Lesen Sie auch die Beiträge "Ports as Tools of European Expansion" und "European Commercial Ports" in der EHNE.
Einleitung
Das Meer ist schon immer Bindeglied zwischen Ländern gewesen, hat schon immer Menschen und Kulturen zueinander gebracht.1 Hafenstädte, zwischen Land und Meer gelegen, nahmen hierbei eine zentrale Rolle ein, waren sie doch der Ort, wo sich nicht nur kleinere Gemeinschaften begegneten, sondern politische Mächte und ganze Zivilisationen aufeinander trafen. Der hier vorliegende Text setzt sich zunächst mit der Definition von drei Begriffen auseinander, die für die historische Untersuchung von Hafenstädten grundlegend sind: die Hafenstadt selbst, ihr Hinterland und die weitere Region. Diese drei Begriffe bilden den Rahmen, in dem Historiker die Eigenschaften von Hafenstädten sowie deren weiteren Einfluss und historische Bedeutung bis heute erforscht haben.
Der Text geht dann auf die verschiedenen Funktionen ein, die Hafenstädte in der Geschichte wahrnahmen und erkundet, wie diese die Entwicklung einzelner Hafenstädte geprägt haben. Besondere Aufmerksamkeit wird hierbei den wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Aufgaben verschiedener Hafenstädte geschenkt sowie der Frage, welche Faktoren ihren Erfolg bzw. ihr Scheitern im internationalen Wettbewerb bestimmten.
Hafenstadt, Hinterland und Region
Wenn man sich für die sich stetig wandelnde Funktion von Hafenstädten und deren Einfluss auf die Geschichte interessiert, muss man zunächst verstehen, was Historiker meinen, wenn sie von Hafenstädten sprechen. Die Vorstellung einer frühneuzeitlichen "Hafenstadt" ging auf die mittelalterliche Städtetradition zurück, in der Städte in der Regel als "Hafenstädte" bezeichnet wurden, wenn ihre Haupttätigkeit der Handel war und sie an der Meeresküste oder einem großen Fluss lagen. Nahm der Handel eine herausragende Stellung ein, so stand er meist unter Aufsicht einer städtischen Behörde oder der Zentralmacht (der Krone).
In der Frühen Neuzeit verstand man unter einer Hafenstadt in etwa dasselbe, wobei sich Hafenstädte deutlich von anderen Städten unterschieden. Zum Ersten hatten Hafenstädte, wie der Name sagt, einen Hafen, das heißt einen Ort, an dem der Transfer von Gütern und Menschen im Mittelpunkt stand. Zum Zweiten wurde ihr Stadtbild durch bestimmte Bauten und Plätze gekennzeichnet, wie z.B. Werften, Lagerhäuser, Zollhäuser, offene Märkte, Gastwirtschaften und Kneipen. Zum Dritten wurden sie von spezifischen sozioökonomischen Gruppen bevölkert: einer großen Anzahl von Kaufleuten, Geldwechslern, Buchhaltern, Ladenbetreibern, Schiffsbauern und, nicht zu vergessen, Ausländern.2
Obwohl Hafenstädte mit ihrem direkten Zugang zum Wasser sicher wichtige städtische Zentren waren, konnten sie, wie alle anderen großen Siedlungen dieser Zeit, ohne die Anbindung an das Hinterland nicht überleben. Im Allgemeinen versteht man unter "Hinterland" den ländlichen Raum, der unmittelbar an eine Hafenstadt angrenzt. Diese Definition ist jedoch gerade von Historikern des Mittelalters immer wieder in Frage gestellt worden, die betonen, dass das Hinterland zwar an eine Hafenstadt angrenzte, dabei jedoch Teil des städtischen Raums war und dessen Rechtsprechung unterlag. In der Praxis bedeutete dies, dass der städtische Raum sich aus einem städtischen Teil – der Hafenstadt – und einem ländlichen Teil – dem Hinterland – zusammensetzte.3
Historiker der Frühen Neuzeit haben die Definition des Hinterlands inzwischen noch weiter ausgedehnt. Während sie mit ihren Kollegen darüber übereinstimmen, dass das Hinterland oft der Rechtssprechung der Hafenstädte unterlag, weisen sie darauf hin, dass sich während der Frühen Neuzeit neben dem der Hafenstadt formal untergeordneten Hinterland noch ein der Hafenstadt informell verbundenes Hinterland entwickelte. Hierbei gehen sie weit über den von den Historikern des Mittelalters erfassten Raum hinaus und verweisen auf den Einfluss, den die Hafenstädte auf ganze Regionen und diese wiederum auf die Hafenstädte hatten. Was die Hafenstädte der Frühen Neuzeit angeht, muss man folglich sowohl ihr engstes ländliches, juristisch abhängiges Hinterland als auch ihre Vernetzung – durch Migrationsströme, Fernhandel und kulturellen Austausch – mit der weiteren Region berücksichtigen.4 Manche Historiker schreiben im Zusammengang der Entdeckungsreisen und dem daraus entstehenden Überseehandel dem Hinterland sogar einen transkontinentalen Charakter zu.5
Was die Frühe Neuzeit angeht, ist die Definition des Hinterlands und dessen enge Beziehung zur Hafenstadt von zentraler Bedeutung, um einzelne Hafenstädte im Kontext ihrer Region sowie als Knotenpunkte im europäischen bzw. globalen Austausch und Handel zu erfassen. Der hier vorliegende Text versteht das Hinterland als einen Raum, der sich vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit von einem der Hafenstadt formal untergeordneten zu einem mit ihr nur noch informell verbundenen Raum entwickelte.
