Krieg der Prinzipien
Im September 1831 las man in der Zeitschrift Allgemeine politische Annalen des liberalen Politikers Karl von Rotteck (1775–1840):
Die Ereignisse waren aber in Polen, und hier tritt der natürliche Anfangspunkt hervor. In Polen ist die Handlung dieser Zeit, in Polen ist der stellvertretende Krieg der europäischen Gegensätze, die Angel, um welche sich alles dreht, die concentrierte europäische Krisis. Diese Bedeutung des polnischen Krieges wurde durchgängig eingesehen oder wenigstens gefühlt, und darum bewegt er sich auf seinem Schauplatz, wie vor einem Amphitheater der zuschauenden und mitberührten Völcker, und jeder Wechselfall wird von den Blicken der Besorgniß oder der Hoffnung begleitet.1
Die deutsche Anteilnahme am Schicksal der polnischen Nation erwuchs zumeist aus der politisch motivierten Solidarität der "Freiheitsfreunde", die sich nach der Julirevolution 1830 als eine die Grenzen überschreitende und gegen die autokratische Internationale gerichtete Gemeinschaft sahen. Andererseits weckte die Dramatik des Geschehens in Polen im Zusammenspiel mit dem negativen Russlandbild der deutschen Liberalen Bestürzung und Entsetzen. Das "nordische" Großreich wurde aufgrund seiner politischen Einflussnahme in Europa als gefährlich wahrgenommen und zugleich als Musterbeispiel der Willkürherrschaft gefürchtet.2 Der Gedanke an eine unausweichliche militärische Auseinandersetzung zwischen Fortschritt und Konstitutionalismus einerseits und Barbarei und Autokratie andererseits lag diesem politischen Europabild nicht fern. Eben darum schienen sich 1831 die Besorgnis um bzw. die Hoffung auf eine prinzipielle Auseinandersetzung dieser beiden widerstreitenden Kräfte im polnisch-russischen Krieg zu manifestieren. Die Polen wurden dementsprechend als Freiheitskämpfer und als Märtyrer der Freiheit verehrt. Ihren Höhepunkt erreichte die Polenbegeisterung während des Durchzugs polnischer Emigranten durch Deutschland in das französische Exil im Frühling und dann noch einmal im Sommer 1832, wobei allerdings auch die erste Welle der Sympathie während des polnisch-russischen Krieges 1831 nicht zu unterschätzen ist.
Die Polenbegeisterung war zugleich ein Phänomen der neuen politischen Öffentlichkeit, die sich verstärkt nach der Französischen Revolution und während der napoleonischen Kriege in Europa herausbildete. Das System der Quadrupel- und heiligen Allianz nach 1815 versuchte freiheitliches Denken zu unterdrücken; stattdessen wurde es weiter angefacht und noch dazu internationalisiert. "Durch ganz Europa geht die furchtbare Spaltung in zwei Systeme oder Richtungen", diagnostizierte Rotteck, "und zwar nicht nach den Ländern, sondern mitten durch alle Länder, Provinzen, Gemeinden und Familien ... in Constitutionellgesinnte und Absolutisten, Liberale und Servile, oder wenn man will, Anhänger der Revolution und jene der Reaktion."3
Die gespannte Lage entlud sich in der Pariser Julirevolution 1830. Der deutsche Dichter Heinrich Heine (1797–1856) [] sprach vom "Pariser Sonnenstich"4, der mit unerwarteter Stärke den Kontinent traf. Polen betrat im November 1830 mit dem Sturm auf die Warschauer Residenz des russischen Großfürsten Konstantin (1779–1831) die aktuelle politische Bühne Europas und stand bis zum spektakulären Fall Warschaus im September 1831 im Rampenlicht. Die Theatermetaphorik spielte eine große Rolle in der zeitgenössischen westlichen Darstellung und Wahrnehmung der Geschehnisse in Polen, die weit genug weg waren, um sie mit Abstand zu betrachten, und die sich zugleich so mitreißend gestalteten, dass man sich dennoch beteiligt fühlte und sich damit identifizieren konnte.5
Die politische Sonderstellung Polens, die im Novemberaufstand sehr bedeutsam wurde, ergab sich jedoch nicht erst aus der momentanen politischen Konstellation. Die Teilungen des polnischen Staates im ausgehenden 18. Jahrhundert machten Russland und Preußen zu europäischen Großmächten und setzten sie wie auch Österreich unter erheblichen Kooperations- und Allianzdruck. Die polnischen Probleme wurden dadurch international und eine dauerhafte Präsenz des von der politischen Landkarte verschwundenen Polen im politischen Kommunikationsraum Europas besiegelt.6 Polen rückte dabei in eine besondere Oppositionsstellung zu den "absolutistischen" Machthabern – nicht nur als ihr Opfer oder rebellischer Widersacher, sondern auch als ein konstruktiver Gegenspieler, vor allem im Versuch, mit der Maiverfassung 1791 das eigene politische System zu reformieren und so auf dem Fundament der Adelsrepublik den Staat zu modernisieren.
