Der Antitrinitarismus und seine Spielarten. Fragestellung
Wendet man sich dem Transfer des antitrinitarischen Gedankenguts zu, ist zunächst wichtig festzuhalten, dass man es bei dem Antitrinitarismus mit einem heterogenen und fragmentierten Phänomen zu tun hat. Im Allgemeinen werden zwar unter dem Oberbegriff "Antitrinitarier" all diejenigen Denker des 16. Jahrhunderts subsumiert, die die Trinitäts- und die Zwei-Naturen-Lehre, wie sie das Christentum seit den dogmatischen Entscheidungen der großen altkirchlichen Konzilien zu Nizäa (325), Konstantinopel (381) und Chalcedon (451) vertritt, als unbiblisch ablehnen.1 Doch mit diesem negativen, sich überwiegend aus dem mehr oder minder konsequent durchgeführten exklusiven Schriftprinzip ergebenden Proprium endet oft die Gemeinsamkeit der antitrinitarischen Denkarten. Abgesehen von divergierenden Stellungnahmen einzelner Antitrinitarier und antitrinitarischer Gruppierungen zur Wiedertaufe, die auf ihre jeweils unterschiedliche Verwurzelung im Täufertum verweisen,2 zeichnen sie sich gerade in Bezug auf ihre positiven trinitarischen und christologischen Vorstellungen durch eine ganze Bandbreite an sich bisweilen gegenseitig ausschließenden Auffassungen aus.
Bereits die Antworten der Antitrinitarier auf die Fragen, wie sich Gott Vater, Sohn Gottes und Heiliger Geist zu einander verhalten und wie die Person Christi zu denken ist, variieren erheblich. So verfocht beispielsweise der Spanier Michael Servet (1509/1511–1553),3 dessen Name nicht zuletzt aufgrund seines aufsehenerregenden Feuertodes in Genf zum Synonym für den Antitrinitarismus geworden ist, in seinen Frühschriften De trinitatis erroribus (1531) und Dialogorum de trinitate libri duo (1532) eine ökonomisch-heilsgeschichtliche, modalistische Fassung der Trinitätslehre; in christologischer Hinsicht plädierte er für eine wörtlich zu verstehende Fleischwerdung des präexistenten Sohnes Gottes,4 womit sich in seinem Spätwerk Restitutio Christianismi (1553) neuplatonisch gefasste Logos-Spekulationen verbanden.5 Die von Servets frühen Schriften beeinflussten italienischen Antitrinitarier Matteo Gribaldi (ca. 1500–1564) und Valentino Gentile (ca. 1520–1566) übernahmen zwar dessen christologische Auffassung; trinitätstheologisch jedoch sprachen sie sich für einen subordinatianischen Tritheismus aus und distanzierten sich an manchen Stellen explizit von Servets modalistischem Standpunkt.6 Diese Anschauungen wurden wiederum allesamt von dem Begründer des Sozinianismus, des wichtigsten Zweiges des Antitrinitarismus, Fausto Sozzini (1539–1604), überholt. Denn er vertrat den jeglichen Präexistenzgedanken ausschließenden unitarischen Grundsatz, dass Jesus Christus lediglich ein Mensch sei, welchem Gott Vater erst kraft der Auferweckung und Himmelfahrt eine göttliche Macht übertragen habe.7 Die inhaltlichen Schnittmengen zwischen Sozzini und Servet einerseits sowie Gribaldi und Gentile andererseits beschränkten sich dementsprechend auf einige gemeinsame Argumente gegen die traditionelle Trinitätslehre und Christologie.
Wenn im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele die Verbreitung antitrinitarischen Gedankenguts skizziert wird, soll der Transfer der tritheistischen und sozinianischen Konzeptionen im Vordergrund stehen, wie er sich vornehmlich von der Schweiz, zum Teil aber auch noch von Italien aus in das polnisch-litauische Gemeinwesen vollzog. Diese beiden Spielarten des antitrinitarischen Gedankenguts erwiesen sich in der Folgezeit als die wirksamsten, wobei sie, historisch betrachtet, aufeinander aufbauten: Auf die tritheistische Phase der antitrinitarischen Reformation folgte die sozinianische. Bei der Darstellung des Transfers des sozinianischen Gedankenguts wird man nicht ohne eine erhebliche Begrenzung in der Betrachtung der Vorgänge auskommen. Da der Sozinianismus als Denksystem einem ungleich komplexeren Entstehungsprozess als der ihm vorangegangene Tritheismus unterworfen war und auch insgesamt ein Gedankengebäude darstellte, das vielfältige neuartige schöpfungstheologische, anthropologische sowie soteriologische Fragestellungen implizierte, wird man sich notgedrungen lediglich auf den Transfer seiner unitarischen Komponente konzentrieren müssen. Dies wird anhand der Entstehung und Rezeption eines grundlegenden Textes Fausto Sozzinis veranschaulicht, nämlich des ca. 1562/1563 verfassten kleinen Kommentars zum Johannesprolog, der Explicatio, wobei gelegentlich auch seine Vorlage, die Brevis explicatio Lelio Sozzinis (1525–1562), in Betracht gezogen wird.
Die Darstellung der Transferprozesse von tritheistischen und sozinianischen Grundeinsichten geht von folgender, noch zu verifizierender Hypothese aus: Für das Gelingen des Transfers mussten zwei Grundvoraussetzungen gegeben sein: hohe Mobilität und Vernetzung der Träger des antitrinitarischen Gedankenguts einerseits und prinzipielle Offenheit für das reformatorische Schriftprinzip sowie tolerante Haltung der Obrigkeiten gegenüber den trinitarischen bzw. christologischen Sonderlehren andererseits.
