Begriffsgeschichten von "Wissenschaft"
"Wissenschaft" ist einer der prägenden Begriffe der modernen Geschichte und Kultur: Die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts war ein wesentliches Element der revolutionären geistesgeschichtlichen Veränderungen der Frühmoderne und der Aufklärung;1 das 19. Jahrhundert wurde aufgrund des nachhaltigen Erfolgs der Naturwissenschaften und ihrer technischen Umsetzung insgesamt als "Jahrhundert der Naturwissenschaft" tituliert,2 und der Einfluss der Wissenschaften und ihrer Anwendungen ist seitdem immer weiter gewachsen. Begriffsgeschichtlich jedoch ist der Begriff "Wissenschaft" von einer eigentümlichen Dialektik geprägt, die sich letztlich nur historisch erklären lässt. Zum einen ist der Begriff "Wissenschaft" normativ geladen und impliziert starke Annahmen und Ansprüche hinsichtlich der Validität wissenschaftlicher Methoden und der Gültigkeit wissenschaftlicher Resultate: Wissenschaft erzeugt und behandelt Wissen, das besonders hohen Standards genügt. Zum anderen ist diesem Begriff eine bemerkenswerte Offenheit und Pluralität eigen: Das Prädikat "wissenschaftlich" umfasst zahlreiche normative Praktiken, die in den jeweils spezifischen Fragestellungen, Methoden und Forschungsobjekten grundlegend voneinander abweichen und nicht auf einen einzigen Standard der Gültigkeit zu reduzieren sind.3
Diese Offenheit des Wissenschaftsbegriffs manifestiert sich auf Wortniveau in der notorischen Unübersetzbarkeit des Begriffs selbst; der breite Begriff "Wissenschaft" im Deutschen, ebenso wie beispielsweise "wetenschap" im Niederländischen, ist nicht äquivalent mit dem heute sehr viel stärker auf die Naturwissenschaften festgelegten "science" im Englischen oder Französischen. Zudem erfolgt die Auszeichnung von Wissenschaft gegenüber anderen Erkenntnisformen relativ spät; noch im 18. Jahrhundert kann "Wissenschaft haben von" schlicht bedeuten, dass man um etwas weiß.4 Eine vergleichbare Breite und Offenheit kennzeichnet die Universitäten, mithin eine der wichtigsten Wissenschaftsinstitutionen, bis heute. Ein gemeinsam verbindliches Wissenschaftlichkeitsideal, das für alle Fachgebiete und Fakultäten gleichermaßen normativ wäre, existiert nicht.
Die Geschichte der begrifflichen Festlegung von "Wissenschaft" spiegelt diese Offenheit wieder. "Wissenschaft" wurde in der Geschichte dieses Begriffs typischerweise nicht in die Form eindeutiger Definitionen gefasst. Lange wurden alternative Termini bevorzugt (eher informell-bildungspraktische wie "learning", so beispielsweise im Titel von Francis Bacons (1561–1626) Advancement of Learning von 1605, oder ein Terminus aus dem traditionellen Fächerspektrum der Universitäten wie "Philosophie", der sich beispielsweise im englischen "natural philosophy" für das Gebiet der theoretischen Physik lange erhalten hat) oder "Wissenschaft" wurde in Verband mit anderen Begriffen gebraucht, wie im Titel der von Denis Diderot (1713–1784) und Jean-Baptiste le Rond d'Alembert (1717–1783) herausgegebenen Encyclopédie, dem dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, das repräsentativ den Wissensstand und die Wissensorganisation um 1750 zusammenfasst.5 Im englischen Sprachbereich gibt es genau entsprechende Titel; vgl. etwa die Titelseite von Ephraim Chambers' (1680–1740) Cyclopædia von 1728.
Derartige barocke Titel spiegeln sehr genau den Stand und die Form der Reflexion über Wissenschaft im 18. Jahrhundert. Deutlich wird auch, dass die Herausbildung eines Begriffs von "Wissenschaft" im Singular deutlich problematischer war als das plurale Konzept der Wissenschaften: "Wissenschaft" entsteht im Ausgang von den Wissenschaften und wird stets bestimmt in Bezug auf die vielen als wissenschaftlich zu kennzeichnenden Aktivitäten.
Sichtbar wird dies in den typischen Charakterisierungen des Wissenschaftsbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert. "Wissenschaft" wurde hier bezeichnenderweise in der Form offener Listen von Aktivitäten und Resultaten umschrieben, die mit dem Wissenschaftsbegriff in Verbindung gebracht werden konnten. Ein markantes Beispiel bietet die Introduction zum ersten Band der Philosophical Transactions von 1665/1666, der ersten eindeutig den Wissenschaften im modernen Sinn gewidmeten Zeitschrift. Die Philosophical Transactions – die im Titel auf den Begriff "Wissenschaft" verzichten und auch hier eine sehr offene, listenförmige Angabe wählen – werden vorgestellt als
the most proper way to gratifie those, whose engagement in such Studies, and delight in the advancement of Learning and Profitable Discoveries, doth entitle them to the knowledge of what this Kingdom, or other parts of the World, do, from time to time, afford, as well of the progress of the Studies, Labours, and attempts of the Curious and learned in things of this kind, as of their compleat Discoveries and performances.6
Die Abgrenzung der "Wissenschaften" von den "Künsten", die sich weitgehend stabil in allen europäischen Sprachen findet, erweist sich dabei ebenfalls als durchlässig: Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden weite Bereiche der "Künste" – etwa die traditionell den sieben "freien Künsten" zuzurechnenden Gebiete der Geometrie, Arithmetik und Astronomie, aber ebenso die technischen Kunstfertigkeiten der Mechanik oder Optik – dem Gebiet der Wissenschaft inkorporiert. Terminologisch hat sich beispielsweise im Titel des "Scheidekünstlers" – im 18. Jahrhundert geläufige Bezeichnung für den Chemiker – diese Nähe von (Natur-)Wissenschaft und den "Künsten" lange erhalten.
Die Dialektik im Wissenschaftsbegriff, die zu dieser Offenheit bei gleichzeitig zum höchsten gesteigerten epistemologischen Ansprüchen führt, ist verbunden mit zwei grundlegend verschiedenen Lesarten der Wissenschaftsgeschichte: Man kann argumentieren, dass Wissenschaft bereits seit der griechischen Antike betrieben und von Beginn an mit eindeutigen Erkenntnisidealen verknüpft war, aufbauend auf noch älteren Praktiken wissenschaftlicher Aktivität etwa in der babylonischen und ägyptischen Astronomie und Mathematik. Die Kosmologie der Vorsokratiker, die Suche nach allgemeinen Beweisen in der griechischen Mathematik und Philosophie, die Entwicklung einer allgemeinen Logik der wissenschaftlichen Erkenntnis bei Platon (ca. 427–ca. 347 v.Chr.) und insbesondere in den Analytiken des Aristoteles (384–322 v.Chr.) sind aus dieser Perspektive wesentliche Stationen der Entwicklung des Wissenschaftsbegriffs. Brillante und durch die gesamte Wissenschaftsgeschichte hindurch wirksame Vorbilder wissenschaftlicher Errungenschaften sind in derselben Epoche in den Werken eines Euklid (ca. 360–ca. 280 v.Chr), Archimedes (287–212 v.Chr) oder Ptolemaios (100–180) zu finden. In der Praxis der Kommentierung des Aristoteles, in der Naturgeschichte und Technologie in römischer Zeit, in der Einbettung antiker Themen in die universitäre Lehre des Mittelalters und in den an der Antike orientierten Neuordnungen des Wissenssystems in Renaissance und Humanismus ließen sich dann Fortführungen und Umbildungen dieses Wissenschaftskonzepts rekonstruieren.
