Einleitung: Ursprüngliche Skepsis gegenüber dem Vergleich in der Geschichtswissenschaft
In der Sternstunde ihrer wissenschaftlichen Begründung entstand die Geschichte gerade nicht als eine vergleichende Disziplin. Als primäre Aufgabe stellte sie sich vielmehr, sich von den Naturwissenschaften abzugrenzen, die im 19. Jahrhundert im Begriff waren, alles Lebendige und weniger Lebendige umfassend zu sortieren, in Gattungen einzuteilen oder in irgendeiner Form zu klassifizieren. Dagegen setzte die Schule des deutschen Historismus, namentlich Leopold von Ranke (1795–1886) und Johann Gustav Droysen (1808–1884), auf eine eigenständige historische Betrachtungsweise, die für sie eine andere, aber nicht minder seriöse, im letzten Sinn sogar überlegene Art von Wissenschaftlichkeit verkörperte. Deren Kernbegriffe hießen Individualität, Kontinuität und Entwicklung. Geschichte sollte für die Historisten eine Auffassung der sozialen, menschlichen Welt als ständiges Werden und Vergehen sein, dessen einzelne Momente nicht nur Durchgangsstadien waren, sondern der eigentliche Modus, in dem sich das ansonsten nicht fassbare Unendliche im Endlichen – oder das Allgemeine im Besonderen – allein manifestierte. Deshalb besaß jeder dieser geschichtlichen Momente einen Eigenwert als nicht weiter reduzierbare Individualität .1
Diese Ablehnung komparativer Perspektiven aus einem anti-naturwissenschaftlichen Reflex hielt sich in der Geschichtswissenschaft bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein und in ihren konservativen Strömungen noch weit darüber hinaus.2 Doch finden sich bereits bei Droysen, der in seinen theoretischen und methodologischen Reflexionen seiner Zeit weit vorauseilte, Spuren eines Nachdenkens über die vergleichende Dimension der Geschichtsbetrachtung. Er unterschied implizit zwischen dem materialen Geschichtsprozess, der nach der historistischen Doktrin einer ununterbrochenen, kontinuierlichen Entwicklung folgte, und der Geschichtswissenschaft, die diesen Prozess zu analytischen Zwecken zerlegen dürfe, gerade wenn sie die Einzigartigkeit der verschiedenen Epochen präzise darstellen wollte.3 Wenn Droysen seine Erwägungen hier auch auf den Vergleich zeitlich aufeinander folgender Epochen beschränkte – heute würde man von einem diachronen oder intertemporalen Vergleich sprechen –, so deutete sich doch die Logik einer Ausweitung auf die komparative Gegenüberstellung auch zeitgleicher Erscheinungen klar an, die ja ungleiche Resultate ein und desselben Entwicklungsprozesses sein konnten.
Als Bestandteil zahlreicher Nationalbewegungen in Europa und in ihrer daraus folgenden starken ideologischen Fixierung auf den jeweiligen Nationalstaat nahm die Geschichtswissenschaft solche zaghaften Weiterungsversuche nicht auf – im Gegenteil. Gegen den historischen Vergleich wurden auch politisch-moralische Argumente aufgeboten. Wer Geschichte schrieb, um die Einzigartigkeit der eigenen Nation zu bekräftigen, musste jeden Vergleich als Gleichsetzung mit anderen und damit als Zurücksetzung der Heimatnation empfinden. Sehr viel später, nämlich seit den 1980er Jahren, tauchte dieses Argument wieder auf, nur anders gewendet: In der Holocaust-Forschung warnte man vor der Verharmlosung dieses "singulären" Verbrechens durch den Vergleich; ähnlich gerieten Ansätze in die Kritik, die den Nationalsozialismus im Kontext eines europäischen Faschismus verorten oder seinen Rang im – ideologisch sonst positiv besetzten – transnationalen Modernisierungsprozess bestimmen wollten. Auch diese neueren Kritiker, für die Geschichte hauptsächlich Identität stiften sollte, übersetzten damit Vergleich als Gleichsetzung und stellten dies unter politisch-moralischen Generalverdacht. Was von solchen Vorwürfen einzig trägt, ist die Beobachtung, dass die vergleichende Betrachtung tatsächlich eher einen distanziert-kühlen, sezierenden Blick fördert und somit zur warmherzigen Identitätsstiftung nur sehr bedingt beiträgt.