Die Begründung des subordinatianischen Tritheismus durch Matteo Gribaldi und der Transfer dieser Lehre in das polnisch-litauische Gemeinwesen
Wie bereits kurz angerissen, waren es die von Servet beeinflussten heterodoxen italienischen Denker, unter denen der subordinatianische Tritheismus als Konzeption herausgebildet und systematisch entfaltet wurde. Besondere Bedeutung kam hierbei Matteo Gribaldi zu, der seit 1548 an der Universität in Padua die Rechte lehrte und sich des Öfteren in der von ihm erworbenen Herrschaft Farges nahe Genf aufhielt.8 Von ihm ist bekannt, dass er noch vor seiner endgültigen Auswanderung aus Italien im Frühjahr 1555 antitrinitarische Ansichten nicht nur vertrat, sondern sie auch aktiv zu verbreiten suchte. So ergriff Gribaldi während eines seiner Schweizer Aufenthalte im Herbst 1553, als er von dem Prozess gegen Servet erfuhr, dessen Partei,9 und am 4. September 1554 berichtete sein Freund Pietro Paolo Vergerio (1498–1565) in einem Brief an Heinrich Bullinger (1504–1575), dass der Paduaner Rechtsgelehrte das Gedankengut des Spaniers eifrig weiterempfehlen und sogar über Schüler verfügen würde.10
Historisch greifbar wird Gribaldis tritheistische Auffassung in dem im September 1554 verfassten Schreiben an die italienische Gemeinde in Genf. Nachdem er an der Versammlung der Gemeinde teilgenommen und sich dabei geweigert hatte zu bekennen, dass Gott Vater und der Sohn Gottes ein Gott seien, wurde von ihm verlangt, dass er seine Meinung zu dem Gegenstand schriftlich vorlegen möge.11 Der kurz vor der Rückkehr nach Italien stehende Gribaldi brachte seine Gedanken zu Papier und ließ es den Verantwortlichen zukommen.12 Darin stellte er den Grundsatz auf, dass Vater und Sohn zwei substantielle Wesenheiten seien bzw. dass sie zwei real distinkte Hypostasen bildeten – den zeugenden Gott und den gezeugten, den sendenden und den gesandten, von denen der erste in der Schrift gewöhnlich als Gott, der zweite als Herr bezeichnet werde.13 Da nur Gott Vater ursprungslos und der Sohn Gottes der von Vater gezeugte Gott sei, standen nach dieser Konzeption die beiden Größen im Verhältnis strikter Subordination zueinander. Folgerichtig konnte laut Gribaldi der Begriff "Gott" in Bezug auf den Sohn Gottes nur im abstrakten Sinne von der ihm und Gott Vater gemeinsamen Gottheit ausgesagt werden, wohingegen "Gott", in der Bibel konkret angewandt, immer nur Gott Vater meinte.14 Eine andere Einheit zwischen Gott Vater und dem Sohn Gottes als diese abstrakt ausgesagte Gottheit vermochte sich der Paduaner Jurist nicht vorzustellen; am wenigsten nachvollziehbar erschien ihm die traditionelle Lösung der drei distinkten Personen in dem einen konkret existierenden göttlichen Individuum. Immerhin versprach Gribaldi, eine ausführliche, mit Bibelstellen sowie Argumenten der dottori – damit meinte er vor allem die vornizänischen Kirchenväter – untermauerte Begründung seiner Auffassung zu liefern, sobald er wieder in Padua sei.15
Nach Padua zurückgekehrt, erarbeitete Gribaldi eine bekenntnisartige Darstellung seiner Konzeption, die er höchstwahrscheinlich mit De Deo et Dei Filio überschieb und der italienischen Fremdengemeinde in Genf übersandte. Die Schrift ist nicht mehr erhalten, aber sie wird öfters im zeitgenössischen Briefwechsel zwischen den führenden reformierten Theologen erwähnt,16 wie auch in der 1568 veröffentlichten umfangreichen Widerlegung verschiedener antitrinitarischer Ansichten durch Josias Simler (1530–1576), De aeterno Dei Filio.17 Gribaldis De Deo et Dei Filio war in der Folgezeit eine vielschichtige Nachwirkung beschieden. Die Schrift bildete das Basisdokument nicht nur für die Verbreitung des subordinatianischen Tritheismus unter den italienischen Glaubensflüchtlingen, sondern auch für den Transfer dieser Lehre in das polnisch-litauische Gemeinwesen, für den zunächst ein Paduaner Student, der aus dem damals noch zum Großfürstentum Litauen gehörenden Goniądz stammende Petrus Gonesius (Piotr z Goniądza, Gonedzius, Conyza, ca. 1530–1573), verantwortlich zeichnete.18
Gonesius hatte sich am 2. August 1554 an der Universität in Padua immatrikuliert, deren Akten ihn als einen Lektor der Logik ausweisen.19 Der Beginn seines Studiums in der italienischen Stadt fiel somit in den Zeitraum, in dem Gribaldi an seinem tritheistischen Bekenntnis intensiv feilte. In welchem Rahmen sich Gribaldi und Gonesius begegnet sind und auf welchem Weg jener diesen auf seine nicht ungefährlichen Ansichten angesprochen hat, lässt sich zwar nicht mehr ermitteln, eines aber steht fest: Gonesius ist während der kurzen Zeitspanne ihrer Bekanntschaft von Gribaldis Ideen derart fasziniert gewesen, dass er bis ans Ende seines nicht allzu langen Lebens an ihnen entschieden festhielt. Gonesius begann jedenfalls mit der Verbreitung des subordinatianischen Tritheismus sofort nach seiner gegen Ende 1555 erfolgten Rückkehr in das Großfürstentum Litauen. Von dem reformatorisch gesinnten Fürsten Nikolaus Radziwiłł (genannt der Schwarze, 1515–1565) zu der Synode der kleinpolnischen Reformierten entsandt, die vom 21. bis zum 29. Januar 1556 in Secemin tagte, trug er dort in aller Deutlichkeit Gribaldis Hauptgedanken vor. Als es am 22. Januar zu einer Anhörung des Gonesius auf der Synode kam, legte er ein Bekenntnis vor, in dem er die traditionelle Auffassung des Trinitätsdogmas samt der dazu gehörigen Begrifflichkeit sowie das Athanasianum als unbiblisch verwarf. Darüber hinaus behauptete Gonesius, dass Christus als der Sohn Gottes Gott Vater unterordnet sei, und er kritisierte auch die traditionelle Zwei-Naturen-Lehre, indem er – wie Servet und Gribaldi – für eine buchstäblich zu verstehende Fleischwerdung des präexistenten logos eintrat.20