Wenn man das Entstehen und die Entwicklung von Hafenstädten über einen längeren historischen Zeitraum betrachtet, ist man auf zwei grundlegende theoretische Ansätze angewiesen: zum einen das System der zentralen Orte, zum anderen die Netzwerktheorie. Das System der zentralen Orte versteht Städte als Zentren der Kommerzialisierung und des Konsums von Waren, die aus dem ländlichen Umland in die Stadt gebracht wurden.6 In der Frühen Neuzeit waren Städte aber nicht nur kommerzielle Zentren, sondern auch Dienstleistungsanbieter. Die Vielfalt und Qualität der Dienstleistungen in einer Stadt, hing hauptsächlich von deren Größe ab. Diesen Sachverhalt bringt auch das System der zentralen Orte zum Ausdruck, das kleine Städte mit enger Verbindung zum ländlichen Umland den größeren Städten mit ausgeprägtem Dienstleistungsangebot unterordnet. Diese wiederum waren die Grundlage für die Entwicklung regionaler Zentren, deren Dienstleistungsangebot weit über dem kleiner und großer Marktstädte lag.7
Die Hierarchie, die das System der zentralen Orte der Einordnung von Städten zu Grunde legt, birgt jedoch Probleme. Wenn man das Dienstleistungsangebot kleiner Marktstädte, großer Marktstädte und regionaler Zentren weiter unterteilt, sieht man, dass lokale Hierarchien direkt von diesem abhängen. Eine kleine Marktstadt z.B. mag einen bedeutenderen Agrarmarkt als eine größere Marktstadt gehabt haben, konnte dafür aber nicht die finanziellen Dienste größerer Marktstädte und regionaler Zentren anbieten. Untersucht man die Verteilung weiterer Dienstleistungsangebote und berücksichtigt man wirtschaftliche Faktoren wie den Zugang zu Kapital, Märkten und Arbeitskräften sowie verwaltungstechnische Faktoren wie Verwaltungseffizienz, Steuererhebung und Gesetzesausübung, so ergibt sich ein komplexes Bild verschiedener Hierarchien. Beachtet man darüber hinaus noch die Verbreitung technologischer Innovationen und den Einfluss kultureller Faktoren, so verkompliziert sich das hierarchische System noch weiter.
Das System der zentralen Orte kann demzufolge schwer ohne die Einbeziehung anderer Theorien angewandt werden. Den besten Ansatz bieten hier Paul M. Hohenberg und Lynn H. Lees.8 In ihrer Studie über die Urbanisierung Europas verknüpfen sie das System der zentralen Orte mit Netzwerktheorien und ermöglichen damit einen neuen Zugang zu der Interaktion und Interdependenz von Städten.
Hohenberg und Lee zeigen, dass es zwischen Städten, aber insbesondere Hafenstädten, die nach dem System der zentralen Orte im unteren bzw. mittleren Bereich des hierarchischen Systems eingeordnet wurden, umfangreiche Zusammenarbeit gegeben haben muss. Von dieser Erkenntnis ausgehend argumentieren sie, dass die Bedeutung einzelner Städte nicht so sehr aufgrund ihrer geographischen Lage und Einordnung in dem hierarchischen System, sondern aufgrund ihrer Funktion zu beurteilen ist. Folgt man den Autoren weiter, wird deutlich, dass diese Funktionen gleichermaßen von der geographischen Lage einer Stadt wie von deren Vernetzung mit anderen Städten abhingen. Das bedeutet, dass in der Frühen Neuzeit Hafenstädte vergleichsweise gut positioniert waren, eine Vielzahl an Dienstleistungen anzubieten und sich hinsichtlich anderer urbaner Zentren sowie dem ländlichen Hinterland durchzusetzen. Je mehr Waren und Menschen sie aus dem Hinterland in die Stadt brachten, desto größer wurde das Einzugsgebiet, das sie ganz formal oder rein informell an sich banden, und desto stärker wurde ihr Potential, mit anderen urbanen Zentren zu kommunizieren und zu kooperieren.
