Einleitung
Die negativen Wahrnehmungsmuster der Türken werden im Schatten der allgemeinen "Türkenfurcht" gesteigert, die nach der Eroberung Konstantinopels 1453 durch die türkischen Osmanen unter der Führung von Sultan Mehmed II. (1432–1481)[] entsteht.1 Dieses Ereignis, für die Christenheit nur mit dem Untergang des alten Roms vergleichbar,2 wirkte als Fanal für einen türkischen Vormarsch, der in der frühen Neuzeit auch das lateinische Europa bedrohte und führte zum Höhepunkt des westlichen "Contra Turcos"-Schrifttums oder "Turcica" (Flugblätter,3 Kosmographien, Chroniken, Reiseberichte, Traktate aller Art über die Türken und den Türkenkrieg etc.). In diesem Beitrag geht es um die westlichen Diskursmodelle angesichts der "Türkengefahr" (der Begriff kam Ende des 19. Jahrhunderts auf) zwischen der Eroberung Konstantinopels 1453 durch Mehmed II. und dem Ägyptenfeldzug Napoleons I. (1769–1821)[] 1798–1801.
Papst Pius II.
Enea Silvio Piccolomini (1405–1464)[] brachte das damalige westliche Empfinden nach der Eroberung Konstantinopels auf den Punkt:
In der Vergangenheit wurden wir in Asien und Afrika, also in fremden Ländern, geschlagen. Jetzt aber trifft man uns in Europa, unserer Heimat, unserem Zuhause. Man wird einwenden, dass die Türken früher schon von Asien nach Griechenland eingedrungen waren, die Mongolen sich in Europa festsetzen und die Araber einen Teil Spaniens besetzten, nachdem sie die Meerenge von Gibraltar überwunden hatten. Aber noch nie haben wir eine Stadt oder Festung wie Konstantinopel verloren.4
Die Päpste, angefangen mit Nikolaus V. (1397–1455), reagierten darauf mit Kreuzzugsbullen, mit der Betrachtung Europas als christliches, zivilisatorisches Projekt und mit Klagen über die Zwietracht in Europa angesichts des Vormarsches türkischer, osmanischer Barbarei.
Paradigmatisch begegnet uns dieses Denken der Verstärkung europäisch-christlicher Identität in Abwehr der türkisch-islamischen Bedrohung in den Schriften Piccolominis, der zunächst kaiserlicher Sekretär und Legat Friedrichs III. (1415–1493) war und schließlich Papst Pius II. (1405–1464) wurde.5 Bereits in seiner Rede vor dem Basler Konzil im November 1436 hatte er den Türkenkrieg als Aufgabe der gesamten Christianitas verteidigt. In seiner Rede Moyses vir Dei vom 25. April 1452 vertritt er erneut vor Papst Nikolaus V. und Kaiser Friedrich III. die Legitimität und Zweckmäßigkeit eines Kreuzzugs gegen die Türken. In seiner Reaktion auf den Fall Konstantinopels vor und nach der Papstwahl ist eine Steigerung zu beobachten: darin ist mit Nachdruck vom Kreuzzug die Rede; von den Gräueltaten der barbarischen Türken, die nicht von den Trojanern abstammen, wie manche meinen, sondern von den "Skythen", d.h. von denjenigen, die als Inbegriff des Barbarentums in der griechisch-römischen Antike galten; von Europa als Heimat der Christen, die ihre Zwietracht überwinden und sich gegenüber der gemeinsamen Bedrohung durch die Türken zur Wehr setzen sollten; von der Perfidie und Grobschlächterei des Sultans Mehmed II., welche die seines verruchten Namensvetters und Sektengründers Mohammed fortführe usw.
Aber 1461 überrascht Pius II. die Zeitgenossen mit seiner Epistola ad Mahometem, die von der Vision einer "christlich-osmanischen" Konvergenz geprägt und um die Inklusion der Türken bemüht ist. Pius II. bedeutet Mehmed II., dass der Weg, sein Reich unter den Christen auszubreiten und seinen Namen zu verherrlichen, nicht der des Goldes, der Waffen, des Heeres oder der Armada ist, sondern die Annahme des Christentums. Der Lohn für die Taufe wäre eine päpstlich legitimierte "translatio imperii": "Erit tuum regnum super omnia, quae sunt in orbe, et nomen tuum nulla aetas silebit."6 Diese "sehr enigmatische"7 Epistola gilt als authentischer Text Papst Pius II., stellt aber die Forschung vor viele Rätsel: war der Brief ernst gemeint und intendierte wirklich Mehmed II. als Adressaten, oder handelt es sich eher um ein Beispiel theologisch-rhetorischer Literatur mit dem Ziel, die christlichen Fürsten durch Provokation wachzurütteln? Mit Johannes Helmrath (* 1953) ist festzuhalten: "daß der Text tatsächlich an den Sultanshof abgeschickt wurde, muß wohl verneint werden."8
Schließlich dominiert bei Pius II. das Exklusionsdenken, wie sein Tod am 15. August 1464 in Ancona als Anführer eines Kreuzzugs gegen die Osmanen zeigt, bei dem die christlichen Fürsten ihn im Stich ließen: auch dies ein letzter, verzweifelter Akt, um die Christenheit wachzurütteln. Aber ebenso gilt, dass die Epistola, datiert zwischen dem Ende des Kongresses von Mantua (Januar 1460) und der neuen Idee des persönlichen Kreuzzugs seit März 1462, "einen deutlichen Taktikwechsel, ein Intermezzo unkonventionellen Nachdenkens" repräsentiert,9 einen irenischen Ansatz, der Pius II. in die Nähe anderer Humanisten und Theologen seiner Zeit wie Nikolaus von Kues (1402–1464) und Johannes von Segovia (1393–1458) rückt. Aufgrund seines Exklusionsdenkens ist Pius II. "the greatest crusader pope of the fifteenth century" genannt worden;10 mit seinem irenischen Ansatz in der Epistola bereitet er den Boden für weitere Inklusionen in der Frühen Neuzeit.
