Einleitung
Das "Modell Italien" oder "Modèle italien" ist das wohl älteste und geläufigste in unserer überkommenen Tradition der Geschichtsschreibung dieser Art, seitdem Fernand Braudel (1902–1985) seine Geschichte der italienischen Renaissance unter dem französischen Titel "Le modèle italien" veröffentlicht hat. Anstelle einer Zusammenfassung von etwas, das bereits vorliegt (Braudels Buch), wird dieser Beitrag darum einen historiographischen Abstecher wagen. Ich werde versuchen, die historischen Wurzeln des "Modell-Modells" offenzulegen: inwiefern hat die Frage nach der Ausbreitung der italienischen Renaissance und der Kultur des Barock in Europa ihre Ursprünge in der Geschichtsschreibung der Vor- und Nachkriegszeit? Was waren die impliziten und expliziten Annahmen, die einem solchen Projekt im Zeitraum zwischen den 1930er und 1980er Jahren zugrunde lagen? Der zweite Teil soll der Diskussion dienen, wie ein derartiges historisches Narrativ auch heute noch verwendet werden kann. In einem dritten Abschnitt wird ein enges Konzept der "italienischen Renaissance als Modell" definiert, um schließlich im vierten und letzten Teil eine sehr kurze und grobe Skizze zu geben, wie eine Geschichte der italienischen Renaissance als Modell für Europa und in Europa aussehen könnte.
Ein Modell für Modell-Geschichtsschreibung: Braudels Modèle italien
Auch wenn er nicht explizit in der Einleitung von European History Online Erwähnung findet, bildeten die Ideen Fernand Braudels den Ausgangspunkt1 dessen, was als eine Serie von Artikeln zum Thema "Modellbildungen und Stereotypen in interkulturellen Transferprozessen" angelegt war.2 Sein Le modèle italien war der Titel der französischen Fassung (1989) eines Überblicks-Kapitels in der 1974 erschienen Einaudi-Geschichte Italiens, herausgegeben von Ruggiero Romano (1923–2002) und Corrado Vivanti (1928–2012), das sich mit der Bedeutung der späten italienischen Renaissance sowie des Barock außerhalb Italiens zwischen 1450 und 1650 beschäftigte.3 Mit diesem Titel wurde Braudels Buch in seiner deutschen Übersetzung (Modell Italien) in den frühen 2000er Jahren erneut zum Ausgangspunkt für Geschichten des kulturellen Transfers, kultureller Diffusion und kultureller Referenzen.4
Der ursprüngliche italienische Titel im Einaudi-Band lautete Due secoli e tre Italie (Zwei Jahrhunderte und drei Italien) als Abteilung der größeren Sektion L'Italia fuori d'Italia (Italien außerhalb Italiens), die vermutlich von Romano und Vivanti vorgeschlagen worden war, und in der Jacques Le Goff (1924–2014) ein mit Braudels Text komplementäres Kapitel über mittelalterliche Geschichte verantwortete. Braudels Aufgabe war es nicht, einen Überblick über die italienische Renaissance oder über die italienische Geschichte des späten 15. bis 17. Jahrhunderts als solche zu schreiben, sondern sie in Bezug zum Rest Europas zu setzen: wie beeinflussten die Entwicklungen in Italien andere europäische Länder? Es scheint, dass Braudel von dieser Herausforderung inspiriert wurde, und sie in sein eigenes historisches Programm integrierte, das er seit den 1930er Jahren sein Leben lang verfolgte. Für seine nicht fertiggestellte Identité de la France hatte Braudel einen vierten Teil mit dem sehr ähnlichen Titel "La France hors de la France" geplant, und, wie wir noch sehen werden, ist anzunehmen, dass dieses Kapitel eine Geschichte der Ausbreitung und des Einflusses der französischen Aufklärung auf das Europa des 18. Jahrhunderts gewesen wäre.5 Der Begriff "Modell" wurde erst 1989 mit der französischen Fassung von Due secoli e tre Italie in das Vokabular aufgenommen ("Tout cela, quels que soient les images ou les mots auxquels, faute de mieux, recourt notre raisonnement diffusion, rayonnement, modéle, enseignement, Lumières [diffusione, irradiamento, magistero, lumi – "modèle" taucht nur in der französischen Übersetzung auf]6, dessine un seul problème".)7
Braudels Werk aus dem Jahr 1989 und die italienische erste Fassung von 1974 können nicht anders als in einer Stereoskopie mit dem sechsten Kapitel des zweiten Buches von Das Mittelmeer und die mediterrane Welt (1949) über "Zivilisationen" verstanden werden. Die Wiederholung, wenn nicht gar Identität der Gedanken, Formulierungen und Ereignisse weist auf das große Problem hin. In diesem Kapitel hatte Braudel die "mediterranen Ausstrahlungen oder Einflüsse" (rayonnements méditerranéens) untersucht. Der "Barock" war hier das zentrale Beispiel der sublimen Manifestierungen des "Mittelmeerraums" in der Alltagswelt des europäischen Nordens. Die zentrale Frage und ihre Antworten sind identisch: wann und wie treten zivilisatorische oder kulturelle Einheiten in einen Austausch? "Rayonner, donner, c'est dominer"8 – die mediterrane Kultur ist also ein Modell, das Auswirkungen hat und emuliert wird, weil es laut Braudel in einer bestimmten Weise höherwertig ist (oder als höherwertig wahrgenommen wird). Sein zweiter wichtiger Gedanke, der sich in Modèle von 1974 wiederholen sollte, war, dass Kulturen sich offenbar im Zenit ihrer "Strahlkraft" befinden, wenn sie den ihrer politischen und militärischen Stärke bereits überschritten haben. Der Mittelmeerraum "erleuchtet" den Rest Europas – England, Frankreich, die Länder nördlich der Alpen – just in dem Moment, in dem er selbst sich im Niedergang befindet9; ebenso wie die antike griechische Kultur, die das späte republikanische und frühe kaiserzeitliche Rom erleuchtete (Braudel verwendet diese Licht- und Strahlen-Metaphorik), während sie selbst bereits von diesem neuen Imperium unterworfen worden war. Die mediterrane "Kultur" hätte also die nördlichen und westlichen Kulturen beeinflusst, als diese im Begriff waren, während der globalen Machtverschiebung von einer mediterranen zu einer atlantischen Achse die Herrschaft über die gesamte Welt zu erlangen.