Die Kunde von der Verbreitung des Gedankenguts Gribaldis durch Gonesius drang im Zuge des intensiven Austauschs zwischen den Schweizern und Osteuropäern alsbald bis nach Zürich und Genf. Bereits am 1. Januar 1556 – also noch vor der Anhörung des Gonesius – wusste Theodor von Beza (1519–1605) in einem Brief an Bullinger von den Nachrichten aus Polen zu berichten, dass "Satan [dort] seine Truppen zusammengezogen habe, um diese Häresien zu erneuern."21 Die Genfer hatten offenbar ein Schreiben mit den von Gonesius vertretenen trinitätstheologischen und christologischen Lehren erhalten, und ein Vergleich mit dem von Gribaldi an die italienische Gemeinde in Genf zugeschickten Bekenntnis De Deo et Dei Filio ergab frappierende Übereinstimmungen: "[Jenes] schien von diesem gleichsam abgeschrieben worden zu sein."22 Die überaus rasche Aufnahme, der sich die Konzeption des inzwischen von Christoph von Württemberg (1515–1568) auf den Tübinger Lehrstuhl für Zivilrecht berufenen Gribaldi23 erfreute, veranlasste Johannes Calvin (1509–1564) und Beza zu einer unmittelbaren Reaktion. Calvin sah sich bereits im Frühsommer 1555 dazu gezwungen, seinen ehemaligen Lehrer und derzeitigen Tübinger Lateinprofessor Melchior Volmar (1497–1560) vor dem "häretischen Unruhestifter" Gribaldi zu warnen.24 Und Beza ergriff im Herbst und Winter 1555/1556 die Initiative, um auch bei Bullinger in Zürich und Girolamo Zanchi (1516–1590) in Straßburg den italienischen Juristen als Irrlehrer zu denunzieren.25
Gribaldi dürfte sich ziemlich schnell darüber im Klaren gewesen sein, welche Konsequenzen seine trinitarischen und christologischen Sonderlehren für einen Mann in seiner exponierten Position in Tübingen nach sich ziehen könnten, wenn er sie weiterhin unverdeckt vertreten würde. Nachdem er sich im Frühling 1555 auf dem Weg zu seiner neuen Wirkungsstätte im Reich in Genf aufgehalten und mit Calvin endgültig überworfen hatte – dieser wollte ihm bei ihrem Treffen nicht die Hand reichen, bevor sie sich über die Hauptpunkte des Glaubens geeinigt hätten26 –, ging Gribaldi in der Folgezeit zur Taktik der Dissimulation über. Hatte er es sich in Genf noch erlaubt, den Ort des Treffens wütend zu verlassen, so zeigte er sich in seinem letzten Aufenthaltsort vor Tübingen, nämlich in Zürich, vorsichtiger. Gribaldi beklagte sich zwar bei Bullinger über die schroffe Behandlung von Seiten Calvins;27 in einem dem Zürcher Antistes ausgehändigten, ad hoc verfassten kurzen Bekenntnis28 aber wusste er seine wahren Ansichten schon so zu verschleiern, dass weder Bullinger noch – einige Monate später – Zanchi an ihnen etwas auszusetzen hatten.29
Mit dieser häufig zu beobachtenden charakteristischen Taktik der Dissimulation, der sich auch die ersten Anhänger des subordinatianischen Tritheismus im Großfürstentum Litauen bedienten, vermochte Gribaldi allerdings nur etwas Zeit zu gewinnen. Der Grundsatzkonflikt konnte auf diese Art und Weise lediglich hinausgezögert, aber keineswegs gelöst werden. Das Echo, das seine Ideen in Litauen und Polen, aber auch in der italienischen Flüchtlingsgemeinde in Genf hervorriefen – hier machten sie sich Giorgio Biandrata (1515–1588), Gianpaolo Alciati (gest. 1581) sowie Valentino Gentile zu eigen30 –, und nicht zuletzt die rechtlichen Implikationen der Frage – im Reich stand auf Leugnung der Trinitätslehre die Todesstrafe –, wogen zu schwer, um Gribaldi seine Verschleierung auf Dauer durchgehen zu lassen.
Angesichts der Gefahr, dass tritheistisches Gedankengut durch persönliche Mobilität von Gelehrten und durch wandernde Studenten weitergegeben werden könnte, blieben die von den Auseinandersetzungen in der italienischen Flüchtlingsgemeinde unmittelbar betroffenen Genfer Verantwortlichen Calvin und Beza in der Causa Gribaldi weiter aktiv. Nicht nur klärten sie Bullinger und Zanchi über die wahren Ansichten des italienischen Juristen auf, sondern sie vermochten es auch, Christoph von Württemberg auf den Fall aufmerksam zu machen.31 Auf Geheiß des Herzogs musste sich Gribaldi am 17. Juli 1557 vor dem akademischen Senat in Tübingen verantworten. Hierbei gab man sich mit seinen ausweichenden Antworten auf die Frage, ob er das Athanasianum und andere altkirchliche Bestimmungen der traditionellen Trinitätslehre bejahe, nicht zufrieden und konfrontierte ihn mit einem seiner häretischen Manuskripte, De filio Dei.32 Der in die Enge getriebene Gribaldi konnte zwar eine dreiwöchige Bedenkzeit erwirken, aber er verließ Tübingen fluchtartig in Richtung Farges.33 Doch diese verzweifelte Maßnahme nützte ihm nichts mehr. Christoph von Württemberg suchte umgehend bei dem Rat der Stadt Bern, unter dessen Jurisdiktion Farges stand, um Gribaldis Verhaftung nach, woraufhin er am 5. September 1557 gefangen gesetzt wurde.34 Während des anschließenden Prozesses in Bern schwor Gribaldi seinen Sonderlehren ab. Um der drohenden Auslieferung nach Tübingen zu entgehen, unterschrieb er am 20. September 1557 die altkirchlichen Bekenntnisse inklusive des Athanasianums.35 Das ihm vorerst entzogene Aufenthaltsrecht auf Berner Gebiet erhielt Gribaldi allerdings auf seine flehentlichen Bitten von der Berner Obrigkeit zurück – um den Preis "ein[es] tiefe[n] Stillschweigen[s]".36
In der Schweiz hat man also das Problem des subordinatianischen Tritheismus nicht zuletzt mittels staatlicher Sanktionen unterdrückt. Wer nicht wie Gribaldi verstummte oder wie Biandrata und Alciati aus Angst vor Repressalien das Land für immer verließ,37 musste bei hartnäckiger Propagierung dieser Gedanken mit der Todesstrafe rechnen: ein Schicksal, das den letzten wichtigen italienischen Vertreter des Tritheismus, Valentino Gentile, 1566 in Bern ereilte. Indem man der "Ausgangskultur" der italienischen Heterodoxen, in welcher der subordinatianische Tritheismus als Konzeption entwickelt worden war und die ihrerseits das Ergebnis eines Transferprozesses von Italien in die Schweiz gewesen war, durch Zwangsmaßnahmen den personellen Boden entzog, tilgte man auch den diesbezüglichen Diskurs zu diesem Thema in den Gemeinden vor Ort. Ganz anders verhielt es sich damit in der "Zielkultur". In den reformatorisch gesinnten Kreisen in Litauen und Polen konnte das Konzept Wurzeln schlagen und auf dem Weg des theologischen Diskurses bis in die höchste Ebene der kirchlichen Selbstverwaltung – die Synoden – vordringen.