Es lässt sich aber auch eine grundsätzlich andere Geschichte des Wissenschaftsbegriffs schreiben, die dessen Offenheit betont und die Profilierung des Wissenschaftsbegriffs als ein erstaunlich spätes Resultat komplexer und nicht von vornherein unter diesem Begriff antretender Prozesse analysiert. "Wissenschaft" wäre demnach nicht als Produkt einer linearen, teleologisch ausgerichteten Entwicklung zu betrachten. Deutliche Evidenz für eine solche späte Entwicklungsgeschichte des Begriffs findet sich in den angeführten programmatischen Zitaten und repräsentativen Werktiteln aus dem 18. Jahrhundert. Selbst in den fortgeschrittensten Stellungnahmen der Aufklärung sind immer noch bemerkenswerte Undeutlichkeiten in der systematischen Reflexion des Wissenschaftsbegriffs zu konstatieren;7 eine eindeutige Verankerung von Wissenschaft innerhalb der Universitäten fehlte ebenfalls noch.
Folgt man der zweiten Lesart – was bereits durch die Schwierigkeit, den Wissenschaftsbegriff begriffsgeschichtlich eindeutig zu verorten, nahegelegt wird –, so ergibt sich als leitende These zur Rekonstruktion der Geschichte der Wissenschaften, dass "Wissenschaft" wesentlich ein Phänomen der Stabilisierung im Ausgang von einer sehr offenen Konstellation von Praktiken ist, die erst in dieser Strukturierung spezifisch wissenschaftlich werden. Für diese Prozesse erweisen sich insbesondere das 17. und 18. Jahrhundert als entscheidende Epochen.
Wichtige Implikation dieser Offenheit ist, dass die heute angesetzten Dichotomien innerhalb des Wissenschaftssystems, vor allem diejenige zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, ein überraschend spätes Resultat der Wissenschaftsentwicklung sind.8 Die Wissenschaftsklassifikationen von Bacon und d'Alembert enthalten die heutigen Naturwissenschaften ebenso wie die Geisteswissenschaften, Giambattista Vicos (1668–1744) "scienza nuova" handelt von der "comune natura delle nazioni" und formuliert unter dem Begriff "scienza" ein Programm für die Entwicklung der Geisteswissenschaften.9 Selbst die Frage, was eigentlich die relevante Betrachtungseinheit ist, ob die Wissenschaftsgeschichte also die Wissenschaft schlechthin oder die einzelnen Wissenschaften oder die Disziplinen oder die diesen vorgeschalteten und weniger eindeutig geordneten Praktiken zu untersuchen hat, wird damit zu einem grundsätzlichen Problem.
Dasselbe gilt für typische Einteilungen philosophischer Positionen; viele Autoren der Tradition lassen sich beispielsweise nicht eindeutig einem empiristischen oder rationalistischen Lager zuordnen, Aristoteles, René Descartes (1596–1650) und Immanuel Kant (1724–1804) sind prominente Beispiele. Ebenso wenig lassen sich eindeutige Standards für Wissenschaftlichkeit oder eine einzige wissenschaftliche Methode ausweisen; insbesondere koexistieren bereits seit der Antike das Experiment, die Beobachtung und adäquate Beschreibung, die Mathematisierung und die Ursachenerklärung, ohne dass eindeutig eine dieser Methoden – bis heute; es sei hierfür wieder auf das Nebeneinander unterschiedlicher Disziplinen in der Universität verwiesen – ein Primat errungen hätte.10
Hieraus folgt auch, dass die retrospektive Anwendung moderner Standards sehr problematisch ist: Die Alchemisten des Mittelalters und der frühen Moderne haben experimentell und technologisch orientiert gearbeitet; die "magia naturalis" des 16. und 17. Jahrhunderts kann als Form der Technowissenschaft gesehen werden;11 wichtige frühe Belege für den Terminus "Naturwissenschaft" im Deutschen stammen aus physiko-theologischen Kontexten, in denen innovative Naturwissenschaft für religiös-apologetische Zielstellungen eingesetzt wurde.12
Definitionen und Klassifikationen: Theoretische Abgrenzungsbewegungen
Eine Geschichte der Definitionen des Wissenschaftsbegriffs ist aus den genannten Gründen kaum sinnvoll zu schreiben. Bereits ein Blick auf einige der entschiedensten Definitionsvorschläge macht die Schwierigkeiten deutlich. Aristoteles schließt die Definition von "Wissenschaft" engstens an die Themen seiner Metaphysik an, wenn er in den Analytica Posteriora "episteme" – was wohl am besten mit "wissenschaftliche Erkenntnis" zu übersetzen wäre – als die Erkenntnis der Ursachen bestimmt, aufgrund welcher etwas besteht. Anders formuliert: Wissenschaftliche Erkenntnis erfolgt aus Prämissen, die "wahre, erste, unmittelbare, bekanntere, frühere und ursächliche" sind.13 Diese Definition weist unmittelbar zwei Schwierigkeiten auf: Der innere Zusammenhang dieser Kriterienliste ist erklärungsbedürftig; zudem ist diese Definition zu eng, um Aristoteles' eigene Praxis auf dem Gebiet dessen, was heute als "wissenschaftlich" aufgefasst würde, zu begründen. Seine Schriften etwa zur Zoologie, die viel eher beschreibend als ursächlich erklärend vorgehen, sind mittels seiner Definition nicht zu erfassen. Descartes stellt in seinen Regulae ad directionem ingenii ausdrücklich das Problem zur Diskussion, dass es viele "scientiae" gebe, dass aber letztlich die "scientiae" in der einen "humana sapientia" zusammenkommen müssten,14 die dann auch nicht inhaltlich, sondern nur methodologisch bestimmt werden könne: "Omnis scientia est cognitio certa & evidens".15 Auch hier ergibt sich bei der Umsetzung jedoch eine grundlegende Schwierigkeit: Wendet man das Kriterium der Evidenz an, so bleibt es immer noch denkbar, dass selbst die beste menschliche Erkenntnis ein menschengemachtes Modell, eine "Fabel" bleibt, wie das Buch, das Descartes auf einem zeitgenössischen Portrait hält, ausdrücklich formuliert .