Aus der Netzwerkanalyse geht hervor, dass die Hafenstädte der Frühen Neuzeit immer größere und komplexere Netzwerke aufbauten. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die zunehmende Vernetzung der verschiedenen Hafenstädte den Austausch von Waren, Menschen und Ideen vereinfacht hatte. Während es am Anfang der Frühen Neuzeit zumeist noch materielle Dinge wie Waren und Kapital waren, die über die verschiedenen Hafenstädte gehandelt wurden, so waren es wenig später schon auch Menschen (insbesondere Migranten) und solche immaterielle Dinge wie Ideen, Innovationen und Nachrichten, die ihren Weg über die Hafenstädte nahmen, was wiederum zu einer immer engeren Vernetzung von Hafenstadt und Hinterland führte.
Das stetig wachsende Angebot an Dienstleistungen, ihre Interaktion mit anderen Hafenstädten und Städten im Hinterland sowie ihre Einbindung in regionale, transnationale und transkontinentale Netzwerke ist das, was Hafenstädte der Frühen Neuzeit auszeichnet und worin Historiker deren Rolle hinsichtlich der Globalisierung der Welt sehen.9 Ihre Bezeichnung als "Tor zur Welt" nimmt eine besondere Bedeutung an, wenn man die vielfältigen Funktionen von Hafenstädten in der Frühen Neuzeit betrachtet und bedenkt, dass die meisten der großen Städte der Frühen Neuzeit Hafenstädte waren und auf die eine oder andere Weise in die Entdeckung der Welt und die Expansion europäischer Interessen in Übersee eingebunden waren.
Das heißt jedoch nicht, dass alle Häfen der Frühen Neuzeit groß waren und als "Tor zur Welt" fungierten. Einige von ihnen, wie z.B. St. Petersburg, wurden vielmehr von einem starken Staat, der mit der äußeren Welt in Kontakt treten musste, in die Rolle eines sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen "Fensters zur Welt" gedrängt.10 Andere wiederum, wie einige der kleinen Hafenstädte in Skandinavien, dienten dazu, territoriale Ansprüche zu sichern, gerade wenn miteinander in Konflikt liegende Zentralstaaten die Integrität des jeweils anderen Staates bedrohten. Eine Hafenstadt dieser Art war Lödöse an der schwedisch-norwegischen Grenze.11
Sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Austausch
Die Rolle, die Hafenstädte in der Frühen Neuzeit als Durchgangstor zur Welt einnahmen, geht darauf zurück, dass sie die Städte waren, in denen die meisten Transaktionen abgewickelt wurden. Diese Transaktionen waren nicht nur zahlreich, sondern auch vielfältig und spiegelten damit den multifunktionalen Charakter von Hafenstädten wider.
Die Hauptfunktion von Hafenstädten in der Frühen Neuzeit war der Umschlag von Waren, in der Regel als Handel bezeichnet, der aber über den reinen Kauf- und Verkauf hinausging und bald damit verbundene Aktivitäten wie den Schiffbau, die Buchhaltung sowie vielfältige Dienstleistungen (Notar-, Kredit- und Versicherungswesen sowie manchmal sogar die Gründung von spezialisierten Börsen und Handelskompanien) einschloss.12
Den Erfolg, den einzelne Hafenstädte in der Frühen Neuzeit mit dem Handel erzielten, hing primär von ihrer Einbindung in spezifische Handelsnetzwerke ab. Während Venedig, Sevilla, Lissabon und Cadiz in erster Linie Zentren des interkontinentalen Handels waren, entwickelten sich Hafenstädte wie Antwerpen, Amsterdam und London von regionalen Zentren zu interkontinentalen Akteuren, die Brücken zwischen den jahrhundertealten europäischen Handelsnetzwerken und den neuen Routen nach Amerika und Asien schlugen.13
Für die meisten Hafenstädte beruhte der Austausch von Waren auf einem mehr oder weniger freien Markt. Eine gute Kenntnis über Warenangebot, Warennachfrage und Marktverhalten war für Hafenstädte daher unumgänglich. Ebenso ein guter Wissensstand über Kreditwürdigkeiten, Produktionstechniken und Wetterbedingungen, von denen der Erfolg bzw. Misserfolg einer jeden Hafenstadt direkt abhing. Gerade aber die international handelnden Hafenstädte waren auf einen ebenso verlässlichen wie effizienten Informationsfluss angewiesen.14 Die Hauptquelle für Informationen in der Frühen Neuzeit war Mundpropaganda, wie sie durch direkten Kontakt, gelegentlich aber auch durch persönliche Briefe ausgetauscht wurde. In einigen Hafenstädten waren zudem gedruckte Informationen verfügbar, die aber praktisch noch kaum eine Rolle spielten. Informationen reisten vielmehr mit Menschen und Hafenstädte waren deshalb, gerade im Vergleich zu anderen Städten, wahre Informationszentren. Da Güter oft von Menschen begleitet wurden und Hafenstädte zudem attraktive Orte für Zuwanderer waren, die dort schnell Arbeit fanden oder aber von dort ihre Reise gut fortsetzen konnten, erreichten Nachrichten Hafenstädte meist schnell.