Die Humanisten
In den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts kann man folgende Entwicklung beobachten: während die Christenheit durch reformatorische Bewegungen und zahlreiche Kriege in wechselnden Allianzen innerlich zerrissen ist, erobern die Türken eine Stadt nach der anderen und stehen gar vor Wien. Dieser historische Kontext fordert Humanistenfürsten wie Juan Luis Vives (1492–1540)[] und Erasmus von Rotterdam (ca. 1466–1536)[] heraus, sich wie moderne "Intellektuelle" in die Konflikte ihrer Zeit einzumischen.
Vives11 verfasst zwischen 1522 und 1526 kleine, kontextuelle Schriften über den Zustand der Christenheit, in denen er den Krieg geißelt und zum Frieden (Eintracht) ermahnt, damit man die Türken besiegen und aus Europa zurückdrängen könne. Diese Schriften sind grundsätzlich vom Exklusionsschema geprägt, doch werden die Türken darin auch als gewiss nicht so grausam wie die Christen selbst untereinander hingestellt.
Besonders aufschlussreich ist das Werk De Europae dissidis, et bello turcico. Dialogus (Brügge, im Oktober 1526). Dieser Dialog, der in der Unterwelt stattfindet, wurde geschrieben unter dem Eindruck des türkischen Sieges über die Ungarn bei der Schlacht von Mohács. Er wird mit der Frage eröffnet, was denn hier oben geschehe, dass so viele Seelen in die Hölle fallen, wie Hagelkörner nach einem sehr starken Gewitter. Es folgt eine Klage über die allgemeine Zwietracht und den Hass, die in der Christenheit vorherrschen:
Der Italiener verachtet und hasst alle Transalpinen als Barbaren, der Franzose spuckt, wenn er das Wort Engländer hört; diese mögen die Schotten und die Franzosen nicht sehr; zwischen den Franzosen und den Spaniern haben in unserer Zeit Kriege mit großen Blutbädern stattgefunden, die in ihren Herzen tiefe Wurzeln der Feindschaft geschlagen haben ... In den philosophischen Schulen ... gibt es unter denjenigen, die sich dem Studium des Lateinischen und des Griechischen, der Dialektik und der Philosophia widmen, Rivalitäten, und gewiss todernste ... Dann kommen die theologischen Schulen: einige sind Anhänger des Thomas, andere des Duns Scotus, wiederum andere des Ockham ... Auch unter den Lutheranern herrscht weder Liebe noch Eintracht, obwohl sie Glaube, Evangelium und Nächstenliebe ständig im Mund führen. Und was schließlich diejenigen betrifft, die äußerste Nächstenliebe gelobt haben und daher Brüder genannt werden: welche Streitigkeiten gibt es unter ihnen und wie blutig sie manchmal sind! Die Mönche gegen die Bettelmönche, die Minderbrüder gegen die Predigerbrüder, die konventualen Minderbrüder gegen die Observanten: welche Angriffe und Beschimpfungen, welche Drohungen und Verfolgungen!12
Mit beißender Ironie werden die vielen Auseinandersetzungen beschrieben, die es in Europa gab.
Auf die Frage "Was taten unterdessen die Türken? Vielleicht Schlafen?"13 folgt eine Beschreibung der unaufhaltsamen türkischen Expansion seit der Eroberung Konstantinopels (Rhodos, Belgrad, Mohács) und eine Klage über die von der zerrissenen Christenheit verpassten Chancen: "Ach, wie viel Land und Meer hätte man mit dem in den Brüderkriegen vergossenen Blut erobern können! Man hätte nicht nur die Türken vernichtend schlagen, sondern auch das ganze Land und Meer zwischen dem Osten und dem Westen erobern können."14
Besonders kritisch beurteilt Vives den unfrommen Nichtangriffspakt mancher christlicher Könige (ohne ihn beim Namen zu nennen, denkt er natürlich an Franz I.) mit den Türken:
Wer hat den Türken im Namen der Christen versprochen, dass nach ihrem Einfall in Ungarn sich nicht alle Christen gegen sie verbünden, zu den Waffen greifen und eilen würden, um sie zu zerstören, wie man einen Brandherd löscht? ... Die enorme und unversöhnliche Zwietracht unter den Christen genügt den Türken als Garantie, dass alles ruhig bleiben wird ... Nichts scheint gut genug beeidet, sanktioniert, abgesichert und vertraglich vereinbart worden zu sein; es gibt keinen gültigen Frieden und keinen sicheren Friedensvertrag; was erreicht war, wird wieder zerstört; was fest vereinbart wurde, wird wieder außer Kraft gesetzt.15
Denjenigen, die in dieser Situation dem Leben unter der Herrschaft eines anderen christlichen Königs ein Leben unter türkischer Herrschaft vorzuziehen scheinen, hält Vives entgegen, das sei ein überaus großer Unsinn:
Mit den Christen wird man immer durch Gesandte, durch das Recht, durch Beratungen, durch gemeinsame Freunde, durch Gesuche und Vermittler verhandeln können; von den Türken wird man hingegen niemals etwas Gutes und Rechtes erreichen. Mit ihnen haben sie [die Christen, die sich nach ihrer Herrschaft sehnen] nichts Gemeinsames, weder in den Bräuchen, noch bezüglich dessen, was das Volk betrifft, noch hinsichtlich Gottes. Werden etwa die Völker [Europas] nicht unter einem christlichen Fürsten besser leben können als unter den Türken ... Wenn nun die Türken siegen: Welchen Trost werden sie noch haben? Welche Hoffnung werden sie noch hegen? Dieses Szenario betrachten sie nichtstuend und sorglos; und fern vom gemeinsamen Feind bekämpfen sie sich untereinander.16
Vor der Belagerung Wiens 1529 , die eine neue Stufe in der Bedrohung Europas durch die Türken darstellt, waren in der Tat nicht wenige Christen (vor allem die Antitrinitarier) geneigt, angesichts der grausamen Kriege unter den Christen und der päpstlichen "Tyrannei" die türkische Herrschaft für ein kleineres Übel zu halten (auch viele Ostchristen zogen nach der Eroberung Konstantinopels und des Balkans den Türkischen Turban der päpstlichen Tiara vor). Vives ist hier anderer Meinung; um sie zu untermauern, hat er auch im Jahr 1526 in einer kleinen Schrift mit dem Titel De conditione vitae Christianorum sub Turca das elendige Leben beschrieben, das auf Christen unter Türkenherrschaft wartet: ein Leben ohne Macht, Ämter und Würden (non opes, non honores, non dignitates), ein Leben als Hunde, ohne Freiheit, ohne Pflege der Künste und der christlichen Frömmigkeit.17