Die Nachahmung der Naturwissenschaften bei den Pionieren des historischen Vergleichs
Genau diese analytische Schärfe hatten die frühen Vordenker und Pioniere des historischen Vergleichs, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auftraten, im Sinn.4 Sie nahmen dabei bewusst Anleihen bei den Naturwissenschaften und erhofften sich durch die szientistische Arbeits- und Denkweise, die mit einem Vergleich vermeintlich verbunden schien, einen für die Geschichte als hermeneutische Geisteswissenschaft angeblich nicht erreichbaren Zugewinn an Präzision und kausaler Erklärungskraft. Der Soziologe Emil Durkheim (1858–1917) bezeichnete den Vergleich als "indirektes Experiment".5 Er griff die beiden Vergleichslogiken auf, die John Stuart Mill (1806–1873) – freilich für die Naturwissenschaften – herauspräpariert hatte: die method of difference, die Differenzen zwischen zwei Versuchsabläufen auf einen einzigen unterschiedlich ausgeprägten Faktor bei Gleichheit aller sonstigen Faktoren zurückführt, und die method of agreement, die die Übereinstimmung von Versuchsresultaten von der Wirkung eines singulären angleichenden Faktors bei Unterschiedlichkeit aller sonstigen Faktoren ableitet.6 Der französische Mediävist und Mitbegründer der Annales Marc Bloch (1886–1944) zog daraus den Schluss, Historiker sollten entweder einander möglichst fremde oder aber eng benachbarte Gesellschaften vergleichen. Jedoch nur die zweite Konstruktion nutzte er in seiner eigenen historiographischen Praxis.7
Die naturwissenschaftliche Illusion hatte historische Ursachen. Nicht zufällig kamen die ersten Forderungen nach vergleichender Forschung nicht aus dem historiographischen Mainstream, sondern aus der Mediävistik, der Sozialgeschichte oder – mit Otto Hintze (1861–1940) – aus der Verfassungsgeschichte. Das waren Felder, die sich wegen ihrer Komplexität, Vielschichtigkeit und Kontextabhängigkeit einer konventionellen linearen Geschichtserzählung entzogen. Die Sehnsucht nach naturwissenschaftlicher Strenge im Vergleich kann dann als Ausdruck einer Suche nach neuer kausaler Eindeutigkeit auf einem höheren Niveau interpretiert werden. So verständlich das Anliegen auch war – als praktikabel erwies sich der gewiesene Weg nicht. Zum einen zog er kaum ansatzweise echte komparatistische Forschung in der Geschichtswissenschaft nach sich. Zum anderen erwachsen aus einem vergleichenden Forschungsdesign an sich weder Erklärungsmuster noch theoretische Schlüsse.8 Der tatsächliche Zusammenhang zwischen dem historischen Vergleich und einer größeren Erklärungskraft liegt darin, dass er theoriegeleitet sein muss, um ergiebig zu sein, dann aber eine präzisere empirische Überprüfung des theoretischen Ansatzes erlaubt als jede Einzelstudie.9
Nicht die Nachahmung des naturwissenschaftlichen Experiments in einem Vergleichsdesign an sich verheißt den Erkenntnis- und Erklärungsmehrwert der komparativen Perspektive, sondern ihre zwangsläufig höhere Theoriebedürftigkeit und ihr höherer theoretischer Anspruch.10 Das hatten historisch orientierte Soziologen wie Max Weber (1864–1920) schon lange praktisch umgesetzt: Sie arbeiteten wie selbstverständlich vergleichend und gingen dabei von der heuristischen Begriffsbildung aus, um über die empirische Typenbildung zur historischen Theorieformulierung zu gelangen. Der Erkenntnisprozess begann mit einer wertgeleiteten Konstruktion begrifflicher Konzepte, welche die beobachteten Zusammenhänge "denkend ordneten" und im Prozess dieses Vorgehens auf eigene Grenzen stießen, was eine Modifikation der theoretischen Ausgangslage erforderte. Resultat der Weber'schen Forschungen waren dann theoretisches Zusammenhangswissen in Form eines Kategorienkatalogs auf der einen, historisch gesättigte Typologien auf der anderen Seite.11
