Voraussetzungen für die Entwicklung des Periodical Essays
Dass sich die Gattung der Spectators gerade in England entwickeln konnte, hing mit den politischen und kulturellen Ereignissen des ausgehenden 17. Jahrhunderts zusammen. Im Königreich von Wilhelm III. von Oranien (1650–1702) und in der Folgezeit von Königin Anne Stuart (1665–1714) entstanden neue Formen des demokratischen Verständnisses, die sich von absolutistischen Modellen absetzten. Sie bildeten die Grundlage für die Entstehung bzw. Förderung öffentlicher Kommunikation. England hatte schon frühzeitig eine eigenständige Richtung eingeschlagen, die den traditionellen Gesellschaftsformen des europäischen Kontinents kritisch gegenüberstand. Die Arbeit im Parlament bildete die Grundlage für das englische Recht, neue Strukturen von Öffentlichkeit entstanden. Damit war die Entwicklung der medialen Kommunikation eng verknüpft. Als moralischer Wert setzte sich eine vom Protestantismus getragene, nüchterne und pragmatische Weltsicht durch, was das nationale Stereotyp des englischen "Tatsachenmenschen" prägte.
Der Philosoph John Locke (1632–1704), Begründer der modernen Erkenntnistheorie und Erkenntniskritik, war nach der Thronbesteigung Wilhelms (1688) gerne nach England zurückgekehrt. Er trug mit seinen Werken An Essay Concerning Human Understanding (1690) und Some Thoughts Concerning Education (1693) entscheidend zur Reflexion des gesellschaftlichen Erneuerungsprozesses sowie zur Vermittlung des Wissens im modernen Sinn bei. Die Zeit wurde allmählich reif für den Export des englischen Erfolgsmodells auf den europäischen Kontinent.
Neben der Philosophie förderte auch die seit 1695 eingeführte Pressefreiheit den Gedanken von Fairness und Toleranz. Durch den damit einhergehenden Liberalisierungsschub fühlte sich das Bürgertum in seinen Unternehmungen bestärkt, was eine merkbare Aufbruchsstimmung mit sich brachte. Die Gentry war zu jener Zeit tonangebend in der englischen Gesellschaft und galt mit dem Ideal des Gentleman als Vorbild für das aufstrebende Bürgertum, insbesondere für das Großbürgertum der Hauptstadt London. Von Seiten kritischer Beobachter gab es an diesem exemplarischen Verhaltenskodex jedoch Einiges zu beanstanden, zumal Müßiggang und moralische Nonchalance dieses Modell prägten und das Terrain für eine zunehmende Verderbtheit der Kultur bildeten. Zahlreiche Stimmen traten um die Jahrhundertwende für eine umfassende Reform der Sitten und Verhaltensformen ein.1
In diesem beginnenden "Augustan Age" (1700–1780) gingen Literaten und Journalisten eine fruchtbare Interessensgemeinschaft ein. Jonathan Swift (1667–1745), Daniel Defoe (1660–1731), Joseph Addison (1672–1719)[] oder Richard Steele (1672–1729)[] betätigten sich als Zeitschriftenautoren wie auch als Schriftsteller. Parallel zu dem Aufkommen von neuen Formen des Journalismus erhielt das Kaffeehaus eine bedeutende Funktion, weil es immer mehr zum Ort des öffentlichen Gedankenaustausches wurde und zur Entwicklung der Dialogfähigkeit seiner Besucher diente. Beispiele sind Will's Coffee House (1671–1712) oder Button's Coffee House (1713– ca. 1750).
In literarischer Hinsicht können die Wurzeln der Periodical Essays zum Teil im französischen Kultursystem gefunden werden, das damals noch in weiten Kreisen Europas modellbildend war. Über Nicolas Boileaus (1636–1711) Schriften wurden Einsichten in die Diskussion um die Rezeption der alles überragenden Textformen der griechischen und römischen Antike vermittelt. Im Vordergrund des Transfers standen literarische Formen wie die Satire, die Charakterbilder von Jean de la Bruyère (1645–1696) oder die Dramenkunst von Pierre Corneille (1606–1684). Auch Michel de Montaignes (1533–1592) Essais (1580) waren für die Entwicklungsgeschichte der Spectators konstitutiv geworden, wobei sich diese von der realen Ich-Instanz des französischen Vorbilds absetzten und hinter der Maske eines fiktiven Erzählers verschwanden.