Die ersten Reaktionen auf den subordinatianischen Tritheismus fielen in Litauen und Polen freilich verhalten bis ablehnend aus. Auf der erwähnten Synode zu Secemin versuchte man zunächst, Petrus Gonesius zu widerlegen. Da er aber hartnäckig auf den von ihm geäußerten Gedanken beharrte, entschied die Synode am 23. Januar 1556, ihn zu Philipp Melanchthon (1497–1560) zu entsenden, damit der große Wittenberger sein Bekenntnis überprüfe und beurteile. Mit einer solchen Beurteilung sollte Gonesius zu den Verantwortlichen zurückkehren und vor ihnen Zeugnis für seine Sinnesänderung ablegen.38 Es ist bekannt, dass Gonesius – wohl auf diese Aufforderung hin – im Februar 1556 tatsächlich nach Wittenberg ging, wo ihn Melanchthon jedoch sofort abwies, als er erfuhr, über welche Ansichten der Litauer mit ihm verhandeln wollte.39
Die schroffe Zurückweisung entmutigte Gonesius keineswegs. Er setzte vielmehr seine Propaganda mündlich und offenbar auch mit Hilfe von Handschriften fort: Höchstwahrscheinlich fällt in diese Zeit die Abfassung der Urform seiner wichtigen tritheistischen Schrift De Deo, et filio eius, in der Gonesius sein in Secemin vorgelegtes Bekenntnis weiter entfaltete.40 In der Stadt Biała (Podlasien), wo er sich eine Zeit lang aufhielt, gewann er alsbald den dortigen Pfarrer Hieronymus Piekarski den Älteren (gest. nach 1585) sowie den Katecheten Johannes Falconius für seine Lehren.41 Im Herbst 1558 waren die tritheistischen Gedanken bereits dermaßen ins Zentrum der Diskussionen gerückt, dass der Superintendent des Podlasischen Kirchendistrikts, Simon Zacius (gest. ca. 1576–1577), mit einem drastischen Appell eingreifen musste. In seinem Brief an die kleinpolnische Synode zu Włodzisław (4.–15. September 1558) bezichtigte er Piekarski und Falconius der "Servetianischen und Gonesianischen Häresie",42 womit er augenscheinlich ein angemessenes disziplinarisches Vorgehen der Synode bewirken wollte. Diese nahm sich der Frage an und stellte die Beschuldigten, die nach Włodzisław angereist waren, zur Rede. Als sie sich schließlich verantworten mussten, griffen die beiden Männer zu dem probaten Mittel der Dissimulation und wandten es noch weitaus konsequenter an, als Gribaldi in Zürich und Tübingen: Bei ihrer Befragung am 14. September stritten sie die Vorwürfe rundum ab und bekannten sich unumwunden zum Apostolicum, Nicaenum und Athanasianum.43 Der Konflikt schien beigelegt zu sein. Doch in Wirklichkeit erwies sich die Zusammenkunft der Entscheidungsträger zu Włodzisław als eine der letzten Synoden der entstehenden reformierten Kirche, auf der die für die traditionelle Trinitätslehre und Christologie eintretende Partei ihre Position noch unbehelligt behaupten konnte.
Aus Włodzisław zurückgekehrt, brach Hieronymus Piekarski zu der litauischen Synode auf, die im Dezember 1558 in Brześć (Litewsk) tagte. Hier traf auch Petrus Gonesius ein. Die wenigen bruchstückhaften Nachrichten, die erhalten sind, belegen eindeutig, dass Gonesius auf der Synode Gelegenheit bekam, seinen theologischen Standpunkt darzulegen. Er wusste diese Gelegenheit in doppelter Hinsicht zu nutzen. Zum Einen trug er seine Gotteslehre vor, und zum Anderen präsentierte er der Synode mit einem Büchlein gegen die Kindertaufe44 ein Anliegen, das ihm seit seinem nicht mehr genau datierbaren Besuch bei den Mährischen Täufern genauso am Herzen lag45 wie der Kampf gegen die trinitarischen und christologischen "Irrtümer". Von Piekarski sekundiert,46 steckte Gonesius damit den thematischen Rahmen ab, innerhalb dessen sich die theologischen Diskussionen in den folgenden Jahren in dem polnisch-litauischen Gemeinwesen bewegten und der letztendlich in die um die Mitte der 1560er Jahre vollzogene Spaltung in eine täuferisch gesinnte antitrinitarische ecclesia reformata minor und eine an der Trinitätslehre und Kindertaufe festhaltende ecclesia reformata maior mündete.47
Die Maßnahmen, die die kleinpolnische Kirche im Frühjahr 1559 ergriff, zeigen, dass man der Gefahr der jüngsten Entwicklungen in der litauischen Schwesterkirche durchaus gewahr geworden war. Die am 25. April 1559 versammelte Synode zu Pińczów bestimmte, dass vor der Wahl und Einsetzung eines Pfarrers ein Examen der Kandidaten durchzuführen sei; während dieser Prüfung sollte unter anderem darauf geachtet werden, was der Kandidat von Gott, von der Einheit der Gottheit und von der Dreieinigkeit lehrte und mit welchen Argumenten er seine Auffassung gegen Andersdenkende verfechten wollte.48 Wie die letztgenannte Formulierung zu erkennen gibt, ging es den Verantwortlichen zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr darum, vereinzelte Personen, wie etwa Gonesius, auszugrenzen. Vielmehr waren sie schon darauf bedacht, das Eindringen der tritheistischen Ansichten in die eigenen Reihen zu verhindern und die eigenen Geistlichen mit entsprechenden intellektuellen Waffen gegen den zweifellos im Aufschwung begriffenen Gegner auszustatten.
Der Verfügung der Synode zu Pińczów zum Trotz schlug die Stimmung in der litauischen und polnischen Pfarrerschaft zusehends von Ablehnung und Skepsis in ein reges Interesse und in Zustimmung für das tritheistische Gedankengut um. Einen nicht unwesentlichen Anteil an diesem Umschwung scheint der aus Genf geflohene und inzwischen mit einflussreichen litauischen und polnischen Magnaten freundschaftlichen Umgang pflegende Giorgio Biandrata gehabt zu haben, woraus ersichtlich wird, dass sich der Transfer dieses Gedankenguts nicht nur über zurückkehrende Einheimische wie Gonesius, sondern auch über migrierende Italiener vollzog.