Im Kapitel wie auch im gesamten Buch von 1974 findet man nahezu identische Sätze; man muss nur das Wort "Mittelmeerraum" durch "Italien" oder "italienische Renaissance" ersetzen. Im abschließenden methodologischen Teil setzt sich Braudel zunächst mit Georges Gusdorf (1912–2000) auseinander, ehe er von einem 1945 in der Sorbonne stattgefundenen Gespräch mit Georges Lefebvre (1874–1959), dem berühmten Historiker der französischen Revolution (La grande peur), berichtet, in dessen Verlauf Lefebvre behauptet habe, dass "Macht und kulturelle Ausstrahlung zwei Seiten ein und desselben Phänomens" seien. Braudel war anderer Meinung: In Reaktion auf diese Gleichschritts-Hypothese formulierte er eben dieses sozusagen historische Gesetz, nach dem "kulturelle Ausstrahlung" ein dem Zenit der wirklichen Macht nachgelagertes Phänomen sei –un phénomène d'arrière-saison"). Und nachdem Braudel sich auf diese Weise mit der italienischen Renaissance als einem Zeitraum beschäftigt hat, den er als Höhepunkt beschreibt, sowie mit dem nachfolgenden "Verfall", argumentiert er, dass dasselbe für das spanische siglo d'oro (einer "Ausstrahlung", der die eigentliche spanische Vormachtstellung des 16. Jahrhunderts vorausgegangen sei), sowie die französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts gelte (eine "Ausstrahlung", der wiederum die eigentliche französische Vormachtstellung des 17. Jahrhundert vorausgegangen sei).10
Die historiographische Forschung zu Braudel setzte unmittelbar nach seinem Tod ein.11 Eine Vielzahl von Beiträgen widmet sich dem Erbe seines geohistorischen Ansatzes.12 Vor kurzem wurde auch der Einfluss der deutschen Geopolitik in ihrer stärksten Zuspitzung durch Karl Haushofer (1869–1946), neben dem Einfluss von Friedrich Ratzel (1844–1904) und Paul Vidal de la Blache (1845–1918) auf Braudels Konzept des (maritimen) Raumes herausgearbeitet.13
Es wurden jedoch weitaus weniger Versuche unternommen, die Wurzeln und epistemologischen Kontexte der Diskussionen zu dechiffrieren, in die Braudel verwickelt war, während er sich, wie in unserem Fall, mit Kulturgeschichte befasste. Wie Heinrich Lutz (1922–1986) schon 1982 feststellte, lohnt sich ein Blick in die Fußnoten von Braudels Schriften.14 Folgt man diesem Rat, offenbaren sich einige wichtige Erkenntnisse: Zunächst ist zu beachten, dass Das Mittelmeer in seiner Anlage ein französisch-deutsches Buch war, nicht nur aufgrund der großen Bedeutung der deutschen Forschung der Vor- und Zwischenkriegszeit auf den Gebieten der Geschichte und Geographie, sondern auch aufgrund von Braudels Abhängigkeit als Kriegsgefangener von den Bibliotheken in Mainz (1940–1942) und Lübeck (1942–1945).15 Zu diesem Zeitpunkt verwendete er kaum italienische Autoren. Nach seiner Wiedereinstellung in Paris änderten sich die Dinge deutlich: jetzt führte für das Modèle-Kapitel bzw. Buch die italienische Forschung nach der Französischen[].16
Während Das Mittelmeer ein tief in Fragen und Forschung der Zwischenkriegszeit verwurzeltes Werk ist, stellen sich die bibliographischen Daten für das Modèle einerseits als "neuer", zugleich aber auch als repetitiver heraus, insofern Braudel für viele Seiten und an sich alte Themen, die er nun mehr oder weniger in verändertem Gewand erneut 'verkaufte', einen Essay-Stil verwendete, ohne viele Fußnoten anzugeben. Der Großteil der jüngeren Forschungsbeiträge der 1950er bis frühen 1970er Jahre, die er zitierte, widmete sich Themen der Kulturgeschichte (Galileo, die Barock-Frage), für die er, seiner Ausbildung nach mehr ein Wirtschaftshistoriker, "sich erst zum Fachmann machen musste".
Die (seltenen) Stellen, an denen er Primärquellen aus Archiven sowie spezialisiertere neuere Forschungsbeiträge zitiert, betreffen stets die Wirtschaftsgeschichte Italiens, und nur hier fühlt er sich wirklich zu Hause. Hingegen schöpft er gleichsam in "dritter Hand" aus Synthesen zweiter Hand Informationen für das, was der kulturhistorische Kern von beidem hätte sein sollen: des Modèle-Buchs bzw. -Kapitels und des Zivilisations-Kapitels in Das Mittelmeer. Weder hier in Das Mittelmeer, noch in jenem Buch, das sich ja eigentlich der "Renaissance" widmet, lernen wir Braudel als einen erster-Hand-Leser und Interpreten der humanistischen Autoren in zeitgenössischen Editionen kennen, oder sehen wir ihn im Dialog mit Italianisten über eine bestimmte Passage eines Autors (ausgenommen hier und da ein Zitat von Niccolò Machiavelli (1469–1527), Giovanni Botero (1544–1617) oder Jean Bodin (1529–1596). Nie nutzte Braudel einen hermeneutischen Ansatz. Eine ähnliche Interpretationsmethode der Schriften der Humanisten findet sich vielleicht in der alten Form des Historismus, wie er von Friedrich Meinecke (1862–1954) begründet wurde.
Man kann – just im Zeitraum zwischen der Abfassung von Das Mittelmeer und Modèle – einige Werke hervorheben, die offenbar – manchmal überraschenderweise – für die Zuschneidung der zentralen Frage nach den Konjunkturen von Zivilisationen, "kultureller Strahlkraft" und der Funktionsweise von "Modellen" wichtig waren. Einige dieser Werke standen sogar in der Tradition des Faschismus und der Volksgeschichte. Und schließlich scheint Braudel, neben dem Dialog mit seinen unmittelbaren Pariser Kollegen wie André Chastel (1912–1990) (4e section de l'École des Hautes Études, 1951–1955, nach 1955 an der Sorbonne), Alexandre Koyré (1892–1964) und Georges Gusdorf, auch mit besonderem Interesse einige post-marxistische Autoren rezipiert zu haben, die entweder zu liberalistischen oder anderen idiosynkratischen Formen des historischen Denkens konvertiert waren, wie sie unter den Kriegs-Emigranten verbreitet waren: Alexander Rüstow (1885–1963) (während des Krieges Emigrant in Istanbul), Leonardo Olschki (1995–1961) (im Exil in den USA), und Frederick Antal (1887–1954) (Emigrant in London).
Die Messung von kultureller Größe, Überlegenheit und "Strahlkraft" (Braudel/Rüstow)
Braudels Frage nach dem Verhältnis zwischen der "Erhabenheit" einer Zivilisation, einer Nation oder eines Volkes und den Prozessen der "Ausstrahlung" wird ab der ersten Fußnote mit Verweisen zu Diskussionen der Vor- und Zwischenkriegszeit über ähnliche Fragen eingeführt. Hier zitiert er Arthur de Gobineaus (1816–1882) Idee, dass "jede menschliche Gesellschaft" ihren Niedergang haben muss und es "Renaissancen" geben kann.17 Er nimmt auch Bezug auf einen der Bände der vom Außenministerium des faschistischen Italien und vom Italienischen königlichen Institut für Archäologie und Kunstgeschichte geförderten Opera del Genio italiano all'estero. Dieses vielbändige Werk, begonnen 1939, drei Jahre nach Benito Mussolinis (1883–1945)[]Invasion Äthiopiens, verfolgte die Pfade von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen italienischen "Kolonisatoren" (genuesisches und venezianisches Imperium),18 und italienischen Künstlern und Ingenieuren im Ausland. Das Projekt fand so durchaus eine Art spätes Echo in Braudels Anliegen, noch in den 1970ern eine Geschichte "Italiens außerhalb Italiens" zu schreiben.