Die Christen sollten die Gefahr der Stunde erkennen, die Zwietracht unter sich beilegen und ihre Kriegslist gegen die Türken richten, ja den Krieg nach Asien tragen, denn ein vereintes Europa habe bisher Asien immer geschlagen:
Niemals ist Europa in Asien vorgedrungen, ohne es besiegt und unterworfen zu haben; niemals ist Asien in Europa einmarschiert, ohne von diesem vernichtend zurück geschlagen worden zu sein ... Die Zwietracht in Europa, zunächst unter den Fürsten Konstantinopels, hat Asien den Türken ausgeliefert ... es folgten dann die Uneinigkeiten und die Kriege unter den Königen Europas ... wenn die Winde nun ein wenig in die Gegenrichtung blasen würden und ihr euren Hass und euren Zorn gegen sie richtetet, so würdet ihr alsbald den wahren Geist der Asiaten kennen lernen ... sie würden nämlich dann zeigen, dass sie nicht ob ihrer Kraft stark und tapfer waren, sondern ob eurer Schuld.18
Mit dem Krieg gegen die Türken würde man große Schätze und einen erhabenen Ruhm gewinnen, und die Christen könnten die Türken – als "Feinde ihrer Religion und des Christen-Namens" – sogar "wie wilde Tiere auf der Jagd verfolgen".19
Der Krieg gegen die Türken, so Vives' Resumée, sei die ruhmreichste Aufgabe dieser Zeit:
... sowohl um die Völker Europas von Angst und Sklaverei gegenüber den Türken zu befreien, als auch um die christliche Welt zu erweitern und vielen das Christentum zu predigen. Ich weiß nicht, ob Christus dasselbe denkt, auf alle Fälle wäre dies ein kleineres Übel als der Wahnsinn der Brüderkriege.20
Vives ist sich 1526 also nicht ganz sicher, ob der "gerechte" Krieg gegen die Türken auch im Sinne der humanistischen "Philosophia Christi" wäre. Gerade dieser Gedanke steht im Zentrum seines Werkes De concordia et discordia in humano genere (Über Eintracht und Zwietracht im Menschengeschlecht), das er im Juli 1529, am Vorabend der türkischen Belagerung Wiens, Karl V. (1500–1558) widmet. In den ersten drei Büchern vertieft Vives philosophisch und theologisch das oben vorgestellte Gedankengut: Eintracht in der Christenheit, d.h. Europa, um die Türken, d.h. Asien, vernichtend schlagen zu können. Wenn Vives darin die Friedensstifter, die Sanften und die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten selig preist21 und auf 1 Joh 4,20 ("Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner")22 verweist, so denkt er in erster Linie an die Eintracht unter den christlichen Fürsten als Bedingung der Möglichkeit für die Abwendung der türkischen Gefahr, die das christliche Europa zu vernichten droht:
Mit der Eintracht der Meinungen, der Niederlegung der Waffen seitens der Fürsten, unter der Führung der Mäßigung und der Vernunft, ohne Haß und Leidenschaft könnte man so großen Übeln abhelfen. In der Tat, nichts hat unsere Religion mehr gestärkt als die Eintracht unter den Christen, und nichts hat sie so sehr geschwächt wie die Uneinigkeit. Was das Gesetz der Liebe betrifft, gilt zweifelsohne dies: Was kann ihm angemessener sein als der Konsens, der Friede, die Eintracht und die Einstimmigkeit? Und was widerspricht ihm mehr und gelangt ihm mehr zum Nachteil als die tiefe Uneinigkeit?23
Dies ist auch der Tenor der ersten Kapitel im vierten und letzten Buch: "An den Toren des orbis christianus klopfen die Türken mit großem Terror an, die Niederlage und die Zerstörung der Christenheit vor sich her verbreitend"24 – und nur der Zwietracht in der Christenheit sei der türkische Vormarsch zu verdanken.
In den Kapiteln XII–XIV – und im Büchlein De pacificacione, das Vives auch 1529 abschloss und Alfonso Manrique († 1538), dem mit Erasmus sympathisierenden Erzbischof von Sevilla widmete25 – wird aber der Weg zur wahren Eintracht und zum wahren Frieden im Sinne der Bergpredigt beschrieben. Dieser ist der von Christus selbst – "unserem Führer und sehr weisen Vater" (Imperator noster, et Pater sapientissimus),26 der als Vorbild menschlichen Lebens gesagt hat: "Lernt von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig" (Mt 11,19)27 – vorgelebte Weg. Die Philosophia Christi bedeutet: Der Wunsch nach Rache ist illegitim;28 wir sollen vergeben, damit uns vergeben wird;29 das Liebesgebot (Joh 13,34: "Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander!"),30 das Vives bisher im Hinblick auf die binnenchristliche Eintracht zitierte, wird nun unter Einschluss der Feindesliebe und der Türkenliebe verstanden:
Welch ein Unding ist es zu denken, Christsein bedeute, die Türken oder andere Sarazenen zu hassen! Und denjenigen, der viele davon tötet, betrachten wir als Märtyrer, als ob der perverseste und grausamste Dieb dies nicht besser machen könnte! Man muß die Türken lieben, da sie Menschen sind. Sie soll lieben, wer dem Wort gehorchen möchte "Liebt eure Feinde" (Mt 5,44, Lk 6,27).31
Die Stoßrichtung der früheren – von der Exklusion bestimmten – Schriften Vives' lautet "Eintracht/Friede in der Christenheit – Krieg gegen die Türken" bzw. das zivilisierte Europa gegen das barbarische Asien, ein Topos, der Vives aus der Antike (Barbarenlehre Aristoteles' (384–322 v. Chr.)), aber auch aus den Schriften Pius' II. wohl bekannt ist. Bedeutet nun die Ermahnung in den Schriften von 1529, gegenüber den Türken die Feindesliebe zu praktizieren, dass Vives den Krieg gegen sie nicht mehr für nötig und gerecht hielt? Wohl kaum. Anders als Erasmus oder Martin Luther hat sich Vives zwar nach 1529 kaum mehr zu den Türkenkriegen ausdrücklich geäußert, aber einige Stellen in seinen späteren Schriften deuten an, wie die Aufforderung zur Feindesliebe zu verstehen ist.