Der modernisierungstheoretische Vergleich in der Sozialgeschichte
Die Forderung nach dem historischen Vergleich blieb lange Zeit hauptsächlich eine Domäne programmatischer Ankündigungen. Ein Überschuss an methodologischen Vor-Festlegungen und Bedenken musste die praktische Umsetzung eher entmutigen denn anregen.12 So kam der theoretische Anstoß seit den 1960er Jahren zunächst aus der angelsächsischen Historischen Soziologie, für die es in Deutschland kein wirkliches Pendant gab und gibt. Die Diffusion der Modernisierungstheorie als Ergänzung oder viel mehr noch als Gegenmodell zur marxistischen Geschichtstheorie hatte diesen Anstoß geliefert.13 Als universalistisch angelegtes Erklärungskonzept der westlichen Entwicklung forderte es regelrecht nach seiner Bestätigung im Vergleich möglichst vieler Fälle und zugleich nach der Erklärung von Abweichungen vom allgemeinen Muster. So entstanden Studien – etwa zu Revolutionen in Europa und zu sozialem Protest – mit großen Fallzahlen, die nationale Vergleichseinheiten wählten und sie auf eine kleine Auswahl signifikanter Variablen reduzierten, eine für Historiker in der Regel zu radikale Isolation des Vergleichsgegenstandes von seinem historischen Kontext.14 Am anderen Ende des Spektrums rangierten Untersuchungen zu unterschiedlichen nationalen Auswirkungen gleichartiger transnationaler Prozesse und ihre in der Regel individualisierende Erklärung.15 Hier wählte man zumeist nicht mehr als drei bis vier Vergleichseinheiten und stieg im Gegensatz zur ersten Forschungsstrategie recht tief in die jeweiligen Kontexte ein – um trotzdem nach Möglichkeit den erhofften einen entscheidenden Faktor identifizieren und isolieren zu können, der die Unterschiede zwischen den Nationen angeblich hinreichend erklärte.16 Beide Vorgehensweisen lassen die Orientierung an John Stuart Mills Versuchslogik deutlich erkennen, und obwohl viele dieser Arbeiten ambitiös angelegt waren und anregend wirkten, überzeugten die so streng formalen, im Kern doch reduktionistischen Argumentationen fachhistorische Spezialisten eher selten.17
Die aufstrebende deutsche Sozialgeschichte, vor allem ihre damals führende Strömung, die sich als "Historische Sozialwissenschaft" zu profilieren anschickte, übernahm viele Anregungen aus der Historischen Soziologie und setzte die historische Komparatistik prominent auf ihr Programm. Neu war hier die Kombination des universalistischen modernisierungstheoretischen Großkonzepts mit der These vom "deutschen Sonderweg" in den Nationalsozialismus, bei der schon in ihrer Formulierung starke Vergleichsannahmen mitschwangen.18 Von der Historischen Soziologie erbte man die Konzentration auf den Nationalstaat als gleichsam "natürliche, gegebene" Vergleichseinheit und die ausschließliche Ausrichtung auf die Makroebene gesamtgesellschaftlicher oder staatspolitischer Phänomene.19 Man hoffte nun, durch den Vergleich von Nationalstaaten in Bezug auf