Die Reihe von 1939 war Teil der übergreifenden Tendenz des italienischen Faschismus, die "Italianità" des Mittelalters und der Renaissance als Erbe wiederaufleben zu lassen und gegenwärtige wie zukünftige Wege der Expansion und "grandezza" in vergangenen zu spiegeln – um schließlich eine erneute "nationale Regeneration" (nach Renaissance und Risorgimento) anzuregen. Dieser Diskurs war ideologisch nur vage (zunächst wenig rassistisch im engeren Sinne) profiliert und überlebte darum einigermaßen leicht bis in die 1950er Jahre.19 Mit der Frage, wie eine "Nation" zu "Größe" gelangen und diese erhalten, wiedererwachen, und andere Zivilisationen in kultureller wie militärischer Hinsicht erobern konnte, setzte sich auch Braudel noch auseinander, und zwar unter Verwendung einer Terminologie, die der älteren Sprache sehr ähnlich war; allerdings tat er dies als Historiker und nicht als Ideologe.20
Im Rahmen eines solcherart erkennbaren Narrativs des Kalten Krieges von "Nationen als Modellen" musste Braudel zunächst die spezifische "grandeur" der italienischen Renaissance erklären. Ohne eine solche Überlegenheit wäre keine "italienische Strahlkraft" möglich gewesen.21 Hinsichtlich dieses zentralen Punktes zitiert er eine Passage aus Alexander Rüstows Ortsbestimmung der Gegenwart über die Bedeutung der urbanen Kultur im Entwicklungsprozess der Geschichte. Rüstow war zunächst Sozialist gewesen, hatte aber dann gemeinsam mit Wilhelm Röpke (1899–1966), Alfred Müller-Armack (1091–1978) und Friedrich August Hayek (1899–1922) und anderen den "Ordo-Liberalismus" begründet, der Elemente einer Doktrin autoritativer Staatsfunktionen mit einem liberalistischen Credo verwob, dessen Zeit nach 1945 kam.22 Die Grundlage von Rüstows ökonomischer Theorie bildete sein großes philosophisch-historisches Werk, das er während seines Exils in Istanbul im Versuch verfasst hatte, die Formation komplexer Gesellschaften mittels sukzessiver "Überlagerungen" eines Stammes über einen anderen, eines erobernden Staates oder Imperiums über ein anderes, einer Klasse über die andere zu erklären, und somit ein vollständiges Narrativ der europäischen Geschichte vom antiken Griechenland bis zur Gegenwart zu entwerfen. Die Durkheim'sche Arbeitsteilung wird als Basis der modernen Gesellschaften erst möglich, indem kleine, spezialisiertere Teile einer Gesellschaft von einfachen Arbeiten der Subsistenzwirtschaft befreit werden, die einer großen Anzahl unspezialisierter Gesellschaftsmitglieder überlassen werden. Die Stadt war, so Rüstow, der zentrale Ort einer Umsetzung dieses sogenannten "Gesetzes der Kulturpyramide": es muss immer eine größere Oberfläche (im metaphorischen oder sozialen Sinne) geben, um eine kulturelle Höhe zu bewirken; und eine kulturelle oder adlige Elite, die Arbeiter oder Sklaven beherrscht.23 Der historische Teil seines Werkes über "Gotik und Renaissance" beginnt mit der Verortung der Stadt in der europäischen Geschichte. Die Stadt und ihre Sozialstruktur schaffen hier die Bedingungen für eine Erhebung der Kultur "gemäß dem Pyramidengesetz".24
Rüstow beschrieb den Prozess, der auch Braudel interessierte – die europaweite Ausbreitung der Renaissance – als eine "Überlagerung" einer fremden Kultur über eine native aufgrund des Erreichens einer größeren 'Höhe' im Sinne der räumlichen Metaphorik des Pyramiden-Bildes.25 In Braudels Denken übersetzt, ließe sich also sagen, dass ein "ausstrahlendes" Modell immer an der Spitze der zivilisatorischen Pyramide einer jeweiligen Epoche steht, was für ihn die Frage aufwarf, wie sich die "Größe" (grandeur) einer Zivilisation oder aufeinanderfolgende (mediterrane, italienische, niederländische, englische, französische…) "Größen" innerhalb der Geschichte messen lassen. Beim historischen Vergleich spricht Braudel stets von "domination" und in diesen Zusammenhängen von einer dominierenden Zivilisation.26 Schon in Das Mittelmeer reflektiert er, welche Formen der Überlegenheit eine Gesellschaft über die andere braucht, um zum Geben fähig zu sein. Dies wird hier jedoch noch immer in Begriffen einer eher unsystematisch verarbeiteten Theorie der Gabe ("théorie du don") gefasst.27 In der Version von 1974/1989 argumentiert er noch pseudo-soziologischer: er erörtert die Beziehung zwischen einem größeren Außenraum, der von einem kleineren, privilegierten Innenraum beherrscht wird, um die Zivilisations-"Höhe" bzw. die Funktionsweise von "Größe" im Zustand der Strahlkraft zu erklären.28
Kulturelle Ausbreitung und ihre Bedeutung (Braudel/Antal/Olschki)
Eine weitere Frage zielte auf das tatsächliche Zentrum der angeblichen Renaissancekultur, mit Florenz als zentralem Beispiel und dem ungarischen Marxisten Frederick Antal als Gewährsmann. Antal war 1919 Mitglied der kurzlebigen Budapester Republik gewesen, dann des Wiener Kreises, sowie ein treuer Anhänger der marxistischen Ästhetik von Georg Lukásc (1885–1971). Er emigrierte nach London, wo er sein bedeutendes Werk über die florentinische Kultur und die Frage nach dem Verhältnis zwischen sozialer Klasse und Kunst, Klient und Künstler im Florenz der Renaissance veröffentlichte, das Braudel verwendete.29 Was Braudel von ihm im Unterkapitel "Die Höhe der Gesellschaft" ("Le haut de la sociéte") übernahm, war die Doktrin, dass nur eine sehr kleine florentinische Oberschicht die Kunst bestellte und bezahlte, die zum Ausdruck dieser proto-bourgeoisen Kultur wurde.30 Braudel verwendet dieses Argument, um zu erklären, wie jener so kleine Kreis auf dem Weg in den Adel aufzusteigen (Medici), aber auch zu migrieren und in Zeiten italienischer Krisen selbst an die west- und nordeuropäischen Höfe zu fliehen, zum Akteur der Diffusion und des kulturellen Transfers werden konnte. Das Narrativ vom "Höhepunkt" der urbanen Kultur, das die Übernahme der "italienischen" Renaissance und des "italienischen" Stils durch die höfische Kultur Nord- und Westeuropas erklärte,31 konnte mit dem post-marxistischen Narrativ einer Teilung der Gesellschaft in ökonomisch determinierte Schichten verbunden werden. In Kombination mit einem Krisen-Narrativ konnte so die Diffusion, die Verbreitung dessen, was am Höhepunkt der heimischen Entwicklung sozusagen abgeschnitten worden war, erklärt werden.
Den anderen, "republikanischen" und populären Teil der Kultur der Renaissance und ihrer Verbreitung behandelte Braudel exemplarisch anhand von Referenzen zu Musik und zu Schauspielern der Commedia dell'arte, die durch Europa reisten, andere europäische Kulturen beeinflussten und dadurch allerorts Nachahmungen anregten. Neben anderen nimmt Braudel hier Bezug auf Leonard Olschki, für den "die Musik die einzige freie und autonome Manifestation des künstlerischen Lebens des italienischen Volkes [war]". Er interessierte sich für die Musik, insofern sie "den Barock beherrschte, da sie Italien beherrscht hatte, bevor sie die Welt regierte".32 Der bedeutende polnisch-deutsche Kunsthistoriker Olschki war in den Jahren 1909 bis 1932 Teil des intellektuellen Lebens in Heidelberg, gemeinsam mit Ernst Robert Curtius (1886–1956), Heinrich Rickert (1863–1936), Karl Jaspers (1883–1969), Ernst Troeltsch (1865–1923), Alfred Weber (1868–1958) und Max Weber (1864–1920)[], und war aufgrund seiner jüdischen Abstammung gezwungen, 1938 von Rom in die USA zu emigrieren. Er war einer der besten connaisseurs der mittelalterlichen und Renaissance-Kunst und spezialisiert auf die frühen Beziehungen zwischen Italien und dem Fernen Osten (China).33 Olschkis Buch beginnt mit einem quasi-mythischen Status der Ursprünge Italiens und des italienischen Volkes in ihren geographisch-natürlichen Bedingungen, und bewegt sich dann durch die römische, aber hauptsächlich die mittelalterliche und Renaissance-Geschichte bis etwa 1600, und verbannt dabei die frühe "moderne" italienische Geschichte des 19./20. Jahrhunderts in die stiefmütterlich kurze Position eines kleinen Epilogs. Tatsächlich blieben für Olschki Musik und Komödie die einzigen Orte, an denen der italienische nach "universellen" Dimensionen strebende "Geist" überleben konnte, nachdem die spanische und später die österreichische Herrschaft die einst lebendigen liberalen Strömungen der Zeit der Renaissance erstickt hatte.34
Die dritte bedeutsame kulturelle Form, die Braudel neben der Kultur der Renaissance und der barocken Kunst anspricht, sind die aufkommenden Wissenschaften. Allerdings ist der einzige Punkt, um den es ihm im Kapitel zu Galileo Galilei (1564–1642) geht, dass man "Wissenschaft in Italien" nur im Rahmen der Frage nach einer Erklärung für den angeblich offensichtlichen "Niedergang Italiens" zwischen 1633 (Urteil gegen Galilei) und 1670 (erste Ansätze einer frühen Aufklärung) verstehen könne. Große Teile der Diskussion über die Entwicklungen von aristotelischen zu frühen experimentellen Ansätzen (Schule von Padua), über die italienische Kultur der accademia, und über das Zusammenspiel zwischen dem technischen "impliziten Wissen" der Handwerker, visueller Kunst und Innovations-Kultur, wie sie zu seiner Zeit und noch mehr heutzutage in der Literatur über Humanismus und Renaissance geführt werden, finden keinen echten Eingang in sein Narrativ. Alles in allem bleiben die Inhalte von Renaissance und Humanismus unterbelichtet und blass. Dieser genauere Blick auf die Quellen und die Idee hinter Braudels Modèle italien könnte den Weg freigemacht haben, um Probleme und zuweilen unreflektierte Implikationen der historiographischen Denkfigur "Modell Nation x" auszumachen.