Vorerst ebenfalls seine wahren Ansichten dissimulierend – am 7. November 1558 hatte er dem polnischen Reformator Jan Łaski (1499–1560) ein im Wesentlichen rechtgläubiges Bekenntnis vorgelegt49 –, wusste Biandrata das Vertrauen nicht nur des erwähnten bedeutenden Förderers der Reformation Nikolaus Radziwiłł,50 sondern auch der meisten polnischen und litauischen Pfarrer zu erlangen. Auf der Synode zu Książ (15.–19. September 1560) wurde er zum Ältesten der kleinpolnischen Kirche und zum Koadjutor des Superintendenten Felix Cruciger bestimmt.51 Zu Beginn der 1560er Jahre gelang es Biandrata auch, dem massiven Druck erfolgreich standzuhalten, den vor allem Calvin gegen ihn aufbaute. Als der Genfer in dem seinem Kommentar zur Apostelgeschichte (1560) vorangestellten Widmungsschreiben an Radziwiłł vor Biandrata als einem gefährlichen Häretiker warnte und der litauische Fürst daraufhin im Herbst 1561 Martin Czechowic (1532–1613), einen seiner Theologen, zu Calvin entsandte, um eine Aussöhnung mit Biandrata zu bewirken,52 zeigte sich die neue lehrmäßige Tendenz der litauischen und polnischen Pfarrer: Noch als "Dreieinigkeitler" nach Genf aufgebrochen, kehrte Czechowic nach gescheiterter Versöhnungsmission als "Servetianer", das heißt Antitrinitarier im Sinne des Gonesius und Biandrata, in das Großfürstentum zurück.53
Der subordinatianische Tritheismus war von nun an als theologische Konzeption auf dem Vormarsch. Die Synode der litauischen Kirche, die Radziwiłł der Schwarze vom 4. bis 9. Juni 1563 nach Mordy einberufen ließ, beschloss, dass der Begriff "Trinität" ein von Menschen erdachter und kein biblischer Begriff sei, wenngleich er aus Rücksicht auf einige Synodale, die ihn ihrer Schwachheit wegen noch nicht aufzugeben vermochten, beizubehalten sei.54 Nur fünf Monate später nahmen die maßgeblichen Pfarrer Radziwiłłs – Hieronymus Piekarski, Martin Wędrogowski (gest. 1566), Martin Krowicki (ca. 1500–1573), Thomas und Johannes Falconius sowie ein gewisser Leonardus Cracovita – an der in dogmatischer Hinsicht konstitutiven Synode der kleinpolnischen Antitrinitarier in Krakau (7. Oktober) und Pińczów (9.–14. Oktober) teil.55 Unter der Führung Gregor Pawełs (Grzegorz Paweł z Brzezin, Gregorius Pauli, ca. 1525–1591) wurde auf dieser Synode ein tritheistisch formuliertes Glaubensbekenntnis verabschiedet,56 das in Kleinpolen die endgültige Spaltung der Kirche in ecclesia reformata minor und ecclesia reformata maior besiegelte.
Fragt man abschließend nach den Gründen für den offensichtlich erfolgreichen Transfer des subordinatianischen Tritheismus in das Großfürstentum Litauen und Königreich Polen, lassen sich mehrere eng miteinander verwobene Ursachen anführen.
In erster Linie erwiesen sich die politischen Rahmenbedingungen in Litauen und Polen, innerhalb deren die Vermittler des tritheistischen Gedankenguts agierten, bei weitem günstiger als in den Ursprungsländern. Anders als in der Schweiz oder im Reich griffen die reformatorisch gesinnten polnisch-litauischen Obrigkeiten gegen die Träger des antitrinitarischen Gedankenguts nicht durch. So konnte beispielsweise Petrus Gonesius seine von Gribaldi übernommenen Gedanken nahezu ungehindert verbreiten – trotz der Proskription der Seceminer Synode von 1556 und trotz des im gleichen Jahr von dem polnischen König und litauischen Großfürsten Sigismund II. August (1520–1572) gegen ihn erlassenen Edikts.57 Mit der Zeit gingen einzelne Magnaten, wie etwa Nikolaus Radziwiłł der Schwarze, aufgrund ihrer engen Bekanntschaft mit den Antitrinitariern sogar dazu über, diesen Zweig der Reformation zu unterstützen.
Nicht minder wichtig für den gelungenen Transfer des subordinatianischen Tritheismus war seine theologische Eigentümlichkeit. In inhaltlicher Hinsicht musste sich diese Konzeption, die das für die lateinische Kirche charakteristische filioque aufgab, vor allem im Großfürstentum Litauen als anschlussfähig erweisen, da hier die an dem reformatorischen Schriftprinzip festhaltenden Pfarrer nicht nur mit der römischen, sondern auch mit der griechisch-orthodoxen Kirche konfrontiert waren. Die Überwindung der jahrhundertealten, nicht zuletzt auf die unterschiedliche Haltung zum filioque zurückzuführende Spaltung in Ost- und Westchristentum schien nun bei dieser Konzeption möglich zu werden, und zwar auf dem Weg der konsequenten Anwendung des Schriftprinzips sowie des Rückzugs auf den Standpunkt des vordogmatischen Christentums.58 Dass dieser Traum von einem reinen, ursprünglichen – und deswegen auch einheitlichen – Christentum nur ein Traum blieb, liegt auf der Hand: In der Folgezeit konnte sich die antitrinitarische ecclesia reformata minor lange nicht einmal intern über die ausbrechenden weiteren ethischen wie auch christologischen Fragen einig werden.59 Doch zu Beginn der 1560er Jahre träumte man diesen Traum ganz intensiv und sah sich nicht zuletzt aufgrund der Annahme des antitrinitarischen Gedankenguts durch einige Griechisch-Orthodoxe, wie etwa den ehemaligen Mönch Kożma, in seiner Richtigkeit bestätigt.60
Grundzüge und Transfer der unitarischen Komponente des Sozinianismus
Es ist mehrfach angedeutet worden, dass der subordinatianische Tritheismus als theologische Konzeption nicht die endgültige theologische Gestalt der ecclesia reformata minor bildete. Kaum hatte sie sich als Kirche konstituiert, brachen schon in den späten 1560er Jahren neue Kontroversen aus. Abgesehen von ethischen Grundsatzfragen,61 auf die im Folgenden nicht näher eingegangen wird, stritt man jetzt über die immer deutlicher hervortretende unitarische Gotteslehre und Christologie, wobei sich die überwiegende Mehrzahl der antitrinitarischen Theologen von der Vorstellung der Präexistenz des Herrn als logos allmählich entfernte, während die Tritheisten noch an ihr festhielten. Eine maßgebliche Rolle in den christologischen Debatten spielten zwei kleine Schriften zweier ursprünglich aus Siena stammenden Gelehrten: die Brevis explicatio Lelio Sozzinis und die in diesem Kontext besonders wichtige, auch ins Polnische übersetzte Explicatio seines Neffen, Fausto Sozzini. Ähnlich wie im Fall des subordinatianischen Tritheismus, lag auch hier bei den heterodoxen Italienern der Ausgangspunkt des entsprechenden Gedankenguts.