In einem Brief vom 13. Januar 1531 an Heinrich VIII. (1491–1547) erinnert er daran, wie sehr die Siege der Türken die Christenheit in Bedrängnis gebracht haben und dass bei Fortsetzung der Zwietracht ganz Europa in die Klauen der Türken fallen werde.32 Und in der Spätschrift De veritate fidei Christianae (1540 vollendet, 1543 postum erschienen) stellt er nochmals heraus, wie schrecklich das Leben der Christen unter den Sarazenen wäre.33 Zugleich aber betont er, dass in Glaubenssachen kein Zwang zulässig ist (nulla violentia est in fide)34 und das Christentum nur auf friedliche, apostolische Art und Weise zu verbreiten sei.
Vives hörte nicht auf, die Türken als eine akute Gefahr für das christliche Europa zu betrachten, gegen die sich die Christen als ultima ratio mit Krieg verteidigen sollten. Aber die Stoßrichtung seiner Aufforderung zur Feindesliebe ist eine andere, eine missionarische: schlagen wir die Türken nicht mit den gewöhnlichen Waffen des Krieges, sondern versuchen wir, sie mit den "Waffen Christi" umzustimmen und zu gewinnen, so wie wir selbst von den Aposteln bekehrt wurden: "mit Argumenten, die der Natur und dem Verstand des Menschen angemessen sind, mit einer integren Lebensführung, mit Enthaltsamkeit und Mäßigung, mit untadeligen Sitten".35 Von der Wahrheit und Schönheit des christlichen Glaubens überzeugt, hegt Vives schließlich die Hoffnung, dass eines Tages auch die siegreichen Türken sich seinen Argumenten nicht werden verschließen können. "Asien" muss nicht aus Europa zurückgedrängt, sondern evangelisiert und europäisiert werden.
Erasmus' Consultatio de Bello Turcis inferendo entstand 1530,36 also nach den Türkenschriften Vives', als Brief an den Kölner Juristen, Kaufmann und Ratsherrn Johann Rinck (1458–1516). Inhaltlich ist eine große Übereinstimmung mit Vives festzustellen: im Türkenbild (grausame Barbaren, welche die Christen bedrohen), in der Kritik an der Zwietracht unter den christlichen Königen und an der grausamen Kriegsführung, die manchmal die Barbarei der Türken in den Schatten stelle, aber auch in der grundsätzlichen Betrachtung des Krieges als eines grossen Übels, das nur unter bestimmten Umständen und als ultima ratio als "notwendiges Übel" in Kauf zu nehmen sei, in der Vorliebe für die in seiner Querela Pacis (1517) bereits vertretene Philosophia (Imitatio) Christi als anzustrebendes ethisches Ideal, und in der (naiv wirkenden) Hoffnung auf einen Einschluss der Türken, wenn man sie mit "den Waffen der Apostel" zu gewinnen versuchte (nicht anders dachte auch Bartolomé de Las Casas (1474–1566) zur selben Zeit gegenüber den Indianern).
Man dürfe die Türken mit einem "bellum necesarium" bekämpfen, da sie als grausame Aggressoren eine Bedrohung darstellen, nicht weil sie eine andere Religion haben; aber wenn man dabei das Gebot der Humanität einhalten wolle, dürfe man mit den Waffen nicht weiter als bis zur Abwehr der Aggression gehen. Man habe den Türken mit dem eigenen Verhalten zu demonstrieren, dass das christliche Ethos ein höheres sei – so könnte man Erasmus' Haltung zusammenfassen. Und weil das Christentum eine Religion der diskursiven Überzeugung und nicht des Zwangs ist, wäre dieses Ideal anzustreben: "Was wirklich am meisten wünschenswert wäre, wäre die Unterwerfung des türkischen Reiches nach der Art und Weise, wie die Aposteln alle Nationen der Welt dem Reich Christi unterworfen haben."37
Man solle wirklich integre Glaubensboten zu den Türken senden, die nicht für sich Vorteil suchen, sondern nur für Jesus Christus. Man solle die "Waffen der Apostel" so einsetzen, dass die Türken sich über ihre Niederlage freuen. Und man solle erlauben, dass diejenigen, die das Christentum (noch) nicht annehmen wollen, unter ihrem Gesetz leben können.
