Einleitung
Anders als man vielleicht für die Jahrhunderte vor der Eisenbahn annehmen würde, waren viele Menschen auch im frühneuzeitlichen Europa sehr mobil, teils über weite Distanzen hinweg. Während die Pilgerreisen – ein wichtiger Strang der Mobilität bis ins 16. Jahrhundert hinein – an Bedeutung verloren, nahm die Arbeits- und Wirtschaftsmigration ab etwa 1500 zu, nicht zuletzt aufgrund der Impulse, die von der kolonialen Expansion auch auf die Binnenwirtschaft Europas ausgingen. Diese Mobilität ist bis in 1970er Jahre sogar in der Geschichtswissenschaft und von Humangeographen wie Wilbur Zelinsky (1921–2013) übersehen worden, der annahm, dass nennenswerte Erwerbsmigration erst mit den Modernisierungen des 19. Jahrhunderts einsetzte. In der Tat schwoll Migration ab 1800 stark an, aber sie war auch in den Jahrhunderten zuvor weit verbreitet. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren knapp acht Millionen Europäer in der einen oder anderen Weise Migranten, in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren es fast 25 Millionen. Zieht man davon die Siedlungskolonisation innerhalb Europas und die Auswanderung (vor allem in die "Neue Welt") ab, dann waren im ersten Zeitraum gut 6,5 Millionen, im zweiten Zeitraum gut 22 Millionen Europäer und Europäerinnen mobil, vor allem mit ökonomischen Motiven.1
Diese Zahlen beinhalten auch die aus Glaubensgründen aus ihrem Heimatterritorium geflüchteten Menschen. Ihr Anteil hatte in den drei Phasen 1550 bis 1600, 1600 bis 1650 und 1750 bis 1800 Höchststände. Zuletzt waren darunter auch politische Flüchtlinge. Aber: In keiner dieser Phasen übertraf der Wert 400.000 – also eine im Vergleich mit der Erwerbsmigration kleine Zahl. Das in der Forschung lange dominierende Interesse an der Geschichte von Territorialstaaten und an der Reformation hatte den Blick jedoch vor allem auf diese Gruppen gelenkt. Religiöse Verfolgung weckte und weckt zudem mehr Empathie als die Praktiken des Alltags. Deshalb produzierten schon die Zeitgenossen dazu mehr Quellenmaterial, was die Forschung dazu begünstigte. Die alltägliche und unspektakuläre Praxis der Erwerbsmigration war für die Forschung zunächst weniger sichtbar. Zwar begannen Staatswesen schon nach den Verwerfungen des Dreißigjährigen Krieges, Migration im Sinne ihrer wirtschaftlichen und konfessionellen Interessen zu regulieren, und es wurden vermehrt Pässe und andere Legitimationspapiere ausgestellt, mitgeführt und kontrolliert. Aber erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts – mit dem Entstehen moderner Nationalstaaten, dem Ausbau der Bürokratie, der Einführung eines modernen Passwesens etc. – wurde eine effiziente staatliche Kontrolle möglich, die auch ein viel dichteres und von der Forschung nutzbares Quellenmaterial produzierte.2 Zuvor war(en) die soziokulturelle(n) Zugehörigkeit(en) der Menschen in Europa noch nicht von nationalen Kategorien und Grenzen bestimmt, sondern von Ständen: handwerkliche Zunft, kaufmännische Gilde, Adel, Klerus, Bauernschaft. Grenzlinien innerhalb eines Standes zogen allenfalls die Konfessionen. Die Stände boten deshalb auch transnationale Zugehörigkeiten und entsprechende Beweglichkeit, wie z.B. die Gesellenwanderung oder die Heiratsallianzen des Adels illustrieren.3
Erhebliche Teile der europäischen Bevölkerung blieben freilich von solcher Mobilität ausgeschlossen. Das moderne Konzept der Freizügigkeit war unbekannt. Zum Verständnis frühneuzeitlicher Mobilität darf das nie aus dem Blick geraten. Große Gruppen wurden vor allem deshalb immobilisiert, weil mächtigere Akteure – etwa adlige Grundherren, städtische Eliten und Klöster usw. – ihre Arbeitskraft benötigten. Betroffen waren vor allem Leibeigene, aber auch freie Bauern und viele weniger privilegierte Stadtbewohner, denen der Wegzug aus dem Territorium und oft sogar aus dem Geburtsort verboten war. Viele Menschen setzten sich jedoch darüber hinweg.
Bei der Arbeitsmigration ist die freiwillige Erwerbsmigration von der erzwungenen Migration an nahe oder weiter entfernte Arbeitsorte zu unterscheiden. Handwerker (darunter hoch qualifizierte Kunsthandwerker), in den Textilgewerben vor allem Frauen (darunter viele junge ledige Frauen), weniger qualifizierte Landarbeiter, Hausgesinde, Söldner: Verschiedenste Gruppen fanden auswärts bessere Verdienstmöglichkeiten, die ihnen auch einen – wenn auch meist untergeordneten – Platz in der ständischen Gesellschaft boten. Dieser Platz war von existentieller Bedeutung, denn Nichtsesshaftigkeit, auch wenn sie vorübergehend war, wurde mit Ehrlosigkeit und Unehrlichkeit assoziiert. Seit dem späten 15. und verstärkt seit Mitte des 16. Jahrhunderts wurden die angesichts allgemeiner Krisen tatsächlich immer mehr auf Bettel angewiesenen "fahrenden Leute" zunehmend kriminalisiert. Landesherrschaften und die Obrigkeiten der Städte (vor allem dort erwarteten diese Menschen ein besseres Auskommen) assoziierten umherziehende Arme zunehmend mit Bettelei, Prostitution, Krankheit und Diebstahl, und mit einer Belastung der Kassen, die zur Unterstützung eingesessener Armer vorgesehen waren. Mit Ausweisung, Körperstrafen, entehrender Verstümmelung (bis hin zum Brandmarken) und Zwangsarbeit in Zuchthäusern oder im Festungsbau suchte man diese Armutsmigration zumindest aus dem eigenen Territorium zu drängen.4 Im bereits stark zentralisierten Frankreich brachte seit 1687 die königliche Polizeitruppe der Maréchaussée Landstreicher auf die Galeeren. Aus Württemberg und Hessen wurden verurteilte Straftäter regelrecht verkauft, oft nach Venedig, wo auch sie als Ruderknechte auf Galeeren endeten.5 In Russland wurden Leibeigene nicht nur in ihren jeweiligen Heimatregionen zu bestimmten Arbeiten gezwungen; im 18. Jahrhundert wurden Tausende zwangsweise umgesiedelt, um in den Bergwerken und Eisenhütten im Ural zu arbeiten; zehntausende wurden an der Newamündung eingesetzt, wo sie die Fundamente für den Bau von Sankt Petersburg legen mussten.6
Unter Wirtschaftsmigration wird dagegen die Wanderung von Kaufleuten und anderen unternehmerisch tätigen Akteuren an vielversprechende Handels- und Gewerbeplätze verstanden, wo sie oft ein eigenes Unternehmen gründeten. Wer in seiner Branche schon etabliert war, musste solche Mühen nicht mehr auf sich nehmen. Für Neulinge bot diese Art der Migration aber besondere Aufstiegsmöglichkeiten. Eine Voraussetzung für die Wirtschafts- und Erwerbsmigration war, dass die Menschen sehr gut informiert waren über ihre Verdienstmöglichkeiten an entfernteren Orten. Dieses Wissen war ganz offensichtlich verbreitet, auch durch die mit den Migrationssystemen (siehe unten) etablierten Netzwerke.