Kulturelle Vorläufer für die Periodical Essays fanden sich auch in den literarischen Formen der italienischen Klassik und des spanischen Goldenen Zeitalters, des Siglo de Oro (16./17. Jahrhundert), die das englische Literatursystem schon frühzeitig geprägt hatten. Man denke an Giovanni Boccaccios (1313–1375) Novellen, an die Erzählformen der spanischen Pikareska, an den Ritterroman und seine Überwindung durch Miguel de Cervantes Saavedra (1547–1616) in El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (1605/1615), an die Traumerzählungen eines Francisco Quevedo (1580–1645), an das über die italienische Kultur nach Spanien vermittelte Maskenspiel und viele andere Beispiele.
Die "spektatorialen" Prototypen
The Tatler (1709–1711)
Vor diesem Hintergrund entstand das journalistische Unternehmen des Whig-Vertreters Richard Steele, der am 12. April 1709 die erste Nummer von The Tatler. By Isaac Bickerstaff, Esq. aus der Taufe hob.2 Nachdem die ersten Nummern erschienen waren, stieg auch sein langjähriger Freund und Vertrauter Joseph Addison in das Unternehmen ein. Das Blatt erschien jeweils an den Tagen der Postauslieferung in der Provinz, d.h. dienstags, donnerstags und samstags. Von einem wöchentlichen Rhythmus, wie es der Begriff "Wochenschrift" suggeriert, war hier noch nicht die Rede. Dieser bürgerte sich erst mit den Nachahmungen auf dem europäischen Festland, insbesondere im Zusammenhang mit den deutschen Blättern, ein. Damit war eine Gattung erschaffen, die sich im Laufe des Jahrhunderts in mehreren hundert verschiedenen Zeitschriften im gesamten europäischen Raum verbreiten sollte. Die Besonderheit dieses Modells lag darin, dass es nicht bloß didaktischen Moralismus, wie ihn die anglikanische Erbauungsliteratur vorsah, vermittelte, sondern eine neue, spielerisch-aufgelöste Form der Darstellung bot.
Steele griff bei seinem ersten "spektatorialen" Unternehmen auf die von Jonathan Swift erfundene Figur Isaac Bickerstaff zurück. Bei diesem ersten Beobachter der zeitgenössischen Gesellschaft handelte es sich um eine in England, insbesondere in London bereits gut bekannte fiktive – und daher gewissermaßen "vertrauenswürdige" – Figur. Mit dem Pseudonym Bickerstaff baute Steele eine Rahmenfiktion auf und beobachtete aus dieser Position die merkantil geprägte Londoner Gesellschaft. Viele Zeitgenossen dürften Steele hinter der Maske vermutet haben, jedoch gab sich der wirkliche Autor erst in der letzten Nummer der Zeitschrift zu erkennen.3 Mit der Nummer 271 stellte der Autor am 2. Januar 1711 seinen Tatler, in den sich Addison immer stärker eingebracht hatte, ein. In einem Leserbrief wurde Bickerstaff jedoch in dieser letzten Nummer aufgefordert, seine Gedankenspiele unbedingt fortzusetzen. So war eine Fortführung des Projekts zu erwarten.
The Spectator (1711–1714)
Tatsächlich erschien wenige Wochen später, am 1. März 1711, die nächste Schrift unter dem Titel Spectator, die allerdings wesentlich ausgereifter und komplexer ausfiel als das Vorgängermodell. Der Spectator fungierte als anonyme Beobachterfigur, die überall anwesend war und die Zustände im Land genau unter die Lupe nahm. Unterstützt wurde er durch eine gewiefte Klubgesellschaft, deren Debatten und Raisonnements die zeitgenössische Leserschaft in den Bann zog. Mit gewitzter Sprache, eleganter Argumentation und feinem Humor übertraf das neue Blatt, an dem wiederum neben Steele auch Joseph Addison beteiligt war, in seiner neuen Aufmachung alle Erwartungen. Die massive Einbindung von Leserbriefen gehörte zur Grundausstattung des Spectator. Durch die Distanz und die Besonnenheit der Reflektorfiguren sowie durch den höheren Abstraktionsgrad sollte der Spectator mit seinen 635 Nummern zum Prototypen für die Gattung der Moralischen Wochenschriften werden.4
The Guardian (1713)
Mit der kurzlebigen Zeitschrift The Guardian, die erstmals am 12. März 1713 erschien und 175 Nummern erreichte, entstand der dritte und letzte journalistische Prototyp.5 Der Erzähler hieß nun Nestor Ironside. Als ehemaliger Hauslehrer lebte er im Kreise seiner Gastfamilie, deren Oberhaupt verstorben war. Der siebzigjährige Ironside hatte die nötige Distanz zu den einzelnen Familienmitgliedern, um sie in moralischer Hinsicht zu porträtieren und ihre Gespräche entsprechend zu interpretieren. Frömmigkeit und Tugend spielten auch hier eine zentrale Rolle, ebenso wie die Erziehung der Jugend zur Vernunft und die Beobachtung von interner Kommunikation.