Das Schicksal Polens war für Europa politisch bedeutsam und hatte für die Zeitgenossen noch dazu oft eine symbolische, ja fast mystische Aussagekraft oder wurde zumindest so gedeutet. Im Juni-Band der Annalen von 1831 findet man folgende Charakterisierung:
Der polnische Aufstand ist nicht mit andern ähnlichen Ereignissen in- und außerhalb Deutschlands in eine Kategorie zu setzen. ... sein Verhältniß zu den Principien des Staats- und Völkerrechts der civilisirten Welt ist klarer, die Entscheidung seines Schicksals darum auf die Bestimmung jener Principien mächtiger rückwirkend; seine Beziehungen zu Europa sind mannichfaltiger und inniger, sie haben in dieser Hinsicht nur ein Seitenstück in der letzten Revolution Frankreichs. Polen ist das Volk, das in dem Herzen Europa`s ruht, sein Blut wird in allen Adern des großen Körpers ausgeführt.7
Diese stark emotional geladene Sprache in den Kommentaren zu den Ereignissen in Polen ist in den Beschreibungen der aktuellen politischen Lage in den anderen europäischen Ländern – in Frankreich, England, Belgien oder Italien – in der deutschen Presse, selten zu finden.
Polenvereine
Das politische Interesse am russisch-polnischen Krieg, das die Solidarität mit den kämpfenden Polen weckte, wurde seit den Sommermonaten 1831 durch bedeutende materielle Unterstützung begleitet.8 Die spontane, meistens nicht organisierte Hilfeleistung begann im Deutschen Bund schon im März und April 1831. Sie beruhte vor allem auf der Bereitstellung von Verbandsmaterial. Sie wandelte sich, wenn die politische Situation im Land dies erlaubte, in eine fortdauernde und geregelte Tätigkeit.9 Deutsche Polenfreunde schlossen sich in Vereinen zur Unterstützung der Verwundeten und Kranken in den polnischen Spitälern zusammen, um vor allem Geld und medizinische Ausstattung sammeln zu können. Die Vereine finanzierten auch die Reisen der freiwilligen deutschen Ärzte nach Polen und spendeten chirurgische Instrumente. Die Geldsummen, die aufgebracht wurden, waren beträchtlich. Zwar gestaltete sich der Geldtransfer in das vom Krieg beherrschte Land manchmal problematisch, die Nutzung der früheren Handelsbeziehungen mit Warschau führte aber meist doch zum Erfolg.