Ursachen, Motive
Ein wichtiger Auslöser all dieser Bewegungen waren über den Raum sich erstreckende Lohn- und Preisgefälle: Wer seine Arbeitskraft verkaufen wollte (oder musste), den zog es saisonal oder dauerhaft in Regionen mit höherem Lohn. Dafür migrierten die Menschen teils saisonal, teils blieben sie an den Zielorten. Kaufleute zog es in der Regel zu Märkten mit höherem Preisniveau. Viele Gewerbeunternehmer – insbesondere in lohnintensiven Sparten wie der Textilproduktion – ließen sich dagegen gern in Niedriglohnregionen nieder, um die dort zu geringeren Kosten produzierten Waren dann möglichst in Hochlohnregionen teuer abzusetzen.
Begünstigt wurde die Mobilität durch verschiedene Faktoren. Auf der Makroebene wirkte das Lohn- und Preisgefälle, das sich mindestens seit dem späten Mittelalter vom Südwesten zum Nordosten Europas erstreckte und das sich seit dem 16. Jahrhundert verstärkte. Eine Ursache für das Gefälle war die globale Verteilung der Edelmetallvorkommen: Die damals reichsten Goldminen lagen im sub-saharischen Westafrika, von wo Gold über Karawanenwege nach Nordafrika und Südeuropa gelangte. Der Silberbergbau blühte seit dem Mittelalter auch in Mitteleuropa, wurde aber ab den 1540er Jahren von der Silbergewinnung in Mexiko und Peru um ein Vielfaches übertroffen.7 Seit den 1690er Jahren floss zudem Gold aus Brasilien nach Europa. Diese amerikanischen Edelmetalle und die Zunahme des (auf Konten europäischer Kaufleute vorhandenen) Buchgeldes führten zum Wachstum des Geldvolumens und damit zu einer langsamen, bis ins 19. Jahrhundert wirkenden Inflation, der sogenannten Preisrevolution. Von Spanien und Portugal strömten Silber und Gold aus Amerika durch Handel nach Osten ab, und so erreichte die Inflation mit einem gewissen Zeitverzug auch das mittlere und östliche Europa und (mit noch mehr Verzug) Asien. Nach den Preisen stiegen etwas nachlaufend auch die Löhne. Viele Arbeiter und Arbeiterinnen aus östlicheren Regionen Europas nutzten das so entstandene Gefälle, indem sie weiter westlich Lohnarbeit aufnahmen.
Auf der Mesoebene war das Wachstum der Städte wichtigster Faktor für die Erwerbsmigration. Nicht nur die Lebenshaltungskosten, sondern auch der Lohn war in urbanen Räumen in der Regel höher als auf dem Land, was den Zuzug von dort in Gang hielt. Beispiele waren Rom oder Neapel im 15. und 16. Jahrhundert. Im 16. Jahrhundert machte die Preisrevolution iberische Städte wie Sevilla, Madrid oder Lissabon zu bedeutenden Magneten.8 Im 17. und 18. Jahrhundert, mit der Verschiebung der europäischen Schwerpunkte von Handel und Gewerbe nach Nordwesten, wuchsen London und die vielen niederländischen Städte, allen voran Amsterdam.9 In diesem Zusammenhang ist auch die Gründung von Sankt Petersburg zu sehen, das als Russlands Anschlusshafen an diesen durch Seehandel und koloniale Expansion wachsenden Wirtschaftsraum förmlich aus dem sumpfigen Boden gestampft wurde. Im Alten Reich ist die Verschiebung der urbanen Schwerpunkte ablesbar an den Bevölkerungsverlusten, welche die bislang dominierenden süddeutschen Städte im Dreißigjährigen Krieg erlitten. Da dieser Raum nach dem Krieg stagnierte, erreichten Städte wie Augsburg, Ulm oder Nürnberg erst im 19. Jahrhundert wieder ihre vormalige Größe. Hamburg dagegen wuchs in der Zeit von 1600 bis 1650 von 40.000 auf rund 75.000 Einwohner. Paris wuchs zwischen 1500 und 1800 von 100.000 auf 580.000, London von 40.000 auf 865.000 Einwohner. In Neapel, der größten europäischen Mittelmeerstadt, stieg die Zahl im selben Zeitraum von 150.000 auf knapp 430.000.10 In allen Städten zogen mehr Frauen als Männer zu, was sich durch die weiblichen Erwerbsmöglichkeiten erklärt: Sie arbeiteten als Hausmädchen, Marktfrauen, Näherinnen, Wäscherinnen etc.11
Neben der Arbeitsnachfrage in städtischen Gewerben und Dienstleistungen beförderte die in allen großen Städten der Vormoderne hohe Mortalitätsrate eine permanente Zuwanderung. Man schätzt, dass in allen Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern Übersterblichkeit herrschte. Unter den Ursachen rangieren enge und dicht belegte Behausungen, schlechtes Trinkwasser, und für die Ärmeren eine in der Regel schlechtere Ernährung als auf dem Land.12