Die Brevis explicatio Lelio Sozzinis war wohl seine letzte Schrift,62 die er nicht allzu lange vor seinem frühen Tod im Exil in Zürich verfasst hatte. Wie alle anderen Werke hinterließ er auch diesen kleinen Kommentar zum Johannesprolog als Handschrift, von der nur wenige Eingeweihte wussten. Einer von ihnen, der in Zürich ansässige italienische Kaufmann Mario Besozzi, benachrichtigte unverzüglich den in Lyon weilenden Fausto Sozzini über den am 4. Mai 1562 erfolgten Tod seines Onkels, woraufhin jener im Frühsommer in die Schweizer Metropole kam, um dessen Manuskripte in Empfang zu nehmen.63 Die offenbar unmittelbar danach vorgenommene Durchsicht des Materials und Lektüre vor allem von Lelios Brevis explicatio hinterließen bei Fausto einen derart großen Eindruck, dass er die Zeit seines ersten Schweizer Aufenthalts bis Sommer 156364 dazu nutzte, die Problematik des zentralen Textes der trinitarischen Tradition (Johannes 1,1–15) tiefer zu durchdringen und in einem eigenen Kommentar zu behandeln. Die daraus resultierende Explicatio entstand auf jeden Fall unter dem unmittelbaren Einfluss der Gedanken seines Onkels,65 und sie lag allerspätestens im Juni 1563 in ihrer handschriftlichen Urform vor, als sich Fausto nach Italien begab,66 um erst 1574 wieder in die Schweiz zurückzukehren.
Sozzini befolgte in der Explicatio einen exegetischen Ansatz, der jegliche nachbiblischen Deutungsmuster als hermeneutische Leitlinie ausschloss. In methodischer Hinsicht bedeutete dies eine im Wesentlichen philologische Vorgehensweise, die auf die Erfassung des Textsinnes ausschließlich mittels der in der Heiligen Schrift explizit vorhandenen Aussagen hinauslief.67 Inhaltlich wurde dabei vor allem die berühmte johanneische Bezeichnung Christi als logos (Johannes 1,1) einer Neudeutung unterzogen. Anders als die christliche Tradition vor ihm, verstand Sozzini darunter kein substantiell präexistentes, vor Ewigkeiten in bzw. von Gott gezeugtes Wort. Nach seiner Auffassung wurde Christus vielmehr aufgrund seines Verkündigungsamts als "Wort" bezeichnet, und zwar der Mensch Jesus Christus, der das Evangelium des Vaters verkündigt hat. Sprachlich war in seinen Augen eine derartige Verwendung des Begriffs durchaus möglich, in der er eine mit der Metapher verbundene Metonymie erblickte.68 Auch die Aussage, dass das Wort Gott sei, wusste Sozzini mittels sprachlicher Differenzierung dem Gesamtgefüge seiner Neudeutung anzupassen: Der Evangelist verwende hier den Begriff "Gott" nicht als ein nomen proprium, sondern als ein nomen appellativum, womit nicht die Substanz seines Wesens, sondern die Autorität und Macht ausgedrückt werde; während in der Bibel jenes Nennwort κατʹ εξοχήν nur Gott, dem Schöpfer und Ursprung aller Dinge, zukomme, werde dieses in Psalm 82,6; 97,7, Exodus 4,16; 7,1; 21,6 u.a. auch von herausragenden Geschöpfen ausgesagt, wie etwa Engeln, Fürsten, Richtern; also werde der Mensch Jesus im letztgenannten Sinn als "Gott" bezeichnet.69
Dieser mit viel philologischem Feingefühl begründete unitarische Standpunkt stellte in inhaltlicher wie auch in methodischer Hinsicht die letzte Stufe in der Entwicklung des antitrinitarischen Anliegens dar. Hatten Gribaldi und andere Verfechter des subordinatianischen Tritheismus noch an der Präexistenz Christi und an den vornizänischen Kirchenvätern als hermeneutischen Autoritäten festgehalten, suspendierte Fausto Sozzini mit seiner besonders konsequenten Handhabung des Schriftprinzips auch jene beiden Punkte. Die meisten antitrinitarisch Gesinnten zogen diese Konsequenzen ebenfalls mit, sobald sie ihrer gewahr wurden.
Es ist bekannt, dass Fausto Sozzini bei seiner Rückkehr in die Heimat den in der Schweiz ansässigen italienischen Gesinnungsgenossen – namentlich spricht er von Francesco Betti (1521–1590)70 – seine Bücher und Manuskripte, unter denen sich wohl auch der Nachlass Lelios befand, zur Aufbewahrung überlassen hatte.71 Das bedeutet allerdings keineswegs, dass sie den Interessierten verschlossen blieben. Die Explicatio Faustos und die Brevis explicatio Lelios zirkulierten vielmehr in handschriftlicher Form weiter, und die über alle europäischen Länder verstreuten heterodoxen Italiener trugen sie alsbald über die Grenzen der Schweiz hinaus. So gelangten sie nach Siebenbürgen, wo der für seine antitrinitarische Vermittlungstätigkeit inzwischen bestens bekannte Giorgio Biandrata zusammen mit einem der Väter des ungarischen Unitarismus, Ferencz Dávid (Franciscus Davidis, 1510–1579), beide Schriften im Druck veröffentlichen ließ: Die Brevis explicatio erschien 1568 in Alba Iulia (Weißenburg/Karlsburg, Gyulafehérvár) als elftes Kapitel des zweiten Buchs von De falsa et vera unius Dei patris, filii et spiritus sancti cognitione,72 und die Explicatio gab man im gleichen Jahr am gleichen Ort als Separatdruck heraus, ohne den Namen des Autors zu nennen.73
Die Schrift Fausto Sozzinis stieß bei der polnisch-litauischen ecclesia reformata minor auf besonderes Interesse. Offenbar über Biandrata gelangte die Explicatio – es lässt sich freilich nicht mehr eindeutig bestimmen, ob noch in handschriftlicher oder bereits in gedruckter Form – bald in das polnisch-litauische Gemeinwesen und traf bei den dortigen Antitrinitariern zu einem für ihre Rezeption günstigen Zeitpunkt ein. Die von Biandrata in seinem Brief an Grzegorz Paweł vom 21. September 1565 in der ecclesia reformata minor angeregten christologischen Debatten74 waren inzwischen so weit gediehen, dass man bereits im Juni 1567 über die Problematik der Präexistenz Christi offen diskutierte.75 Die Frage stand ferner ganz oben auf der Tagesordnung der Synode der litauischen Antitrinitarier, die vom 20.–26. Januar 1568 in Iwie tagte,76 und auch ihre kleinpolnischen Gesinnungsgenossen trugen einige Monate später auf der Oktobersynode in Pełsznica eine analoge Grundsatzdebatte aus.77 Im Zusammenhang mit diesen Debatten erstellte Paweł eine polnische Übersetzung der Explicatio, die um das Jahr 1568 unter dem Titel Wykład na Pirwszą Kapitułę Jana Świętego Ewangieliey, wedle pisma Świętego Nowego Testamentu78 mit dem Ziel herausgegeben wurde, die Bestreiter der Präexistenz Christi mit entsprechenden Argumenten zu versorgen.79
Wie man schon dem Titel der Übersetzung entnehmen kann, erfasste Paweł den hermeneutischen Grundsatz Sozzinis – Auslegung der Heiligen Schrift ausschließlich mittels ihrer selbst – ziemlich präzise. Auch wenn er im Verlauf seiner Übertragung des Textes vielfach frei vorgegangen ist und sich einige Ergänzungen bzw. polemische Zuspitzungen erlaubt hat,80 muss man feststellen, dass manche dieser Ergänzungen durchaus im Sinne des Sienesen ausgefallen sind. So hat Paweł beispielsweise Sozzinis metaphorisch-metonymischer Deutung der Bezeichnung Christi als "Wort" eine Erklärung darüber beigefügt, was Metapher und Metonymie bedeuteten und in welcher Funktion sie von Johannes gebraucht würden.81 Damit trug Paweł einer prinzipiellen Entscheidung Sozzinis Rechnung, der die johanneischen Aussagen nicht im eigentlichen Sinne auf das Wesen, sondern im übertragenen Sinne auf das Amt Christi bezogen wissen wollte, und vermittelte diese dem einheimischen Publikum, indem er es auf die sprachtheoretischen Grundvoraussetzungen einer solchen theologischen Entscheidung aufmerksam machte.