ausgewählte gesellschaftliche und institutionelle Bereiche eine präzisere Deutung der deutschen Sonderentwicklung erarbeiten zu können. Das bedeutete, dass gegenüber den Gepflogenheiten in der Historischen Soziologie die als angemessen erachtete Zahl der Vergleichsfälle schrumpfte – allenfalls zwei oder drei könne ein Historiker bewältigen, hieß es. Zugleich reduzierten sich die betrachteten Zeiträume, die in der Historischen Soziologie leicht mehrere Jahrhunderte umfassen konnten, auf sechzig bis achtzig Jahre, was für Historiker freilich immer noch eine stattliche Herausforderung darstellte. Schließlich dominierte in der Programmatik der kontrastierende, individualisierende Vergleich – man war schließlich vor allem an der Herausarbeitung deutscher Besonderheiten interessiert – so stark, dass er fast als einzige statthafte historische Vergleichsperspektive in die methodologische Debatte Eingang fand. Das auf Deutschland gerichtete Erkenntnisinteresse rechtfertigte sogar so extrem ungleichgewichtige, das heißt "asymmetrische" Vergleichskonstruktionen, dass der Vergleichspartner eigentlich nur als randständige Kontrastfolie vorkam.20
Die Inkorporation des historischen Vergleichs in die Sozialgeschichte in dieser speziellen eingeschränkten Form vollzog sich in den 1970er Jahren noch hauptsächlich auf der Ebene der Programmatik. Vergleichende Hypothesen und Vorschläge für entsprechende Vergleichsdesigns übertrafen die in dieser Zeit entstehenden empirischen Studien um ein Vielfaches und eroberten die Deutungshoheit zumindest in der Methodendiskussion. Der eigentliche Take off der vergleichenden Geschichtswissenschaft in Deutschland fiel dagegen erst in die 1980er Jahre.21 Bis 1996 listete Hartmut Kaelble in einem bilanzierenden Aufsatz rund zweihundert komparatistische Untersuchungen europäischer Historiker zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts auf, und seither dürfte sich die Zahl noch einmal multipliziert haben.22 Die Debatte, die sich seitdem entwickelt hat, verkörpert paradoxerweise selber ein unfreiwilliges Stück histoire croisée.23 Denn die empirische historische Vergleichsforschung erlebte einen deutlichen Befreiungsschub. Obwohl häufig im Schülerumfeld führender Verfechter einer komparatistischen Perspektive verfasst, sprengten die entstehenden Studien doch überraschend rasch und weitgehend das allzu enge Korsett, in das die "Historische Sozialwissenschaft" den Vergleich in ihren methodologischen Äußerungen gezwängt hatte. Reihenweise entpuppten sich vergleichende Dissertationen als Revisionen der "Sonderwegsthese".24 Detaillierte Untersuchungen förderten eher transnationale Gemeinsamkeiten als definierende Unterschiede zu Tage und relativierten insgesamt die Bedeutung des nationalstaatlichen Analyserahmens.25 Thematisch weitete sich das Feld von einer "klassischen" Sozialgeschichte sozialer Gruppen und Bewegungen zu Vergleichskonstruktionen, die die ganze Bandbreite gesellschaftlicher und kultureller Aspekte auffächerten.26 Dabei änderte sich der Akzent vom Vergleich von Nationalstaaten im Hinblick auf bestimmte Dimensionen zum Vergleich von Phänomenen in bestimmten Kontexten, von denen der Nationalstaat nur einer unter mehreren sein mochte und seine Privilegierung besonders begründet werden musste.27
Kritik am sozialhistorischen Vergleich und neuere Antworten