Diese in ihrer praktischen Ausrichtung ausschließlich karitativen Aktivitäten trugen für die Zeitgenossen von Anfang an unverkennbar politische Züge und wurden vor allem von den Liberalen als freiheitliche Meinungsäußerung interpretiert. "Humanitäre Hilfe wird zur Menschen- und Bürgerpflicht erklärt."10 Die Polenhilfe wurde ebenfalls zu einer deutschen Pflicht erklärt und war damit in den Augen der Zeitgenossen mehr als reine Wohltätigkeit: "Die Wiederherstellung Polens kann nur durch Deutschland geschehen. Unsere Nation ist hierzu moralisch und rechtlich verbunden, um die schwere Sünde der Vernichtung Polens zu sühnen."11 Solche Forderungen formulierten zwar nur die politisch Radikalen, nichtsdestoweniger wurde das Nationale, neben dem Freiheitlichen, zu einem Begleitmotiv der Polenbegeisterung. So las man auch in einem lokalen Periodikum, der Karlsruher Zeitung: "Wir fordern alle Gegenden unseres Vaterlandes dringend auf, ihre Anstrengungen mit den unseren zu vereinen, um durch die That zu bekunden, wie hoch Deutschland Vaterlandsliebe, Freiheitssinn und Heldenmuth verehrt."12 Durch die Teilnahme an der Polenunterstützung bekundete man Freiheitssinn und deutschen Patriotismus zugleich. Diese freiheitliche Solidarität der Nationen beruhte auf der idealisierten Vorstellung, dass die politisch mündigen Völker dauernd in einem Friedensbündnis leben könnten. Dieter Langewiesche spricht sogar von einem "neue[n] Europagefühl"13 der Polenfreunde, das sowohl die Denkweise der liberalen Politiker, der Burschenschafter als auch die Vorstellungen der freisinnigen Bürger beeinflusste. Dementsprechend reagierten die Polenfreunde auf die staatlichen Einschränkungen der Vereine im Juni 1832 mit den Worten:
Je mehr die Namen und Abzeichen patriotischer Vereine vor den schaarenweise aufmarschierenden Verordnungen verschwinden, desto inniger schließt sich der große geistige Verein aller Wohlgesinnten in ganz Europa, gegenüber der gemeinsamen Gefahr, und je feindseliger die äußere Gewalt uns entgegen tritt, desto brüderlicher reichen wir uns die Hand zum gemeinsamen unermüdlichen Ringen nach Wahrheit und Menschenrecht.14
Nach der Niederschlagung des polnischen Aufstandes im September 1831 setzte die Emigration der Polen in Richtung Frankreich ein. Mitte Dezember begann der Marsch der polnischen Kolonnen aus Preußen und Österreich durch deutsche Länder. Es waren insgesamt fast 10.000 Offiziere sowie, in weniger großer Zahl, Unteroffiziere und Soldaten unterwegs. Die Organisation und Finanzierung der Durchmärsche war nur eine der Herausforderungen, die sich den Regierungen der deutschen Staaten stellte. Die größte Unterstützung der Emigranten in Süd- und Westdeutschland kam jedoch von Seiten der Polenvereine, die ihre mittlerweile eingestellte Tätigkeit während der Durchzüge der Polen wieder aufnahmen. Die Polenvereine wirkten im Unterschied zum Staat vor allem lokal und reagierten auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Emigranten. Einige von ihnen organisierten Unterstützung für Hunderte polnischer Flüchtlinge.15
Zu den ausschließlich Männern vorbehaltenen Vereinen traten zahlreiche Mädchen- und Frauenpolenvereine hinzu. Diese Frauenpolenvereine, die sich vor allem aus den Ehefrauen, Schwestern und Töchtern der männlichen Polenfreunde zusammensetzten, stehen in der Geschichte des weiblichen Vereinswesens in Deutschland direkt zwischen den patriotischen Frauenvereinen von 1813 bis 1815 und den demokratischen Frauenvereinen um 1848. Gerade in Krisenzeiten, die durch Krieg und nationalen Aufbruch bestimmt waren, fanden auch Frauen zuweilen einen Platz im öffentlichen Raum. Dies geschah auf dem Gebiet der meist politisch motivierten Wohltätigkeit. Dennoch waren die zahlreichen selbstständigen Frauenpolenvereine eine gesellschaftliche Neuheit: Bürgerliche Frauen bildeten zum ersten Mal in einem solchen Ausmaß weitgehend eigenständige Zusammenschlüsse, die ihre Legitimität nicht über die Obrigkeit und den Hof, sondern – sogar in Opposition zu diesen– über die Öffentlichkeit bezogen. Die Frauen gewannen in ihren Hilfsvereinen, deren Tätigkeit sehr eng mit der Presse verbunden war, eine wichtige Erfahrung: Ihre Tätigkeit hatte eine öffentliche Funktion, für die sie Verantwortung übernehmen mussten.