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verspricht Kant eine grundlegende Revolution der Philosophie im Ausgang von Wissensformen, wie er sie in der Mathematik und der Physik bereits vorfindet. Allerdings verliert Kant dann die eindeutige Definierbarkeit von Wissenschaft aus den Augen; in seinen Werken stehen (mindestens) zwei Definitionen nebeneinander, einmal durch die systematisch-organische Ordnung von Wissensbestandteilen zu einem Ganzen, zum anderen durch den Grad der Mathematisierung.16 Auch bei Kant bleibt das Problem der Unterscheidung und Ordnung unterschiedlicher Wissenschaftsformen erhalten; er ist einer der ersten, der das Problem der Verhältnisbestimmung eines übergeordneten Begriffs von Wissenschaft schlechthin zu den vielen speziellen Wissenschaften eindeutig und mit dieser bis heute erhaltenen Terminologie formuliert. Wieder lässt sich am Fächerspektrum auf dem Gebiet der heutigen Naturwissenschaften das Nebeneinander von ineinander übergehenden Wissenschaftsformen besonders deutlich aufweisen: Typisch war im 18. Jahrhundert eine Dreiteilung in eine beschreibende "Naturgeschichte", eine aus Ursachen erklärende "Naturlehre" ("natural philosophy") und eine "angewandte Mathematik", die die wenigen strikt mathematisierbaren Gebiete wie die klassische Mechanik oder die Strahlenoptik umfasste. Kant zieht mit der "reinen" Naturwissenschaft bzw. der "Metaphysik der Natur" eine neue Ebene ein, die wiederum in komplexer Weise mit bestehenden Gebieten der Naturwissenschaft verknüpft ist (so sind die Newtonschen Bewegungsgesetze in ihrer mathematischen Formulierung Teil von Kants Metaphysik der Natur). Erste Belege für eine ordnende Funktion des Begriffs "Naturwissenschaft" finden sich bezeichnenderweise um 1800 in direktem Zusammenhang mit einer Rezeption der Philosophie Kants.17
Das 19. Jahrhundert sieht zahlreiche Programme zur Einbettung der Wissenschaften in umfassendere Kontexte: Empiristen betonen die Kontinuität zwischen wissenschaftlichem und alltäglichem Wissen,18 Positivisten fordern eine Reform der gesamten Gesellschaft und damit aller Wissensformen nach dem Modell der exakten Wissenschaften, Weltanschauungsbewegungen suchen nach wissenschaftlichen Ideen, die es gestatten, alle Lebensaspekte einheitlich zu bestimmen. Hierin dokumentiert sich ein grundsätzliches Vertrauen in die Wissenschaft, das es zugleich ermöglicht, innerhalb des Systems der Wissenschaften sehr unterschiedliche Gebiete nebeneinander zu akzeptieren. Typische Visualisierungen des Wissenschaftssystems aus dem 19. Jahrhunderts zeigen flache Hierarchien; neue Wissenschaften und Wissenschaftsgebiete – am augenfälligsten die Geisteswissenschaften, aber auch die Psychologie und die anderen Sozialwissenschaften – werden kreiert und dem Wissenschaftssystem, nicht ohne Auseinandersetzungen, eingepasst.19
Im 20. Jahrhundert etabliert sich eine professionalisierte Wissenschaftsphilosophie (vgl. Abschnitt 5), dennoch bleibt auch hier eine bemerkenswerte Offenheit erhalten. Der "Wiener Kreis", der ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wesentlich die weitere Geschichte der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie bestimmt, fordert von seinen Mitgliedern zwar die Kompetenz in einer Fachwissenschaft, lässt aber völlig offen, auf welchem Gebiet diese Kompetenz erworben sein sollte. Zugleich werden im Wiener Kreis zwei Wissenschaftsmodelle nebeneinander akzeptiert: eine strikt formale Logik einerseits und die empirischen Wissenschaften andererseits. Zahlreiche der im Rahmen des Wiener Kreises, aber auch in späteren Jahrzehnten formulierten Systeme der Einheit der Wissenschaften sind erstaunlich tolerant hinsichtlich der für akzeptabel angesehenen Wissenschaften.20 Karl Poppers (1902–1994) Versuch, durch sein Falsifikationskriterium (also die These, dass sich die Wissenschaftlichkeit einer Theorie danach bemisst, inwieweit eine Theorie zugänglich ist für Widerlegungen) einen eindeutigen Standard für Wissenschaftlichkeit zu formulieren, wird sehr bald durch Thomas Kuhns (1922–1996) These vom unvorhersagbar revolutionären Charakter von Wissenschaftsveränderung kritisiert.21 Neben diesen philosophisch-wissenschaftshistorischen Festlegungsversuchen gewinnt eine soziologische Analyse von Wissenschaft an Bedeutung, die bei Robert Merton (1910–2003) den Definitionsansatz in Form von Listen wesentlicher Merkmale aufgreift (bei Merton wird Wissenschaft durch vier Kriterien gekennzeichnet: Communalism/Universalism/Disinterestedness/Organized Scepticism),22 zugleich aber in zunehmendem Maße die Leitidee vom abgehobenen Status des wissenschaftlichen Wissens in Frage stellt.23 Peter Galison (*1955) verbindet soziologische Einsichten, wissenschaftstheoretische und philosophische Überlegungen in einer sehr markanten Metapher für den Status wissenschaftlichen Wissens, wenn er "trading zones", Orte der Interaktion und des Aushandelns, zur einzig möglichen, da offenen und flexiblen, zugleich aber stets vom Anspruch seriösen Unterhandelns geprägten Kennzeichnung von Wissenschaft macht.24
Bei allen genannten Autoren findet sich eine Strategie, um auch ohne eindeutige Definitionen von "Wissenschaft" das Gebiet der Wissenschaft umreißen zu können: Wissenschaftsreflexion ist wesentlich Reflexion über die Systematisierung und Klassifikation von Wissenschaften. In dieser Fragestellung ergeben sich überraschende Kontinuitäten. Der vielleicht wirkmächtigste Vorschlag zur Wissenschaftsklassifikation geht aus von den grundlegenden Erkenntnisvermögen des Menschen. Francis Bacon teilt, hier zurückgreifend auf Vorschläge des von ihm ansonsten in aller Schärfe kritisierten Aristoteles, diese Vermögen dreifach ein in Gedächtnis, Verstand und Einbildungskraft (memory, reason, imagination) mit den damit verbundenen idealtypischen Wissenschaften (Geschichte, Naturwissenschaft und Kunst exemplifizieren die drei Vermögen), und diese Klassifikation liefert noch das Grundgerüst der Encyclopédie von Diderot und d'Alembert, dort ebenfalls unter den Titeln mémoire, raison, imagination.25
Dreierlei ist wichtig. Erstens: Die Klassifikationen von Wissenschaft streben stets Umfassendheit an und sind entsprechend tolerant und offen angelegt. Zweitens: Die Wissenschaften im Plural erweisen sich als deutlich weniger problematisch als die Entwicklung eines übergreifenden Begriffs von "Wissenschaft" im Singular; die große Herausforderung liegt eben in der begrifflichen oder klassifizierenden Systematisierung der Wissenschaften.26 Drittens schließlich: Die typischen Begrifflichkeiten, die heute im Wissenschaftsdiskurs verwendet werden – Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften –, entstammen ebenfalls dem Diskurs zur Systematisierung und Klassifikation der Wissenschaften, der insbesondere im 19. Jahrhundert in großer Intensität geführt wurde.27
Wissenschaftsinstitutionen: Orte der Stabilisierung von Wissenschaft
Dass Wissenschaften wesentlich Resultat einer Strukturierung bestehender Praktiken sind, erweist sich in der großen Rolle von Institutionen für die Festlegung des Wissenschaftsbegriffs. Diese Institutionen bilden sich ebenfalls erst relativ spät in der Geschichte der Wissenschaften heraus, und auch die Institutionen sind in bemerkenswerter Weise durch Offenheit gekennzeichnet. Einen Ansatzpunkt für die Rekonstruktion der Geschichte spezifisch wissenschaftlicher Institutionen kann man aus dem Verhältnis zwischen Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen gewinnen. Universitäten stellen dabei, aufgrund des Alters dieser Institutionalisierungsform, aber auch aufgrund ihres unabhängigen Rechtsstatus, die traditionsverhaftete Organisationsstruktur dar. Sie haben ursprünglich einen eindeutigen, auf Kenntnisvermittlung und Berufsvorbereitung gerichteten Auftrag und sind seit dem Mittelalter im Wesentlichen uniform strukturiert: Eine propädeutische Fakultät, die philosophische, bereitet vor auf das berufsorientierte Studium in einer der höheren Fakultäten für Medizin, Recht oder Theologie.28 Wissenschaft fungiert hier nicht als primäres Ordnungsmerkmal.