Allerdings entzündete sich im selben Zeitraum auch systematische Kritik am vergleichenden Ansatz. Diese Kritik hatte aber weniger die neueren empirischen Arbeiten im Visier, sondern eher die älteren programmatischen Aussagen zum Vergleich aus der Aufbruchsphase der "Historischen Sozialwissenschaft" der 1970er Jahre.28 Eine harte Attacke galt der vermeintlichen nationalstaatlichen Fixierung des historischen Vergleichs. Diese ist aber schon in den ersten empirischen Arbeiten nicht mehr als methodische Prämisse aufgetreten, sondern war eher die Folge einer etwas naiven Nutzung auf Nationalstaatsebene aufbereiteter statistischer Sammlungen. Der Nationalstaat diente hier auf wenig reflektierte Weise in erster Linie als leicht zugänglicher Datencontainer. Was die weitere Entwicklung praktischer vergleichender Forschung kennzeichnete, war dann jedoch eher die Infragestellung oder zumindest Relativierung nationalstaatlich abgegrenzter Vergleichsgegenstände. In zahlreichen Studien lässt sich eine ganze Reihe von Vergleichsdimensionen antreffen, von denen die nationalstaatliche Vergleichsgröße eine sein kann, aber nicht sein muss. Durch solche abgestufte Vergleichsdesigns kann man zudem das Gewicht des nationalstaatlichen Kontextes im Kontrast mit anderen Faktoren genauer bestimmen als in nicht vergleichenden Untersuchungen. Überdies zwingt der Vergleich, präzise darzulegen, was denn zum Wirkungsbereich eines "nationalstaatlichen Kontextes" überhaupt zählt. Für staatliche Institutionen und gesetzliche Regelwerke dürfte der Fall recht klar sein, aber schon für den rechtlichen Rahmen von Märkten wäre die Frage nach ihrer Prägekraft gegenüber transnationalen ökonomischen Prozessen offen.29
In der Kritik am historischen Vergleich taucht immer wieder der "Nebenvorwurf" auf, er laufe Gefahr, auf die unterschwelligen "Meistererzählungen" der jeweiligen nationalen Geschichtsschreibungen hereinzufallen bzw. nicht aus ihnen ausbrechen zu können. Wenn es aber einen methodischen Ansatz gibt, genau diese "Spurrillen" nationaler Historiographien zu identifizieren und zu transzendieren, dann ist das der historische Vergleich. Denn bei der Beantwortung einer vergleichenden Fragestellung stößt er zuallererst auf die Blindflecken der jeweiligen Fachliteraturen. Deshalb ist der Vergleich in der Regel auf aufwändige eigene Archivrecherchen in sämtlichen Beobachtungskontexten angewiesen. Der grundsätzlich nicht unberechtigte "asymmetrische" Vergleich gerät nämlich dort an seine methodologischen Grenzen, wo er sich auf die Sekundärliteratur des jeweiligen Vergleichslandes einlassen muss, ohne die unterliegenden "Metaerzählungen" wahrnehmen zu können. Der Vorwurf läuft aber noch aus einem anderen Grund ins Leere: Gerade aus der Komparatistik haben sich in den letzten zehn Jahren fruchtbare Ansätze zum Historiographievergleich entwickelt. Die vergleichende Optik eignet sich hervorragend dazu, sowohl die Eigenheiten nationaler "Meistererzählungen" als auch ihre zuweilen frappierend ähnlichen gemeinsamen Grundmuster herauszuarbeiten und zu erklären.30