Während der Großteil der Informationsströme, die Hafenstädte in der Frühen Neuzeit erreichten, Nachrichten enthielten, die dem Handel dienten (wie z.B. Berichte über Angebotsknappheiten, Preisentwicklungen, das Wetter, Kriege sowie Einfuhr- und Ausfuhrsperren), so wurden im Rahmen dieses Informationsflusses auch Nachrichten intellektueller Art ausgetauscht. In der Tat platzierte der Im- und Export von Büchern, Flugblättern und religiösen Schriften, kurz des geschriebenen bzw. gedruckten Wortes, Hafenstädte an vorderster Stelle des intellektuellen Austauschs. Es überrascht folglich nicht, dass die meisten Hafenstädte mehr oder weniger tolerante Orte waren, die den Austausch von neuen religiösen und politischen Ideen sowie von technologischen Innovationen förderten, zumindest aber duldeten.
Das stetig zunehmende Volumen an verschiedenartigen Nachrichten ist ein weiterer Aspekt der wachsenden Vernetzung der Menschen in vielen Hafenstädten der Frühen Neuzeit. Die Verbreitung von produzierendem Gewerbe, Dienstleistungsangeboten, militärischen Aktivitäten und Handel führte zu einer konstanten Nachfrage an flexiblen Arbeitskräften. Mit ihrem breiten Angebot an spezialisierten Tätigkeiten boten die Hafenstädte höhere Löhne als andere Städte und hatten zudem meist dauerhaft Arbeit anzubieten. Diese Umstände wirkten wie ein Magnet und brachten eine große Anzahl an Zuwanderern aus dem ländlichen Hinterland, der Region und sogar aus dem informellen Hinterland in Übersee in die europäischen Hafenstädte.15
Die Zuwanderung, ob von Land oder Stadt, nah oder fern, bestimmte die soziale Zusammensetzung der meisten Hafenstädte und machte diese zu außergewöhnlichen Orten des gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Austauschs. Dies betraf insbesondere die Hafenstädte, die Sklaven aus West- und Nordafrika importierten, und auch freie Afrikaner empfingen, wie z.B. Lissabon, Livorno, Marseille und Liverpool.
Während die Sklaven gegen ihren Willen zur Migration gezwungen wurden, sahen sich viele andere Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Religion zur Flucht aus der Heimat veranlasst. Dies war der Fall bei den so genannten "neuen Christen" auf der iberischen Halbinsel (den Abkömmlingen von Juden und Mauren, die zum Katholizismus konvertiert waren), die von der Inquisition verfolgt wurden, und den Hugenotten in Frankreich, die aufgrund ihres protestantischen Glaubens zunächst ausgegrenzt und später ebenfalls verfolgt wurden. Viele von ihnen flohen nach Antwerpen, Amsterdam, Hamburg und London, in die großen Hafenstädte Nordwesteuropas, zu deren wirtschaftlichem, gesellschaftlichem und kulturellem Leben sie über die nächsten 350 Jahre maßgeblich beitragen sollten.