Wer aus der Stadt abwanderte, hatte meist eine andere Stadt als Ziel. Die Abwanderung aufs Land ist dagegen ganz zu vernachlässigen, zumindest in Westeuropa. Das lag unter anderem an dem in vielen Regionen einsetzenden Prozess der Konzentration von Land in der Hand von Agrarunternehmern und der damit einhergehenden Verdrängung kleinerer Landwirte. Er begann im späten Mittelalter und wurde wesentlich vom Aufschwung der Tuchgewerbe angeschoben, deren Bedarf an Schafwolle zur Ausweitung der Weideflächen führte. Schafhalter in Italien, Spanien und England boten den Landbesitzern – meist Adlige, Kirchen und Klöster – höhere Pachten als die Subsistenzbauern für ihre kleinen bis mittleren Hofstellen zahlen konnten. In manchen Regionen, insbesondere in England, wurde dieser Prozess der "enclosures" bzw. Einhegungen durch die Reformation beschleunigt: Die Krone zog das Land der Kirchen und Klöster ein und verkaufte es an Höflinge oder Investoren, die das Gewohnheitsrecht der kleinen Erbsassen nicht respektierten und ihre neuen Besitztümer in agrarische Großbetriebe verwandelten.13 Die landlos gewordenen vormaligen Pächter mussten nun als Tagelöhner auf diesen Agrargütern oder in den städtischen Gewerben Arbeit finden. Unter letzteren sind insbesondere die Wolltuchgewerbe zu nennen. Vor diesem Hintergrund stellte Charles Tilly fest, dass schon das Westeuropa des 18. Jahrhunderts – anders als Osteuropa, und anders als vergleichbar entwickelte Regionen in Süd- und Ostasien – durch die Proletarisierung großer Bevölkerungsgruppen geprägt gewesen sei. Und diese waren zu erhöhter Mobilität gezwungen.14
In den weniger urbanisierten Territorien des Alten Reichs war migrantisches Erwerbsleben in ländlichen Gebieten stark verbreitet. Dorfbewohner waren auf ambulanten Handel und Dienstleistung angewiesen, und die von der Obrigkeit tendenziell kriminalisierten Umherziehenden konnten hier besser der Kontrolle entgehen. Hunderttausende fristeten ihr Leben in dieser oft lebenslangen Subsistenzmigration, als Hausierer, Sammler (Lumpen, Glas, Asche), Scherenschleifer, Kesselflicker, Heilmittelverkäufer, sonstige medizinisch-magische "Dienstleister" und Unterhaltungskünstler. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung dürfte zwischen 5 und 10 Prozent gelegen haben.15 Sie waren aus unterschiedlichsten Gründen von der "ehrlichen" Bevölkerung marginalisiert worden, etwa wegen nichtehelicher Geburt, wegen eines unansehnlichen körperlichen Leidens, wegen einer Verurteilung oder ganz einfach wegen der Armut ihrer Familie. Unter ihnen waren auch zu Krüppeln geschossene Soldaten und viele Land- und Bauarbeiter, die im Winter keine Beschäftigung fanden. Ein großer Teil gehörte den Minderheiten der Juden und der Roma und Sinti an, unter welchen Armut wegen der permanenten Diskriminierung besonders weit verbreitet war. Viele wechselten je nach Lage zwischen Gelegenheitsarbeit, Bettelei und Subsistenzkriminalität hin und her. So suchten z.B. die Geschwister Maria, Jakob und Philipp Hörl aus dem österreichischen Mondsee schon als Kinder Arbeit in der Fremde, weil die Eltern sie nicht ernähren konnten. Betteln und ehrliche Arbeit, bei der das Mädchen allerdings sexuell belästigt wurde, wechselten einander ab. Ihr Weg brachte sie nach Bayern, in die Steiermark, nach Kärnten und schließlich nach Salzburg. Dort gerieten sie in die Mühle von Gerichtsprozessen, die zwischen 1675 und 1681 aufgrund einer neuen "Policeyordnung" gegen hunderte von Bettlern und Vaganten geführt wurden. Die Ordnung war unter dem Erzbischof Maximilian Gandolf von Kuenberg (1622–1687) erlassen worden, u.a. zur Unterdrückung des "Bettelunwesens". Mehr als 130 meist jugendliche Menschen wurden verurteilt und hingerichtet, viele wegen "Hexerei". Die Geschwister Hörl kamen mit dem Leben davon.16
Diese Subsistenz- bzw. Armutsmigration auf dem Land wurde in gewisser Weise durch die Landwirtschaft verstetigt, denn dies ist ein Sektor mit stark schwankender Arbeitsnachfrage und daher in besonderem Maß auf hohe Arbeitsmobilität angewiesen. Die je nach Jahreszeit auftretenden Nachfragespitzen bei Aussaat bzw. Ernte bewirkten starke saisonale Migrationen auf der Mikro- und Makroebene, und bedeuteten für viele auch Beschäftigungslosigkeit in den übrigen Monaten. Wegen der Dringlichkeit der Aufgaben, vor allem in der Erntezeit, wurden allerdings unter bestimmten Umständen auch vergleichsweise gute Löhne geboten.
Räume
Das Konzept der Migrationssysteme erlaubt eine gute räumliche Beschreibung der Arbeitsmobilität. Solche Systeme bildeten sich in bestimmten Räumen nach bestimmten Grundmustern aus, die durch berufliche wie familiäre Netzwerke und dichte Kommunikation stabilisiert waren, in der Regel über Generationen hinweg. Die Systeme waren teils auf Nahwanderung, teils auf eine hunderte von Kilometern überspannende Fernwanderung gebaut. Ein Wegzug auf Dauer und temporäre bzw. saisonale Bewegungen existierten dabei oft nebeneinander.17
Für das Jahrhundert zwischen 1650 und 1750 hat die historische Forschung vier größere europäische Binnensysteme identifiziert:18
- das sogenannte Nordseesystem, in dem vor allem die Niederlande, aber auch England Arbeitskräfte aus südlicheren und östlicheren Regionen anzog;
- ein iberisch-französisches System, in dem Arbeitskräfte vor allem aus dem ländlichen Zentralfrankreich nach Spanien und teils auch nach Portugal gingen;
- der Ostseeraum, mit einer komplexen Überlagerung von kaufmännischer Migration zwischen den Hafenstädten, Expertenwanderungen (wie etwa bei den in Schweden gefragten wallonischen und deutschen Montanfachleuten) und dem Zuzug aus dem Hinterland in die Häfen.