Die Befreiung aus den nationalstaatlichen Fesseln lief mit dem Abschied von der Fixierung des Vergleichs auf "makrosoziale" Phänomene parallel. Heute steht es lange nicht mehr in Zweifel, dass auch Emotionen und Erfahrungen oder religiöse Praktiken verglichen werden können oder dass man auch im Vergleich bis auf die Ebene einzelner sozialer Akteure zugreifen kann. Man kann Dörfer in einer oder in mehreren Regionen mit Gewinn vergleichen und den nationalstaatlichen Kontext hinzunehmen, wenn man etwa danach fragt, wie viel "Staat" in einem solchen dörflichen Kontext zu einem bestimmten Zeitpunkt denn überhaupt "ankam". Sven Reichardts Studie über die italienischen Squadristi und die deutsche SA führt hinunter bis in die intimen Beziehungen konkreter faschistischer Schlägergruppen, vergleicht darüber hinaus aber auch entlang der Dimensionen Geschlecht, Milieu, Stadtviertel, Stadt/Land, Region und Nationalstaat, wobei er hier weniger staatliche Institutionen im Blick hat als vielmehr die Ideologie gesellschaftsweiter sozialer Bewegungen. Deren Prägekraft veranschlagt er gegenüber der in Geschlechtervorstellungen und Milieubindungen verwurzelten Gewalterfahrung gering.31 Die Eisen- und Stahlindustrie in Deutschland und den USA hatte im Betrieb ihre entscheidende Handlungssphäre. Diese war jedoch von der ökonomischen Entwicklung der Unternehmen stark abhängig, was aufgrund der räumlichen Zusammenballung der Schwerindustrie wiederum deutliche regionale Ausprägungen hervorbrachte. Die Unternehmensentwicklung und die Bedingungen im Betrieb hingen elementar von den Charakteristika der Branche ab, was beide Fälle über weite Strecken des Untersuchungszeitraums ausgesprochen ähnlich aussehen ließ. Die größten deutsch-amerikanischen Unterschiede verursachte das Eingreifen staatlicher Institutionen, das aber in den drei identifizierbaren Phasen der Entwicklung höchst ungleich ausfiel und von Brancheneinflüssen leicht überlagert werden konnte.32 Diese Beispiele sollen genügen, um die prinzipiell durch nichts zu begrenzende Bandbreite möglicher Vergleichskonstellationen aufzuzeigen.33 Die Auswahl hängt nur von der Fragestellung und der theoretischen Ausgangslage ab.34
Widersprüchlich erscheint die Kritik aus dem Lager der Kulturtransferforschung, der Vergleich "essentialisiere" auf der einen Seite seine Gegenstände, behandele sie also wie ein vorgegebenes, materielles, fixes Gegenüber und konstruiere auf der anderen Seite bloße "Scheinvergleiche" zwischen Beobachtungsobjekten, die allenfalls eine semantische Ähnlichkeit aufwiesen.35 Tatsächlich definiert sich der Vergleich gerade dadurch, dass er Ausprägungen eines Phänomens in mindestens zwei sozio-kulturellen Kontexten aufsucht und rekonstruiert.36 Das bedeutet erstens, dass eine zentrale Forschungsanstrengung beim Vergleich darauf gerichtet ist, das zu beobachtende "Phänomen", den Vergleichsgegenstand, in den untersuchten Kontexten überhaupt aufzuspüren und abzugrenzen. Das exakte Objekt des Vergleichs entsteht erst während des Prozesses des Vergleichens. Zweitens schließt genau dieses Vorgehen "Scheinvergleiche" aus, denn wo sich kein theoretisch benennbares gemeinsames "Phänomen" verbirgt, gibt es keinen Ansatzpunkt für einen Vergleich. Doch ist die Pflicht, den Forschungsgegenstand präzise zu umreißen, für den Vergleich nur besonders zentral. Eigentlich gilt sie für jegliche Einzelforschung, die ansonsten ebenfalls Gefahr läuft, nicht einem "Phänomen" nachzugehen, sondern einem Phantom nachzuirren. Der konstruktivistische Charakter jeder Geschichtswissenschaft macht sich beim Vergleich nur früher und stärker bemerkbar als anderswo.
