezianische Maler wie Gentile Bellini (1429–1507) hielten sich etwa am Hof Sultan Mehmeds II. (1432–1481)[] in Konstantinopel auf, während in den Werken Lorenzo Lottos (1480–1556), Vittore Carpaccios (1455–1526) und zahlreicher anderer Künstler Zeugnisse nahöstlicher Materialkultur in Form von Textilien, Objekten oder architektonischen Elementen erschienen.23 Neben dem direkten Austausch von Gegenständen wurden somit künstlerische Medien wie Zeichnung und Gemälde zunehmend zum weiteren wichtigen Instrument, sie vermitteln – oft präzise, oft in freier künstlerischer Interpretation – außereuropäische Materialkultur, zugleich appropriieren sie sie für das Projekt europäischer Kunst. Ein berühmtes Beispiel dafür sind die minutiös portraitierten Teppiche, die in den Gemälden Jan Vermeers van Delft (1632–1675) und vieler seiner Zeitgenossen erscheinen und deren Farbkompositionen mitunter sogar den koloristischen Aufbau des gesamten Bildes leiten.24
Damit sei insgesamt keineswegs das idealisierte Bild eines stets konfliktfreien historischen Kulturaustauschs impliziert – vielmehr geht es darum, anhand objektbezogener Fallbeispiele künstlerischer Begegnung dem eigentlich selbstverständlichen Bewusstsein Ausdruck verleihen, dass zwischen den Ästhetiken der Differenz, der Konvergenz und der Assimilation praktisch immer eine breite Skala von Grau- und Zwischentönen zu finden ist.
Moderne Paradigmen: Nation, Sammlung, Provenienz
Der Terminus "Europa" in seinem modernen Sinn geht jedoch vor allem von der von Nationen geprägten europäischen Ordnung seit oder nach der Aufklärungszeit aus: eine Periode, in der sich internationaler Austausch aus politischen und technischen Gründen rapide beschleunigte und die am unmittelbarsten als Vorgeschichte unserer gegenwärtigen globalisierten Welt zu begreifen ist. Vor diesem Hintergrund könnte es naheliegen, Partikulargeschichten einzelner Nationen, ihrer Kunstgeschichten und Institutionen im Verhältnis zur "Welt" zu schreiben. Imperiale und koloniale Bestrebungen gehören zu den prägendsten realpolitischen Entwicklungen dieser Periode und sind eng mit den Narrativen der Nationenbildung verbunden. Die Weltausstellungen etablierten sich als Umschlagplätze für Kunst und Handel gleichermaßen – sie trugen westliche Waren und Techniken in die Welt, zugleich erschien das Kunsthandwerk außereuropäischer Kulturen hier als Vorbild, das zu einer Erneuerung der angewandten Künste in Europa beitragen sollte.25 Dies war ein bedeutender Weg, auf dem außereuropäische Objekte im 19. Jahrhundert zunächst in kunstgewerbliche und ethnographische Sammlungen und schließlich in Kunstmuseen gelangten.