Nicht alle Humanisten waren so vorsichtig angesichts der Wiener Belagerung. Juan Ginés de Sepúlveda (1490–1573) hatte 1529 in seiner Schrift Ad Carolum V ut bellum suscipiat in Turcas den Kaiser ermutigt, sich nicht nur zu verteidigen, sondern einen "legitimen" Eroberungskrieg gegen die Türken zu führen, um diese vernichtend zu schlagen. Und ähnlich dachten auch andere Humanisten am kaiserlichen Hof, die Karl V. zum Griff nach der Universalmonarchie bewegen wollten.38 Nach dem Sieg bei Pavia 1525 über den Erzrivalen Franz I. (1494–1547) von Frankreich, träumte Alfonso de Valdés (1490–1532) in prophetischen Tönen von der endzeitlichen Eroberung Jerusalems:
Es scheint, dass Gott dem Kaiser diesen Sieg auf wunderbare Weise ermöglicht hat, nicht nur damit er die Christenheit verteidigen und der Macht des Türken widerstehen könne, wenn dieser sie anzugreifen wagte, sondern vielmehr damit er, nachdem diese Bürgerkriege (denn so müßten wir sie nennen, da sie unter Christen geschehen) beruhigt worden sind, selbst zum Angriff gegen Türken und Mauren übergeht; weiter damit er – indem er unseren heiligen katholischen Glauben verherrlicht, wie es seine Vorfahren auch taten – das Reich von Konstantinopel sowie die heilige Stätte von Jerusalem zurückerobert, welche jene aufgrund unserer Sünden in Besitz halten. Dies möge geschehen, damit, wie von vielen bereits prophezeit wurde, die ganze Welt unseren heiligen katholischen Glauben annehme und die Worte unseres Erlösers in Erfüllung gehen: "Es soll nur eine Herde geben und einen Hirten".39
Nicht anders ist der Tenor auch bei Paulo Giovio (1483–1552) in seinem Commentario delle cose de Turchi (1532), der humanistische Irenik und Gelehrsamkeit mit Ermutigung zum Kreuzzug vereint.40
Reformatoren und Katholische Theologen
In der Frühen Neuzeit wird Geschichte weitgehend als Heilsgeschichte verstanden und nach den biblischen Kategorien Auserwählung, Bund, Treue/Verrat, translatio imperii und Weltreichelehre, Gericht Gottes sowie Antichrist und Ende der Welt interpretiert. Gerade im Zeitalter von Türkengefahr und Kirchenspaltung hat diese Geschichtsdeutung bei Reformatoren und katholischen Theologen Hochkonjunktur.41
Die Haltung Martin Luthers (1483–1546)[] gegenüber den Türken und dem Islam kann mit Johannes Ehmann42 so zusammengefasst werden: 1. Die Türken sind Feinde des christlichen Glaubens; 2. Die Türken sind Gottes Rute und ihre Bedrohung Ausdruck des Zornes Gottes; 3. Die Türken sind militärische Gegner und als solche legitim zu bekämpfen; Die Türken sind endzeitliche Feinde Christi und als solche dem Untergang (der Verdammung) geweiht; Die Türken sind Anhänger einer vernunftbestimmten, verdienstorientierten und gewalttätigen Religion; 6. Die Türken sind Anhänger einer schwärmerischen Religion, die den in der Inkarnation gründenden christlichen Glauben verachten und bekämpfen und als Sammelbecken christlicher Häresien zu verstehen ist.
Luther sah im türkischen Vormarsch ein Unrecht, das aber als Gottes Gericht über die sündige Christenheit zu verstehen sei. Daher seien die Türken nicht aufzuhalten, und der Widerstand wäre ein sinnloser Widerstand gegen Gott. Im Schatten der Wiener Belagerung von 1529 verteidigt er in den Schriften Vom Krieg wider die Türken und Eine Heerpredigt wider den Türken den Krieg, jedoch als eine "profane" Aufgabe, die der Kaiser nicht als Kreuzzug führen dürfe. Sollte der Krieg unter dem "Kreuzsymbol" stehen, "so wolt ich davon lauffen, als iagt mich der Teuffel".43
Für Luther war der Antichrist in einer doppelten Gestalt an Werk: im Türken als dem äußeren, politischen Feind der Christenheit, im Papste als dem inneren, kirchlichen daher viel gefährlicheren, da er seine Tyrannei gegen das Evangelium der Rechtfertigung richtete und sich in seiner Verstockung und Bosheit jedem Argument verschließe; er sei daher "der türkischste Türke", der uns gegen "die besseren Türken" aufhetze.44 Beide bezeichnete er auch als Gog (der Türke) und Magog (der Papst), die beim baldigen Gericht Gottes vernichtet werden sollten.
Luther und seine Wittenberger Freunde identifizierten den Türken mit dem kleinen aufwachsenden Horn oder Fremdkörper zwischen den zehn Hörnern des vierten Tieres nach Daniel 7,25, dem eschatologischen Feind Gottes und seiner Heiligen. In der Danielexegese stellen die zehn Hörner die zehn Monarchien dar, die auf dem Gebiet des Römischen Reiches vor der Ankunft des Antichrist entstehen werden. Das kleine Horn galt hingegen als Symbol des Antichrist. Das Ende der Weltzeit werde dann eintreffen, wenn es dem Türken gelingen sollte, das Kaiserreich, das nach 2 Thess 2,6 den Antichrist zurückhält, zu vernichten. Daher ruft Luther die Fürsten auf, das Kaisertum im Kampf gegen die Türken zu stärken. Gewiss, Luthers hat weitere – religionspolemische und quasi ethnographische – Texte und Kommentare über die Türken und den Islam geschrieben, aber aus seiner zwiespältigen Einstellung zum Widerstand gegen die Türken zwischen eschatologischem Defätismus und realpolitischer Notwendigkeit eines profan geführten Krieges "kam er nicht mehr heraus".45
Ähnlich ist der Tenor bei anderen Autoren der lutherischen Reformation. So z.B. im Chronicon Carionis, das 1531/1532 erschien und unter dem Einfluss Philipp Melanchthons (1497–1560) entstand: der Türke wird auch hier als Fremdkörper zwischen den zehn Hörnern oder Monarchien betrachtet und von jeder "translatio imperii" ausgeschlossen. Ähnlich verhält es sich in Melanchthons Danielkommentar, der 1543 gedruckt wurde,46 und in der 1556 gedruckten Universalgeschichte des Johannes Sleidan (1506–1556).47
Johannes Calvin (1509–1564)[] nimmt hingegen unter den Reformatoren eine Sonderstellung ein.48 Für ihn gehen alle Interpreten fehl (omnium error), wenn sie in den Zügen des Untiers in Daniel 7 gegenwärtige Züge des Papstes oder des Türken suchen. Diese Kritik dürfte vor allem auf Melanchthons Danielkommentar zielen.49 Die danielische Endzeitprophetie ist für Calvin so dunkel, dass wir sie nicht entschlüsseln können durch Identifizierung des Antichrist in den Ereignissen der Zeit.