Ist eine Geschichte der "nationalen" oder "zivilisatorischen Modelle" heute noch möglich?
Braudel scheint, ebenso wie Olschki, überzeugt gewesen zu sein, dass zumindest im Rahmen einer Geschichte der Moderne jede Zivilisation oder Nation mehr oder weniger nur "einen" Moment der grandeur hat – möglicherweise auch, um einer ungewollten Übernahme der post-faschistischen Terza-Roma Ideen (antikes Rom, päpstliches und Renaissance-Rom, Mussolinis Rom) vorzubeugen. Für beide war die moderne Weltgeschichte – und vielleicht auch der Prozess, den wir heute als "Globalisierung" bezeichnen würden, freilich in einer skeptischen Wertung als "Verlust" von Diversität und Pluralität wahrgenommen35 – durch eine Abfolge von führenden Zivilisationen oder Nationen definiert; durch etwas wie eine stetig aufsteigende translatio imperii, vom italienischen zum spanischen, niederländischen, französischen, britischen und amerikanischen "Moment" des Erreichens jener Größe, die Voraussetzung der "Strahlkraft" ist. Braudel verneinte explizit, dass Italien oder Frankreich zu seiner Zeit, den 1970er Jahren, im Besitz solcher "Größe" seien. Vielleicht (und nur vielleicht) könne Europa als Ganzes in der nahen Zukunft neben den Vereinigten Staaten so betrachtet werden, aber Braudel schien hier eher skeptisch.36 Darum betrachtete er, als er kurz auf den Effekt der italienischen Massenimmigration in die USA und andere Teile der Welt während des 19. Jahrhunderts als ein großes neues Phänomen der von Italien ausgehenden "Ausbreitung" und kulturellen Diffusion einging, diese auch als ein Zeichen der Schwäche, das keine nähere Betrachtung verdiente, zumindest nicht auf derselben kategorialen Ebene wie die "Strahlkraft" der italienischen Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert.
Wie würden wir uns heute dazu stellen? Eine erste Reaktion könnte äußerst negativ ausfallen: Gehen wir mit einem "Modell x"-Narrativ nicht zurück hinter all die post-Braudel'schen methodologischen Diskussionen, die in den 1980er Jahren über kulturellen Transfer angestoßen wurden, über eine Priorisierung der Perspektive der rezipierenden Kultur anstelle einer Reifizierung der diffusionistischen Aufmerksamkeit für das "glorreiche" Licht, das von einem Ludwig XIV. (1638–1715), einem Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), oder einem Machiavelli ausgehe, und andere Länder und Kulturen erleuchtet?37 Riskiert die Idee einer durch ein Aufeinanderfolgen "führender" Modell-Zivilisationen strukturierten Weltgeschichte nicht, äußerst post-hegelianisch und teleologisch zu argumentieren; riskiert sie nicht, in anderen Worten, die Geschichte des Geistes in der Geschichte, der durch die Zeiten schreitet und sich in den Schicksalen der Völker manifestiert, wiederzuerzählen?
Auf einer anderen Ebene der methodologischen Hinterfragung stünde die Frage danach, wie das "Modell"-Narrativ von Rezeptionsgeschichte, Imagologie, von Hybridisierungs- und lieu-de-mémoire-Narrativen zu unterscheiden ist, und ebenso von Geschichten der Diffusion und Rezeption der Konsumkultur: Gehört der Neorenaissance-Stil einiger Städte des 19. Jahrhunderts zur Geschichte vom "italienischen Modell" oder vom "Modell Renaissance" oder nicht? Als Beispiele könnte man rasch an die Münchner Feldherrnhalle am Odeonsplatz erinnern, erbaut 1841/44 von Friedrich von Gärtner (1791–1847), der hier eine exakte Kopie der florentinischen Loggia dei Lanzi (15. Jahrhundert) schuf, oder an den Neorenaissance-Bau des Hafengebäudes in Nordre Toldbod, Kopenhagen, der 1868–1869 Raffaelos florentinischen Palazzo Pandolfini kopierte. Ist die Geschichte der weltweiten Rezeption der italienischen Pizza seit dem 19. Jahrhundert eine weniger machtvolle als diejenige der Rezeption Machiavellis?38 Und gehört die Geschichte der Rezeption von Giuseppe Verdi (1813–1901) und Giacomo Puccini (1858–1924) in eine post-Modell-Italien-Periode, weniger bedeutsam und machtvoll, während die Rezeption von Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594) und der Commedia dell'arte in jene "echte" Periode von Italien als Modell für alle anderen Zivilisationen gehört?
Zunächst würde ich, in Übereinstimmung sowohl mit Braudel als auch dem Post-Postkolonialismus39 behaupten, dass es historische Unterschiede zwischen gewissen Formen von "überlegen/unterlegen" ebenso wie Unterschiede zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren gab. Diese Unterschiede sind empirisch fließend, schwierig zu definieren und existieren möglicherweise nur in einem ganz bestimmten Moment und, auf der ersten Ebene der Beobachtung, in der Wahrnehmung und Überzeugung von zeitgenössischen Akteuren; oder, auf einer zweiten, definitorischen Ebene, auf der Seite der nachgeborenen interpretierenden Beobachter. Verallgemeinert ließe sich also sagen, dass es alles andere als einfach ist, zu entscheiden, ob eine in volgare (umgangssprachlichem Italienisch) abgefasste Abhandlung von Machiavelli oder Leon Battista Alberti (1404–1472) "überlegen" ist gegenüber einer spät-scholastischen lateinischen, die von Gabriel Biel (1418–1495) an der Universität Wittenberg gelehrt wurde – beides nahezu zeitgenössische Texte aus dem Zeitraum um 1500. Weshalb kam es dann zu keiner signifikanten Rezeption Biels in Italien,40 während die italienischen volgare-Texte der Humanisten längerfristig und in großem Umfang rezipiert und in akademischen Deutsch-Lateinischen Kontexten relatinisiert wurden; und wie konnte es um 1600 auf diese Weise zu dem bis dato unüblichen Amalgam von um 1500 disparaten und unverbundenen Formen kommen, die man an den nordalpinen Fakultäten der freien Künste in Wittenberg (Politica, Ethica) unterrichtete?41 Und dies, obwohl Biels spätmittelalterlicher Nominalismus ja höchst gelehrt und raffiniert war und zu seiner Zeit vielleicht sogar als "höherwertiger" im Sinne eines Standards der universitären Lehre und des logischen Handwerks angesehen wurde, während Machiavelli keine belegbare formal-universitäre Bildung genossen hatte.
Ich schlage vor, hier ein gewiss simplifizierendes – als Frühneuzeitler könnte man mit einem leichten Lächeln sagen – ramistisches Schema zu verwenden und folgendermaßen zu unterscheiden: Im Verlauf eines Kommunikationsprozesses werden kulturelle Gegenstände als entweder neu oder alt wahrgenommen. Beinahe alle oben erwähnten Beispiele können als Teil einer Rezeptionsgeschichte aufgefasst werden. Ihre methodologischen Pfade wurden in der Hermeneutik schon seit Hans-Georg Gadamer (1900–2002) und Hans Robert Jauß (1921–1997) diskutiert. Wenn jedoch Machiavelli, Giovanni Botero, Angelo Poliziano (1454–1494), Galilei, Scipione Ammirato (1531–1601), Sandro Botticelli (1445–1510), Michelangelo Buonarroti (1475–1564) oder irgendein anderer in etwa im Renaissance-Zeitabschnitt Braudel'scher Prägung (zwischen 1450 und 1650) rezipiert wurde, wurde er als in irgendeiner Weise "neu" oder wenigstens als Teil des mehr oder weniger Gegenwärtigen wahrgenommen, mit Kunst, Ideen und Texten, die in dieser Gegenwart aktuell, passend, neu und von Nutzen waren. Der Historiker könnte herausfinden, dass es nicht neu war (etwa, dass verborgene thomistische Palimpseste in einem angeblich neuen Tyrannen-Diskurs oder Savonarolas Predigten entdeckt werden können). Umgekehrt konnten die Humanisten einfach behaupten, die Antike wiederaufleben zu lassen, in ihrer Perspektive also gerade nichts "Neues", sondern das wahre Alte zu reaktualisieren – aber ihr Werk als Autoren von überarbeiteten Texten und Artefakten war in jenem Moment dennoch neu. Für den Kommunikationsprozess selbst sind hier beide Formen der Relativierung nur von sekundärer Bedeutung.