Nicht allen Auswanderern aber war Erfolg beschert; immer wieder wurde ihr Überleben durch wirtschaftliche Krisen und Schwankungen im Arbeitsmarkt in Frage gestellt. Den schwächeren Gesellschaftsmitgliedern in den großen Hafenstädten gelang es oft nicht, den gewaltigen Herausforderungen standzuhalten. Dies galt insbesondere für diejenigen, die nicht in traditionelle Familienstrukturen eingebunden waren, wie etwa alleinstehende Männer und Frauen, Witwer und Witwen sowie Waisen. Junge Menschen und Frauen waren in einer besonders schwierigen Lage, wurden sie in dem anonymen Umfeld der Großstädte doch oft als Kriminelle, zumindest aber als moralisch fragwürdige Personen angesehen. Oftmals arbeitslos und verarmt, zugleich von der Hilfe karitativer Institutionen ausgeschlossen, blieb vielen von ihnen keine andere Wahl als der Diebstahl oder die Prostitution.
Obgleich die Prostitution gewiss eines der kennzeichnenden Merkmale der Hafenstädte der Frühen Neuzeit war, ist ihr Ausmaß von Zeitzeugen sicherlich übertrieben worden. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass die Prostitution oft eine saisonale Tätigkeit war, der verheiratete (und nicht unverheiratete) Frauen nachgingen, um das dürftige Einkommen ihrer Familie aufzubessern. Oft hatten diese Frauen die Rolle des Familienoberhauptes inne, da ihre Ehemänner als Seemann oder Soldat nur selten vor Ort waren. Wann immer die Männer zur See fuhren oder in den Krieg zogen, blieben die Frauen mit den Kindern, aber normalerweise nur einem kleinen Teil der Heuer oder des Soldes zurück. Im Frühjahr und Sommer konnten sie meist eine Hilfsarbeit im Hafen finden, im Herbst und Winter hingegen waren sie häufig arbeitslos. Denjenigen, die nicht auf die Hilfe einer karitativen Einrichtung hoffen konnten, blieb nichts anderes als die Prostitution. So zumindest waren die Zustände in englischen und holländischen Hafenstädten im 17. und 18. Jahrhundert.16
Aufgrund des regen technischen und intellektuellen Gedankenaustausches und der dafür nötigen Toleranz wurden Hafenstädte zu idealen Zufluchtsorten für verfolgte Geistliche, Gelehrte und Kaufleute aus nah und fern, die ihre Heimat wegen ihrer religiösen, wissenschaftlichen oder politischen Ansichten verlassen mussten. Hafenstädte waren folglich Orte, an denen Menschen der verschiedensten Orientierungen auf oft engstem Raum zusammenlebten. Gesellschaftliche und kulturelle Offenheit, gerade auch hinsichtlich der Durchsetzung von Recht und Ordnung, gehörten daher zum Selbstverständnis der Hafenstädte.
Übervölkerung war denn auch eine der vielen Folgen, die die Anziehungskraft der Hafenstädte mit sich brachte. Obwohl sie im Vergleich zu den im Landesinneren liegenden Städten – oftmals ebenfalls übervölkert, jedoch von mittelalterlichen Mauern eng umringt – hinsichtlich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Gesundheit vergleichsweise gut ausgestattet waren, mussten doch auch sie oft auf ihr Umland zurückgreifen. So erließen sie Gesetze, um die gesundheitliche Belastung ihrer Bevölkerung einzuschränken (z.B. durch die Umsiedlung von Industriebetrieben in das Hinterland), die Armenversorgung zu unterstützen (welche in den meisten Fällen von religiösen Organisationen und sozialen Vereinigungen wie Gilden gewährleistet wurde) und, in Extremfällen, den Zugang zu ihrem Territorium zu unterbinden. Letzteres führte in vielen Hafenstädten zu der Entwicklung eines ausgeprägten Lokalpatriotismus, der scharf zwischen "Bürgern" und "Nicht-Bürgern" unterschied, wobei es nicht etwa sozioökonomische Kriterien waren, die die Einordnung in diese Kategorien bestimmten, sondern schlichtweg die Frage, wer bereits wie lange in einer bestimmten Hafenstadt ansässig war.17