Gattungsmerkmale
Periodische Erscheinungsweise und Neuauflagen
Die Periodical Essays oder Moralischen Wochenschriften zeichneten sich durch ihren unterhaltsam dargestellten moralisierenden Inhalt aus. Ihre Auslieferung erfolgte in regelmäßigen Abständen. Nach einer gewissen Zeit wurden die Folios meist in Buchform gesammelt und neu aufgelegt. Dabei konnte es je nach Zeitschrift über Jahrzehnte hinweg zu mehreren Ausgaben kommen, die bisweilen auch an unterschiedlichen Orten gedruckt wurden. Durch ihre spezifisch unterhaltsame Note fanden diese Bände meist großen Absatz. Der ökonomische Faktor war aus den "spektatorialen" Unternehmungen nicht wegzudenken. So kam es häufig vor, dass der wirtschaftliche Ertrag in den Schriften reflektiert wurde bzw. explizit die Leserrezeption gemessen wurde.
Mit der Aufwertung der öffentlichen Kommunikation entstand jene Lebendigkeit, die für die frühen liberalen Gesellschaften konstitutiv war. Da die Erwartungshaltung der Leser stets aufrechterhalten wurde, wurden die regelmäßigen Lieferungen zum Ereignis und ermöglichten einen Diskurs, der eng an die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme gekoppelt war. Diese Dynamik war umso eigentümlicher, als die Wochenschriften nicht mit tagespolitischen Themen operierten, sondern moralisch-philosophische Grundfragen des Lebens in den Vordergrund rückten und damit zirkulär angelegt waren. Wiederholungen gehörten zu den wichtigsten Charakteristika der Blätter, deren Beiträge in sich geschlossen waren und – abgesehen von wenigen Ausnahmen – beliebig miteinander ausgetauscht werden konnten. Die Zeitlosigkeit der Beiträge ist der Grund dafür, dass die Blätter noch Jahre später in Sammelbänden erschienen und für die neugierige Leserschaft der sich ausdifferenzierenden Mittelklasse nach wie vor von Interesse waren.
Übersetzungen und Adaptierungen
Idealtypisch für die moralistische Presse im Sinne von Steele war darüber hinaus die rasche Rezeption und Nachbildung bzw. Übersetzung der Texte unter anderen Vorzeichen. Diese spezifische Wirkungsgeschichte konnte bereits beim Tatler beobachtet werden. Unmittelbar nach dem Erscheinen der Zeitschrift kamen mehrere Titel auf den Markt.6 So entstand etwa am 8. Juli 1709, d.h. etwa drei Monate später, ein Konkurrenzunternehmen, das sich unter dem Zeichen partnerschaftlicher Symbiose inszenierte: The Female Tatler. By Mrs. Crackenthorpe, a Lady that knows every thing. Die fiktive Herausgeberin Mrs. Crackenthorpe behauptete, sie sei eine Kollegin von Bickerstaff und würde die Zeitschrift als Komplementärunternehmen führen. Die Autorschaft des Blattes, das am 31. März 1710 nach 115 Nummern endete, konnte bis heute nicht geklärt werden.7
Das weibliche Lesepublikum
Wie dieses Beispiel illustriert, wiesen die Periodical Essays wie auch die später folgenden Wochenblätter eine weitere Spezifizität auf. Sie waren sehr oft auf weibliche Leserkreise ausgerichtet, so dass sich in der Gattung die erste Frauenpresse mit größerem Ausmaß entdecken lässt.8 Kritische Rollenfragen wurden gestellt und Probleme im Umgang mit der vorherrschenden Geschlechterordnung diskutiert. Dies konnte je nach dem kulturellen Umfeld der Zeitschrift mehr oder minder ergiebige Auswirkungen zeitigen, so etwa in Italien oder Spanien. Häufig verbargen sich hinter Frauenstimmen Männer, die zum Teil katholische Priester waren, wie es etwa in der Wochenschrift La Pensadora Gaditana (1763/1764)9 passierte, die unter dem Pseudonym Beatriz Cienfuegos erschien.