Die materielle Hilfe der Polenvereine konzentrierte sich auf Verpflegung, Unterbringung und Transport der emigrierenden Polen, hinzu trat die Unterstützung durch bares Geld. Das selbstbewusste Auftreten der Polenfreunde in Fragen der Organisation verblüffte manchmal die staatliche Obrigkeit. Als freiwillige bürgerliche Organisationen, die erfolgreich auf eigentlich für den Staat reservierten Gebieten tätig wurden, wurden die Polenvereine, spätestens seit dem Hambacher Fest (1832), von den konservativen Regierungen als anmaßend empfunden und ihre Aktivitäten als prinzipieller Angriff auf die Grundlagen des Staates betrachtet. In den Bundesbeschlüssen vom 5. Juli 1832 sprach sich der Bundestag daher eindeutig gegen die Polenvereine aus.16
Presse
Die periodische Presse kann ohne Einschränkung als das Medium der deutschen Polenbegeisterung schlechthin bezeichnet werden. Die Zeitungen, auch die lokalen Blätter, trugen die Informationen über den polnischen Aufstand bis in die kleinsten Ortschaften. Die oppositionellen Zeitungen aus der Zeit vor dem Hambacher Fest wurden zu Plattformen der politischen Diskussion, in der das polnische Thema im Vordergrund stand. Zum Träger der Polenbegeisterung wurde die Presse jedoch vor allem dadurch, dass die Polenfreunde sie als Kommunikationsmedium und Legitimationsmittel bewusst genutzt haben.
Die deutsche Presse berichtete regelmäßig und ausführlich von den polnischen Schlachtfeldern, was sicherlich dem Interesse der Leser entsprach. Die Berichte nahmen nicht selten mehrere Spalten oder gar den größten Teil einer Ausgabe ein. Der Ton und die Interpretation, bisweilen auch die wiedergegebenen Fakten, hingen von der politischen Ausrichtung der Zeitung ab. Die lokalen Zeitungen waren auf die Berichterstattung der zwei wichtigsten deutschen Blätter angewiesen – die Augsburger Allgemeine Zeitung und die Allgemeine Preußische Staatszeitung.17 Die Allgemeine Zeitung, eines der meistgelesenen Blätter, machte zwar "den lauten Polenjubel nicht mit",18 verstand sich jedoch als liberal und berichtete ausführlich über die Ereignisse in Polen und über die deutsche Polenhilfe. Für einen "kalten Wasserstrahl in die hochgeladenen Wogen der uferlosen Polenschwärmerei"19 wollte dagegen die konservative Allgemeine Preußische Staatszeitung sorgen, die wohl auch eine der am häufigsten genutzten Informationsquellen über den Fortgang des Krieges war.20
Oppositionelle Zeitungen wie die Deutsche Tribüne, Das konstitutionelle Deutschland, Der Freisinnige oder der Wächter am Rhein bezogen ganz offen eine polenfreundliche Stellung, druckten politische Artikel und Analysen und veröffentlichten zahlreiche Polenlieder.21 Auch die Polen selbst kamen dort zu Wort.22 Die polenfreundliche Thematik ließ sich gut mit der Manifestation freiheitlicher politischer Ansichten verbinden und trug diese ins restliche Europa.23 Auseinandersetzungen um den Sinn der Polenhilfe provozierten stets eine Konfrontation mit dem politischen Gegner. Die Fragen, wo die Wohltätigkeit endet und das politische Engagement beginnt oder inwiefern man die internationale und politisch motivierte Solidarität im Angesicht der eigenen Nöte und Bedürfnisse legitimieren kann, wurden öffentlich erörtert. Die Politisierung und die öffentliche Diskussion erreichten dabei auch die lokale Ebene. Originelle polemische Artikel bildeten in den populären Wochenblättern, die zu dieser Zeit meistens mit kurzen lokalen Nachrichten und Nachdrucken gefüllt wurden, eine Novität.24 Die Pressedebatte, an der sich viele und nicht nur Protagonisten und aktive Polenhelfer persönlich beteiligten, sensibilisierte die Gesellschaft für verantwortliches öffentliches Handeln und selbstständiges politisches Denken.