Leider reichten Einwanderungsbeschränkungen und Gesundheitsgesetze oftmals nicht aus, Hafenstädte – vom Mittelalter bis zur Moderne – vor ernsthaften Epidemien zu schützen. In der Tat wurde in der Geschichte das Überleben ganzer Bevölkerungen, ja ganzer Städte immer wieder in Frage gestellt. Obgleich das Problem der Übervölkerung eine ernsthafte Herausforderung für die jeweiligen Stadträte darstellte, kam die größte Gefahr doch über See. Die Ankunft ausländischer Schiffe führte gerade zu bestimmten Jahreszeiten zu einem starken Andrang in den Docks, bei dem die gesundheitliche Aufsicht vernachlässigt, in manchen Fällen sogar gar nicht mehr durchgeführt wurde. Auf diesem Wege konnten kranke Schiffsbesatzungen und verseuchte Handelsgüter tödliche Krankheitserreger, mit denen sie im Ausgangshafen oder auf See infiziert wurden, von einer Hafenstadt in die nächste übertragen. Nicht immer waren sich die Kapitäne ausländischer Schiffe bewusst, welche Gefahr sie mit sich brachten und dockten unwissend in noch gesunden Hafenstädten an. Während sie noch ihre Ladung löschten, nahmen die von ihnen mitgebrachten Krankheitserreger ihren Weg, verbreiteten sich schnell in der Enge der Hafenstädte und hinterließen Krankheiten und Seuchen.18
Praktisch konnten die Einwohner und Stadträte der jeweiligen Hafenstädte nur wenig tun, dieser Gefahr – die man auch "negativen Austausch" nennen mag – auszuweichen. Trotzdem gab es gewisse Maßnahmen, die eine Hafenstadt ergreifen konnte, um die Auswirkungen einer Epidemie einzuschränken. Die naheliegendste Schutzmaßnahme der Bevölkerung war die Flucht aufs Land oder in eine andere Stadt, wie z.B. in Orte im traditionellen Hinterland. Dies war jedoch nur für die Menschen möglich, die gesund und vor allem reich genug waren, ihre Verpflichtungen in der Hafenstadt zeitweilig hinter sich lassen zu können. Zugleich war eine Flucht natürlich nur sinnvoll, solange die Infektion im Land noch nicht um sich gegriffen hatte. Meistens aber wurde das Hinterland schneller als gedacht von den fliehenden Hafenstadtbewohnern infiziert, womit die noch sicheren Fluchtorte dann immer weiter entfernt lagen. Während den reicheren Hafenstadtbewohnern die Flucht offenstand, blieb den ärmeren keine andere Wahl, als in der infizierten Hafenstadt zurückzubleiben. Ihnen konnte der jeweilige Stadtrat nur dadurch helfen, dass er Lebensmittel und Wasser zur Verfügung stellte und die religiösen Institutionen dazu verpflichtete, die Toten so schnell wie möglich zu beerdigen.
Epidemien brachten stets einen hohen Verlust an Menschenleben und große wirtschaftliche Schäden mit sich. Um derartige Einbrüche zu vermeiden, entschlossen sich viele der westeuropäischen Hafenstädte, römisches Recht anzuwenden und Schiffen, die von der Pest befallen waren oder aus Regionen kamen, wo diese verbreitet war, das Anlegen zu verweigern. In solchen Fällen verhängte die betroffene Hafenstadt ein temporäres Anlegeverbot, das sie erst wieder aufhob, nachdem die Gefahr gewichen war (entweder weil das in Frage stehende Schiff doch nicht von der Pest befallen war, weil die Quarantänemaßnahmen erfolgreich waren, oder weil das Schiff wieder abgefahren war). Während diese Art von Embargos zunächst vor allem dazu dienen sollten, Hafenstädte vor Epidemien zu schützen, wurden sie doch gerne auch als politische und wirtschaftliche Mittel missbraucht, etwa um Wettbewerber auszuschalten. Ein gutes Beispiel dieses Missbrauchs ist der Handelsstreit zwischen Genua und Venedig, in dem die beiden Hafenstädte im Wettbewerb über die Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer immer wieder temporäre Anlegeverbote gegeneinander verhängten.
Ihr ausgeprägtes Bürgerbewusstsein, verbunden mit ihrer auf Handel und Produktion beruhenden wirtschaftlichen Stärke, machte die meisten europäischen Hafenstädte der Frühen Neuzeit zu Orten, die sich durch intellektuelle Toleranz und politische Autonomie auszeichneten. Obgleich sie fast immer in größere Staatengebilde eingebunden waren, konnten sie meist doch eine gewisse Unabhängigkeit erlangen, entweder weil sie eine führende politische Rolle einnahmen und zu Hauptstädten wurden oder weil ihre Stadträte (in denen oft Kaufleuten und Produzenten Seite an Seite mit den Vertretern der anderen sozialen Schichten wirkten) die auf das Mittelalter zurückgehenden königlichen Rechte und Privilegien neu verhandelten.19
Die herausragende Leistung der europäischen Hafenstädte der Frühen Neuzeit war es, eine Vielzahl an Aktivitäten, insbesondere des Austauschs, zu entwickeln und zu vervollkommnen. Ermöglicht wurde dies durch die Vielzahl an Rollen, die eine Hafenstadt im Netzwerk der Städte der damaligen Zeit einzunehmen hatte.