Das Beispiel der heutigen Naturwissenschaften illustriert am besten die Schwierigkeiten, die aus der Struktur der Universität resultierten: Die heutigen Gebiete der Naturwissenschaften waren über die Universität verteilt und besaßen unterschiedlichen Status, zum einen als Hilfswissenschaften der Medizin (Botanik, Zoologie, Mineralogie, Chemie) und zum anderen als Gebiete innerhalb der philosophischen Fakultät (Mathematik, angewandte Mathematik, Physik). Kameralistische Fakultäten und spezialisierte Hochschulen – wie beispielsweise die seit 1765 bestehende montanwissenschaftliche Bergakademie in Freiberg – komplizierten das Bild weiter, ebenso die bereits angesprochenen theologischen Bezugnahmen auf eine wissenschaftlich erfasste Natur. Ungeachtet der strukturellen Probleme der traditionellen Universität entwickelten sich immer wieder universitäre Zentren von europäischer Anziehungskraft, oft ausgehend von den Leistungen einzelner Personen oder lokaler Schulen (Herman Boerhaave (1668–1738) in Leiden, Albrecht von Haller (1708–1777) in Göttingen auf dem Gebiet der Medizin und ihrer Hilfswissenschaften; die Philologie und Orientalistik in Göttingen im 18. Jahrhundert). Die große Rolle der Medizin ist hierbei auffallend (neben Boerhaave und Haller wären Marcello Malpighi (1628–1694) und Giovanni Borelli (1608–1679) in Pisa, Frederik Ruysch (1638–1731) in Amsterdam und William Harvey (1578–1657) in Padua und Cambridge zu nennen), aber gut verständlich angesichts der praktischen Bedeutsamkeit und der internen Diversifikation der Medizin, die bis ins 19. Jahrhundert hinein der universitäre Ort war, an dem weite Bereiche der heutigen Naturwissenschaften vermittelt wurden.29
Sehr viel expliziter wird der Bezug auf Wissenschaft in außeruniversitären Einrichtungen wie Akademien und gelehrten Gesellschaften. Vorläuferinstitutionen bestanden seit der Renaissance, die typischen und langfristig prägenden Wissenschaftsgesellschaften und -akademien waren dann Gründungen des 17. und 18. Jahrhunderts; insbesondere das 18. Jahrhundert sah eine explosionsartigen Vermehrung gerade kleinerer Gesellschaften.30
In vielen Fällen gingen diese Gesellschaften aus bestehenden Strukturen hervor (höfischen Strukturen; berufsständischen Strukturen wie die Ärztenetzwerke, die eine zentrale Rolle für die Etablierung gelehrter Gesellschaften in Deutschland spielten; sozialen Klassen wie dem "invisible college" von universitären professionals und begüterten Amateuren in England, aus dem die "Royal Society" hervorging). Ein markantes Beispiel für die Ausrichtung an bestehenden Strukturen bietet die "Academia naturae curiosorum", die spätere "Leopoldina"; diese Gesellschaft hatte zunächst keinen festen Sitz, sondern war am Wohnort des jeweiligen Präsidenten angesiedelt. In vielen Fällen waren die frühen Gründungen wenig festgelegt; die umfassenden Benennungen einer "Académie des sciences" oder der "Royal Society for Improving Natural Knowledge"31 spiegeln wiederum die Offenheit des Wissenschaftskonzepts. Das Konzept der Akademie bzw. der gelehrten Gesellschaft war nicht beschränkt auf bestimmte Gebiete; vielfach erfolgten fast gleichzeitig Gründungen von Institutionen mit fachlich unterschiedlicher Ausrichtung. Letzteres ist vielleicht am besten im Paris der Jahre um 1660 zu illustrieren: Académie Française 1635, Académie Royale de Peinture et de Sculpture 1648, Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 1663, Académie des Sciences 1666, Académie Royale d'Architecture 1671.
Die Formen der Mitgliedschaft wurden typischerweise unterteilt in ordentliche Mitglieder, externe oder korrespondierende Mitglieder und Ehrenmitglieder. Diese drei Gruppen in ihrer Interaktion tragen weiter bei zur Präzisierung des Wissenschaftskonzepts: Erreicht wurde hiermit eine lokale Verankerung, die Etablierung eines (oft internationalen) Netzwerkes von Korrespondenten und schließlich die Profilierung eines Idealtypus des Wissenschaftlers (auch wenn dieser Terminus noch nicht gebräuchlich war), vor allem über die Kategorie der Ehrenmitglieder sowie über das Phänomen der Mehrfachmitgliedschaft in unterschiedlichen Institutionen. Praktisch alle großen Wissenschaftlerpersönlichkeiten des 17. und 18. Jahrhunderts besetzten zentrale Posten in Akademien und gelehrten Gesellschaften; prominente Beispiele sind Galileo Galilei (1564–1642) in der Accademia dei Lincei, Isaac Newton (1643–1727) in der Royal Society, Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) in der Berliner Akademie.
Zahlreiche dieser Gesellschaften stellten eine Infrastruktur zur Verfügung, die für Forschung genutzt werden konnte. Die Sammlungen, Bibliotheken und Laboratoria der Gesellschaften waren grundsätzlich deutlich besser zugänglich als entsprechende Einrichtungen der Universitäten. Vor allem aber eröffneten die Gesellschaften Netzwerke von Personen, die in vielen Fällen international ausgerichtet waren und durch Netzwerke von Korrespondenzen und Publikationen den Rahmen für eine institutionelle Festlegung, aber auch für einen Austausch und eine Abstimmung unterschiedlicher lokaler Aktivitäten lieferten. Aus den Aktivitäten der Akademien und Gesellschaften ging die Publikationsform der wissenschaftlichen Zeitschrift hervor (Abschnitt 4).32 Die Korrespondenzen der Gesellschaften betrafen alle Aspekte von Wissenschaft. Ausgetauscht wurden nicht nur Daten und Informationen über Forschungsresultate, sondern auch konkrete Materialien wie Sammlungsobjekte. Eine weitere Kernaktivität der gelehrten Gesellschaften bestand im Organisieren und Auswerten von Forschungs- und Entdeckungsreisen.