Wenn die Loggia dei Lanzi im 19. Jahrhundert in München nachgeahmt wird, handelt es sich dabei jedenfalls um eine bewusste Reproduktion in Form eines quasi früh-postmodernen Imitations-Stils mit einem distinktiven historischen Bewusstsein dafür, dass jenes Gebäude in Florenz alt ist. Das 19. Jahrhundert stand in einer ähnlichen historisch-kognitiven Distanz zur Renaissance wie schon die Florentiner des 15. Jahrhunderts zur nachgeahmten Antike. Es handelt sich hierbei dennoch nicht um denselben Prozess, sondern um eine Art Renaissance-Renaissance, und im Einklang mit Braudel könnte man den ersten Prozess als zur "Geschichte eines Modells" zugehörig beschreiben, und den anderen zu einer anderen Art von historischem Narrativ, in diesem Fall z.B. einer Geschichte des lieu de mémoire oder der historischen Referenzen. Spätestens mit der Prägung des historistischen Begriffs der "Renaissance" Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese nicht mehr als zur Gegenwart des Beobachters zugehörig betrachtet – sie war alt.42
Die Philologie des 19. Jahrhunderts begann Machiavelli in rein historistischer Perspektive zu begreifen; sie verstand beispielsweise die Verbreitung seines Manuskripts De principatibus als Teil einer bestimmten republikanischen Dialogkultur, in der auch die aufsteigenden Medici verwurzelt gewesen seien. Machiavelli wurde so zum Prototyp der humanistischen vernakularen Laienkultur der Jahre 1498–1527, er wurde nicht mehr diabolisiert oder umgekehrt zu einem simplen Tyrannenbekämpfer (Rousseau) gemacht, sondern radikal historisiert – und in jenen Kreisen des 19. Jahrhunderts wurde er dann ganz gewiss nicht als neu wahrgenommen. Jedoch konnten Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Mussolini und Antonio Gramsci (1891–1937) Machiavelli natürlich "aktualisieren". Für den einen war "der Fürst" der Nationalstaat43, für Mussolini gar der totalitäre Staat44, und für Gramsci schließlich die kommunistische Partei.45 Dies war nicht bloß ein lieu de mémoire oder eine Art der Bezugnahme auf den medioevo (und die Renaissance), und dennoch ist es Teil einer größeren Rezeptionsgeschichte. Man tut vielleicht gut daran, sie als eine Geschichte der ideologischen Wiederverwendung oder Chiffrierung zu definieren. Um den Kreis zu schließen: Möglicherweise gehört die erste Renaissance in ihren nicht-antiquarischen, sondern ideologischen Formen selbst zu einer Form der Chiffrierung der Antike durch jemanden wie Machiavelli, genauso wie er beanspruchte, Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.) wiederzubeleben und zu kommentieren. Sobald eine derartige Chiffre erzeugt wurde, kann sie selbst Teil eines Rezeptionsprozesses und eines zu imitierenden Modells werden, und nach einiger Zeit wiederum Teil eines lieu de mémoire und schließlich eines neuen Prozesses der Chiffrierung historischer Phänomene. Nicht alles sollte "ein Modell" genannt werden, denn dadurch werden Rezeptionsgeschichte und alle denkbaren anderen Narrative miteinander vermengt, und der Unterschied zwischen den verschiedenen Phänomenen geht verloren.
Reden wir dann also von der Geschichte eines italienischen Modells, von der Renaissance als Modell, oder von einem Modell der italienischen Renaissance? Es ist bezeichnend, dass Braudel Galilei nur als einen Teil seiner Frage nach der Dauer Italiens als "Sender- [oder Ausstrahlungs-] Kultur" und seines Niedergangs behandeln konnte – ohne dabei einen Blick in den inhaltlichen Kern der Wissenschaft Galileis zu werfen, geschweige denn diese zu interpretieren.46 Das Ordnungsprinzip seines impliziten Modell-Modells bestand in der Weltgeschichte als einer Geschichte des zivilisatorischen Fortschritts, mit dem Akteur "Nation" oder "Zivilisation"; es ging nicht um andere Themen und entsprechend abstrakte Akteure (z.B. der Wissenschaftsgeschichte). Es scheint hier zu einer Vermengung der Abfolge der führenden Nationen (Italien, Spanien, die Niederlande, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, die USA) innerhalb Europas und dann der Welt mit der fluiden Semantik der alt-europäischen Epochen (Antike, Mittelalter, Renaissance, Aufklärung, Moderne) zu kommen. Es wäre dann wohl weise, die Gattung der National-Modell-Geschichten tout court zu verwerfen: "Das italienische Modell" würde notwendigerweise die gesamte zeitliche Abfolge umfassen müssen, die man mit der folgenden metonymisch gemeinten Aufzählung evozieren könnte: Dante Alighieri (1265–1321), Giovanni Boccaccio (1313–1375), – florentinische Renaissance – Cesare Beccaria (1738–1794), Giambattista Vico (1668–1744), – Aufklärung – Giuseppe Garibaldi (1807–1882), Camillo Benso di Cavour (1810–1861), Verdi – Pizza / Ferrari / La Dolce Vita. Ein derartiges Narrativ müsste explizit über ein (ohne Frage äußerst schwierig kohärent zu definierendes) Konzept der "Nation" und eines "italienisches Volkes", das als zeitlich stabiler Akteur der Geschichte vorstellbar wäre, sprechen. Dies bringt jedoch große Probleme mit sich, da jeder Historiker sich heutzutage bewusst ist, dass die Konstruktionen einer Italianatà und eines "Italien" des 19. Jahrhunderts selbst nur die Folge einer Vielzahl kultureller Prozesse der Bezugnahme, Chiffrierung, des Wiederauflebens und der Konstruktion sind. Methodologisch gesehen führt dies zu einer milden Form von Tautologie: einerseits verdinglicht man schlussendlich ein transhistorisches Konzept der Nation, das man als Rahmen für seine 'story' braucht, andererseits möchte man eine Geschichte eines oder vieler Modelle zu bestimmten Zeitpunkten schreiben, die eine Hinterfragung derartiger Vorstellungen von beständigen kulturellen und sozialen Einheiten bedeuten würde. Dies würde für eine andere Art von historischem Narrativ die Wiederholung einer (vielleicht unbewussten) Entscheidung bedeuten, die der ersten Generation der lieux de mémoire-Narrative zugrundelag, beginnend mit den Editionen Pierre Noras (geb. 1931), und die schon in den 1990er Jahren kritisiert wurde. Die Bände waren strukturiert und organisiert nach der Kategorie der Nation, was vom ersten Moment an ein gehöriges Maß an implizit möglichem kritischem Potenzial aufgab, das darin bestanden hätte, die getrennten und geteilten Gedächtnisse von Transfers und Ideen-Bewegungen, Referenzen und topoi jenseits der Nationsgrenzen (oder des sog. 'Nationen-Containers') zu beachten. Die Konzentration auf eine gegebene Epoche und darauf wie kulturelle Produkte verbreitet und als neu empfangen wurden, scheint daher hilfreich, um diese methodischen Fallen und (meist im blinden Fleck belassenen) Komplexitäten zu vermeiden.