Von der Provinzstadt zum Global Player
Obwohl die meisten Hafenstädte der Frühen Neuzeit wohlhabende Stadtsiedlungen waren, haben doch nicht alle eine herausragende Bedeutung erlangt. Inwieweit sie ihr Wachstum ausdehnen und wirtschaftlichen Erfolg erzielen, ja sich zu einflussreichen Metropolen entwickeln konnten, hing in erster Linie von zwei Faktoren ab: erstens, ihrer Fähigkeit, ihre Aktivitäten über ihre traditionelle Einbindung in ihr Hinterland hinaus auszudehnen und, zweitens, ihrem Vermögen sich gegenüber Wettbewerbern in der lokalen Nähe und weiteren Region durchzusetzen.
Hafenstädte wie Venedig, Sevilla, Lissabon und Cadiz verdanken ihre Bedeutung und ihren Einfluss den Expansionsaktivitäten, die die Länder, zu denen sie gehörten, in Übersee ausführten. Im Fall Venedigs war dies sogar die Stadtrepublik selbst. Insgesamt betrachtet sind die Ausdehnung und der Einfluss Venedigs im Mittelmeer in etwa mit der Ausdehnung und dem Einfluss Portugals und Spaniens im Atlantik und im Indischen Ozean gleichzusetzen. Die Tatsache, dass Hafenstädte wie Venedig, Sevilla, Lissabon und Cadiz in der Lage waren, über ihr Hinterland hinaus am Handelsaustausch von Neuerungen (Waren, kulturellen Innovationen, Informationen, Wissen) teilzunehmen, machte diese bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts zu Dreh- und Angelpunkten der damals bekannten Welt.20
Auch wenn die venezianischen, portugiesischen und spanischen Eroberungen in Übersee einigen Hafenstädte große Bedeutung und großen Einfluss brachten, blieben die meisten der südeuropäischen Hafenstädte, gerade auch im Vergleich zu den nordeuropäischen Hafenstädten, doch relativ unbedeutend. Zurückzuführen ist dies auf ihre vergleichsweise abgelegene geographische Lage und schwache Einbindung in Handelsnetzwerke, die sie in ihrer Entwicklung von Eroberungserfolgen in Übersee abhängig machten. Da sich Hafenstädte wie Venedig, Sevilla, Lissabon und Cadiz dessen bewusst waren, neigten sie dazu, Versuche der jeweiligen Zentralstaaten, ihren Einfluss in Übersee auszudehnen, zu unterstützen. Letztlich wurden sie so alle zum Pfand in den politischen und diplomatischen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit.
Das Fehlen eines wirtschaftlich stabilen und über die Region hinaus bedeutenden Hinterlandes zwang viele Hafenstädte in der Renaissance und der Frühen Neuzeit dazu, sich Partner innerhalb Europas zu suchen, um als Handelszentrum überleben zu können.21 Hierbei orientierte man sich weniger an strukturell vergleichbaren Hafenstädten, sondern zielte vielmehr auf kleinere, regional bedeutende Hafenstädte, die eine entwickelte Infrastruktur und gute Anbindung an das Hinterland hatten und alle in Nordeuropa lagen. Angefangen von Antwerpen, Amsterdam und Hamburg bis hin zu den Hafenstädten der Ostsee und London – erst ihre Partner waren es, die diesen zunächst nur regionalen Zentren zu globaler Bedeutung verhalfen. Nicht zu vergessen sei in diesem Kontext, dass die Auswahl passender Partner immer auch von dem Auf und Ab politischer und diplomatischer Entwicklungen der damaligen Zeit abhängig war.
Um sich für eine Partnerschaft mit einer größeren südeuropäischen Hafenstadt zu qualifizieren, mussten sich die nordeuropäischen Hafenstädte zunächst gegen ihren jeweiligen regionalen Wettbewerber durchsetzen. Dies gelang Antwerpen gegenüber Brügge wie auch Amsterdam gegenüber Middelburg, Vlissingen, Hoorn und Enkhuizen. Genauso konnte Hamburg die meisten norddeutschen Hafenstädte und die des Ostseeraums in seiner Wettbewerbsfähigkeit übertreffen. London wiederum gelang es, sich auf den britischen Inseln durchzusetzen.