Fiktive Autor- und Herausgeberinstanz
Zu den wichtigsten Charakteristika der Gattung zählte die Einführung einer fiktiven Autor- und Herausgeberinstanz. Durch den Rückgriff auf eine maskierte anonymisierte Instanz wie Bickerstaff, Spectator oder Ironside konnten ein hoher Grad an ästhetischem Reiz gewonnen und moralische Argumente und Beobachtungen vermittelt werden. Die Beobachterfigur vermochte sämtliche Kommunikationen ihrer Umwelt unerkannt zu registrieren und kommentieren und daraus einen Moralkodex zu erstellen, der dem bürgerlichen Interessenbereich entgegenkam. Mit der Figur wurden nicht zuletzt auch innovative Identifikationsmöglichkeiten für die Rezipienten geschaffen. Durch diese Methode entstand ein Spiel mit einer Leserschaft, die ihren eigenen Lebensstil ständig angesprochen sah und sich herausgefordert fühlte. Viele Wochenschriften sollten das Verfahren später übernehmen. Exemplarisch dafür sollte der Einstieg in den Spectator kurz angesprochen sein:
I have observed, that a Reader seldom peruses a Book with Pleasure 'till he knows whether the Writer of it be a black or a fair Man, of a mild or cholerick Disposition, Married or a Batchelor, with other Particulars of the like nature, that conduce very much to the right Understanding of an Author. To gratify this Curiosity, which is so natural to a Reader …10
Damit ist klar erkennbar, welchen Stellenwert der Kommunikationsprozess zwischen dem Autor und dem Leser im Werk einnimmt, wobei allerdings die Maskierung des Autors den spielerischen Charakter erhöht. Es kommt zu einem komplexen Zusammenspiel von unterschiedlichen Beobachtungsinstanzen, deren Spiegelungen geschickt miteinander rückgekoppelt werden und daher eine reflexive Komposition von Blicken hervorrufen. Die Anonymität wie auch die Maske brachten in dem Maße eine Entkoppelung in der Interaktion zwischen dem Schreibenden und dem Lesenden mit sich, als die Möglichkeit der persönlichen Zuschreibung sowohl auf Produktions- als auch auf Rezeptionsseite unterbunden wurde. Der Informationsgewinn dieser neuen Kommunikation sollte darin liegen, beim Meinungsaustausch die Vorurteilsgebundenheit auf ein Mindestmaß zu reduzieren, indem man den Einfluss, den ein spezifischer Autorname, sein Alter, sein Aussehen u.ä. auf den Leser ausüben konnte, ausschaltete. Eine ähnliche Technik sollte sich in späteren Jahren auch in der Literatur bei Laurence Sterne (1713–1768) und Denis Diderot (1713–1784) wiederfinden. Mit dem Spiel zwischen Autor und Leser wurde zum einen der sich in London herausbildende zeitgenössische Kommunikationsprozess bezeichnet, zum anderen diente das Verfahren einer klassisch zu verstehenden Vermittlung von moralischen Anhaltspunkten.
Diese Verfahren flossen in die zahlreichen Übersetzungen und Nachbildungen der europäischen Kulturen ein. Wie sprachwissenschaftliche Untersuchungen an Hand einiger Schriften bereits genauer beschreiben konnten, kommt dem fiktionalen Ich in den Wochenschriften allenthalben ein großes Gewicht zu.11 Deutlich wird zugleich auch der persönliche Erzählstil der maskierten Autoren, der an die schriftliche Kommunikationsform des Briefes anknüpft und sie in neuem Gewand weiterträgt. Als Beispiel für die Anwendung eines solchen Stilmittels im deutschen Kontext möge der Einstieg in die Wochenschrift Hypochondrist (1762) genannt sein. Hier umreißt der fiktionale Erzähler Zacharias Jernstrupp seine hypochondrische Befindlichkeit folgendermaßen:
Ich würde vielleicht nicht einmal auf den Einfall gekommen seyn, ein Wochenblatt zu schreiben, wenn ich dieser Krankheit entbehren müsste, dass sie mir zu einem schönen Titel für meine Blätter verholfen hat. Ich habe nun alles, was zu einem wöchentlichen Autor erfordert wird. Ich bin eigensinnig, mürrisch, ein bischen eitel, eine Art von Philosoph…12
Die Inszenierung von Soziabilität
Zu den prominentesten Innovationen der Wochenschriften zählte aber nicht nur die Einführung der fiktiven Autorschaft, sondern auch die Einbindung des Lesepublikums in die Genese der Zeitschrift. Es gehört zum Grundbestand vieler Wochenschriften, dass die Leserschaft eingeladen wird, sich mit Leserbriefen an der Diskussion zu beteiligen und dafür ihre Texte dem Herausgeber oder fiktiven Autor zu übermitteln. Diese Inszenierung von Soziabilität nach dem Muster pragmatischer Kommunikationsstrategien dürfte in der englischen Metropole auch zum großen Erfolg der Schriften beigetragen haben.