Die polnische Übersetzung der Explicatio Sozzinis durch Paweł, die die unitarische Christologie auch den weniger Gebildeten zugänglich machte, ebnete in der entstehenden ecclesia reformata minor den Weg zur charakteristisch sozinianischen Auffassung, dass Christus lediglich ein Mensch sei. Ungeachtet des erbitterten Widerstands, den die antitrinitarisch gesinnten Verfechter der Präexistenz Christi, wie etwa Petrus Gonesius, Stanisław Farnowski (gest. 1614) u.a. noch jahrelang gegen die von ihnen polemisch als "ebionitisch" verunglimpfte unitarische Christologie leisteten,82 vermochte sich diese in der Folgezeit sowohl in der kleinpolnischen als auch in der litauischen ecclesia reformata minor durchzusetzen. In Kleipolen beantwortete der 1574 in Krakau von Georg Schomann (gest. 1591) herausgebrachte erste Katechismus83 die Frage, was denn Jesus Christus, der Sohn Gottes, sei, eindeutig im unitarischen Sinne: Er sei ein Mensch, unser Mittler vor Gott, den Vätern durch die Propheten verheißen und aus dem Samen Davids geboren; Gott der Vater habe ihn zum Herrn und Christus erhoben.84 Darüber hinaus hinterließ die Auslegung Sozzinis in mehreren Werken des bedeutenden Gelehrten und Bibelübersetzers Szymon Budny (ca. 1530–1593)85 unübersehbare Spuren, die der Schärfung des unitarischen Profils der ecclesia reformata minor insbesondere im Großfürstentum Litauen dienten.
Wann Budny mit der Explicatio in Berührung gekommen war, kann man nicht mehr mit Sicherheit ermitteln. Es ist jedoch denkbar, dass er die Auslegung des Johannesprologs durch Fausto Sozzini ungefähr gleichzeitig mit Grzegorz Paweł zu Gesicht bekommen bzw. allerspätestens in dessen polnischer Übersetzung kennengelernt hat. Seit dem Ausbruch der christologischen Debatten im Jahr 1567 zählte jedenfalls Budny zu den konsequenten Verfechtern der unitarischen Christologie.86 Die Auffassung von Christus als purem Menschen (homo merus) propagierte er fast in allen seinen in den 1570er Jahren erschienenen Schriften.87 Vor allem das von ihm 1575 unter dem Gesamttitel Ad argumenta Simleri88 herausgebrachte Konvolut mit Polemiken gegen die traditionelle Zwei-Naturen-Lehre sowie sein 1576 im Druck erschienenes dogmatisches Hauptwerk, O przedniejszych wiary chrystyjańskiej artykulech,89 belegen eine strukturelle Aneignung zentraler Anliegen der Explicatio.
In den von ihm verfassten Teilen von Ad argumenta Simleri machte Budny deutlich, dass man die im Johannesprolog verwendete Bezeichnung Christi als "Wort" nicht auf dessen Wesen, sondern auf sein Verkündigungsamt beziehen müsse,90 womit er sich eindeutig für die metaphorisch-metonymische Auslegung des Begriffs aussprach. Über die aus einem solchen Verständnis unweigerlich resultierende uneigentliche Bedeutung auch der Bezeichnung Christi als "Gott" reflektierte wiederum Budny in dem fast zeitgleich entstandenen Werk O przedniejszych wiary chrystyjańskiej artykulech, in dem er in klarer Anlehnung an Fausto Sozzini auf die uneigentliche Bezeichnung der Engel, Könige, Richter und sonstiger herausragender Menschen als "Götter" in Exodus 21,6, Psalm 82,6, Johannes 10,33f. etc. verwies.91 Im Übrigen zeichnete sich seine Auslegung des Johannesprologs, wie er sie in O przedniejszych wiary chrystyjańskiej artykulech vorgenommen hatte,92 durch eine getreue Befolgung des von Lelio und Fausto Sozzini eingeschlagenen Deutungswegs aus,93 wobei sich Budny offenbar vielfach nach der Explicatio Faustos richtete: Auch wenn die meisten inhaltlichen Aussagen, die er traf, bereits in der Brevis explicatio Lelio Sozzinis angelegt waren – die polnisch-litauischen Antitrinitarier kannten diese Schrift möglicherweise seit 1566/156794 –, zeigen vor allem seine soeben erwähnten, gut abgewogenen Begriffsbestimmungen von "Wort" und "Gott", dass Budny in jenen Belangen auf den theoretisch weit reiferen Ausführungen aus der Explicatio Fausto Sozzinis aufbaute.95
Wie man an den geschilderten Sachverhalten sehen kann, setzte die Rezeption der frühen christologischen und exegetischen Einsichten Fausto Sozzinis eine ganze Weile vor seiner Ankunft im polnisch-litauischen Gemeinwesen 1579 ein. In diesem Fall wurde der Transfer seiner Ideen maßgeblich von den heterodoxen Netzwerken eingeleitet und getragen, die dafür sorgten, dass sich das Gedankengut Sozzinis quasi verselbständigte und eine Wirkung zu entfalten begann, ohne dass er sich persönlich darum bemüht hätte. Der Autor selbst erfuhr von dieser Entwicklung erst später – in allen Details wohl erst zu Beginn der 1580er Jahre96 – und deutete sie als einen besonderen Erweis der Güte Gottes, der auf diese Art und Weise den Wahrheitsgehalt des in der Explicatio Erkannten bestätigte: Während er, Sozzini, nach der Erstellung des Kommentars zum Johannesprolog (bedingt durch den Aufenthalt in Italien von 1563 bis 1574) schwieg, habe der Höchste in seiner unbegreiflichen Gnade in zahlreichen Disputationen die im Kommentar niedergelegte Lehre die Billigung ganzer Kirchen erfahren lassen; anschließend seien auch Bücher veröffentlicht worden, die diese wahren Einsichten ausführlich erklärten und gegen alle Angriffe der Gegner verteidigten.97