Die andere Seite der medialen Präsenz der Polenbegeisterung, vor allem im lokalen Kontext, enthüllt die Berichterstattung über die Stationen der polnischen Emigranten in der deutschen Provinz. Bemerkenswert wenig erfährt der Leser dabei über die geleistete Hilfe und Unterstützung. Die Berichte über die feierlichen Aufnahmen der polnischen Freiheitskämpfer vermitteln nicht unbedingt den Eindruck, als handele es sich bei den Polen um erschöpfte, oft mittellose und von Zukunftsängsten geplagte Exilanten, sie bezeugen vielmehr vor allem den politischen Enthusiasmus der deutschen Polenfreunde. Schon kleine Proben der zeitgenössischen Rhetorik in der Schilderung der Polen macht dies ersichtlich: "diese Tapferen", "diese unglücklichen Schlachtopfer der europäischen Politik", "diese edlen Kämpfer für die Entfesselung des Vaterlands von fremder Herrschaft", "diese edlen Trümmer der polnischen Heldenwelt", diese "Vorfechter der Freiheit".25 Auch der geringste Ausdruck politisch motivierter Sympathie im kleinsten Dorf schien Aufmerksamkeit zu erfahren und wurde publik gemacht. Dennoch fielen in Bezug auf die Politik selten konkrete Worte. Die Berichterstatter betonten die feierliche, erhabene und überschwängliche Begeisterung der Gastgeber und die bescheidene, würdige Dankbarkeit der Gäste. Die Polen wurden erwartet. Die Polenfreunde fuhren ihnen entgegen, führten sie in Triumphzügen in die Ortschaften hinein, wetteiferten darum, die Polen zu logieren und zu bewirten, ehrten sie mit festlichen Gastmahlen, mit einer Theatervorführung oder einem Ball. "Nun kannte der Jubel keine Grenzen mehr" berichteten die Zeitungen über solche Veranstaltungen und beobachteten "herzergreifende Szenen" sowie "Thränen der Rührung".26 Dass diese Berichte die euphorische Begrüßung der Flüchtlinge zusätzlich anregten, liegt auf der Hand. Keine lokale Gemeinschaft wollte dabei zurückstehen. Die Presse im Südwesten kreierte die Polenbegeisterung in starkem Maß mit und offenbarte so auch ihre mediale Kraft.
Der mediale Wirkungskreis der deutschen Polensympathie sollte jedoch nicht auf die spektakulären Äußerungen der freiheitlichen politischen Propaganda eingeengt werden. Die lokale Zeitung gewann ihre Bedeutung in erster Linie als das wichtigste Medium der öffentlichen Kommunikation. Die Bemühungen der Organisatoren um den öffentlichen und demokratischen Charakter der Polenhilfe banden sie nachhaltig an die lokale Presse, die als Garant der Transparenz und der Öffentlichkeit entdeckt und genutzt wurde – auch als ein Mittel, das Publikum ständeübergreifend anzusprechen. Durch diese große öffentliche Teilhabe verbürgten sich die Polenfreunde gleichsam für ihre Arbeit. Bei der Vereinsgründung war der erste Schritt, eine Organisation ins Leben zu rufen, und der folgende, über ihre Existenz und Tätigkeit detailliert, am besten tagtäglich, zu berichten. So veröffentlichte beispielsweise die Freiburger Zeitung zwischen dem 5. und 31. Juli 1831 27 Anzeigen der Gaben für den örtlichen Hilfsverein – und zwar jeweils als erste Spalte auf der Titelseite.