In welchem Ausmaß diese Leserbriefe schließlich durch die Überarbeitung des "fiktiven" Herausgebers ihrem ursprünglichen "realen" Autor zuzuschreiben sind oder nicht, liefert einen weiteren Reizpunkt für die Rezeption und Interpretation der Texte. Ob die Briefe von vornherein erfunden waren, um den Kommunikationsprozess in Gang zu setzen, oder ob sie den tatsächlichen Diskurs der Leserschaft wiedergeben, wird in vielen Wochenschriften ein Rätsel bleiben und trägt zur idealtypischen Hybridisierung der Gattung bei. Die Anbindung an die Leserschaft wird auch durch die originellen Titel der Zeitschriften verstärkt, mit denen gemeinhin die fiktiven Beobachterinstanzen der Gattung charakterisiert werden. Das breite Spektrum reichte von der Matrone (1728–1729),13 der Braut (1740)14 und vom Jüngling (1747)15 über den Vernünfftler (1713/1714)16 und den Patrioten (1724–1726)17 bis hin zum Einsiedler (1740/1741),18 Duende (Kobold – 1787/1788),19 Misanthrope (Menschenfeind – 1711/1712)20 oder gar Scannabue (Ochsenschlächter – 1763–1765),21 um nur einige zu nennen. Die französische Forschung befasste sich eine Zeitlang mit der Gesamtheit der Titel, um eine funktionale Zuordnung zu treffen, die für alle Zeitschriften Gültigkeit haben sollte. Daraus ergaben sich für die Gattung fünf funktionale Gemeinsamkeiten: réflexion, regard, bavardage, folie und collecte.22
Literarische Formen
Innovativ ist ferner der essayistisch-narrative Umgang mit der Alltagskultur. Der "Schwätzer" (Tatler) nimmt wie später der wesentlich berühmter gewordene "Zuschauer" (Spectator) als Reflektormedium an den Diskursen der Gesellschaft teil und integriert alles visuell und auditiv Wahrgenommene in seine Texte, wobei nicht nur der Selbstdarstellung eine bedeutende Funktion zukommt, sondern auch der Fremddarstellung mit den damit einhergehenden Erzählungen, Konversationen oder Berichten. Die Poetik eines Horaz (65–8 v. Chr.) mit dem Diktum des "prodesse et delectare" steht hier Pate, wie auch viele andere Elemente der Periodical Essays auf die Klassik verweisen. Briefe, Traumerzählungen oder Allegorien, Fabeln oder satirische Darstellungen mit ausgeprägten Anlehnungen an die griechische und römische Antike prägen das Bild. Exemplarische Zitate finden sich als Motti in die Texte eingestreut und bringen die vermittelten Botschaften aphoristisch auf den Punkt.
Die Niederlande als Tor zum Kontinent
Es sollte nicht lange dauern, bis die Periodical Essays auf dem europäischen Festland Einzug hielten. Die wichtigste Funktionsstelle im Transfer der Gattung waren die protestantischen Niederlande, insbesondere Amsterdam und Den Haag. Dort hatte sich eine bedeutende Kolonie von Emigranten niedergelassen, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) in den Norden gezogen waren und entscheidend zur Buchproduktion in französischer Sprache beitrugen. Auch die englische Sprache war in diesem kulturellen Umfeld stärker verbreitet als auf dem übrigen Festland.
Für den Einzug des Spectators in das übrige Europa waren die allerersten Nachbildungen und Übersetzungen in französischer Sprache ganz entscheidend. Englisch wurde selbst in den urbanen Zentren noch kaum beherrscht, die Verkehrssprache war gemeinhin Französisch. Es waren zwei Texte, die maßgeblich zur Verbreitung der neuen Gattung beitrugen: zum einen die Wochenschrift Le Misanthrope23 des Holländers Justus van Effen (1684–1735)[], die bereits ab Mai 1711 erschien und als einfallsreichste Nachbildung des Tatlers bzw. des Spectators gesehen werden kann. Sie sollte für viele europäische Zeitschriften die Vorlage bilden. Zum anderen wurde die Übersetzung des Spectators zum Modell für die künftigen Wochenschriftenautoren. In der ersten übersetzten Version des Titels, die zwischen 1714 und 1726 in Amsterdam erschien, zeigte sich die aufklärerische Absicht der Schrift in deren erweitertem Titel Le Spectateur, ou le Socrate moderne, Où l'on voit un Portrait naïf des Mœurs de ce Siècle. Traduit de l'anglois ("Der Zuschauer, oder Der moderne Sokrates, der ein unverfälschtes Sittenbild dieses Jahrhunderts zeichnet. Aus dem Englischen übersetzt").24 Wer letztendlich hinter der Übersetzung stand, ist nach wie vor unbekannt.