- Im vierten System gingen gesuchte Fachleute (vor allem Handwerker, aber auch viele Adelige) aus Mitteleuropa nach Russland, meist dauerhaft.
Dieses vierte Binnensystem war insofern untypisch, als es in eine Region mit generell niedrigerem Lohnniveau gerichtet war (anders als z.B. im iberisch-französischen System), und in eine Region, die ansonsten überwiegend Agrarsiedler aus Mitteleuropa anwarb, indem ihnen Land geboten wurde.19 Man sollte dabei ein fünftes System nicht aus dem Blick verlieren: die frühe Auswanderung in die Amerikas, die schon vor Beginn der Massenmigration des 19. Jahrhunderts vor allem auf den nördlichen Teilkontinent gerichtet war.
- Dieses fünfte System wurde nicht nur aus Großbritannien gespeist, das den größten Teil der nordamerikanischen Ostküste beherrschte, sondern auch schon aus deutschsprachigen Territorien, wo viele Menschen von den Aussichten auf eigenes Land und mehr Glaubensfreiheit sowie von einem generell höheren Lohnniveau angezogen wurden.
Das fünfte System war gewissermaßen eine transatlantische Dimension des Nordseesystems. In den Amerikas siedelten Europäer bevorzugt in den klimatisch gemäßigten Regionen.20 Die tropisch-feuchten Gebiete waren profitabel für die Produktion von Gütern wie Zucker oder Tabak, aber epidemiologisch riskant, weshalb die ab den 1620er Jahren dort eingesetzten europäischen Vertragsarbeiter und Sträflinge – sogenannte "indentures servants" bzw. "engagés" – hoher Sterblichkeit ausgesetzt waren. Erst ab den 1680ern, mit der massiven Expansion des Zuckerrohranbaus in Kolonien wie Jamaika und Saint-Domingue, stieg die Verschleppung versklavter Menschen aus Afrika in diese Kolonien massiv an – auch deshalb, weil Menschen aus dem Subsahara-Raum bessere natürliche Abwehrkräfte gegen Tropenkrankheiten wie Malaria und Gelbfieber aufweisen. Zudem wurde die Rekrutierung von weißen "servants" schwieriger, als Arbeitsnachfrage und Löhne in Europa nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs wieder stiegen. Noch in den 1820er Jahren kamen in den Amerikas viermal so viele verschleppte Afrikaner:innen an als freie Migrant:innen aus Europa; erst ab den 1840ern stellten letztere die Mehrheit.21
In Europa blieb das Nordseesystem für die Zeit nach 1750 stabil erhalten. Zugleich banden die weiter wachsenden Großstädte Paris, London und Madrid das agrarische Umland in neue, urban zentrierte Systeme ein. An der Mittelmeerküste bildeten sich Migrationsmuster aus dem Hinterland in die Städte von Valencia und Barcelona bis Marseille aus, und aus den Alpen sowie dem Apennin in die Städte der Po-Ebene und nach Rom. Auch um Moskau und Sankt Petersburg entstanden in dieser Zeit eigene Systeme.
Soldaten und Seeleute
In etwa zwischen 1860 und 1914 wurde in den meisten europäischen Ländern die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und erst nach dem Kalten Krieg Ende des 20. Jahrhunderts wieder weitgehend abgeschafft. Mit diesem Wehrdienst der Staatsbürger war zunehmend die Vorstellung eines loyal-patriotischen Einsatzes für die eigene Nation verbunden. Aus dieser modernen Perspektive hat die Forschung den Kriegsdienst der Frühneuzeit lange nicht als Erwerbsarbeit betrachtet. Der ältere Begriff des "Kriegshandwerks" belegt aber noch den nüchternen Blick auf diese Profession, in der man seine Dienste jedem – auch einem fremden – Kriegsherrn anbieten konnte, vorzugsweise dem meistbietenden. Viele Soldaten waren also Söldner. Die damit verbundene Konnotation der Ehrlosigkeit reicht weit zurück, wurde aber erst in der Moderne dominant. Das gilt auch für Adel und Hochadel, aus denen die frühmodernen Armeen ihre Offiziere rekrutierten.
Unter den wichtigsten Typen der Erwerbsmigration stehen Soldaten und Seeleute hier an erster Stelle, weil sie die quantitativ bedeutendste Gruppe bildeten. Seeleute machten darin etwa ein Zehntel aus. Mit dem Ausbau der Heere und Kriegsflotten wuchs die Zahl der Land- und Seesoldaten in Europa von ca. einer Million in den 1630er Jahren auf zwei Millionen in den 1780ern; etwa die Hälfte davon war ständig mobil. Rechnet man den Tross der Heere – Ehefrauen und Kinder, Marketender und Marketenderinnen, Diener, Prostituierte etc. – hinzu, dann dürfte das die Zahl um mindesten 50 Prozent erhöhen.
Die meisten Soldaten bzw. Söldner rekrutierte man aus den armen und ärmsten Gruppen der Bevölkerung: den Handwerksgesellen, Knechten, Landstreichern und Bettlern, aus der unterbäuerlichen Schicht der landarmen Bauern oder landlosen Kleinpächter und Tagelöhner, teils auch aus den Arbeits- und Zuchthäusern. Regionale Schwerpunkte der Herkunft waren ertragsarme Regionen, wie etwa die gebirgige Schweiz oder die ärmeren Gegenden Irlands.22 Talentierte Hauptleute konnten zum Kriegsunternehmer aufsteigen, wenn sie aus solchen Regionen gleich ganze Kompanien zusammenstellten und diese unter ihrem Kommando einem Herrscher anboten – ein Geschäft, das ansonsten überwiegend von Adeligen betrieben wurde.23 In der Regel gebot nicht die Nation, sondern die Konfession Loyalität. Dass im Dreißigjährigen Krieg viele Heere konfessionell bunt zusammengewürfelt waren, ist eher ein Indiz für den Zusammenbruch etablierter Ordnungsmuster. Den ansonsten meist gültigen Mustern zufolge dienten etwa katholische Soldaten aus Irland und der Schweiz vorzugsweise katholischen Mächten, die sich Söldner aus solchen ärmeren Regionen leisten konnten. Ein Relikt ist die Schweizer Garde des Vatikan. Noch stärker war konfessionelle Loyalität unter französischen Reformierten ausgeprägt, und schweizerische Calvinisten dienten vorzugsweise in den Niederlanden.24 Auch der katholische Prinz Eugen von Savoyen (1663–1736) wollte zunächst bei Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715)[] die Offizierslaufbahn antreten und wandte sich nach der Ablehnung an den spanischen Hof und an den habsburgischen Kaiser Leopold I. (1640–1705), unter dem er dann in den Kriegen gegen das Osmanische Reich zum erfolgreichen Feldherren aufstieg – und zu einem Heros des Habsburgischen Reiches.