Die italienische Renaissance als ein Modell
Wenn wir Braudels Begriff der "Größe" (grandeur), der dem Rüstow'schen Gipfel (Pyramidenspitze) der zivilisatorischen Entwicklung ähnlich ist, auf seinen epistemologischen Kern reduzieren, dann steht er im Modell-Narrativ an der Stelle, an der man erklären muss, wieso eine ganze Reihe von Ideen, Texten, Artefakten und Gegenständen außerhalb ihres ursprünglichen Kontexts als neu und valide, als hilfreich, brauchbar oder irgendwie notwendig genug wahrgenommen wurden, um sie sich anzueignen oder sie wenigstens nicht zu ignorieren und abzulehnen.47 Selbst Kulturtransfer-Historiker würden nicht bezweifeln, dass es gewisse Konjunkturen und vorherrschende Tendenzen und Richtungen kultureller Strömungen gibt.48 Für sich genommen steht hinter der Idee der "Größe", die der "Kultur" als Aggregat eignet, welche für einige Zeit und in einem gegebenen größeren Kontext dominiert und "ausstrahlt" der epistemische Kern der Attraktivität, der Evidenz, des Überzeugens, des Passens, für die Akzeptabilität innerhalb eines Ausbreitungs-Prozesses. Dies ist nicht so weit entfernt von der Diskussion über das Verhältnis zwischen dem (ersten) Auftreten einer Innovation und den Bedingungen ihrer Diffusion und impliziert sämtliche Probleme, die sich ergeben, sobald die Bandbreite der Objekte von der reinen technischen Innovation auf Dinge wie Mode, Musik, die Malerei oder Verfahren des Schreibens im Allgemeinen erweitert wird. Dies führt uns zum nächsten Punkt: Obwohl es schwierig wäre, in einem absoluten Sinne "den" Kern der italienischen Renaissance zu definieren, muss man sich doch wenigstens zutrauen, eine Reihe von zentralen Elementen und Charakteristiken aufzuzählen. Nur auf diese Weise kann man verstehen, was "das Neue" im Moment seines Erscheinens war; und das selbst vom Standpunkt eines späteren Beobachters aus. Es ist damit an sich der Historiker, der definiert, worin die Attraktivität der Renaissance im Moment ihrer Ausbreitung bestand. Man kann die Qualitäten eines solchen "Kerns" immer diskutieren oder – aus einer postkolonialen oder poststrukturalistischen Sicht auf Kommunikation und Hybridität – bezweifeln, dass 'ein Kern überhaupt existiert'. Geht man diesen Weg, wird man jedoch nicht in der Lage sein, überhaupt irgendwie epistemische Bewegungen und Transfers zu beschreiben und zu analysieren. Schlussendlich würde solch eine Annäherung Wandel, Entwicklung, Bewegung und dementsprechend die Geschichte selbst aus der Geschichte verbannen, und was übrigbliebe, wäre eine 'eingefrorene' kultur-ethnologische Beschreibung, die unterschiedslos für jede Zeit, jede Gesellschaft und jeden Ort angewandt werden könnte. Dies wäre eine Option für Wissenschaftler im weiten Feld der kulturellen Hermeneutik, aber nicht für jemanden, der eine Geschichte der Modelle schreiben will.
Für mich war zumindest ein wichtiges Element immer der Gedanke, dass neue Formen der (vornehmlich Langstrecken-) Kommunikation im groben Zeitraum zwischen 1350 und 1530 Auswirkungen auf die epistemische Ebene der Wahrnehmung von Männern (und Frauen) der Renaissance hatten. Die besondere mentale Welt, die in der Verschriftlichung der Handelsströme in Kaufmannsbriefen, wie sie zum Beispiel aus den Datini-Archiven bekannt sind,49 zum Ausdruck kommt, schafft eine solche Verbindung zwischen einer epistemischen Ebene und einer materiell neuen Kommunikationsform, wie sie vor dem Bau der ersten Papiermühle in Italien nicht möglich gewesen wäre. Auf diese Weise entstand eine zweite Sphäre der Repräsentation der ökonomischen Zirkulation, eine Welt der Werte; getrennt und in gewisser Weise unabhängig von der Welt der Materialität der Güter selbst. Eine ähnliche 'Dopplung' zwischen der physischen Welt und einer stabilisierten Form der Repräsentation des gegenwärtigen Zustands der Welt – nicht in Bezug auf Werte, sondern auf Akteure und Parameter, die in der politischen Sphäre von Bedeutung sind – kam im Bereich der politischen Kommunikation auf. Die infrastrukturelle Ursache dieses epistemischen Wandels war die Schaffung eines zuverlässigen postalischen Staffettensystems (seit etwa 1380),50 und dessen erste exklusive Nutzung für die diplomatische dispacci-Kommunikation (seit etwa 1450 mit der Sforza)51 und schließlich für die frühe halb- oder quasi-öffentliche Nachrichten-Kommunikation (avvisi, seit etwa 1480/1550).52 Das gesamte Narrativ des "Aufkommens des frühesten Staatensystems" im Italien der Renaissance ist hiermit verbunden,53 da der "Staat" eigentlich als epistemisches Produkt in der Wahrnehmung der Nachrichtenschreiber und -verwerter entsteht.
Diese Form der Kommunikation erzeugte Denk- und Wahrnehmungsrahmen und veränderte sie substanziell: Jeder nahm den anderen als individuellen Akteur in einem Feld oder einer Sphäre wahr, die durch tausende dispacci, Briefe und schließlich avvisi repräsentiert wurde, die in einem gegebenen Rhythmus der Botschafter-Korrespondenz zwischen Höfen und Städten ausgetauscht wurden.54 Sowohl für den Bereich der Politik als auch der Ökonomie kam es zu einem materiellen Wandel, der sich jedem offenbart, der in einem der italienischen Staatsarchive geforscht hat, in dem die Zahl der buste mit dispacci, halb-öffentlichen und staatlichen Briefen, und dann avvisi, ab einem bestimmten Jahr explosionsartig ansteigt. Dasselbe gilt für den Bereich der Wirtschaft, wobei hier leider die archivalische Überlieferung wesentlich schlechter ist.55 Und der Wandel bestand gewiss nicht bloß in einem quantitativen Anstieg, sondern auch in einer neuen Qualität und neuen Organisationsformen der Informationen (die Einführung getrennter Kaufmannsbücher, die darauf abzielte, die Buchungsinformationen nach Themen und Richtungen der Ströme zu ordnen: eingehende, ausgehende Zahlungen, Versicherungen, gewährte und genommene Kredite usw.). In ähnlicher Weise wurde nach der Einführung ständiger Agenten und Botschafter in den jeweiligen Territorien auch die politische Kommunikation in der Kanzlei jeden Hofes und jeder signoria grob nach Ursprungsorten sortiert.56 Ein "Staat" und seine Stabilität konnte mehr oder weniger als Name für die in jeder dieser Kanzleien vorhandene aggregierte Wahrnehmung verstanden werden, dass es einen transpersonalen Akteur ´Staat´ (Mailand, Florenz...) gebe, über dessen gegenwärtigen Zustand ständig Nachrichten ankämen. Das Ende der Existenz eines Staates (z.B. aufgrund von Eroberung und Integration in einen größeren Staat, wie im Fall von Pisa / Florenz) bedeutet dann auch das Ende dieser Art von Kommunikation.