Zusammenfassende Thesen
1. Den Ausgangspunkt für den subordinatianischen Tritheismus bildeten die italienischen heterodoxen Denker, wobei es der Jurist Matteo Gribaldi war, der als erster die Grundlinien dieser antitrinitarischen Konzeption durchdachte, zu Papier brachte und noch in Padua dem litauischen Studenten Petrus Gonesius vermittelte. Der in seinen Grundzügen 1553–1554 feststehende subordinatianische Tritheismus wurde alsbald in der italienischen Gemeinde in Genf wie auch im Großfürstentum Litauen und im Königreich Polen (Januarsynode zu Secemin, 1556) diskutiert. Dass es zu einer derart schnellen Verbreitung und Kenntnisnahme dieser Lehre in geographisch weit voneinander liegenden Gegenden kommen konnte, lag an der hohen Mobilität und Vernetzung der Antitrinitarier im Besonderen wie auch anderer evangelischer Gelehrter im Allgemeinen: Theodor Beza in Genf wusste beispielsweise noch vor der Anhörung des Gonesius auf der Seceminer Synode in Polen, dass der Litauer trinitätstheologische und christologische Grundsätze vertrat, die im Wesentlichen auf dem Bekenntnis Gribaldis De Deo et Dei filio fußten.
2. Auf die schnelle Verbreitung des tritheistischen Gedankenguts reagierten insbesondere die Genfer Verantwortlichen Calvin und Beza rasch und entschlossen. Von den trinitarischen Auseinandersetzungen in der italienischen Gemeinde in Genf unmittelbar betroffen, setzten sie 1556–1557 alles in Bewegung, um den inzwischen nach Tübingen als Rechtsprofessor berufenen Gribaldi und seine Gesinnungsgenossen mittels obrigkeitlicher Sanktionen zu isolieren und zum Schweigen zu bringen. Ihre diesbezüglichen Bemühungen waren angesichts der engen Zusammenarbeit mit den ihnen theologisch folgenden politischen Entscheidungsträgern erfolgreich. Ganz anders verhielt es sich damit in jenen Ländern, in denen die Obrigkeiten die Antitrinitarier gewähren ließen. In den reformatorisch gesinnten Kreisen in Litauen und Polen konnte der subordinatianische Tritheismus in den späten 1550er Jahren Wurzel schlagen und zur Ausbildung einer separaten antitrinitarischen Kirche führen. Spätestens auf der nach Mordy einberufenen Junisynode 1563 lehnte man die traditionelle Trinitätslehre als unbiblisch ab. Charakteristisch für die Vorgehensweise der Träger des tritheistischen Gedankenguts war jedenfalls die Dissimulation ihrer wahren Ansichten: In der Schweiz und im Reich, ursprünglich auch im Großfürstentum Litauen und im Königreich Polen neigten viele der Antitrinitarier aus Furcht vor Verfolgung dazu, ihre tritheistischen Anschauungen zu verschleiern, sobald sie – ob von weltlichen oder von kirchlichen Gremien – zu eindeutigen trinitarischen und christologischen Stellungnahmen aufgefordert worden waren.
3. Die ecclesia reformata minor blieb nicht bei der Lehre des subordinatianischen Tritheismus. In den späten 1560er Jahren setzten Diskussionen über die unitarische Lehre von der Person Christi ein, wobei sich die überwiegende Mehrzahl der antitrinitarischen Theologen von der Präexistenz des Herrn als logos allmählich entfernten, an der die Tritheisten noch festhielten. Eine maßgebliche Rolle in den christologischen Debatten spielten zwei kleine Schriften: die Brevis explicatio Lelio Sozzinis und die Explicatio (1563) seines Neffen, Fausto Sozzini. Ähnlich wie im Fall des subordinatianischen Tritheismus ging diese Lehre von den heterodoxen Italienern aus. Ihre Mobilität sowie gute Vernetzung mit den Heterodoxen anderer europäischer Länder stellte die conditio sine qua non für die Verbreitung der unitarischen Komponente des Sozinianismus dar, die noch vor der Ankunft Fausto Sozzinis im polnisch-litauischen Gemeinwesen (1579) erfolgreich abgeschlossen war: Die Grundanliegen der ca. 1568 im siebenbürgischen Alba Iulia in lateinischer Fassung und um das gleiche Jahr auch in polnischer Übersetzung Pawełs veröffentlichten Explicatio hinterließen in den 1570er Jahren sowohl in dem ersten unitarischen Katechismus des Kleinpolen Georg Schomann als auch in grundlegenden Werken des Litauers Szymon Budny unübersehbare Spuren.
4. Die polnische Übersetzung der Explicatio Fausto Sozzinis durch Paweł, Wykład na Pirwszą Kapitułę Jana Świętego Ewangieliey, wedle pisma Świętego Nowego Testamentu, spielte insofern eine wichtige Rolle, als sie die unitarische Komponente des Sozinianismus auch den breiteren antitrinitarischen Kreisen zugänglich machte. In inhaltlicher Hinsicht stellte der offenkundig ohne Zutun des Fausto Sozzini vonstatten gegangene Transfer eine letzte Konsequenz dar, die man aus der Anwendung des Schriftprinzips zog. Mit seinem Kommentar des Johannesprologs hatte Sozzini eine Auslegung der Heiligen Schrift allein aus ihr selbst durchgeführt, die jegliche hermeneutische Autorität selbst der frühesten Kirchenväter ausschloss. Damit hatte er den exegetischen Weg zur unitarischen Lehre von der Person und dem Werk Christi gewiesen, der in hermeneutischer Hinsicht den meisten polnisch-litauischen Antitrinitariern einleuchtete und den sie dann auch mehrheitlich akzeptierten.