Ein kritischer Blick auf die Museums-, Sammlungs- und Provenienzgeschichten einzelner europäischer Länder hat in der Tat in den letzten Jahren eine Reihe neuer Erkenntnisse etwa zum künstlerischen Orientalismus oder zur Sammlungs- und archäologischen Ausgrabungspraxis nationaler Museen und Institutionen zutage gefördert.26 Weit über das Beispiel des Nahen Ostens hinaus sind dabei nicht zuletzt die zahlreichen, qualitativ und im Detail höchst unterschiedlichen Problematiken von Provenienz und Restitution zutage getreten, die aktuell zu den virulentesten Fragen nationaler Kulturpolitik in vielen europäischen Ländern zählen. Hier seien nur zwei besonders prominente Beispiele einer mittlerweile umfassenden Debatte genannt: Die berühmte Nofretete-Büste im Neuen Museum in Berlin, im Rahmen einer umstrittenen archäologischen Fundteilung Anfang des 20. Jahrhunderts nach Deutschland gelangt, wurde und wird immer wieder von den ägyptischen Antikenbehörden zurückgefordert.27 Die Marmorfiguren vom Giebel und Fries des Parthenon auf der Athener Akropolis kamen Anfang des 19. Jahrhunderts auf zunächst private Initiative von Thomas Bruce Lord of Elgin and Kincardine (1766–1841) nach London. Griechenland stand zu diesem Zeitpunkt unter der Herrschaft des Großosmanischen Reiches. Heute sind die Figuren integraler Bestandteil eines kulturellen Identitätsnarrativs der modernen griechischen Nation, ihre Abwesenheit war sogar die Initialzündung für den Bau eines neuen Akropolis-Museums, dessen Rhetorik und architektonische Semantik sich wesentlich aus dem Fehlen der wichtigsten figurativen Elemente des Parthenons speist. In den jüngeren Auseinandersetzungen um die Position Griechenlands innerhalb der Europäischen Union erlangte die Debatte um ihre mögliche Rückführung neue Virulenz und wurde einmal mehr zur politischen Metapher. Dieses Beispiel ist heute eindeutig Teil einer innereuropäischen Diskussion und bezieht sich auf ein Werk der klassischen Antike. Im historischen Kontext der Erwerbungsgeschichte aber weist es auf eine Zeit zurück, in der völlig andere politische Konstellationen, Machtverhältnisse und Grenzziehungen galten, zeigt somit also auch die Volatilität des Konzepts Europa und seiner Grenzen im Zeitverlauf. 28 Die aus solchen Konstellationen resultierenden Debatten über die Restitution von Kunstwerken erweisen sich mehr und mehr als Lackmustest für den Umgang europäischer Nationen mit ihrer direkten oder indirekten imperialen Vergangenheit und wirken sich unmittelbar auf gegenwärtige politische Positionen und diplomatische Beziehungen aus. Insgesamt betrifft das Thema der Restitution zahlreiche postkoloniale Konstellationen weltweit und geht auch dezidiert über den von der Kunstgeschichte adressierten Rahmen hinaus, häufig sind etwa auch sterbliche Überreste in anthropologischen und ethnographischen Sammlungen betroffen. Ansätze wie der eines "shared heritage", für das europäische Sammlungen und Herkunftsgesellschaften gleichermaßen verantwortlich sind, können zu einer Neubewertung und auch zur konkreten Rückgabe bzw. -nahme von Objekten beitragen. Im Mittelpunkt sollen hier die Herkunftsgesellschaften stehen, die im Lauf der Kunst- und Sammlungsgeschichte Europas über weite Strecken als Akteure ausgeblendet wurden und häufig erst im Zuge postkolonialer Bewegungen als intellektuelle Gesprächspartner wahrgenommen wurden. Museen und Sammlungen außereuropäischer Kulturen und Künste sind mithin weiterhin aufgefordert, ihre Besitzprivilegien in Frage zu stellen. Dies bedeutet, entweder konkret oder ideengeschichtlich die Herauslösung von Beständen aus einem institutionell gerahmten Diskurs zuzulassen.
Dieser Themenkomplex erfordert Vertiefung in jedem Einzelfall. An ihm erweisen sich jedenfalls besonders deutlich die Asymmetrien, die Europa im Kontakt mit der Welt über Jahrhunderte hinweg privilegiert haben und die mitunter bis heute nur langsam ins Bewusstsein von Fach, Institutionen und breiterer Öffentlichkeit rücken.29
Übersetzungsfragen: Kunstbegriffe, Hierarchien, Kategorien