Die mediale Strategie verrät auch einiges über den bürgerlichen Ehrgeiz und Unternehmungsgeist der Polenfreunde, die nicht umsonst auf den finanziellen Erfolg abzielten. Eine starke Pressepräsenz der bürgerlichen Initiative, die karitative Ziele mit einem politischen liberalen Hintergrund verband, wirkte zur Zeit des Kampfes um die Freiheit der Presse doppelt stark. Die Pressefreiheit war für die Liberalen von fundamentaler Bedeutung und Aktualität; eine freie Berichterstattung wurde als Zeichen der Mündigkeit des Volkes wahrgenommen. Die vorsätzliche Aneignung der Presse durch die Polenfreunde wirkte unzweideutig als eine bewusste Manifestation des Strebens nach Mitteilungsfreiheit und bürgerlicher Emanzipation. Die Bekanntmachungen der Polenvereine, die mit steter Regelmäßigkeit veröffentlicht wurden, hatten zu diesem Zeitpunkt keine andere Entsprechung in der lokalen Presse.
Polenlieder
Obgleich die Zeit der That, und nicht der Lieder,
was will ich, wenn der Genius gebeut?
Mit raschem Muthe schwingt er sein Gefieder,
Die lang verstummten Laute tönet wieder,
Ob sie vielleicht ein fühlend Herz erfreut?27
Der polnische Aufstand gegen Russland, das Schicksal der geschlagenen Freiheitskämpfer sowie die politische Parteinahme wurden zu beliebten literarischen Motiven der engagierten Dichtung am Anfang der 1830er Jahre. Die großen Namen der deutschen Literatur wie Nikolaus Lenau (1802–1850) [], Adelbert von Chamisso (1781–1838) [], August Graf von Platen (1796–1835) [], Franz Grillparzer (1791–1872) [] oder Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) [] widmeten sich dem polnischen Thema, aber auch Hunderte von weniger bekannten Autoren und Gelegenheitsliteraten besangen die heldenhaften Polen, allerdings ebenso die mitfühlenden und hilfsbereiten Deutschen. Die Polenlieder, deren Zahl der polnische Germanist Gerard Koziełek auf etwa tausend Titel schätzt, wurden so zu etwas wie einem Markenzeichen der deutschen Polenfreundschaft im Vormärz.28 Manches, was damals entstand, kann sich literarisch durchaus sehen lassen. Aber auch die "Durchschnittsware" ist in ihrer Menge mentalitätsgeschichtlich aufschlussreich.
Der Volksliedforscher Johann Philipp Glock (1849–1925), weit entfernt von jeglicher Polenschwärmerei, beschrieb 1910 die Funktion der Polenlieder folgendermaßen:
Eine Art ausländischer Mitläufer unter den geschichtlichen Volksliedern unseres Lands waren in den 30er und 40er Jahren des verflossenen Jahrhunderts die sogenannten Polenlieder. Das waren Lieder, welche die von den Polen in ihrem Aufstand gegen Rußland bewiesene Tapferkeit verherrlichten, und zwar meist in einer sehr überschwänglichen Gefühlsweise, wie sie dem romantischen Geschmacke des Zeitalters entsprach. Aus einer Art kosmopolitischer Sympathie, welche vor allen anderen Völkern uns Deutschen angeboren ist, fanden die slawischen Siegeshymnen zu Ehren Labienkas und zum Gedächtnis der Tausend von Warschau einen berauschenden Widerhall in den Herzen schlichter deutscher Bürger, weil dieselben in den immer trüber werdenden Zeiten des politischen Lebens nach den Freiheitskriegen im eigenen Lager keine Freiheitshelden mehr besaßen. ... Auch die kleinsten Landstädtchen hatten ihren Polenklub mit besonderem Klublokal, in dem sich die sogenannten Honoratioren des Ortes, die Geistlichen und Lehrer nicht ausgeschlossen, allabendlich zusammenfanden. In diesen Polenklubs wurden Polenreden gehalten, Polenhochs ausgebracht, Polenlieder gesungen, aus Polenhumpen getrunken und aus Polenpfeifen tapfer dazu geraucht.29
Glock erwähnt vor allem zwei besonders populäre Titel: Die letzten Zehn vom vierten Regiment bei ihrem Uebergange über die preußische Gränze im Herbste des Jahres 1831, das der deutsche Dichter Julius Mosen (1803–1867) allen Polenfreunden gewidmet hatte, und das Lied Denkst du daran, mein tapferer Lagienka aus dem Liederspiel Der alte Feldherr von Karl von Holtei (1798–1880).