Viele Regimenter waren selbst in Friedenszeiten mobil. Da es noch kaum Kasernen gab, wurden sie in Dörfer und Städte einquartiert, die zum Unterhalt der Soldaten beitragen mussten. Waren die Ressourcen erschöpft, zog man weiter. Einquartierung war auch ein Mittel der Repression, etwa in Frankreich, wo man seit Ludwig XIV. vorzugsweise hugenottische Gemeinden damit belastete. Kleinere Herrscher (vor allem in Deutschland und Italien) vermieteten ihre Truppen in Friedenszeiten an gerade kriegführende Staaten, um so die hohen Unterhaltskosten zu decken oder um Allianzen zu schaffen. Selbst in Friedenszeiten führten die Entbehrungen des Lebens in permanenter Etappe in manchen Armeen zu Mortalitäten zwischen 10 und 20 Prozent pro Jahr.25 Die Preisrevolution führte auch in diesem Gewerbe zu langfristig sinkenden Reallöhnen. Man konnte zwar weiterhin steile Karrieren machen, aber nur unter den extremen Risiken eines frühen Todes oder der Invalidität.26
Land-Stadt-Migration
Quantitativ steht die Migration in die Städte an zweiter Stelle. Im 16. und 18. Jahrhundert zogen in Europa jeweils rund neun Millionen Menschen in die großen Städte; im krisenhafteren 17. Jahrhundert waren es rund sechs Millionen (Orte mit weniger als 10.000 Einwohnern sind nicht erfasst).27 Das lässt sich am Beispiel der schon damals stark urbanisierten Niederlande plastisch beschreiben. Der "urban graveyard effect", also die schon erwähnte permanente Übersterblichkeit in den größeren Städten, war auch dort ein Faktor. In Dordrecht lag sie von 1550 bis 1700 bei rund 10 Prozent im Jahr, für alle niederländische Städte zusammen bei mindestens 5 Prozent, erst nach 1850 wurde wieder ein natürliches Wachstum möglich. Die Zuwanderung war so stark, dass nicht nur die vom oft frühen Tod gerissenen Lücken gefüllt, sondern sogar Wachstum erreicht wurde. Entsprechend hoch war die Zahl der nicht am Ort geborenen Stadtbewohner: In Amsterdam und Leiden lag sie gegen 1650 bei 40 Prozent. In den gesamten Niederlanden betrug der Anteil 8 Prozent und sank nach 1650 langsam wieder ab. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag der Anteil der auswärts Geborenen landesweit unter 2 Prozent – ein Effekt der von den modernen Nationalstaaten gezogenen Migrationshürden und der großen Fortschritte in Medizin und Hygiene.28
Die Zuwanderer kamen aus allen in der Stadt vertretenen Berufen: Ziegelbrenner, Maurer, Handwerker aller Sparten, Flößer, Kaufleute, Schreiber, Textilbleicher und -färber, viele Textilarbeiterinnen, Kaminfeger, Wanderhändler etc. Die größte Gruppe stellten wohl die – vor allem weiblichen – Dienstboten. In den Niederlanden waren das im 17. und 18. Jahrhundert fünf bis sechs Prozent der städtischen Bevölkerung.29
An manchen Orten wurden qualifizierte Kräfte mit Privilegien angeworben, etwa im Pariser Viertel Faubourg Saint-Antoine[], wo der König 1657 die Handwerker vom Meisterzwang und von den Kontrollen durch Pariser Geschworene befreite. Das beförderte auch die Ansiedlung vieler deutscher Handwerker (vor allem Kunstschreiner und Kupferstecher), die in Frankreich einen guten Ruf hatten.30 Auch ohne solche Steuerung siedelten landsmannschaftliche oder berufliche Gruppen oft in bestimmten Vierteln, wie etwa die aus dem französische Zentralmassiv stammenden Schuhmacher und Metallhandwerker in Toledo. In Madrid wohnten viele Franzosen und Italiener in der Nähe der von ihren Gemeinschaften errichteten Hospitäler und Kirchen.31 Handelsstädte wie Cádiz zogen bis zum Verlust der amerikanischen Kolonien Tausende von Kaufleuten aus dem Ausland an; in Cádiz waren es vor allem Italiener und Franzosen, die ihrerseits auch einen großen Teil des Hauspersonals aus dem jeweiligen Heimatland anwarben. Deren Zahl übertraf die ihrer Herren um ein Vielfaches.