Ohne also den Blick für solch notwendige Differenzierungen und offene Fragestellungen zu verlieren, sind darüber hinaus aber gerade die historisch gesicherten transnational übergreifenden Strömungen und Tendenzen von Interesse – sie werden mehr und mehr die Frage in den Vordergrund stellen, in wie fern es über nationale Narrative und Praktiken hinweg einen charakteristisch "europäischen" Blickwinkel gab oder gibt. Das Feld der Kunstgeschichte und künstlerischen Praxis scheint prädestiniert, um solche ideengeschichtlichen Fragen anschaulich zu machen. Auf der gegenständlichen Ebene stellt sich jedoch zunächst ein weiteres begriffliches Problem: Wie spricht man über künstlerische Austauschprozesse, wenn der tradierte westliche Kunstbegriff weder interkulturell eindeutig übersetzbar, noch im Zeitverlauf stabil bleibt? Am Beispiel islamischer bzw. arabischer Kunst lässt sich dies wiederum gut demonstrieren: Das arabische Äquivalent für "Kunst" lautet fann, in der Mehrzahl funun. Es bringt aber andere Konnotationen mit sich, da es sich eher auf eine Gattung des Wissens bezieht als auf eine idealistisch geprägte ästhetische Kategorie.30 Diese Übersetzungsunschärfe verliert möglicherweise angesichts eines entgrenzten modernen und postmodernen Kunstbegriffs sukzessive an Bedeutung – im historischen Bezugsrahmen jedoch spiegelt sich diese Konstellation beim Blick auf die Gegenstände wider. Insbesondere gilt dies, wenn man die Architektur – ein Feld mit eigener Semantik – außen vorlässt: Während sich die Hauptwerke eines europäischen Kanons überwiegend aus großformatiger Malerei, Skulptur und Plastik rekrutieren, findet die historische islamische Kultur ihre Höhepunkte in Werken der Miniatur und der angewandten Künste: Teppiche, Gefäßkeramiken , emaillierte Gläser und – wie im oben angeführten Beispiel – tauschierte Metallwaren bestimmen hier etwa das Bild. Während die ästhetische Schöpfungshöhe solcher Werke evident ist, stehen sie doch in einem ambivalenten Verhältnis zum tradierten Begriff der Kunst. Nicht zuletzt aus diesem Grund liefert der Bereich der islamischen Kunst aussagekräftige Fallbeispiele für künstlerische Austauschprozesse zwischen "Europa und der Welt": Hier erweisen sich die Probleme einer vergleichenden oder kategorisierenden Kunstgeschichte, die etwa entlang der Paradigmen der Mimesis oder des autonomen Kunstwerks geführt werden.
Die Vorstellung einer "islamischen Kunst" ist vielen Objekten mit nahöstlicher Provenienz nicht per se eingeschrieben. Sie entstand vielmehr im Blick westlicher Sammler und Kunsthistoriker, die ihnen seit der Wende zum 20. Jahrhundert mehr und mehr Aufmerksamkeit widmeten31 – und sie nicht selten aus ihren kulturellen und lebensweltlichen Kontexten entfernten, wozu die inhärente Mobilität solcher Objekte wesentlich beitrug.32
Andererseits begannen zur gleichen Zeit außereuropäische Künstler an europäischen Akademien zu studieren, Institutionen und Formate wie Salon und Akademie wurden auf Metropolen der weiteren Welt übertragen. Dies konnte auf lokale Initiativen ebenso zurückgehen wie auf das Sendungsbewusstsein kolonialer Mächte. Ein sprechendes Beispiel für solche Verflechtungen ist etwa Osman Hamdi Bey (1842–1910), der in Paris Jura und Malerei studierte, um die Wende zum 20. Jahrhundert eine Kunsthochschule in Istanbul gründete, zugleich aber auch eine bedeutende Funktion in der osmanischen Antikenbehörde einnahm. Seine auf den ersten Blick klassisch orientalisierenden Gemälde zielen auf ein westliches Publikum ab, sie gehen jedoch über das romantisierende Klischee hinaus und sind häufig auch Stellungnahmen zur Bedeutung des historischen kulturellen Erbes für eine moderne osmanische Identität .33
Ein bedeutender Befund, der sich aus solchen Beispielen auf weitere Varianten transkultureller Begegnungen übertragen lässt, ist also, dass der Austausch mit anderen Kulturen die Kategorien westlicher Kunstrezeption herausfordert: Unter eurozentrischen Bedingungen führt dies zu einer Hierarchisierung, zu der Annahme, dass die großen autonomen Kunstformen nur in Europa zur vollen Blüte gelangten. Im besten Fall kann es aber auch dazu beitragen, dass starre Unterscheidungen zwischen "hoher" und "angewandter" Kunst auf grundsätzliche Weise in Frage gestellt werden.