Dieser für die nordeuropäischen Hafenstädte typische regionale Wettbewerb spielte sich im Gegensatz zu dem in Südeuropa auf der Basis von besonderen Vorteilen ab, die eine Hafenstadt einem Partner bieten konnte. Dieser bekam dadurch beispielsweise die Möglichkeit, seine Handelsaktivitäten von einem für ihn vorteilhaften Ausgangshafen aus abwickeln zu können. Eine der Praktiken, die von den nordeuropäischen Hafenstädten angewandt wurde, um südeuropäische Partner zu gewinnen, war diese mit einer Reihe von Privilegien, wie etwa für die Einreise von Personen oder den Import von Produkten, auszustatten.22 Die portugiesische Fabrik in Antwerpen und die in Freibriefen festgeschriebenen Vorteile der venezianischen Kaufleute in London gehen auf diese Taktik zurück. Mit Hilfe derartiger Usancen wurden die Hafenstädte Nordeuropas zu Zentren monopolistischer Handelspraktiken, deren Hauptziel es war, die (offiziellen und inoffiziellen) Verteilernetze von Gütern, Menschen und Ideen zu kontrollieren.
Diese deutlich erkennbare Verlagerung der bedeutenden Hafenstädte vom Süden in den Norden Europas ist sehr gut von Fernand Braudel (1902–1985) und anderen Forschern dargestellt und dokumentiert worden.23 Sie argumentieren, dass es in der Frühen Neuzeit eine endgültige Umorientierung der Handelsaktivität von den Hafenstädten im Mittelmeerraum in die Hafenstädte entlang der Atlantikküste Nordeuropas gegeben habe. Dabei blieben die meisten südeuropäischen Hafenstädte, die im Rahmen der europäischen Expansion in Übersee einst eine Pionierposition innehatten, quasi als am Rande liegende Juniorpartner der nordeuropäischen Hafenstädte zurück. Diesen war es aufgrund von hartem Wettbewerb vor Ort gelungen, interkontinentale Verbindungen und bedeutende Verflechtungen in der Region sowie im Hinterland erfolgreich zusammenzubringen.
Die Verlagerung der bedeutenden Hafenstädte vom Süden in den Norden Europas hatte Konsequenzen, die weit über deren Bedeutung als "Tor zur Welt" hinausgingen. Dieser Wandel bedeutete vielmehr, dass sich die Einfuhr von Gütern, Menschen, Ideen und Gebräuchen nordwärts verlagerte. Dies führte zur Entwicklung neuer ökonomischer, sozialer und kultureller Wertvorstellungen, die, so argumentiert Max Weber (1864–1920), durch die religiöse Spaltung – ausgelöst durch Reformation und Gegenreformation – noch weiter unterstützt wurde.24 Dieser sich im 16. Jahrhundert vollziehende Bruch in der europäischen Hafenwirtschaft wird oft als die Wurzel dessen angesehen, was manche als die "kleine Abweichung" (andere nennen es auch das "Zurückbleiben") des Südens gegenüber dem Norden Europas bezeichnen, eine Gegebenheit, die auch heute, in der Europäischen Union, noch vielerorts so empfunden wird.25
Fazit
Hafenstädte nahmen in der Frühen Neuzeit eine wichtige Stellung in Europa ein. Sie waren die am weitesten entwickelten Städte ihrer Zeit, deren Bedeutung darin lag, dass sie in alle wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Transaktionen ihrer Region eingebunden waren. Während sich die wichtigsten Hafenstädte während der Renaissance und im 16. Jahrhundert vor allem einseitig engagierten, das heißt an der Expansion der verschiedenen Großmächte in Übersee mitwirkten, waren die wichtigsten Hafenstädte im späten 16., 17. und 18. Jahrhundert vielmehr Hauptzugangstore für den weltweiten Austausch von Gütern, Menschen und Ideen.
Die Bedeutung führender Hafenstädte wie Amsterdam und London beruhte darauf, dass sie ihre regionale mit ihrer transkontinentalen Rolle verschmelzen konnten. Dies gab ihnen die Fähigkeit, sich als zentrale Bindeglieder zwischen ihrem Hinterland und den regionalen und interkontinentalen Austauschs- und Handelsströmen hervorzutun. Diese Metropolen waren die Triebkraft hinter der allgemeinen Verlagerung der Transfer- und Handelsaktivitäten vom Mittelmeerraum an die nordeuropäische Atlantikküste. Hierdurch vollzog sich im Nordwesten Europas eine vom Süden Europas abweichende wirtschaftliche, soziale, politische, kulturelle und religiöse Entwicklung. Die sich daraus ergebende Spaltung Europas ist bis heute erkennbar.