Ein sozialer Aufstieg gelang nur wenigen der rund 25 Millionen, die zwischen 1500 und 1800 in die größeren europäischen Städte zogen. Viele jüngere Leute gingen nach einigen Jahren in der Stadt ohnehin wieder zurück in die Heimatorte, wo ihre Ersparnisse die Familiengründung erleichterten. Tatsächlich ist bei jungen unverheirateten Leuten in Nordwesteuropa schon seit dem 15. und 16. Jahrhundert eine hohe Arbeitsmobilität und eine frühe Unabhängigkeit vom Elternhaus sichtbar. Von jüngeren Bauernkindern ohne Aussichten auf Übernahme des Hofes wurde erwartet, dass sie möglichst bald für sich selbst sorgten. In den bereits stark urbanisierten Niederlanden, in England, Flandern und dem Rheinland bildeten sich entsprechend früh ein Arbeitsmarkt und entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten heraus. Die Alphabetisierungsrate, als ein Indikator für Qualifikation, lag in den Niederlanden um 1600 bei Männern schon bei 50, bei den Frauen immerhin über 30 Prozent. Auch junge Frauen erlangten so mehr Freiheit in der Wahl des Ehepartners, verbesserte Verhandlungspositionen vor der Heirat und damit eine verbesserte Stellung in der Ehe. Gute Ausbildungs- und Verdienstaussichten ließen in solchen Regionen das durchschnittliche Heiratsalter steigen, und der Altersabstand zwischen den Brautleuten sank – während die Braut in traditionelleren Gesellschaften deutlich jünger war als der Bräutigam und die Ehen in der Regel von den Eltern arrangiert wurden. Es wuchs in Nordwesteuropa auch die Zahl der dauerhaft ehelos lebenden Menschen. Diese Merkmale, deren Entwicklung vor dem Hintergrund verbreiteter Mobilität zu verstehen sind, hat man in dem Begriff des "Europäischen Heiratsmusters" zusammengefasst (auch wenn es nicht auf ganz Europa anwendbar ist).32
Die unübersehbare Gruppe all dieser Erwerbsmigranten:innen vom Lande war in sich stark geschichtet. Armut oder sogar Elend zwang viele zur Wanderarbeit. So lebten z.B. in Dörfern französischer Regionen wie der Bretagne, dem Limousin oder Burgund bis zu einem Zehntel der Bewohner nicht permanent im Dorf. Den Steuerrollen zufolge waren das die Ärmsten; in Krisenzeiten konnte ihr Anteil auf bis zu einem Drittel anwachsen.33 Zugleich gab es Familien, die ihre Situation durch Migration stark verbessern konnten. In der Wachstumsphase nach dem Dreißigjährigen Krieg kombinierten etwa viele Männer aus den Leinenregionen Westfalens Saisonarbeit in den Niederlanden (den "Hollandgang") mit dem Handel. Als "Kiepenträger" nahmen sie dort gewebte Leinen mit, um sie in den Niederlanden zu verkaufen. Besonders im Tecklenburger Land und im nördlichen Münsterland führte das zu merklichem Wohlstand.
Migration in Landwirtschaft und Fischerei
Ob Spargelstechen, Erdbeeren pflücken, Obsternte oder Weinlese: Heute wie gestern treten in bestimmten Agrarsektoren saisonale Spitzen in der Nachfrage nach Arbeit auf, die man nur mit Arbeitsmigration auffangen kann. Allein im Zeitraum von 1600 bis 1650 dürfte es in Europas Landwirtschaft knapp 1,2 Millionen Saisonkräfte gegeben haben.34 So war z.B. die heute weitgehend mechanisierte Getreideernte – Mähen und Dreschen – bis ins 19. Jahrhundert hinein sehr arbeitsintensiv und zog alljährlich viele Tagelöhner in Anbaugebiete wie Kastilien, die Bretagne oder das Thüringer Becken (ein moderner Mähdrescher ersetzt rund 10.000 Landarbeiter). Da viele Feldfrüchte in südlicheren Regionen Europas früher geerntet werden, zogen viele dieser Landarbeiter:innen von August bis in den späten Herbst langsam nordwärts, von Landgut zu Landgut, um Verdienstmöglichkeiten optimal zu auszuschöpfen.
Auch die hoch entwickelte intensive Landwirtschaft der Niederlande (Milchwirtschaft, Gemüse, Tulpen usw.) zog Arbeitskräfte an. Allein aus Nordwestdeutschland waren es um 1700 rund 17.000 "Hollandgänger", die dort als Mäher, Torfstecher oder in der ebenfalls saisonalen Heringsfischerei arbeiteten; um 1790 waren es 30.000. Um die Abwesenheit der Männer von der eigenen Hofstelle zu ermöglichen, organisierte man dort komplexe innerfamiliäre Arbeitsteilungen. Das ist nicht nur in Westfalen zu beobachten, sondern auch im ländlichen Irland, von wo aus die Männer saisonal nach England gingen.35
Vor allem in Regionen des östlicheren Europas intensivierten Adel und Feudalherren vom 16. bis ins 19. Jahrhundert die Getreideproduktion für den Export nach Westen und verschärften deshalb die Leibeigenschaft ("second serfdom").36 Sie suchten die Gründung neuer Städte zu unterbinden und das Wachstum der existierenden Städte zu hemmen, denn diese boten entflohenen Leibeigenen ein Versteck und ein Auskommen – Stadtluft macht frei, oder zumindest ein wenig freier. Die von Krone und Adel unabhängigeren Städte neigten eher dazu, Entflohene vor dem Zugriff ihrer vormaligen Grund- und Leibherren zu schützen.37 Im besonders dünn besiedelten ländlichen Russland waren Arbeitskräfte so knapp, dass viele Gutsbesitzer die von Nachbargütern entlaufenen aufnahmen. Manche boten sogar Anreize zur Flucht aufs eigene Landgut. Das war offenbar so verbreitet, dass solchen Gutsbesitzern drakonische Strafen angedroht wurden, im 18. Jahrhundert bis hin zur Todesstrafe.38
Handwerker- und Expertenmigration