Das polenfreundliche Publikum erwartete neben der engagierten Zeitungspublizistik und den Berichten der Polenvereine auch Texte, die man unmittelbar gebrauchen, deklamieren und singen konnte. Die Polenfeste und -konzerte verlangten nach entsprechender dichterischer Begleitung und den Freiheitskämpfern konnte kaum besser als in Versen gehuldigt werden. Die meisten Polenlieder mit lokalem Charakter entstanden als spontane Gelegenheitsgedichte, mit denen man die Feierlichkeiten beim Empfang der Polen veredeln und dem Gemüt Luft verschaffen wollte. Die musikalischen und poetischen Werke sollten die Zurückhaltenden zu Spenden für Polen bewegen. Die Broschüren und Gedichtbändchen mit den Polenliedern wurden oft zugunsten der Flüchtlinge verkauft.
Gerard Koziełek benennt eine ganze Reihe von Themen, von denen die Polenlieder handelten:
Polens Erhebung und Warschaus Fall, das Heldentum einfacher Soldaten und der Kampfgeist ihrer Generäle, die Erinnerung an die historischen und zeitgenössischen Persönlichkeiten und Begebenheiten, Patriotismus und Verrat, Reformwille und Klassengeist, Kapitulation und Internierung, und schließlich das wechselvolle Schicksal der Flüchtlinge in den deutschen Landen wie auch das harte Los der Verbannten in den unwirtlichen Gebieten des russischen Reiches.30
Hierzu muss man jedoch unbedingt anmerken, dass viele dieser Texte, die oft einen unmittelbaren Bezug zu den deutschen politischen Verhältnissen hatten und im lokalen Entstehungsraum weithin bekannt waren, vor allem der Selbstinszenierung der Deutschen dienten. Die Polenlieder waren zwar den Polen gewidmet, aber in erster Linie für die Einheimischen gedichtet. Auf diese Weise wurden sie zum Spiegel der Stimmungen in den freisinnigen Kreisen. Sie dokumentieren die politischen Wert- und Weltvorstellungen ihrer Urheber und des Publikums.
Begeisterung zur Tat
Die einzige Gruppe in der deutschen Gesellschaft, für die die Polenbegeisterung zur Entwicklung des Revolutionsgedankens beitrug, waren die Burschenschafter. Auf dem Dresdner Burschentag zu Ostern 1831 wurde der Antrag angenommen, der als Zweck der Burschenschaft "statt der Vorbereitung zur Herbeiführung die Herbeiführung eines frei und gerecht geordneten und in Volkseinheit bestehenden Staatslebens"31 postulierte. Auf einem weiteren programmatischen Treffen im Herbst 1831 in Frankfurt erklärten sich die Burschenschafter mit den Forderungen der Polen und den politischen Anliegen der Polenvereine eng verbunden.32
Zum Sinnbild der deutsch-polnischen Verbrüderung wurde das bei Neustadt an der Weinstraße gefeierte Hambacher Fest. Zwischen dem 27. und dem 30. Mai 1832 bekräftigten die Teilnehmer des Konstitutionalfestes ihre Forderung nach einem freiheitlich geordneten und geeinten Deutschland. Die polnische Sache stand in einer Reihe mit der deutschen, wie die beiden auf dem Schloss Hambach aufgesteckten Fahnen: die schwarz-rot-goldene und die polnische. Die Polen, die sich in Deutschland befanden, nahmen am Fest teil, es kamen auch Vertreter der Emigration aus Frankreich.33 Ksawery Orański (1811 – nach 1838), Mitglied des polnischen Nationalkomitees in Paris, hielt auf dem Fest eine der radikalsten Reden. Der Aufruf zum gemeinsamen Kampf war nicht zu überhören: "Gesetze, verfertigt von den Aristokraten, sanktioniert durch die Despoten, dienen nur den Unterdrückern. Die Waffen stillen den Klageruf