Jean Bodin (1530–1596) kritisierte ausdrücklich die Danielinterpretation Luthers, Melanchthons und Sleidans und lobte Calvin. Aber trotz der Einwände Calvins und Bodins wurde auch unter den Puritanern die Danielexegese weiter herangezogen, um den Türken mit dem Antichrist zu identifizieren, so z.B. im Danielkommentar des Thomas Brightman.50
Im katholischen Lager, wo Papst Nikolaus V. in seiner Kreuzzugsbulle vom 30. September 1453 bereits Mehmet II. mit dem roten Drachen nach Offb 12,3ff. gleich gesetzt hatte, muss man zwischen der Fachexegese und der politisch-theologischen Literatur unterscheiden. Dies soll mit einem Blick auf zwei spanische Autoren exemplarisch geschehen.
In seinem Danielkommentar deutete der Jesuit Juan de Maldonado (1533/1536–1583) das kleine Horn, "das anmaßend redete" (Dan 7,8), als Symbol für den Antichrist, der sich am Ende der Zeiten erheben soll; ähnlich wie Calvin lehnte er zugleich alle Versuche zeitgenössischer Autoren ab, den Antichrist in den Ereignissen der Zeit dingfest zu machen: es sei nicht der Türke, wie einige Autoren meinen, und schon gar nicht der Römische Pontifex, wie protestantische "Ketzer" sagen, sondern eine künftige Gestalt am Ende der Zeit nach der Vernichtung des vierten Tieres bzw. Zerstörung des vierten Reiches.51
In seinem Werk Política española (1619)52 sah der Benediktiner Juan de Salazar (ca. 1575–nach 1622) den Katholischen König (Spanien) und den Türken um die Führung der Universalmonarchie wetteifern. Die Türken werden genauso wie die Spanier als Nachfahren Japhets gesehen, was eine bemerkenswerte Inklusion der Osmanen darstellt, die bei anderen Autoren der Renaissance von den Skythen abstammen sollen. Nach Auflistung der vermeintlichen Vorteile des Türken (er habe die absolute Herrschaft über Land und Leute, Hab und Gut seiner Untertanen; er habe keinen Papst über sich, keine Granden, die sich gegen ihn erheben könnten; er habe genug Leute, da die Untertanen mehrmals heiraten könnten; er führe die Kriege persönlich und dauernd; er habe sich auf den Thron Konstantinopels gesetzt; er habe all seine Reiche in der Nähe) widerlegt er diese im Einzelnen und begründet die Vorrangstellung der spanischen Monarchie.
Wie steht es aber mit der Auslegung von Dan 7? Für Salazar kann das kleine Horn nur den Türken und das Haus der Osmanen bedeuten. Dies treffe zu, weil dieses Haus, wie Daniel geweissagt habe, unter den anderen zehn Hörnern entstanden sei, nämlich zu Füßen des oströmischen Reiches und des Reiches der Sarazenen, welche die zwei größten Hörner des vierten Tieres und die zwei größten Nachfolgereiche des Römischen Reiches waren. Trotz seiner niedrigen Herkunft habe das osmanische Haus bereits die drei größten der zehn Nachfolgereiche erobert, wenn man Nordafrika, also das Reich der Vandalen dazu rechnet. Darin erfülle sich die Prophetie Daniels, wonach das kleine Horn die drei größten Hörner herausreißen und ihnen ihre Kraft und Stärke nehmen würde. Es erfülle sich auch Daniels Weissagung, dass dieses kleine Horn gegen den Höchsten lästern und die Heiligen des Höchsten vierteilen würde, denn die Osmanen bekämpften das Christentum, machten sich über den "schwächeren" Gott der Christen lustig, der den Christen offenbar nicht beistehen könne, verfolgten die Christen und hätten sich zum Ziel gesetzt, das Christentum auszurotten und ihre verruchte mohammedanische Sekte weltweit zu verbreiten. So wird bei Salazar der Türke einerseits in die Weltreichelehre und den Kampf um die Universalmonarchie eingeschlossen und andererseits als "kleines Horn" und apokalyptischer Christenfeind betrachtet und verteufelt.