Man kann versuchen, die Veränderungen in der Wahrnehmung, die mit dieser Verschiebung verbunden waren, in Hinblick auf die Form des Schreibens und die selbst produzierten Narrative eingehender und genauer zu definieren.57 Temporalitäten verändern sich; die bekannte Vorstellung, dass die Humanisten eine neue Art von historischem Bewusstsein "geschaffen" hätten, kann in die These übersetzt werden, dass die Art und Weise der Zeitungsbriefkommunikation und des Schreibens vor allem die Wahrnehmung der Gegenwart veränderten (Zeitgenossenschaft, Gegenwartshorizont). Dies führt auch zur Konzeption der Vergangenheit als prinzipiell homologen, vergangenen Gegenwartshorizonten58 – was wiederum zum historia magistra vitae-Konzept in seiner funktionalen Form führt, die besagt, dass Kausalitäten und Mittel des politischen Handelns aus der Antike nachgeahmt werden können, weil dieselbe als grundsätzlich ähnlich mit der Gegenwart wahrgenommen wird.59 Wenn man die Briefe von Lorenzo de' Medici (1449–1492)[] studiert, kann man in der Tat Konzepte identifizieren wie die Sorge um "Italien" als Ganzes, was die Aggregation höchst individuell agierender politischer Akteure bedeutet, und die Sorge um die Sicherheit sowohl dieses Ganzen als auch vornehmlich für die individuelle Einheit "Florenz".60 In Interdependenzen zu denken, zu projizieren, planen, die Handlungen von anderen einzuberechnen, indem man den aktuellen Nachrichtenstrom analysiert, bedeutet ein Denken in solch kausalen und funktionalen Interdependenzen zu trainieren, die Schaffung von Allianzen wie ihre Destruktion zu antizipieren; es schult in der Berechnung und Messung der "Kräfte", der Macht der Akteure. Dies ist der Keim von "Staaten in Zahlen", der Statistik,61 und es ruft Beschreibungen für unterschiedliche Formen und Qualitäten von Staaten und ihren Beziehungen hervor (Neutralität, Souveränität, kleiner, großer Staat, Schutz und Sicherheit im modernen Sinn).62 Und schließlich schafft diese neue Form der Wahrnehmung eine politische Sphäre und "Realität" durch diese konstant erneuerte Repräsentation; und den Akteuren wurde bewusst, dass ihnen für diese Sphäre eine Methode fehlte, eine Wissenschaft, mit der man sie beherrschen und meistern könnte: eine Kunst oder Wissenschaft für Entscheidungsprozesse. Diese meinte Machiavelli, als er behauptete, dass es keine von der Antike vererbte Politikwissenschaft gebe, während es demgegenüber im Bereich der Jurisprudenz Gesetze gebe, das corpus iuris civilis und seine Tradition der Glossierung, und im Bereich der Medizin die Tradition der Rezepte und Methoden Galens (129–199), des Hippokrates (460–370 v. Chr.) und des Dioskurides (ca. 40–90) überliefert worden war. Die Politiker der Renaissance hätten demgegenüber keine funktionalen politischen Gesetze zur Hand; keine Theorie, die ihre Gedanken bei der Analyse dieser neuen Form der politischen Realität und Wahrnehmung hätte anleiten können.63
Die Dinge werden noch komplizierter, wenn man in ähnlicher Weise für die Künste etwas wie den "Kern" rinascimentaler Ausdrücke und Formen definieren will; was den Kunsthistorikern überlassen werden sollte. Eine erste Idee wäre die "Erfindung" der Perspektive, angeblich erstmalig von Filippo Brunelleschi (1377–1446) im Jahr 1420 verwendet und technisch angewandt, und von Alberti ausgearbeitet. Der Mathematiker Luca Pacioli (ca. 1445–1509) sollte um 1500 daran erinnern, wie hier mathematisches Abakus-Wissen und Messtechniken aus Handel und Architektur miteinander kombiniert und in die Sphäre der Kunst transferiert worden waren.64 Der entscheidende Punkt liegt wieder in einer Verschiebung der Formen der Repräsentation von Realität; darin, wie Räumlichkeit und Tiefe eine unterschiedliche Ausdrucksform finden. In ihr wird eine reflexive Wahrnehmung darüber, wie räumliche Distanz sich dem Auge des Betrachters präsentiert, aktiv. Seit Braudel, der für diese Fragen auf Chastel zurückgriff, wurde hierüber vielfach weiterführend geforscht.65 Obgleich eine kausale Verbindung zu einem Wandel der materiellen Kommunikation hier schwerer herzustellen scheint als im Fall der Politik mit der Verbindung zur Nachrichtenkommunikation, geht es doch erneut um eine Veränderung in der Wahrnehmung und der Reflexivität – mit allen folgenden Veränderungen in den visuellen Künsten, in kunstvoller Holzvertäfelung, in der Architektur (nicht zuletzt bei militärischen Befestigungen). Freilich sind hier die Kunsthistoriker die besseren Experten, wenn es darum geht, die komplexen Verzweigungen der inner-italienischen Nachahmung und die Entwicklung, schließlich die Wahrnehmung und den Transfer außerhalb Italiens nachzuvollziehen.66
Ein letzter Aspekt wäre die Transformation innerhalb der "Wissenschaften", obwohl der stillschweigende Konsens der 1960er/70er Jahre, worauf sich der Begriff in der Zeit um 1500 bezog, heute wohl verloren gegangen ist. So kam es zu einer Projektion von Albert Einsteins (1879–1955) Revolution der Physik zurück auf Leonardo da Vinci (1452–1519) und Galilei, die für Dramatiker (Bertolt Brecht, 1898–1956), Wissenschaftshistoriker (Thomas S. Kuhn, 1922–1996)67 und auch Braudel leitend war. Heute wird gewöhnlich hervorgehoben, wie fließend die Grenzen zwischen der Handwerkskunst bzw. des Kunsthandwerks der Maler, des tacit knowledge der Ingenieure und der Vorläufer der 'experimentellen Physik' waren.68 Ähnlich führt der Blick auf die Transformation der aristotelischen Methode innerhalb der Schule von Padua (Logik), die den doppelten Regress einer Kombination von Induktion und Deduktion hervorbrachte, dazu, dass unsere aktuelle Sicht der Verhältnisse und Entwicklungen so sehr verkompliziert wird, dass die Suche nach einem ähnlichen "zentralen Kern" der sogenannten scientific revolution fast schon banal erscheint.69 Wir sprechen hier von vor-Bacon'schen Formen des Empirismus in seinem Einfluss auf die scholastischen Lehren und Systeme und andererseits auf experimentelle Untersuchungen, sowie auf die Generierung von Gesetzen oder Regelmäßigkeit(sannahm)en. Einige der frühen italienischen Akademien (in den 1560er Jahren) spezialisierten sich bereits auf solche ´pur empiristischen´ Formen anstatt auf moralphilosophische, ethische, höfische oder ästhetische Diskussionen.70 Aber vielleicht war die Paduaner Transformation der aristotelischen Lehr-Tradition in ihrer nach wie vor (neo-) scholastischen Form (früher als und neben dem noch andersartigen Effekt ausgelöst durch die methodischen Innovationen des Petrus Ramus) bis 1650 in ihrer "Ausstrahlungskraft" in den Ausbreitungs-Prozessen von größerer Bedeutung als der Galilei-Fall Jahrzehnte später. Der Nexus zwischen den trotz Inquisition weitergeführten Formen Galilei'scher Naturwissenschaft in Italien und den Bacon'schen westlichen Formen des Empirismus im Zeitraum der 1630er bis 1650er Jahre (Ferdinando II de' Medicis (1610–1670) toskanische Zirkel, dann seine Akademie del cimento, und schließlich der Austausch mit zukünftigen Gründungsmitgliedern der Royal Society)71 stellt eine etwas andersartige und komplexe Geschichte des beidseitigen Transfers dar. Sie wurde von ihren Protagonisten durchaus als Rezeption der "italienischen Renaissance-Wissenschaft" betrachtet und gelebt.
Für die anderen oben erwähnten Felder gibt es eine gewisse Berechtigung, den Nexus zwischen "Italien" und "Renaissance" beizubehalten, insofern sie Formen der transalpinen Diffusion waren, die semantisch einen besonderen "italienischen" Stil in Politik, Kaufmannshandwerk und -techniken, sowie Kunst exponierten und offenlegten. Ein Indikator hierfür ist, wie Fachsprachen72 und mehrere Schlüsselbegriffe zu dieser Zeit in ganz Europa übernommen und in ihrer Originalsprache oder einer latinisierten Form von westlichen und nördlichen Autoren verwendet wurden: ragion di stato, bilancia di forze, neutralità, principe usw. im Bereich der Politik,73 cambio, premio, assicuranza, banca rotta usw. im Bereich der Wirtschaft können spätestens seit den 1580ern in französischen, englischen, deutschen, niederländischen, spanischen und in gesamteuropäischen lateinischen Versionen angetroffen werden.74 Ganz zu schweigen von der praktischen Arbeit und den Handbüchern von Ingenieuren, Mathematikern, Meistern der Ballistik und Befestigung und Spezialisten der Kriegskunst (oder -wissenschaft) (arte della guerra): Als Geoffrey Parker die Verbreitung von Festungsanlagen im italienischen Stil, die, ballistischen Berechnungen folgend, die alte Form der Burg-Architektur ablöste mit dem Begriff der trace italienne in Europa bezeichnete,75 war es nicht er als Historiker des 20./21. Jahrhunderts, der einen neuen raffinierten historiographischen Begriff erfand; vielmehr war schon den Zeitgenossen im 16. Jahrhundert die Tatsache bewusst, dass die Expertise in diesem Feld spezifisch italienisch war.