Darüber hinaus entkräftet eine solche Definition die Behauptung, der Vergleich könne einerseits auf die Beziehungen zwischen den untersuchten Kontexten nicht eingehen und dürfe eigentlich nur einander gegenüberstellen, "was nicht vermischt ist".37 Andererseits fixiere der Vergleich seine Gegenstände als unverrückbare Größen. Gerade wenn sich Historiker der europäischen Geschichte zuwenden, wird deutlich, dass kein Vergleich ohne Beziehungsgeschichte wirklich funktioniert.38 Historiker arbeiten nicht nur nicht unter Laborbedingungen; die Suche nach dem gemeinsamen Phänomen, dessen Ausprägungen sie erklären wollen, setzt die Existenz einer Beziehung regelrecht voraus, ganz gleich, ob es sich dabei nun um eine Form des Transfers, des Austauschs oder der gemeinsamen Abhängigkeit von transnationalen Prozessen handelt.39 Selbst in der wechselseitigen Abgrenzung, wie sie etwa in der "Erbfeindschaft" zwischen Frankreich und Deutschland auf beiden Seiten mit einer Überdosis scharfer Semantik inszeniert wurde, steckte im 19. und frühen 20. Jahrhundert soviel Gemeinsamkeit, dass man begründet von einem zusammenhängenden Phänomen sprechen kann.40
Längst auch hat die historische Komparatistik die Phase invarianter Vergleichsanordnungen hinter sich gelassen. Man fragt nicht mehr nur nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden innerhalb einer zeitlich "eingefrorenen" Konstellation, sondern weiter nach Veränderungen über längere Zeiträume hinweg und deren Ursachen. Die Ausprägungen des untersuchten Phänomens können sich annähern und wieder voneinander entfernen oder umgekehrt. Zu den Faktoren für solche Veränderungen können nicht zuletzt wechselseitige Wahrnehmungen und Reaktionen auf sie gehören, sodass sich unter dem beobachtenden Blick des Historikers nicht nur die Beziehung zwischen den Kontexten verändert, sondern diese Kontexte selbst. Das Interesse an solchen konstanten Wandlungen und wechselnden Beeinflussungen hat die histoire croisée inspiriert.41 Doch lässt sich das, wonach sie fragt, ohne Zweifel auch innerhalb eines komparativen Ansatzes untersuchen. Das zeigen die neueren Arbeiten zur vergleichenden Historiographiegeschichte überzeugend. Auch ist nicht nur der individualisierende Zugriff auf einzelne Personen geeignet, der Dichte des Beziehungsnetzwerks Herr zu werden, wie die histoire croisée suggeriert. Am Ende ist es lediglich der generelle Fokus, der beide wirklich unterscheidet, und eine gute Vergleichsgeschichte wird immer auf die Veränderungen der Kontexte wie der Phänomene achten, ebenso wie eine gute histoire croisée die Protagonisten ihrer Beziehungsgeschichten zu einem gewissen Maße immer auch vergleicht. Vergleich, Transfer und histoire croisée profitieren sicher eher davon, wenn man sie als einander ergänzende Perspektiven behandelt und nicht gegeneinander auszuspielen versucht.42
Die gewichtigste Konsequenz, die sich aus den beschriebenen Öffnungen für den Vergleich ergibt, ist sicher die Beschränkung der Vergleichsfälle, da sowohl die Sensibilität gegenüber Veränderungen über die Zeit als auch der ungleichzeitige Wandel auf mehreren Ebenen ein weit tieferes Eintauchen in die jeweiligen Kontexte erfordert, als dies Analysen mit großen Fallzahlen zu leisten vermögen. Wie die mittlerweile in repräsentativer Größenordnung vorliegende Praxis des historischen Vergleichs zeigt, hat sich für die Geschichtswissenschaft ein Vergleichstypus mehrheitlich durchgesetzt, den Charles Tilly zutreffend als "Variation finding" bezeichnet hat.43 Ein solches Vergleichsdesign strebt an, ein Phänomen in sämtlichen betrachteten Kontexten zu lokalisieren und in der ganzen Breite seiner anzutreffenden Ausprägungen zu erklären. Das geht insofern über eine bloße Identifizierung und Deutung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden hinaus, als es darauf abzielt, deren gesamte Gemengelage als Spektrum von divergierenden Ausprägungen eines gemeinsamen zugrundeliegenden Prinzips zu beschreiben und damit die mögliche Variationsbreite und die typischen Formen der Variationen zu bestimmen.44 Letztlich geht es – anders als in weiten Teilen der Historischen Soziologie – nicht um die Etablierung und Überprüfung einzelner makrokausaler "Mechanismen", sondern um die Typenbildung: die Konstruktion empirisch gesättigter historischer Konstellationen innerhalb einer, wie Droysen es genannt hätte, gemeinsamen "Gattung".45