Justus van Effen, der Autor des Misanthrope, wurde in Utrecht geboren und wirkte in Holland als wichtiger Vermittler der englischen Literatur. Er war insbesondere als Übersetzer des Romans Robinson Crusoe (Daniel Defoe, 1719) und von Texten von Jonathan Swift und Bernard de Mandeville (1670–1733) tätig. Sein Misanthrope kam jeden Montag in Den Haag heraus und setzte sich in freier Anlehnung an die englischen Vorbilder erfolgreich mit den moralischen Fragen der zeitgenössischen Gesellschaft auseinander. Dass zwei weitere Ausgaben25 folgten – 1726 und 1742 –, zeugt von der vielversprechenden Rezeption des Unternehmens.
Im Jahr 1713 lieferte der holländische Autor eine nicht auf Vollständigkeit beharrende Übersetzung von The Guardian. Er nannte dieses Blatt Le Mentor Moderne.26 Von den 175 Diskursen der englischen Ausgabe wurden 29 Diskurse nicht übersetzt, weil sie zu sehr von lokalpolitischen Fragen und Diskussionen sowie von englischen Parteien handelten, was für andere Kulturen wenig interessant war. Es folgten weitere Wochenschriften wie La Bagatelle,27 der Nouveau Spectateur François28 und der erfolgreiche Hollandsche Spectator.29
Für den Transfer und die Weiterentwicklung der Gattung auf dem Festland war Justus van Effen zum unumgänglichen Bindeglied geworden. Er brachte einen Kommunikationsprozess in Gang, durch den die Texte in Form von Nachbildungen und Übersetzungen von England nach Holland und zum Teil nach Frankreich gelangten. In den Folgejahren wurden die Zeitschriften über die frankophonen Verbindungen in das übrige Europa exportiert. Van Effen hatte das journalistisch-literarische Potential der englischen Prototypen frühzeitig erkannt und sorgte für deren rasche Wiederaufbereitung unter anderen kulturellen Vorzeichen. Er nützte die entstehende Dynamik für sein Unternehmen geschickt aus und dürfte sogar auf den laufenden Entstehungsprozess des Spectators indirekt eingewirkt haben, ebenso wie er auch auf die späteren französischen Produktionen dialogisch Einfluss nahm.
Sein Wirken zeigte sich auch darin, dass er – wie viele europäische Autoren in späteren Jahren, insbesondere jene aus den romanischen Ländern – einerseits den Code par excellence zur Nachbildung des englischen Prototyps geschaffen hatte, indem er die Übersetzung der Basistexte förderte – wie er dies etwa am Beispiel des Guardian praktizierte –, andererseits aber von vornherein die freie Nachbildung förderte und damit eine Anbindung des Kanons und der relevanten moralisierenden Fragestellungen an die jeweiligen nationalen bzw. regionalen Besonderheiten vorbereitete. Charakteristisch für sein Schaffen waren die Mehrsprachigkeit, die Förderung von kultureller Transposition und seine vielfachen Einsichten in die unterschiedlichen Prozesse nationaler Emergenz, wodurch er gerade nationale Nachbildungen des Prototyps – zum Beispiel im Hollandschen Spectator – wesentlich bereicherte. Seine rationalistische Argumentation zu Gunsten einer Verbesserung der Sitten einer Nation wurde für viele Zeitgenossen modellhaft.
Weiterhin zelebrierte er den wöchentlichen Erscheinungsrhythmus in besonderer Weise, so dass man bei ihm nicht nur von der Gattung der Spectators, sondern tatsächlich auch von jener der Moralischen Wochenschriften sprechen konnte. Es nimmt daher nicht wunder, dass etwa die erste spanische Version der Gattung, El Duende especulativo (1761),30 sich nicht mehr auf Steeles und Addisons Tatler bzw. Spectator berief, sondern auf Van Effens Misanthrope.
Was die Auflagenhöhe der englischen Prototypen betrifft, so wurden die Zahlen in Europa von Anfang an gerne übertrieben. Damit sollte offensichtlich die wirtschaftliche Attraktivität des journalistischen Unternehmens hervorgehoben werden. In einem ersten Begleitbrief des holländischen Buchhändlers und Verlegers zum Misanthrope wurde die Zahl der gedruckten Exemplare des Tatlers mit 12.000 bis 15.000 pro Tag angegeben, was für eine kleine Druckerei technisch nicht leistbar gewesen wäre.31 Im Vorwort des spanischen Filósofo a la moda ("Der modische Philosoph") wurde die Auflage der ersten Blätter in Anlehnung an das holländische Modell sogar mit 20.000 Exemplaren beziffert.32 Insgesamt gesehen dürften die Auflagenzahlen der bedeutenden Wochenschriften je nach Region in Europa im Durchschnitt zwischen einigen Hundert (Italien, Spanien etc.) und zwei bis drei Tausend (England, Deutschland, Frankreich etc.) Exemplaren gelegen haben.