Fazit und Ausblick – Zu einer Kunstgeschichte der Konstellationen
Gibt es ein übergeordnetes Destillat aus diesen Überlegungen zu künstlerischen und materialkulturellen Beziehungen zwischen "Europa und der Welt"? Bereits am Beginn dieses Beitrags stand die Feststellung: Umso mehr Verflechtungs-, Kontakt- und Austauschgeschichten in den Vordergrund treten, umso weniger lässt sich (Kunst-)Geschichte linear erzählen, und umso problematischer werden tradierte universale Ordnungsprinzipien, wie sie etwa die Handbücher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts suggeriert haben, mitunter mit weitreichender Wirkung bis in unsere Zeit. Dass sich Gegenstände, Kunstwerke, Akteure und künstlerische Praktiken über Grenzen hinwegbewegen, wird heute jedoch als Grundzustand einer "globalen" Kunstwelt der Gegenwart angenommen – zwar sind auch diese "cultural flows" geprägt von ökonomischen, politischen und ideologischen Asymmetrien. Dies kann als Zustand einer gesteigerten – jedoch historisch begründeten und gewachsenen – Komplexität beschrieben werden. Eine mögliche Antwort darauf könnte das Denken in Konstellationen sein: Die Bedeutung des Begriffs "Konstellation" leitet sich aus seiner Verwendung in der Astronomie ab: Die Beobachtung der Sterne hat zur Beschreibung von Zusammenhängen und Mustern geführt, die nicht notwendigerweise dem Kosmos selbst inhärent sind, sondern vom Betrachterstandpunkt der Erde aus definiert werden. Da jeder Orientierungsakt einen Fixpunkt benötigt, impliziert der Begriff der Konstellation einerseits eine starke hierarchische Ordnung, einen definierten und gerichteten Blickwinkel. Das Denken in Konstellationen ist andererseits auch von einer dynamischen zeitlichen und räumlichen Dimension geprägt, da es mit der Vorstellung einer Veränderung im Sinne einer zyklischen, sich wiederholenden Ordnung operiert. Somit könnte sich der Begriff der Konstellation als fruchtbare Denkfigur für das Studium und die Analyse der materiellen Kultur und ihrer epistemischen Wahrnehmungsregeln anbieten. Im Bereich der visuellen und kunsthistorischen Studien können damit künstlerische Manifestationen beschrieben werden, die nicht nur miteinander in Beziehung stehen, sondern auch mit der Welt und über die Zeit, ohne jedoch notwendigerweise eine Prädestination oder einen teleologischen Determinismus zu implizieren. Dementsprechend wird die im historischen Verständnis des Begriffs der Konstellation implizierte zeitliche und räumliche Dimension in ihrer modernen Interpretation zunehmend dynamischer, potenziell sogar "chaotisch" und multidirektional. Hier wird sein Potenzial für eine Ausweitung auf das Feld der kulturellen Differenz oder der interkulturellen Dynamik deutlich. Der Kurator und Kunsttheoretiker Okwui Enwezor (1963–2019) hat das Paradigma einer "postkolonialen Konstellation" beschrieben,34 die aus Dichotomien und Beziehungen besteht. Diese Beziehungen verbinden Bereiche der Subjektivität und Kreativität und überschreiten die Definitionen von Kunst und ihrer Autonomie, die den westlichen Diskurs bis zur Moderne geprägt haben. Ausgehend von diesem Paradigma werden Ausstellungen und kuratorische Positionen gerade im postkolonialen Kontext zu Substraten eines regelrechten "Zeitalters der Konstellation"35, in der sich die Bewegungen von Akteuren, Objekten und Ideen erfassen lassen. Komplementär dazu betont Monica Juneja (geb. 1955), dass eine Kunstbetrachtung, die Transkulturalität als reziprok und verflochten auffasst, nicht allein spezifisch für die Moderne ist, sondern auch den Blick auf historische Konstellationen erweitert.36 Das Konzept einer Kunstgeschichte der Konstellationen bietet daher über historische Epochen oder Zäsuren hinweg das Potenzial, die Macht übergreifender hierarchischer Sichtweisen und linearer Perspektiven einzuschränken. Es kann somit den panoptischen, gerichteten Blick verdrängen, der historisch lange Zeit prägend für die visuelle Kultur Europas war.37 Ein verändertes Bewusstsein für die Grundlagen unseres Kunstverständnisses wird somit entscheidend für Historiographie, Gegenwart und Zukunft von Austauschprozessen in der Kunst.