Typenbildung und Modelle
Der Vergleich bedarf der Rückbindung an generalisierungsfähige theoretische Modelle. Denn einerseits kann man nur auf einen gemeinsamen Bezugspunkt hin sinnvoll vergleichen. Es bedarf tatsächlich eines zunächst unabhängig von den Vergleichskontexten zu beschreibenden "Phänomens", um dieses dann in seinen Ausprägungen innerhalb der Kontexte identifizieren, abgrenzen und deuten zu können. Einen solchen Bezugspunkt liefert das tertium comparationis.46 Dieses tertium muss, um seine Funktion erfüllen zu können, ein echtes "Drittes" sein. Wäre es nur der in abstrakte Begriffe gekleidete und so formalisierte eine Vergleichsfall, der dann zugleich, zur Norm stilisiert, die Vergleichsmaßstäbe vorgäbe, müssten folgerichtig alle anderen betrachteten Fälle als mehr oder minder große Abweichungen – oder Mängelexemplare oder Nachzügler – erscheinen. Das traf im Gebrauch der universalistischen Modernisierungstheorie, die im Grunde ein idealisierendes Abbild der amerikanischen Entwicklung im 20. Jahrhundert verkörperte, absolut zu. Andererseits sollte das tertium theorieförmig sein, da sich nur dann generalisierungsfähige Aussagen über die Vergleichsfälle treffen lassen. Eine Typenbildung, die ohne theoretischen Maßstab vorgeht oder diesen, wie Theodor Schieder (1908–1984) noch gefordert hatte, ersetzen soll, bleibt beliebig und ohne echte Aussagekraft.47
Theoretische Modelle in diesem Sinne sind Begriffssysteme, deren Elemente aus empirischen Beobachtungen stammen können, aber einen Klärungs- und Definitionsprozess durchlaufen haben, der sie aus ihren Herkunftskontexten löst.48 Aus diesem Anforderungskatalog resultiert die Devise, die Modellbildung als tertium comparationis im historischen Vergleich müsse zu den einzelnen Fällen idealerweise die gleiche Distanz wahren, also "in "Äquidistanz" zu den untersuchten Fällen erfolgen".49 Dass dies möglich ist, haben Vertreter der Kulturtransferforschung und der histoire croisée prinzipiell bestritten. Historiker seien immer durch ihr nationales Herkunftsmilieu, durch die diskursiven Gewohnheiten der wissenschaftlichen Netzwerke, in denen sie sich bewegen, und durch intellektuelle, kulturelle und sprachliche Traditionen beeinflusst, sodass gewissermaßen immer eine zumindest unbewusste "heimatnahe" Modellbildung zu erwarten ist.50 Das Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Allerdings setzt die reflektierte Theoriekonstruktion eine bewusste Auseinandersetzung mit nationalen oder milieugebundenen Theorietraditionen voraus, und auch die für historische Vergleiche unerlässliche "Transzendenz" nationaler Historiographien lässt sich ohne die Prüfung der jeweiligen zentralen Kategorien nicht leisten. Das macht im Grunde einen Theorievergleich als Vorlauf für den historischen Vergleich notwendig, und so eröffnet sich hier zumindest eine größere Chance für eine symmetrische Modellbildung als in Einzelstudien. Die theoretische Modellbildung tendiert in der vergleichenden Geschichtswissenschaft zur Typenbildung. Zum einen ermöglicht diese die abgestufte, subsidiäre Kombination mehrerer Generalisierungsgrade. Zum anderen regt sie durch ihre Verpflichtung, empirisch gesättigte Typen tatsächlich plausibel darzustellen, die modifizierende Feinjustierung der Modellbildung im Prozess der praktischen Forschung an.51 Vergleichende Geschichte steht allen kurzlebigeren modischen Trends in der Historiographie zum Trotz in der Blüte. Und längst sind noch nicht alle Möglichkeiten der vergleichenden Geschichtsbetrachtung ausgereizt.