Erst nach 1700 verblasst die Instrumentalisierung des Danielbuches zur Identifikation des Türken (oder des Papstes) mit dem Antichrist:
Die Türkensiege des Prinzen Eugen ließen die Ängste vor einer islamischen Eroberung Europas verschwinden. Das Papsttum verlor selbst in katholischen Ländern seinen politischen Einfluss. So wurde, wie schon vor der Reformation, von katholischen wie evangelischen Theologen der Antichrist wieder in eine unbestimmte Zukunft projiziert und damit für gegenwärtige politische Wertungen bedeutungslos.53
Produktive Neugierde
Im Schatten der Türkenkriege entstand im frühneuzeitlichen Europa eine produktive Neugierde gegenüber der islamischen Welt, ein Interesse für das Fremde, das auf islamischer Seit nicht Ihresgleichen findet. In Europa werden Lehrstühle für das Studium des Arabischen errichtet (1539 am Collège de France in Paris, 1613 an der Universität Lleida in Spanien, 1634 in Oxford);54 Gelehrte widmen sich dem Studium der großen Kulturen und Sprachen der islamischen Welt; der Koran, der 1543 bei Johannes Oporinus in Basel in der von Theodor Bibliander (ca. 1506–1564) überarbeiteten lateinischen Koranübersetzung von Robert von Ketton (aktiv 1141–1147) aus dem Jahr 1143 gedruckt wurde, wird später in europäische Sprachen übersetzt; und auch der erste Druck auf Arabisch findet in Europa statt;55 Diplomaten, Händler, Kriegsgefangene und auch Kirchenleute verfassen Reiseberichte; und auch wenn sie darin bei der Wahrnehmung der Türken und des Islam alles in allem dem eingangs erwähnten negativen Grundmuster (sittliche Barbarei, Religion des Antichrist) folgen, vermitteln sie doch ein differenziertes Bild des osmanischen Reiches – zumeist nach folgendem Raster: (1) Hof, Regierung und Militär; (2) Sitten und Gebräuche; (3) Religion.56
Nichts Derartiges finden wir in der islamischen Kultur, die sich – ähnlich der chinesischen – für das Fremde kaum zu interessieren scheint. Bernard Lewis hat darauf hingewiesen, dass beim Aufbruch Napoleons zu seinem Ägyptenfeldzug die Europäer über nahezu siebzig Grammatiken und zehn Wörterbücher des Arabischen, über zehn bzw. vier für das Persische und fünfzehn bzw. sieben für das Türkische besaßen, während Araber, Perser und Türken im Unterschied dazu weder eine einzige Grammatik noch ein einziges Wörterbuch welcher europäischen Sprache auch immer besitzen, nicht einmal in handschriftlicher Form.57
Gewiss, die europäische Neugierde für die Türken und die islamische Welt, die im Entdeckungszeitalter durch eine ebensolche Neugierde für die gesamte außereuropäische begleitet wurde,58 diente nicht primär der Ehrenrettung fremder, verleumdeter Kulturen oder der Befriedigung intellektuellen Wissensdurstes, sondern der Bemächtigung, Beherrschung und Aneignung des Anderen aus einem Überlegenheitsgefühl heraus. Selbst der wissenschaftliche "Orientalismus" ist ja von diesem Vorwurf nicht freizusprechen, zumal er dazu beiträgt, ein bestimmtes Bild des "homo islamicus" zu konstruieren und diesem zu bedeuten, wie er selber sich zu verstehen habe – so der bekannte Vorwurf von Edward W. Said (1935–2003).59
Auf dem Weg zu einer kulturellen und religionshistorischen Inklusion der Türken und der islamischen Welt
In dem Maße, in dem die Türken nach den wiederholten Siegen europäischer Mächte (Österreich, Russland) ab 1683 aufhören, eine "Gefahr" zu sein, und die frühneuzeitliche "Türkenfurcht" verschwindet, öffnet sich Europa für die türkische Kultur (Turquerie in Kunst und Mode, Türkenopern…); und im Schatten der Aufklärung bahnt sich eine andere Betrachtung des Islam an. Bis dahin ist das Islambild in der Weise geprägt, wie sie im Werk Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais (1190–1264) vorkommt. Demnach sei der Islam kein drittes Gesetz, sondern eine teuflische Sekte, die zwischen Judentum und Christentum keinen Platz habe.60 Mohammed wird verstanden als falscher und schmutziger Prophet, als Verführer der Menschen und Vorkämpfer des Antichrist. Die irenisch-diskursiven Ansätze (Petrus Venerabilis (1092–1156), Ricoldo da Monte Croce (1242/1243–1320), Raimundus Lullus (Ramon Llull, 1232–1316), Johannes von Segovia (1393–1458), Nikolaus von Kues, Martin Luther selbst in einer gewissen Hinsicht, Theodor Bibliander, Guillaume Postel (1510–1581)), die sich um eine bessere Kenntnis des Koran bemühten, ändern wenig daran; denn der Sinn ihres Studiums des Koran blieb die diskursive Widerlegung der mohammedanischen Irrlehre.61
Dieses Islambild ist noch in der Weltgeschichte des Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704) präsent, wie sie von seinem deutschen Übersetzer Johann Andreas Cramer (1723–1788) fortgesetzt wurde.62 Der mohammedanischen Religion wird darin ein langer Abschnitt gewidmet, aber gleich am Anfang heißt es:
Eine solche Religion steckt wie eine Seuche an; sie wird unter dem Volke allgemein; durch die Gesetze bestätigt und durch glückliche Waffen behauptet ... Mahomet verstellte und verfälschte alle Religionen, die er kannte, in der Absicht, eine daraus zu bilden, die allen Völkern gefallen könnte.63
Von einer "erdichteten Sendung"64 ist die Rede. Der Koran wird beschrieben als "eine Vermischung des christlichen und jüdischen Lehrbegriffs der damaligen Zeiten, mancher wahren, und apocryphischen Geschichte, wie auch vieler abergläubischer Gebräuche und Meinungen der abgöttischen Araber".65 Aber obwohl der Koran für Cramer voll Irrtümer und unfähig ist, "Menschen zu bilden, welche Gott gefallen können", sieht er darin einen Fortschritt gegenüber dem reinen Heidentum: denn der Islam ist doch, "gegen die Finsternisse des Götzendienstes betrachtet, eine Art von Dämmerung, und gewissenhafte Mahometaner sind, wenn sie nur ihre Vernunft brauchen wollen, dem vollen Lichte näher, als ein Abgötter".66