Die Emergenz eines europäischen Netzwerkes
Die weitere Verbreitung in Europa ließ nicht lange auf sich warten, doch reagierten die einzelnen Kulturen unterschiedlich auf die Blätter. Durch die in den Zeitschriften klar formulierten Werte protestantischer Provenienz fiel die Rezeption entsprechend aus. Im Norden hatte die Gattung vorerst mehr Erfolg als im Süden. Im urbanen Raum, in dem die bürgerlichen Werte bereits stärker entwickelt waren, konnten sich die Blätter leichter durchsetzen als in ländlichen Gebieten.
Die ersten deutschsprachigen Schriften entstanden in Hamburg wie auch in einzelnen Städten der Schweiz.33 Johann Mattheson (1681–1764)[] galt mit seiner Übersetzung und zugleich Nachahmung von Tatler und Spectator unter dem Titel Der Vernünfftler (1713–1714) als erster Wochenschriftenautor in deutscher Sprache.34 Es folgten unter anderem die Discourse der Mahlern (1721)35 in der Schweiz und Pierre de Marivaux' (1688–1763)[] Le Spectateur français (1721–1724)36 in Frankreich, die beide auf den Amsterdamer Spectateur zurückgingen, aber deren Nachbildungen nur mehr funktionell mit der Vorlage in Verbindung standen. Eine stärkere Strahlkraft als der regional verankerte Vernünfftler hatte schließlich der anspruchsvollere Patriot (1724–1726), der im gesamten deutschen Raum rezipiert wurde. Anfangs war für das Blatt eine wöchentliche Auflagenzahl von 400 geplant, nach 36 Nummern soll es aber bereits 5.000 Exemplare erreicht haben.37 Im Patrioten kommt der Gedanke der medialen Universalisierung des Erzählers im Sinne des globalen Dorfes schon im Incipit zum Ausdruck: "Ich bin ein Mensch, der zwar in Ober-Sachsen gebohren, und in Hamburg erzogen worden, der aber die gantze Welt als sein Vaterland, ja als eine eintzige Stadt, und sich selbst als einen Verwandten oder Mit-Bürger jedes andern, Menschen ansiehet."38 Schließlich sei noch Johann Christoph Gottscheds (1700–1766)[] weit vom Original abschweifende Wochenschrift Die Vernünfftigen Tadlerinnen (1725–1727)39 erwähnt.
Wenngleich die Wochenschriften in den nordischen lutherischen Ländern blühten, benötigte der katholische Süden noch einige Jahrzehnte, bis sich die Gattung entfalten konnte. Für den romanischen Raum dürfte der in Holland erschienene Spectateur die einflussreichste Vorlage gewesen sein.
In Italien trat die Gattung – mit Ausnahme einer frei gestalteten Teilübersetzung des Spectateur, die bereits 1728 unter dem Titel Il Filosofo alla Moda40 in Venedig erschienen war –, erst in der zweiten Jahrhunderthälfte auf. 1752 erschien La Spettatrice,41 dann folgten Schlag auf Schlag die Gazzetta Veneta (1760/1761),42 der Osservatore Veneto (1761/1762)43 (später Gli Osservatori Veneti), La Frusta Letteraria di Aristarco Scannabue ("Die literarische Peitsche des Aristarco Ochsenschlächter") (1763–1765) und Il Caffè (1764–1766).44
Nach Spanien gelangte das Wochenschriftenmodell sowohl über die englische Originalversion als auch über französische Übersetzungen und Nachahmungen. Auch italienische Versionen dürften hin und wieder für spanische Schriften Pate gestanden haben. Das prominenteste Beispiel der spanischen Espectadores ist das Wochenblatt El Pensador ("Der Denker") von José Clavijo y Fajardo (1726–1806), das zwischen 1762 und 1767 in Madrid erschien und 86 Pensamientos ("Gedanken") in Umlauf brachte.45 Nach El Pensador nahm das Interesse für diese partikulare journalistische Form drastisch ab, bevor es zwanzig Jahre später mit El Censor (1781–1788)46 eine fulminante Wiedergeburt erlebte. Die Auflagenzahlen lagen hier jedoch bestenfalls bei 500 Exemplaren pro Ausgabe. Die spanischen Wochenschriften dürften trotz der niedrigen Auflagen den etwa zehnfachen Kreis von Rezipienten erreicht haben, da man die Blätter gerne weitergab oder auch in literarischen Gesprächszirkeln vorlas. Mit dem Presseverbot von Februar 1791 wurde die weitere Produktion von Wochenschriften in Spanien schließlich unterbunden.