Seit dem 14. und 15. Jahrhundert etablierte man in den Zunftverfassungen vieler Regionen eine Wanderpflicht für junge Gesellen. Handwerksmeister bildeten in der Regel mehr Gesellen aus, als sie beschäftigen konnten, und die Zahl der Meister an einem Ort war begrenzt – mit der Pflicht konnte man die Zahl von Gesellen reduzieren. Die Wanderung förderte zudem den europaweiten Austausch von Fachwissen und neuen Techniken. Das wurde noch wichtiger, als zu den alten und für die Versorgung essentiellen Handwerken – Bäcker, Fleischer, Schneider, Schuhmacher – "'schöne' und neue mechanische Künste (Maler, Goldschmiede und Instrumentenmacher oder Buchdrucker, Uhr- und Büchsenmacher)" hinzukamen.39 Deshalb umfasste die Handwerkermigration weit mehr als die in manchen "Gewerken" bis heute verbreitete Waltz der Gesellen. Sie reichte vom "Hineinreichen des Sohns eines Dorfhandwerkers in den Betrieb in der nächsten größeren Stadt" bis zu den "transeuropäischen Wanderungen der Goldschmiede" und dem "gezielten Abwerben von besonders begabten und befähigten Handwerkern durch Städte und Landesherren", die ab dem 16. Jahrhundert "zu einem Instrument merkantilistscher Wirtschaftspolitik" wurde und auch auf renommierte Meister zielte. Bergbau- und Hüttenexperten waren ebenfalls überregional gefragt. Manche protoindustriellen Regionen fürchteten den Verrat technischer Geheimnisse und reagierten mit Wanderverboten.40
Unter den "neuen Künsten" rangierte auch das Färben von Baumwoll- und Seidengeweben mit exotischen Farbstoffen wie Indigo, die in Europa erst im 18. Jahrhundert in größeren Mengen verfügbar waren. Die Experten waren in den Zentren der Textilwirtschaft entsprechend gefragt und hoch mobil, wie z.B. die Passregister des preußischen Konsulats in Marseille zeigen. Dort hatten armenische Baumwollfärber und -drucker aus dem türkisch-persischen Grenzraum die Techniken schon in den 1660er Jahren eingeführt. Die Stadt wurde zu einem europäischen Zentrum dieses Sektors und zog bis ins 19. Jahrhundert Fachleute an.41 So reisten die aus dem schweizerischen Neuchâtel (damals eine preußische Exklave) stammenden Arbeiter Abraham Louis Olivier und Daniel Henry Pellaton 1799 von Marseille nach Aix-en-Provence; Pellaton plante die Weiterreise nach Nantes. Im folgenden Jahr gingen ein Färber und zwei Lehrlinge aus Berlin über Marseille nach Lyon. Andere – Deutsche, Franzosen – kamen über Amsterdam, Venedig oder Smyrna nach Marseille. All diese Städte waren Zentren der Baumwoll- und Seidenverarbeitung.
Die Beispiele belegen die außerordentliche Mobilität von Facharbeitern, und sie widerlegen noch immer verbreitete Vorstellungen von institutionell bedingten Innovationsblockaden in den Handwerken. Folgt man der aufs 19. Jahrhundert zurückgehenden liberalen Kritik, waren Zünfte vor allem dem Interesse der etablierten Meister (und ihrer Söhne) verschrieben, tendenziell monopolistisch und gesamtökonomisch ineffizient. Jüngere Arbeiten haben gezeigt, dass sie viel offener agierten. Ludwig XIV. erzwang bei einigen Handwerken sogar die Öffnung für Frauen – im Sinne einer allgemeinen Steigerung der Wirtschaftskraft. Vielerorts (vor allem in größeren Städten wie Frankfurt am Main oder Paris) legten Zünfte jährliche Quoten fest, um den Zuzug von Meistern von auswärts zu sichern – bisweilen wurde das vom Landesherren durchgesetzt, wie im Fall von Gent.42
Wirtschaftsmigration
Die oft weiträumigen Migrationen von Kaufleuten und anderen Unternehmern zeigen, wie sehr sich die hier angeführten Kategorien überschnitten. Sie umfassen Stadt-Stadt- und Land-Stadt-Bewegungen sowie Nah- und Fernwanderungen, sie lassen sich in vielen Fällen nicht eindeutig von denen der Handwerker trennen und noch weniger von der konfessionell bedingten Migration. Die Kaufmannsmigration in eine Stadt zielte in der Regel auf eine feste Niederlassung. Bescheidenere Akteure ohne eigenes Kapital zogen als Wanderhändler auch durch ländliche Gebiete, die vor der Ausdehnung des modernen Einzelhandels bei vielen Waren auf solche Anbieter angewiesen waren: Kramware, Druckerzeugnisse, Devotionalien, Haushaltswaren, Genussmittel wie Kaffee und Tabak etc.43
Vom Spätmittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein waren die in entfernten Städten niedergelassenen Kaufleute meist korporativ in "nationes" vereint, die oft über ein eigenes Gebäude (und sogar ihre eigene Gerichtsbarkeit) verfügten und in der Regel durch einen Konsul vertreten waren. Beispielhaft wären der hansische Stahlhof (bzw. Steelyard) in London, der Fondaco der deutschen Kaufleute in Venedig, oder der Old English Yard in Moskau. In den letzten Dekaden des 17. Jahrhunderts verloren diese korporativen Strukturen und übrigens auch die großen Handelsmessen an Bedeutung. Angesichts immer verlässlicherer Post- und Transportrouten und Angleichungen in Handelsrecht und -usancen sowie immer effizienterer Zahlungstechniken und Frachtversicherungen konnten auch kleinere Akteure in den Fernhandel einsteigen. Gerade die erfolgreicheren unter ihnen waren in familiären Netzwerken organisiert, mit Söhnen, Neffen oder Schwiegersöhnen, die sich dauerhaft an entfernten Handelsplätzen mit strategischer Bedeutung niederließen. Heiratsallianzen mit dort eingesessenen Familien stärkten ihren rechtlichen Status und ihre Netzwerke an diesen Plätzen, und sie trugen zum kosmopolitischen Charakter dieser Kaufmannseliten bei.44