In vielen Fällen ist eine arbeitsteilige Zusammenarbeit von Universitäten und anderen Institutionalisierungsformen zu beobachten, in der sich erst das typisch moderne Wissenschaftsverständnis der Verbindung von Forschung und Lehre herausbildete. Programmatisch ausformuliert wurde diese Zusammenarbeit bei der gemeinsamen Gründung von Universität und Akademie in Göttingen im Jahr 1751: Albrecht von Haller, der wesentliche Ideengeber hinter diesen Gründungen, sprach von "zweyerley Academien", deren eine, die Universität, auf "Belehrung der Jugend" ziele, während die andere sich dem "Erfinden" zu widmen habe.33 Weniger formell entwickelte sich ein entsprechendes Modell aus dem Zusammenwirken traditioneller Universitätsstrukturen mit den flexibleren privaten Einrichtungen beispielsweise in Jena. Das Jenaer Modell war insofern wirkmächtig, als die universitätsprogrammatischen Texte der Jahre um 1800, in denen das Modell der notwendigen Verbindung von Forschung und Lehre gefordert wurde und die Universitäten erstmals ausdrücklich unter den Leitbegriff der Wissenschaft gestellt wurden, entscheidend aus Debatten in Jena hervorgingen.34
Kant hatte in seiner Schrift Streit der Facultäten von 1798 noch lediglich in einer Klammeranmerkung zur Diskussion gestellt, man könne die traditionelle Universitätshierarchie umdrehen und die philosophische Fakultät, aufgrund ihrer Kompetenz für allgemeine, nicht auf direkten Nutzen abzielende Wissenschaftsreflexion an die Spitze der Universität stellen. Die Generation unmittelbar an Kant anschließender und direkt über ihn auch hinausgehender Denker – genannt seien hier, als bekannteste Autoren, Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775–1854) und Friedrich Schleiermacher (1768–1834) – postulierte genau diese Umformung der Universitäten zur Wissenschaftseinrichtung, wie sie 1810 in Berlin umgesetzt und in den Schriften von Wilhelm von Humboldt (1767–1835) endgültig formuliert wurde.35 Diese Reform kam aus der philosophischen Fakultät, die damit auch den Begriff Wissenschaft und die Deutungshoheit über diesen Begriff eindeutig für sich beanspruchte und eine Institution zur Wissenschaftsreflexion wurde. Wissenschaft wurde hiermit zu einem Konzept sui generis und war nicht mehr abhängig von externen Rechtfertigungsgründen; insbesondere wurde in diesen philosophischen Begriffsbestimmungen der Bezug auf den Nutzen von Wissenschaft bewusst aufgegeben.
Diese begriffsgeschichtliche Neuerung koinzidierte – in einer Wechselwirkung, die noch genauere Untersuchung erfordert – mit wesentlichen Veränderungen in der Universitätsstruktur, die über ganz Europa hin zu finden sind. Das traditionelle Fakultätenspektrum wurde weiter unterteilt, insbesondere etablierten sich nun auch eigenständige Fakultäten für Mathematik und Naturwissenschaften. Auffallend ist die große Rolle zentralistischer politischer Strukturen, wie in Frankreich und in französisch dominierten Territorien oder in Russland unter dem Einfluss von Napoleon Bonaparte (1769–1821) bzw. Alexander I. (1777–1825): Die Veränderungen an der traditionellen Korporation der Universität wurden möglich im Rahmen von gesamtgesellschaftlichen Umstrukturierungen. Auch ohne die Etablierung ganzer Fakultäten wurden innerhalb bestehender universitärer Strukturen mit den "Seminaren" und "Instituten" neue, auf Forschung gerichtete Institutionalisierungsformen geschaffen.36
Übersicht: Spezialisierungen im Fakultätenspektrum der Universitäten (bis 1890)
Jahr |
Ort/Institution |
Beschreibung |
1713 |
Charité, Berlin |
Medizinische Lehr- und Forschungseinrichtung |
1765 |
Bergakademie Freiberg |
Montanwissenschaftliche Hochschule |
1794 |
École polytechnique, Paris |
Spezialisiert auf Mathematik und Physik |
1802 |
Moskau, St. Petersburg, Kazan, Dorpat (Tartu), Vilnius (Imperatoria Universitas Vilnensis) |
Gründung bzw. Wiedereröffnung von Universitäten als Teil des Bildungsreform-Programms von Zar Alexander I., mit einer unabhängigen Fakultät für Mathematik und exakte Wissenschaften |
1808 |
Université Impériale, Paris; Toulouse |
Faculté des Sciences (Lehrstühle: Differential- und Integralrechnung; Mechanik und Astronomie; Physik; Chemie; Naturgeschichte) |
1808 |
Padua |
Eigene Fakultät für Physik und Mathematik |
1811 |
Unabhängige Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften, im Rahmen der Eingliederung in die französische Université Impériale |
|
1815 |
Amsterdam (École secondaire de l'Université Impériale) |
Dito |
1817 |
Facultas matheseos et philosophiae naturalis |
|
1832 |
New York University |
Gründung der New York University; ein College of Arts and Science besteht seit der Gründung |
1834 |
Seminar für Mathematik und Physik (Karl Gustav Jacob Jacobi (1804–1851), Franz Ernst Neumann (1798–1895)); gewidmet insbesondere der mathematischen Physik |
|
1837 |
Eigene Fakultät für Mathematik und Physik |
|
1839–1840 |
Pisa |
Fakultät der "scienze" teilt sich auf in Mathematik und Naturwissenschaften |
1848 |
Cambridge |
Der "Natural Sciences Tripos" wird als Studienprogramm und Prüfungsreglement eingeführt |
1850 |
Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften |
|
1850 |
Honours school of natural sciences (ursprünglich bestehend aus: mechanical philosophy, chemical philosophy and physiology); 1871 im Umfang erweitert |
|
1852 |
Philosophische Fakultät aufgeteilt in eine geisteswissenschaftliche und eine mathematische Fakultät |
|
1854 |
Faculté des Sciences |
|
1855 |
Eidgenössisches Polytechnikum (später Eidgenössische Technische Hochschule) |
|
1855 |
Eigenes Institut für Chemie |
|
1857 |
Naturwissenschaftliche Fakultät |
|
1859 |
Zürich |
Unterteilung der philosophischen Fakultät |
1860 |
Eigene Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften |
|
1862 |
Im Zusammenhang mit der staatlichen Neuordnung Italiens: eigene Fakultät für Physik und Mathematik |
|
1863 |
Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften |
|
1863 |
Wie Urbino und Modena |
|
1864 |
Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften |
|
1865 |
Philosophische Fakultät unterteilt: Philosophie, Philologie und Geschichte; Mathematik; Naturwissenschaften |
|
1866 |
Forschungsinstitut für Chemie |
|
1868 |
Forschungsinstitut für Chemie |
|
1868 |
Naturwissenschaftliche Fakultät (scienze fisiche, mathematiche et naturali) |
|
1868 |
Oxford |
Clarendon Laboratory |
1869 |
Berlin |
Forschungsinstitut für Chemie |
1874 |
Cambridge |
Cavendish Laboratory |
1876 |
Aufteilung der philosophischen Fakultät in Geistes- und Naturwissenschaften |
|
1878 |
Berlin |
Forschungsinstitut für Physik (für Hermann von Helmholtz) |
1879 |
Würzburg |
Forschungsinstitut für Physik |
1888 |
Tübingen |
Forschungsinstitut für Physik |
1890 |
Heidelberg |
Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften |
1890 |
Harvard |
Faculty of Arts and Sciences; besteht bis heute – mithin keine eigenständige naturwissenschaftliche Fakultät in Harvard37 |
Einige strukturelle Spezifika fallen im Vergleich der Daten auf: Vielfach wurde die Chemie früher eigenständig institutionalisiert als die Physik (was zusammenhängen kann mit der Tatsache, dass die Chemie sich noch aus der medizinischen Fakultät lösen musste und nicht von selbst eingebunden war in die Ausdifferenzierung der philosophischen Fakultät; bedeutsam ist unter Umständen auch, dass die Chemie gegenüber der Physik eine jüngere Disziplin darstellt, die deshalb stärker darauf sehen musste, ihren Ort eindeutig abzugrenzen). Auffallend ist weiter, dass vielerorts Mathematik und Naturwissenschaften sehr lange Teil der philosophischen Fakultät bzw. der faculty of arts blieben (Beispiele: Freiburg bis 1910; Bern bis 1921; McGill bis 1971).