Transnationale Besonderheiten im Gattungstransfer
Beim Transfer der Gattung aus der englischen Gemengelage über die niederländisch-französische Mediation in andere kulturelle Umgebungen kam es zu nationalen Ausprägungen, die sich auch in einem spezifischen Lokalkolorit zeigen konnten. Zwar behandelten die Wochenblätter ganz selten Ereignisse des Tagesgeschehens, sie schrieben sich aber sehr oft deutlich in die nationalen Erzählformen wie auch in die Formen der Repräsentation von Sozialität ein. Es kam häufig vor, dass spezifische Interna aus der englischen Politik, Literatur oder Kultur in den europäischen Übersetzungen und Nachahmungen ausgelassen wurden oder bisweilen durch Fragestellungen aus dem gerade geltenden Kulturkreis ersetzt oder bereichert wurden. Die Figur des fiktiven Autors bzw. Herausgebers war meist lokal gefärbt oder zumindest für kulturspezifische Fragestellungen aus seinem Umfeld offen. Bei der Übernahme der französischsprachigen Wochenschriften durch Autoren anderer Provenienz wurden ähnliche Strategien verfolgt. Auf diese Weise bereicherten französische, deutsche, italienische oder spanische Autoren ihre Schriften mit lokalen Besonderheiten und trugen damit zur Herausbildung eines transnationalen Netzwerks bei.
Häufig entzündeten sich journalistisch-literarische Debatten an der Frage, ob nun die kulturelle Tradition vor Ort die Wochenschrift prägte oder ob es sich bei diesem oder jenem Text um einen Import aus dem englischen, holländischen, französischen oder deutschen Kulturbereich handelte. Damit war auch die Frage verknüpft, in welchem Ausmaß die protestantische Ethik in die katholische Kultur implantiert wurde, oder – daran anschließend – wie weit die einer Wochenschrift eingeschriebenen liberalistischen Vektoren für den Import der Moderne in einen Kulturkreis verantwortlich waren. Es konnte jedoch auch vorkommen, dass die Vertreter einer spezifischen Tradition mit den Mitteln der Wochenschrift gegen die eigene Gattung und den damit verbundenen Liberalisierungsschub anschrieben, wie dies etwa vom spanischen El Escritor sin título ("Der Autor ohne Titel", 1763)47 praktiziert werden sollte. Wenn dies der Fall war, so wurde diese Absicht zumeist durch die satirische Note der Wochenschrift verdeckt, so dass es in zahlreichen Fällen noch immer zu einem Konflikt der Interpretationen kommen konnte.
Ende der Wochenschriften
Der ephemere Charakter war diesen Blättern von vornherein auf die Fahnen geschrieben. In den protestantischen Kulturen verblühten sie schneller und machten dem Roman Platz, in den katholischen Gefilden des Südens wie in Wien oder Madrid hielten sie sich mit ihrem moralisierenden Plauderton teilweise bis in das 19. Jahrhundert hinein. Sie lebten auch in den Beilagen zu den Intelligenzblättern, wie etwa den Wöchentlichen Osnabrückischen Intelligenzblättern von Justus Möser (1720–1794), fort. In Spuren sind sie noch in vielen Erzählwerken erkennbar. Wolfgang Martens (1924–2000), der sich mit den deutschen Schriften befasste, beschreibt ihr Ende überaus treffend:
Die Wochenschrift alten Schlages, die die Verfasserfiktion beibehält und zugleich nach wie vor Vernunft und Tugend zum Zwecke der bürgerlichen Glückseligkeit zu fördern bestrebt ist, ist nach 1770 in den nördlichen Breiten selten geworden. Der Roman der Hermes, La Roche und Miller macht ihr das Publikum abspenstig. Sturm und Drang und der Hochsubjektivismus der Empfindsamkeit sind für die Nachfahren der Gattung kein gedeihliches Klima mehr. Das stärkere politische Interesse, das sich seit den 70er Jahren in Deutschland bemerkbar macht, ist ihr fremd, die Aufregungen der Französischen Revolution vollends verschlagen ihr die Rede und der Geist der Romantik ist ihrer bürgerlich-lehrhaften Haltung gänzlich fern. Stoffe, Themen, Motive, erbaulicher Sinn und redliche Absichten leben fort im bürgerlichen Unterhaltungsblatt des 19. Jahrhunderts ….48