der Völker."34 Während des Hambacher Festes sollte auch im engeren Kreis von 18 Teilnehmern über das Datum der eventuellen revolutionären Erhebung beraten werden. Die Radikalsten waren bereit, auf dem ihrer Meinung nach einzigen, nämlich dem revolutionären Weg, zur Freiheit und zu einem neuen Deutschland zu gelangen. Die Folge war der misslungene Wachensturm in Frankfurt am 3. April 1833. Die Erhebung sollten die polnischen Soldaten aus Besançon unterstützen.35 Der polnische Dichter Adam Mickiewicz (1798–1855) entflammte mit seinen Büchern der polnischen Nation und der polnischen Pilgerschaft (Księgi narodu polskiego i pielgrzymstwa polskiego), die im Dezember 1832 in Paris auf Polnisch erschienen und schon im März 1833 auch auf Deutsch zu lesen waren, zwei Nationen zum Kampf gegen den Autokratismus.36
Dennoch ist das Hambacher Fest nicht als Höhepunkt der deutschen Polenbegeisterung zu bezeichnen. Die politisch radikalen Töne, die von der Geschichtsschreibung immer wieder hervorgehoben wurden, waren lediglich das laute Echo der polenfreundlichen Stimmung und aktiven Polenhilfe, die seit fast einem Jahr Süd- und Westdeutschland erfasst hatte. Wenn auch der Gedanke an den drohenden Krieg der Prinzipien sehr aktuell war, beschäftigte die unmittelbare Planung eines revolutionären Umsturzes die meisten Polenfreunde kaum. Das eigentlich Politische der bürgerlichen Polenbegeisterung lag nicht in den praktisch verfolgten revolutionären Zielen, die ihnen von den politischen Gegnern angehängt und von der radikalen Jugend wohl erhofft wurden, sondern in ihrer Verwurzelung im liberalen Emanzipationsgedanken und in ihrer Integrationskraft im liberalen Milieu.
Der Blick nach Osten
Karl von Rotteck bezeichnete im März 1832 die "Polenfreunde" als den "vernünftigen, menschlich fühlenden, für Menschen- und Völker-Recht erwärmten Teil der europäischen Bevölkerung".37 Der Blick, den die vor allem liberal gesinnten Deutschen mit großem Interesse und großer Erwartung 1830/1831 nach Osten richteten, profilierte auch ihre eigene politische Identität und rief manchmal auch eigene politische Tatkraft hervor. In zahlreichen Polenvereinen erprobten vor allem die süddeutschen Liberalen ihre organisatorischen Fähigkeiten und leisteten in der Mobilisierung der eigenen Kräfte gleichsam Vorarbeit für die größere politische Bewährungsprobe im Jahre 1848. Dennoch markiert das Jahr 1848 das Ende der vormärzlichen Polenbegeisterung. In den Beschlüssen der deutschen Nationalversammlung 1848 sprach man sich gegen den nationalen Anspruch der Polen aus. Vor allem das Votum einer Mehrheit der Liberalen stellten für die Polen eine schmerzhafte Enttäuschung dar. Die Polenbegeisterung bedeutete offensichtlich keine realpolitische Kraft in dem Sinn, dass sie die Grenzen in Europa neu hätte abstecken können. Es kam zu keiner freiheitlichen Koalition zwischen Polen und Deutschen. Die Solidarität mit den Polen blieb am wirksamsten als Identifikationsfigur der deutschen Freisinnigen, die dadurch ihre eigenen freiheitlichen Bestrebungen in einem großen geistigen "Verein aller Wohlgesinnten in ganz Europa"38 als europäisch bedeutsam und europäisch legitimiert sehen konnten. Die Polenbegeisterung zeigt ebenfalls, dass der Transfer der fortschrittlichen freiheitlichen Ideen in der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht immer nur in eine Richtung stattfand.