Formen der Institutionalisierung von Wissenschaft sind auch innerhalb anderer Institutionen zu finden, die allesamt wiederum schwer eindeutig zu verorten sind. Die "Kunstkammern"des 17. und 18. Jahrhunderts enthielten stets auch Elemente späterer Forschungssammlungen, wie wissenschaftliche Instrumente oder Naturalien, aber auch Büchersammlungen;38 botanische Gärten standen zwischen der dienend-hilfswissenschaftlichen Funktion der Botanik und einer eigenständigen Verwissenschaftlichung dieses Gebietes; anatomische Theaterund medizinische Demonstrationssammlungen vermittelten zwischen didaktischen Zielstellungen und Forschung;39 wissenschaftliche Experimente wurden sehr früh auch zur spektakulären öffentlichen Demonstration, wobei sich beide wiederum kaum eindeutig trennen lassen.40
Institutionen wissenschaftlicher Kommunikation
Die Geschichte der Wissenschaften als eine Geschichte der Strukturierung und Stabilisierung eines offenen Feldes von Aktivitäten setzt Formen des Austauschs und der Kommunikation voraus. Die Beziehungen zwischen der Herausbildung eines wissenschaftlichen Weltbildes und der Erfindung des Buchdrucks sind gut erforscht; ebenso die enge Verbindung aufklärerischer Wissensvermittlung mit buchhändlerischen Unternehmungen.41
Die Akademien und gelehrten Gesellschaften haben hier, wie bereits erwähnt, eine ihrer Hauptfunktionen. Die unterschiedlichen Kommunikationsformen durchdringen sich dabei. Briefnetzwerke und Publikationen sind untrennbar verbunden, Zeitschriften beruhen vielfach auf brieflichen Mitteilungen: Bis heute kennen die wichtigsten naturwissenschaftlichen Zeitschriften die Form des "Letter to the editor". Gigantische Korrespondenznetzwerke umspannen die europäische Wissenschaftslandschaft; vielfach sind die relevanten Personen auch Knotenpunkte der institutionellen Netzwerke (vgl. den EGO-Artikel zu Christoph Jacob Trew (1695–1769); andere Zentralfiguren des Wissenschaftsaustausch waren beispielsweise Haller und die Bernoullis. Großprojekte wie die Encyclopédie wären ohne ein Korrespondentennetzwerk nicht möglich gewesen).
Wissenschaftliche Zeitschriften greifen Strukturen der gelehrten Gesellschaften und bestehender Briefnetzwerke auf, schließen zudem an bestehende Publikationsformen wie Zeitungen und Buchhandelskataloge an bzw. verarbeiten in Form von Rezensions- und Exzerptjournalen bereits bestehende Literatur. Die Typologie von Zeitschriften bzw. die Spannweite ihrer Funktionen ist vielfältig: Sammeln und Verbreiten von Resultaten und Daten; Diskussion von Theorien; Information über Literatur.42 Das Zielpublikum ist breit gefächert und umfasst neben den Fachkollegen auch eine breite Öffentlichkeit; auch Modezeitschriften des 18. Jahrhunderts enthalten Berichte über wissenschaftliche Neuerungen.
Zeitlich und organisatorisch sind die ersten einschlägigen Gründungen von Zeitschriften wieder an die Akademien und gelehrten Gesellschaften des 17. Jahrhunderts angeschlossen: Die Philosophical Transactions berichten seit 1665 über die Aktivitäten der Royal Society; die Pariser Akademie präsentiert ihre Ergebnisse in der Form von Memoires.43 Zugleich aber entstehen unabhängige Zeitschriften, die ihrerseits zu wirkmächtigen Institutionen werden (das ebenfalls seit 1665 bestehende Journal des Sçavans,44 die durch Leibniz beeinflussten und französischen Vorbildern folgenden Acta Eruditorum, ab 1682, oder die Allgemeine Literaturzeitung im Jena des 18. Jahrhunderts sind Beispiele). Auffallend ist wiederum, dass die meisten frühen Zeitschriften allgemein sind in dem Sinn, dass sie sich nicht auf bestimmte Teilgebiete der Wissenschaften festlegen. Programmatische Unterschiede sind auf einem sehr viel allgemeineren Niveau zu konstatieren: So werden die französischen Publikationen eher mit einem "abstrakten", die aus der Royal Society hervorgehenden mit einem "konkreten" Zugriff assoziiert.45
Eine dritte Organisationsform neben den Universitäten, Akademien und Gesellschaften und den Zeitschriften entwickelt sich bezeichnenderweise ebenfalls ab dem Ende des 18. Jahrhunderts: große überregionale und internationale Konferenzen. Diese Konferenzen folgen zwei Mustern: Zum einen dem Modell der Messe, die neue Produkte präsentiert, wobei für die Wissenschaften insbesondere neue technische und industrielle Produkte relevant sind; umgekehrt könnte man die bereits sehr viel länger bestehenden Buchmessen ebenfalls als wissenschaftliche Veranstaltungen betrachten. In den großen Weltausstellungen lebt dieses Modell deutlich und wirkmächtig fort.
Ein zweites Modell wird 1822 mit der "Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte" etabliert, die von Lorenz Oken (1779–1851) unter dem Einfluss der wiederum in Jena entwickelten Wissenschaftskonzeptionen gegründet wurde und mit Isis auch eine eigene Zeitschrift betrieb.46 Diese Gesellschaft versammelte jährlich alle auf dem Gebiet der Medizin und Naturforschung tätigen Personen, wobei die Mitgliedschaftskriterien ausgesprochen liberal gehalten waren. Beide Modelle wissenschaftlicher Konferenzen tragen deutlich eine gesellschaftliche und politische Agenda.47 Dem Vorbild der "Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte" folgte eine ganze Reihe weiterer Gründungen, beispielsweise die British Association for the Advancement of Science (1831), die Riunione degli Scienziati Italiani (1839) oder die Nordiske Naturforskermøde, Naturforskerselskabet (1839). Auf den Konferenzen dieser Gesellschaft werden in "allgemeinen" Vorträgen generelle Fragen der Wissenschaftsorganisation diskutiert; die Zunahme des Spezialisierungsgrades der Naturwissenschaften lässt sich in der Entwicklung der speziellen Sektionen dieser Konferenzen gut studieren. Zudem fällt auf, wie viele der frühen Konferenzen Fragen der Standardisierung in den Wissenschaften (beispielsweise bei Maßeinheiten oder in der Terminologie) zum Thema machten. Die großen Konferenzen waren unabdingbar für die Herausbildung einer kollektiven Identität und einer geteilten Praxis der Wissenschaften.