Einen anderen, philologisch-historischen Ansatz, der die Ehrenrettung der arabischen, persischen und türkischen Kultur zum Ziel hat, stellt das monumentale Werk Bibliothèque orientale ou Dictionnaire universel, contenant tout ce qui regarde la connaissance des peuples de l'Orient des Barthélemy d'Herbelot (1625–1695) dar, das 1697 durch Antoine Galland (1646–1715) vollendet wurde. In seinem ausführlichen und programmatischen Vorwort betont Galland, der 1707 mit der Veröffentlichung einer französischen Übersetzung der Märchen aus Tausendundeiner Nacht begann, dass d'Herbelot zunächst Arabisch, Persisch und Türkisch als "Grundlage und Basis" für sein großes Projekt gelernt habe.67 Tartaren, Mongolen und Türken werden darin nicht als Nachfahren der Skythen, sondern Japhets bezeichnet, "was viele kaum glauben werden".68 Die Religion der Muslime wird zwar weiterhin als eine "perverse Lehre Mohammeds, die der Christenheit so große Schäden verursacht hat", apostrophiert.69 Aber dies sei kein Grund, die kulturellen Leistungen der Muslime zu ignorieren. Nach dem Studium des immensen Materials, das d'Herbelot in seiner Bibliothèque orientale gesammelt hat, werde der Leser urteilen können, "ob die Orientalen wirklich so barbarisch und unwissend sind, wie man in der Welt sagt".70 Man sei in Europa manchmal geneigt, die kulturellen Leistungen der Araber und Perser anzuerkennen, während man die Türken als ein "barbarisches, grobes und äußerst unkultiviertes Volk" hinstelle: "Aber man tut ihnen Unrecht, indem man sie so schwer verleumdet."71
Es ist schon erstaunlich, wie lange das "fränkische" Europa zu einer solchen Sicht der islamischen Kultur gebraucht hat, denn d'Herbelots Ansatz ist im Grunde derselbe, den wir bereits 1575 im Werk des spanischen Franziskaners Bernardino de Sahagún (1499–1590), Historia general de las cosas de la Nueva España gegenüber den Azteken finden. Auch dieses Werk ist von der kulturellen Inklusion unter Beibehaltung der religiösen Exklusion geprägt, vor allem aber von der Absicht, die Azteken vom Vorwurf der Barbarei zu befreien. Sahagún schreibt im Vorwort:
So werden sie für Barbaren gehalten und für ein Volk niedrigster Vollkommenheit, wobei sie doch in Wahrheit in den Dingen der Staatsordnung viele andere Nationen, die sich für solche Staatswesen halten, übertreffen ... Denn es ist ganz sicher, dass alle diese Völker unsere Brüder sind, hervorgegangen aus dem Stamm Adams wie wir; sie sind unsere Nächsten, die wir verpflichtet sind zu lieben wir uns selbst.72
La vie de Mahomed (Amsterdam 1731) des Grafen Henri de Boulainvilliers (1658–1722) stellt einen weiteren Schritt dar. Auch hier ist der Autor um eine Würdigung der Sitten der Muslime bemüht, die manche Vorurteile überwindet: die Muslime haben ihren Platz in der Weltgeschichte, denn sie haben Großes geleistet und ein Weltreich gegründet, "das ausgedehnter und furchterregender als das der Makedonier und Römer war".73 Und obwohl bei der Bewertung Mohammeds und seiner Religion die negative christliche Optik am Ende die Oberhand gewinnt,74 versucht Boulainvilliers, die muslimische Sicht getreu zu dokumentieren: so ist davon die Rede, dass der Patriarch Ismael für die Araber der erste Wiederhersteller "jener einfachen und natürlichen Religion" ist, "die, obwohl sie in jedem Menschen steckt, durch die Leidenschaften entstellt wird". Da später und trotz der Bemühungen aller Propheten der Götzendienst wieder obsiegte, war es nötig, dass Gott am Ende der Zeiten Mohammed schickte, "um diesen einfachen und von Gott selbst stammenden Kult wiederherzustellen, zunächst in Arabien, dann in einem Großteil der Welt – unter dem Namen Islam oder Islamisme, einem Namen, der wahrscheinlich von Ismael herkommt."75
La vie de Mahomed war nicht ohne Einfluss auf Voltaire (1694–1778)[] und andere Aufklärer, die den Islam für die natürliche Religion hielten.76 Aber auch bei ihnen – Voltaire ist das beste Beispiel – finden wir eine grundlegende Ambivalenz, ein Schwanken zwischen positiver und negativer Bewertung, zwischen kulturell-religiöser Exklusion und Inklusion: Mohammed wird in Le fanatisme ou Mahomet le Prophète (1736, 1741) als Inbegriff religiösen Eifertums hingestellt,77 während in Essais sur les moeurs et l'esprit des nations (1756) Kultur und Religion der Muslime in einem positiven Licht erscheinen. Erst Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)[] wird in seinem Mahomets Gesang (1772/1773) den arabischen Propheten rehabilitieren.
Ausblick
Die neue Epoche, die mit Napoleons Ägyptenfeldzug beginnt, ist vom Überlegenheitsgefühl des expansiven Westens, der sich für den Gipfel der Zivilisation hielt, gegenüber der islamischen Kultur und Religion, die sich scheinbar von der Bühne der Weltgeschichte verabschiedet hatten, geprägt. Hegel hat es auf den Punkt gebracht: "Gegenwärtig nach Asien und Afrika zurückgedrängt und nur in einem Winkel Europas durch die Eifersucht der christlichen Mächte geduldet, ist der Islam schon längst von dem Boden der Weltgeschichte verschwunden und in orientalische Gemächlichkeit und Ruhe zurückgetreten."78 Die Signatur der Zeit ist nun der Historismus, die religionsgeschichtliche bzw. -wissenschaftliche Betrachtung des Islam.
Aber auch im 19. Jahrhundert begegnen uns selbst bei großen Geistern wie John Henry Newman (1801–1890) mittelalterlich-frühneuzeitliche Stereotypen wie die Barbarei der Türken oder die rein negative Sicht des Islam. In seinen vier Lectures on the History of the Turks in its Relation to Christianity (1854), die sofort in deutscher Übersetzung erschienen, wird der Islam als "Muhammeds falscher Glaube" bezeichnet, als "ein Betrug, der den Namen Religion trägt" bzw. als "der Affe des Christentums".79 Die Türken werden "der große Antichrist" genannt, bei denen sich die "nachhaltige tartarische Wucht ... mit dem Fanatismus der Sarazenen" vereinige.80 Newman schränkt jede positive Eigenschaft, die er bei den Türken finden konnte, gleich wieder ein: "alle Gaben und Vorzüge, wie immer sie beschaffen sein mögen, machen sie doch nur zu so viel gefährlicheren Feinden des Glaubens und der Civilisation."81
Die Exklusionstypologien, die sich im Schatten der kulturellen und religiösen Antagonismen des Mittelalters und der frühneuzeitlichen Türkengefahr herausbildeten, waren, wie es scheint, von langer Dauer – und auch heute dürften sie im kollektiven Volksgedächtnis eine Rolle spielen.