Die eine Ebene, auf der man die Frage beantworten kann, warum und in welcher Weise es eine vorherrschende Richtung der kulturellen Ströme gab, liegt im Verweis auf die akzidentiellen, externen oder exogenen Ursachen, wie sie schon zu Braudels Zeit von Delio Cantimori (1904–1966) und dessen Schülern angesprochen wurden: Menschen in Bewegung sind Träger von Ideen, Objekten, Artefakten; und als die italienischen Kriege (1494–1559) eine unverhältnismäßig große Masse französischer, spanischer, deutscher, sogar polnischer und anderer Klienten des habsburgischen Herrschaftsgebiets gen Italien in Bewegung setzten, ebenso wie die Kriege gegen die Osmanen und deren Vorbereitung in, mit und durch Italien, erhöhten sich die Gelegenheiten für Kontakte. Von François Hotman (1524–1590) (Monitoriale adversus Italogalliam, 1575) bis Jean-François Dubost wurde dieses Phänomen der Verschränkung und Kulturmischung für den französischen Raum mit dem Stichwort "la France italienne"76 diskutiert, die auf die italienische adlige und gebildete Immigration als einen Effekt der politisch-dynastischen Verflechtung von französischen und italienischen Interessen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Bezug nahm. Die Migration einzelner Italiener seit den 1530er Jahren aus religiösen Gründen und seit den 1610er/20er Jahren verstärkt aus ökonomischen Gründen ist ein weiterer bedeutender Faktor für die Zunahme italienischer contact zones.77 Viele heterodoxe Italiener migrierten in Richtung Norden, nach England, in die Niederlande, nach Deutschland und nach Polen.78 Da sie oft reisten, ohne andere Produkte "zum Verkauf" zu haben, bestand ihr Kapital in ihrer Expertise und Leistung, zudem auch einfach in italienischen Büchern und Texten, die sie übersetzten und druckten. Lyon, Straßburg, Basel, auch Antwerpen, London, Wien, Heidelberg, sogar kleinere Städte wie Hanau, und zu einem gewissen Grad Krakau, wurden zu wichtigen Zentren der Ausbreitung der italienischen Renaissance außerhalb Italiens, nun auch oftmals in Synchronie mit den Migrationen, die die westlichen Religionskriege nach sich zogen. Die "italienische Renaissance" wurde daher nicht nur an lokale Kontexte und Märkte adaptiert und mit diesen verflochten, sondern im selben Moment mit französischen und niederländischen kulturellen Referenzen hybridisiert und mit ihnen synchronisiert.
Auf einer anderen Ebene ist die Frage angesiedelt, wie wir epistemische und kommunikative Momente identifizieren können, die irgendwie kongruent zu den italienischen waren und einen Kontext der Wahrnehmung und Repräsentation der Welt auf eine derartige Weise schufen, dass die "epistemischen Kerne" akzeptabel waren und 'passten' (also das oben erwähnte Moment, dass 'Neues' in seinem Bedarf erkannt, gewollt und eingemeindet wurde). Der Schlüssel hierfür dürfte wiederum im Transfer der infrastrukturellen Konditionen und der Techniken der Schriftlichkeit selbst liegen. Es ist wichtig, die Verbreitung der Technik des Verfassens von Nachrichtenbriefen und – in einigen Regionen Europas früher, in anderen später – des interterritorialen und zwischenstaatlichen Botschafter- und Repräsentationssystems durch Agenten in Europa nachzuverfolgen. Diese Prozesse verliefen mehr oder weniger simultan zur Diffussion und Ausbreitung des postalischen Staffettensystems und der mit ihm verwandten Formen von Kommunikationsnetzwerken: es erleichterte die Wahrnehmung der gesamteuropäischen politischen Realität in ähnlicher Form wie die der kleinräumigeren italienischen. Dennoch verlief diese Entwicklung anders, insofern das System mit bereits bestehenden Formen und unterschiedlichen feudalen Strukturen von Herrschaft und Austausch konkurrieren und in Einklang gebracht werden musste. Grob gesagt, ist das Aufkommen eines "europäischen Staatensystems" nach 1559 zu einem gewissen Grad gleichzusetzen mit dem Transfer einer Wahrnehmungsform, die ihren Ursprung in Italien hatte und mit einem speziellen Kommunikationstyp verbunden war. Die mit ihr verbundene Semantik, die Verwendung bestimmter Begriffe – nun balance of powers anstelle von bilancia di forze, raison d'état statt ragione di stato – sind Reaktionen auf eine Weltwahrnehmung, die in dieser Form erst durch die Kommunikation zwischen den Staaten und zum Zwecke der Nachrichtenübermittlung geschaffen wurde. Ähnliches gilt erneut für die Ausbreitung der italienischen Kaufmanns-Kommunikation und ihre Folgen für deren Wahrnehmung. Flüchtlinge der niederländischen Religionskriege aus Antwerpen und Gent lehrten nun auf Französisch die grundlegenden Formen des italienischen Technik der doppelten Buchführung, sowie die Terminologie dieser Kaufmannskultur (banqueroute, banca rotta) in Köln, einer Stadt, die noch immer zur alten Hanse gehörte: Demgegenüber war das Handelsnetzwerk der Nordsee und der Hanse im 14. und 15. Jahrhundert von der mediterranen Welt getrennt gebieben.79
Fazit
Die Verwendung eines Narrativs und Konzepts von "Modell" geht aufgrund seiner früheren Verwendungen und Traditionen nicht ohne einige notwendige semantische "Hypotheken" einher. Der Titel Modèle italien selbst ist vielleicht eine späte Entwicklung (1989). Das Konzept hinter dem Wort "modèle" ist jedoch seit den 1940er Jahren tief in Braudels eigenem Denken verwurzelt und hat noch weiter zurückliegende Wurzeln in Diskussionen aus der Zwischenkriegszeit über Zivilisationen, ihre Geschichte und ihre Momente der größten kulturellen Höhe, und wie sie als Modelle für andere fungierten, wie sie wahrgenommen und nachgeahmt wurden. Man muss daher unterscheiden zwischen den brillanten Intuitionen Braudels und dem, was heute als belastet durch metaphysische Konzepte und ontologisierte Geschichts-Akteure wie Staaten oder Nationen erscheint, sowie belastet von teleologischen Ideen über die Struktur des Verlaufs der Geschichte. Darum schlage ich die Einführung eines eher engen "Modell"-Konzepts vor, das eher kleinere und synchrone als große und transepochale Komplexe in den Blick nimmt. Die Skizze dessen, was der "Kern" oder die "zentralen Kerninhalte" der italienischen Renaissance sein könnten und wie und weshalb sie sich in Europa verbreiteten und dabei Prozesse des kulturellen Transfers und der kulturellen Aneignung in Gang setzten, müsste und sollte selbstverständlich differenzierter und viel ausführlicher angegangen werden, als es hier erfolgte; sie müsste mit Blick auf andere Felder und Dimensionen exemplifiziert, hinterfragt und geprüft werden. Doch liefe dies zugleich auf ein Resümee von weit mehr als hundert Jahren Forschung über die Beziehung zwischen Italien und dem Rest Europas in jener Epoche hinaus, über die italienische Renaissance selbst – von der Braudel so treffend sagte: "Tout le ciel d'Europe en a été eclairé".80