Übersicht: Wichtige wissenschaftliche Konferenzen
Jahr |
Name |
Beschreibung |
1791 |
Erste Industrieausstellung am Klementinum in Prag |
|
1798 |
Industrieausstellung in Paris; weitere Ausstellungen folgen 1801, 1802, 1806, 1819, 1823, 1827, 1844, 1849 |
|
1822 |
Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärtze |
Gegründet durch Lorenz Oken in Leipzig; stark beeinflusst von idealistisch-romantischer Naturphilosophie48 |
1829 |
Prima Triennale Pubblica Esposizione dell'anno 1829 |
Ausstellung für Erfindungen aus den Bereichen Agrikultur, Industrie, Wirtschaft und angewandte Wissenschaften; weitere Ausstellungen 1832, 1839, 1844, 1850, 1858 |
1829 |
American Institute Fair |
Jährlich bis 1897; Ziel ist die Förderung von Agrikultur, Wirtschaft, Manufakturwesen und der "arts" |
1831 |
British Association for the Advancement of Science |
Folgt dem Modell der "Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte"; jährliche Treffen |
1833 |
Congrès Scientifiques |
Unterteilt in sechs Sektionen: Histoire naturelle générale; Science physiques, mathématiques et agricoles; sciences médicales, archéologie et histoire; littérature et beaux-arts; économie sociale49 |
1839 |
Riunione degli Scienziati Italiani |
Folgt dem Modell der "Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte"; erstes Treffen in Pisa, dann jährlich bis 1847; wieder aufgenommen 1862 in Siena, nach der Gründung der Italienischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaften. Aufgeteilt in Disziplinen: Zoologie, vergleichende Anatomie, Chemie, Physik, Mathematik, "Agronomie", Technologie, Botanik, Pflanzenphysiologie, Geologie, Mineralogie, Geographie, Medizin |
1839–1936 |
Nordiske Naturforskermøde, Naturforskerselskabet |
19 Konferenzen für Wissenschaftler aus Skandinavien; folgt dem Modell der "Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte" |
1851 |
The Great Exhibition of the Works of Industry of all Nations (Crystal Palace Exhibition) |
|
1855 |
Exposition Universelle, Paris |
|
1860 |
Internationales Treffen von Chemikern in Karlsruhe |
Erste internationale Spezialkonferenz für Chemie; Themen u.a. Standardisierung von Nomenklatur, Notation, Gewichtskonventionen |
1878 |
Erster Internationaler Kongress für Geologie in Paris |
Im Kontext der Weltausstellung, ebenfalls wesentlich auf Standardisierung ausgerichtet50 |
1886 |
International Exhibition of Industry, Science and Art, Edinburgh |
|
1888 |
Grand Concours International des Sciences et de l'Industrie, Brüssel |
|
1893 |
Erster Historikertag, München |
Hervorgegangen aus Debatten um die Rolle von Geschichtsunterricht und -forschung im nationalen Rahmen; aus den Historikertagen erwächst eine eigene Gesellschaft, der "Verband deutscher Historiker", 1895 in Frankfurt gegründet51 |
1897 |
Erster Internationaler Mathematikerkongress, Zürich |
Alle vier Jahre; konzipiert von Felix Klein (1849–1925) und Georg Cantor (1845–1918) |
1897 |
Erste Konferenz von Astronomen und Astrophysikern, Yerkes Observatory in Williams Bay52 |
|
1898 |
Erster Internationaler Historikertag, Den Haag (der Diplomatiegeschichte gewidmet) ab 1900 – Kongress in Paris – inhaltlich geöffnet |
Auch hierfür wird später eine eigene Organisation etabliert, das "International Committee of Historical Sciences" (1926)53 |
1900 |
Weltkongress für Philosophie, Paris |
|
1904 |
Louisiana Purchase Exposition |
"World Fair" in St. Louis, zugleich mit einem "Congress of Arts and Science" |
1910 |
Erste Konferenz der "Deutschen Gesellschaft für Soziologie", Frankfurt |
Initiiert von Max Weber (1864–1920), Georg Simmel (1858–1918), Ferdinand Tönnies (1855–1936) und Ernst Troeltsch (1865–1923) |
1911 |
Conseil Solvay |
Erster Weltkongress für Physik; üblicherweise alle drei Jahre abgehalten. Erstes Treffen in Brüssel; grundlegende Debatten über Atomphysik |
1912 |
First International Eugenics Congress, London |
|
1918 |
Bronx International Exposition of Science, Arts and Industries |
|
1922 |
Erste Solvay-Konferenz für Chemie |
|
1927 |
Fünfte Solvay-Konferenz |
Höhepunkt der Debatten um die Interpretation der Quantenmechanik (Albert Einstein (1879–1955), Niels Bohr (1885–1962), Louis-Victor de Broglie (1892–1987), Hendrik Antoon Lorentz (1853–1928), Max Planck (1858–1947), Paul Dirac (1902–1984), Arthur Holly Compton (1892–1962), Max Born (1882–1970), Marie Curie (1867–1934)) |
1949 |
Erster Internationaler Kongress für "philosophie des science", Paris |
Organisiert durch die "Union Internationale de Philosophie des Sciences" |
1950 |
Erste Internationale Konferenz für Hochenergiephysik, Rochester |
|
1951 |
Shelter Island Conference on Quantum Mechanics in Valence Theory |
Erste einer Reihe von Konferenzen über theoretische Chemie; "singularly important" für die Entwicklung der Quantenchemie54 |
1955 |
International Conference on the Peaceful Uses of Atomic Energy |
Genf, August 1955, organisiert von der UNO |
1970 |
Apollo 11 Lunar Science Conference, Houston |
Interdisziplinäre Konferenz |
1972 |
International Congress on Mathematical Physics |
Größter Kongress für mathematische Physik |
Viele dieser Konferenzen, insbesondere die neueren Gründungen, werden weiterhin regelmäßig abgehalten.
Wissenschaft, Popularisierung, Weltanschauung: Entgrenzung und radikalisierte Demarkation
Wissenschaftsgeschichte ist die Geschichte der Verortung von Wissenschaft, wobei diese Verortung sowohl durch die Entwicklung eines innerwissenschaftlichen Rahmens erfolgen kann als auch durch die Einbettung in gesamtkulturelle Entwicklungen. Auch diese breite Einbettung von Wissenschaft hat eine große Tradition, affirmativ wie kritisch: Bacon präsentierte seine Idealprojekte zur Wissenschaftsentwicklung in Form eines utopischen Romans, Nova Atlantis von 1627; die Akademien des 18. Jahrhunderts wurden von Jonathan Swift (1667–1745) bereits karikiert als Orte weltfremder und abseitiger Praktiken; das wissenschaftliche Experiment wurde wesentlich durch die Präsentation neuer wissenschaftlicher Ergebnisse im geselligen Rahmen etwa der Salons des 18. Jahrhunderts geprägt.55
Mindestens seit der Newton-Verherrlichung im 18. Jahrhundert formt zudem der Naturwissenschaftler ein Modell für den genial-kreativen Menschen; begrifflich eingeholt wird dies wiederum erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der idealistischen und romantischen Philosophie, in der ausdrücklich auch für den Naturwissenschaftler der Geniestatus eingefordert wird. Wenn im 19. und 20. Jahrhundert Charles Darwin (1809–1882) []und Albert Einsteinzu Ikonen der Wissenschaft werden – mit unterschiedlichsten, oft auch außerordentlich polemisch-kritischen Konnotationen– und ganze Genres in Literatur und Film Bezug nehmen auf ein bestimmtes, oft wiederum negativ konnotiertes Bild vom Wissenschaftler, setzt sich diese Entwicklung fort.56
Alle bislang angedeuteten Linien laufen im 19. Jahrhundert zusammen. Das "Jahrhundert der Naturwissenschaft" institutionalisiert nochmals die allgemeine Reflexion über die Wissenschaften und deren Entwicklung. Zwei Linien konvergieren hierbei: zum einen die um 1800 einsetzende Bewegung zur Professionalisierung von Wissenschaftsreflexion in der philosophischen Fakultät, wodurch Wissenschaftsreflexion zu einem hochrangigen, mit traditionellen Themen der Philosophie gleichwertigen, bzw. diese an Aktualität noch übertreffenden Thema wird, zum anderen die immer größere Rolle von Wissenschaft und Technik im Alltag.