Für Briten und Niederländer waren Ostsee- und Mittelmeerraum handelsstrategisch bedeutend, für Deutsche, Niederländer, Franzosen und Briten die spanischen und portugiesischen Häfen, über die man auch die extrem lukrativen Märkte Iberoamerikas beliefern konnte.45 Häfen wie Bordeaux oder Porto zogen Weinimporteure aus dem Norden an. Für den Vertrieb von Südfrüchten und Olivenöl knüpften Händlerfamilien aus den italienischen Alpen ihre Netzwerke in deutsche und holländische Städte. Aus dem französischen Alpenort Barcelonnette zogen Wanderhändler über Generation hinweg saisonal bis nach Spanien. Einige der Deutschen und Franzosen ließen sich im späten 18. und 19. Jahrhundert in Mexiko und Peru nieder, also dort, wo die Preisrevolution besonders hohe Profite ermöglichte.46 Aus protoindustriell entwickelten Gebieten des Alten Reiches gingen Händler in die großen westeuropäischen Häfen, um dort die Produkte ihrer Region abzusetzen: Leinen aus Westfalen und Schlesien, Metallwaren aus dem Bergischen Land, hochwertiges böhmisches Glas, Uhren aus dem Schwarzwald. Ein ganz eigenes Mobilitätsmuster entwickelten die seit etwa 1700 in vielen spanischen und portugiesischen Städten etablierten Glashändler aus Böhmen, die wegen der dort bis 1781 geltenden Feudalordnung nur innerhalb der Grundherrschaft ihrer Geburt heiraten durften. Familien gründeten sie also in ihren kleinen Herkunftsorten und reisten immer zum Jahreswechsel dorthin zurück (und konnten bei der Gelegenheit mit dortigen Geschäftspartnern die Bilanzen erstellen).47
So waren scheinbar entlegene Dörfer aufs dichteste mit Welthandelsstädten wie Amsterdam, London oder Cádiz vernetzt. Ein beträchtlicher Anteil verschiedenster Güter (aber vor allem Leinen) ging unter britischer, portugiesischer oder französischer Flagge nach Westafrika, als Tauschware für den Kauf von Sklaven. Die Protagonisten dieses Exporthandels kamen nicht aus Städten, sondern aus den nichtzünftischen Gewerben auf dem Land. Am Anfang stand oft die Hollandgängerei mit Leinen oder ein bescheidener Wanderhandel mit Glas, aber an Orten wie London oder Bordeaux stiegen manche dieser Händler in die ersten Ränge der großen Reeder und Finanziers auf, wie gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Schröders aus dem westfälischen Quakenbrück, die in London bald zu den führenden Merchant Bankers gehörten.48
Wollte man nicht in erster Linie verkaufen, sondern produzieren, dann ging man möglichst nicht nach Westen, sondern in die Niedriglohnregionen im Osten. Das taten z.B. Nürnberger Textilunternehmer des 16. Jahrhunderts, die ihre Leinenproduktion teilweise nach Schlesien und in die Lausitz verlagerten.49
Viele hugenottische Kaufleute gingen nach der 1685 erfolgten Widerrufung des Edikts von Nantes in die toleranten Städte London und Amsterdam – als Glaubensflüchtlinge passen sie eigentlich nicht in diesen Beitrag. In Hamburg, wo sich eine kleine Gruppe dieser französischen Calvinisten niederließ, wurden sie allerdings von der lutherischen Orthodoxie bis weit ins folgende Jahrhundert ganz ähnlich diskriminiert wie unter Ludwig XIV. Das zeigt die Bedeutung von Konfession, aber es zeigt auch, dass wirtschaftliche Interessen noch gewichtiger sein konnten als religiöse Diskriminierung. In Hamburg setzten die Hugenotten sehr gewinnbringend französische Kolonialwaren ab (Zucker, Kaffee), und dort gründeten sie eine Werft, die vor allem an die französische Compagnie des Indes lieferte. Am Standort Hamburg konnten sie zudem Leinen und andere in deutschen Territorien gefertigte arbeitsintensive Exportprodukte günstiger einkaufen als in Frankreich.50
Die erfolgreichsten dieser mobilen kosmopolitischen Eliten schufen und kontrollierten Güterketten, die Produktionsorte und Märkte in Europa, den Amerikas, Westafrika und teils auch Asien verbanden. In vielerlei Hinsicht gleichen ihre Unternehmungen mehr denen des globalisierten 21. als denen des von nationalen und imperialen Grenzen durchzogenen 19. und 20. Jahrhunderts.
Perspektiven
Der Stand der historischen Migrationsforschung erlaubt mittlerweile transkulturelle Vergleiche der hier beschriebenen Prozesse: synchron mit anderen Weltregionen, oder diachron mit ähnlichen Prozessen in anderen Epochen. In allen Kulturen sind Arbeit und Migration konstitutive Praktiken, weshalb sich viele Kategorien und Parameter für methodisch solide Vergleiche anbieten. Das eröffnet einen kritischeren und reflektierten Blick, auch auf die Gegenwart. So kann man z.B. für das 18. Jahrhunderts den Zuzug von Textilarbeiter:innen in die protoindustriellen Exportregionen Mitteleuropas und Indiens vergleichen, oder Ziegelbrenner im Nordwesteuropa des 18. und 19. Jahrhunderts mit denen im Indien des 19. und 20. Jahrhunderts, oder die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft des heutigen Europa mit denen im vormodernen Europa.51
Unter solchen Perspektiven erscheinen Produktionsweisen und Formen der Arbeitsorganisation z.B. in Südasien viel weniger exotisch oder rückständig als sie noch immer dargestellt werden. Umgekehrt rückt dies das Bild von Europa (insbesondere Westeuropa) als einem Raum mit früh entwickelten individuellen Freiheiten zurecht. Auch heute arbeiten hier viele Menschen unter Zwang – dem ökonomischen Zwang, dem sie vor allem in Ost- und Südosteuropa ausgesetzt sind, und unter dem sie schlecht bezahlte und sehr belastende Arbeit z.B. in der deutschen Land- und Bauwirtschaft oder Fleischindustrie, annehmen. Über die Jahrhunderte hinweg ging dies immer mit makroökonomischen und politischen Prozessen einher, etwa mit dem Anwachsen der Flächen von Betrieben der intensiven Landwirtschaft (Obst, Wein). In Rheinland-Pfalz z.B. lag die durchschnittliche Größe 1960 bei rund fünf Hektar; bis 2007 hatte sie sich fast versechsfacht. In der extensiveren Landwirtschaft im östlichen Deutschland sind die Betriebe noch sehr viel größer. Sie alle sind nur mit Arbeitsmigrant:innen zu bewirtschaften, die man seit der Osterweiterung der Europäischen Union vermehrt rekrutieren kann. Allein die Landwirtschaft der Bundesrepublik beschäftigt jährlich rund 300.000 Saisonarbeiter:innen.52 In Polen, einem Reservoir solcher Arbeitskräfte, rücken mittlerweile Migrant:innen aus der Ukraine nach. In solchen Phänomenen, die durch große ökonomische Gefälle zwischen den Ländern sowie durch soziale und teils auch rechtliche Ungleichheit begünstigt werden, begegnen sich Moderne und Vormoderne wie in einem Spiegel.