Diese wachsende Bedeutsamkeit von Wissenschaft hat mehrere Ursachen: Wissenschaftliche Theorien wie der Darwinismus oder der Materialismus betreffen direkt die Stellung des Menschen.57 Die Bewegung, die um 1800 mit neuen Formen von Wissenschaftsreflexion und der Unterscheidung von Wissenschaftsformen einsetzt, mündet in eine Dynamik von Spezialisierung, die zugleich im Zuge der industriellen Revolution und der damit einhergehenden Wissensexplosion und neuen Legitimationsformen aus der Anwendung zu einem komplexen Befund leitet: Spezialisierung ermöglicht einen ungekannten Fortschritt in Wissenschaft und Technik, führt aber andererseits zu kulturkritisch vermerkten Negativresultaten wie einer zunehmenden "Entfremdung" und "Entzauberung". Praktisch alle kulturkritischen Konzepte der Zeit um 1900 lassen sich direkt auf Wissenschaft beziehen, die damit zugleich zum Heilsversprechen und zum Problemgenerator wird.58 Eine weitere, für die gesellschaftliche Rolle von Wissenschaft zunehmend relevante Dimension liegt in einer Veränderung des Bildungssystems: Im 19. Jahrhundert werden Alternativen zum klassischen Modell einer humanistischen Gymnasialbildung, die allein Zugang zum Studium bietet, gesucht. "Realgymnasia" und technische Hochschulen werden gegründet; Wissenschaft wird zudem zu einem wesentlichen Element in der Volkshochschulbewegung und in der Arbeiterbildung.
Das Heilsversprechen, das in der Wissenschaft gesehen werden konnte, findet seinen markantesten Ausdruck sicher in der Erhöhung des wissenschaftlichen Weltbildes zu einer Wissenschaftsreligion, wie sie im Anschluss an den Positivismus Auguste Comtes (1798–1857) geformt wurde, und in großen Weltanschauungsorganisationen wie dem 1906 gegründeten "Monistenbund", der sich – aufbauend auf Ideen insbesondere des Zoologen und Darwinisten Ernst Haeckel (1834–1919), des Chemikers Wilhelm Ostwald (1853–1932) und des Neurologen und Entomologen Auguste-Henri Forel (1848–1931) – der Propagierung eines einheitlichen, alle Lebensbereiche umfassenden wissenschaftlichen Weltbildes widmete. Alle diese Organisationsformen bedienen insbesondere auch die genannten neuen Bildungsformen und tragen bewusst zu einer umfassenden Popularisierung von Wissenschaft bei. Neue Publikationsformen erschließen der Wissenschaft auch ein neues Lesepublikum. Die gesellschaftliche Verantwortlichkeit von Wissenschaft führt zu einem wachsenden Bewusstsein von der politischen Rolle von Wissenschaft; Ideale wie der Kosmopolitismus werden in den genannten Organisationsformen ausdrücklich unterstützt.
Wissenschaft, Standardisierung und die Institutionalisierung von Wissenschaftsreflexion
Wissenschaft bewegt sich durchgehend zwischen Standardisierung und Offenheit. Aus den Weltanschauungsbewegungen um 1900 gehen sehr detaillierte Vorschläge hervor von der Standardisierung von Sprachen (allerdings wird die Standardisierungsforderung direkt wieder unterlaufen, weil es sehr unterschiedliche Vorschläge hierfür gibt: eine formale, an der Mathematik orientierte Logik oder aber eine für den Alltagsgebrauch eingerichtete Weltsprache wie Esperanto)59 bis hin zu Bibliothekssystemen und effizienten Papierformaten – auf der andern Seite hat rezente Wissenschaftsforschung aufgewiesen, dass die Annahme einer standardisierten Wissenschaftspraxis weder zuträglich ist für Fortschritt (hierauf hatten bereits Romantiker und Weltanschauungsdenker aufmerksam gemacht) noch durch die Materialien belegt wird. Wissenschaft steht zwischen Idealen und konkreten Praktiken; sie folgt keiner linearen Entwicklung; Disziplinierung und strukturierende Festlegung folgen in einem zweiten, derivativen Schritt auf eine offene Ausgangssituation.
In der Geschichte lässt sich kein eindeutiges Modell für Wissenschaftlichkeit finden; keine Wissenschaft ist historisch konsistent als Modell- und Leitwissenschaft ausgezeichnet. Die Annahme selbst, dass es solche Modelle gibt, wird hiermit erklärungsbedürftig. Wesentliches Element der Wissenschaftsgeschichte ist deshalb stets auch die Geschichte der Reflexion über Wissenschaft und der Herausbildung einer Philosophie der Wissenschaften. Diese ist ihrerseits eingebunden in die ideen- und institutionengeschichtlichen Entwicklungen, die hier beschrieben wurden. Die zentrale Rolle philosophischer Systemkonzepte der Zeit um 1800 wurde bereits genannt. Das 19. Jahrhundert institutionalisiert dann eine eigene, sich von der philosophischen Tradition unabhängig machende Wissenschaftsreflexion. Die Weltanschauungsorganisationen des 19. Jahrhunderts übernehmen auch hierfür eine wichtige Funktion. Wilhelm Ostwald, ab 1911 Präsident des Deutschen Monistenbundes, gab mit den Annalen der Naturphilosophieein Periodikum heraus, in dem 1921 noch Ludwig Wittgensteins (1889–1951) Tractatus Logico-Philosophicus erscheinen konnte, und seine Reihe Ostwalds Klassiker der Naturwissenschaft machte primäre Texte der Wissenschaftsgeschichte zugänglich.
In den Universitäten finden sich ab 1870 in Zürich, wo ein Lehrstuhl für "induktive Philosophie" eingerichtet wurde,60 und mit der ab 1895 bestehenden und mit Ernst Mach (1838–1916) besetzten Professur für "Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften" entsprechende Angebote, wieder verbunden mit breiteren gesellschaftlichen Strukturen wie dem "Verein Ernst Mach" in Wien, an den der "Wiener Kreis" in den 1920er Jahren direkt anschließen konnte. Entsprechende Konferenzen über die "Einheit der Wissenschaft" fanden ab 1935 statt, aber auch naturwissenschaftliche Konferenzen wie die Solvay-Konferenzen trugen bei zur Festlegung des Wissenschaftsbildes.61
Alle hier behandelten Prozesse und Strukturen in der Genese von Wissenschaft und in der Reflexion über den Begriff von Wissenschaft weisen dieselbe Dialektik zwischen anspruchsvoller Standardisierung auf der einen und liberaler Offenheit auf der anderen Seite auf. Noch die Entwicklung einer professionellen Selbstreflexion der Wissenschaften lässt sich damit verstehen als ein Reflex der Offenheit des Wissenschaftskonzepts, das keinen eindeutig festliegenden Standards genügt.