Kommentar

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Dr Marco Jorio
Dr. Marco Jorio, Chefredaktor, "Historisches Lexikon der Schweiz" (HLS), Bern.

"Die Geschichte wird anhand der Längen- und Breitengrade geschrieben!"
So oder ähnlich hat uns Erstsemestrigen an der Universität Fribourg in der Schweiz Professor Heribert Raab, der in Mainz studiert hatte, die Ortsgebundenheit der Geschichtsschreibung vor Augen geführt. Nationale Herkunft und kulturell-sprachlicher Hintergrund determinieren demzufolge die Historiographie. Von daher müsste eigentlich der ehrgeizige Plan, eine europäische Geschichte zu schreiben, entweder scheitern oder in einer Sammlung von nationalen und kulturellen Froschperspektiven enden. Dass dies nicht sein muss, beweisen Ihr gelungenes Projekt – und ein bisschen auch das Historische Lexikon der Schweiz (HLS). Trotzdem stellte sich auch uns die Frage, wie man in transnationalen und interkulturellen Projekten der Falle der nationalen und kulturellen Einengung entfliehen kann. Dass dies ein Problem war bzw. ist – auch bei EGO – belegt der Beitrag von Lászlo Kontler. Ausgehend von der Statistik der Nationalität des Editorial Board und der Produktionsorte der Artikel kommt er zum Schluss: "The most conspicuous impression is an apparent preponderance of German and germanophone scholarship in the realization of the project". Mit dieser Aussage impliziert er – ohne dies weiter auszuführen –, dass EGO eine stark germanophone Ausrichtung hat oder negativ formuliert: ihren übernationalen und gesamteuropäischen Anspruch noch nicht ganz einlösen kann. Ob dieser Mangel tatsächlich besteht, müsste in einer seriösen Analyse abgeklärt werden. Ein kursorischer Gang durch das riesige Werk bestätigt, dass EGO zweifellos die europäische Geschichte im Auge hat. Und da die Nationalität und Muttersprache eines Autors ja eigentlich kein Hindernis für eine gesamteuropäische Vision sein müssen, könnte man über diese Feststellung achselzuckend hinweg gehen. Aber auch dem schnellen Beobachter fallen einige Merkwürdigkeiten und Engführungen auf, so etwa beim Artikel über die Waldenser, deren Konfessionsmigration zeitlich (1699–1823) und räumlich (Südwestdeutschland) eingeschränkt dargestellt wird. Hier hätte man vielleicht eher eine etwas breitere Gesamtdarstellung der Waldensermigration erwartet. EGO will zwar (zu Recht) keine umfassende Enzyklopädie zur europäischen Geschichte sein, aber die behandelten Themen sollten meines Erachtens dann schon umfassend bzw. gesamteuropäisch behandelt werden.

Das Problem der "Längen- und Breitengrade" ist auch bei uns im HLS bekannt. Zwar bewegen wir uns nicht auf der sehr anspruchsvollen europäischen Flughöhe, sondern nur auf der tieferen schweizerischen, und das Problem der Transnationalität ist eher ein sekundäres Phänomen. Zentral ist die Interkulturalität. Das HLS wird in drei kompletten, fast vollständig identischen Sprachausgaben auf Deutsch, Französisch und Italienisch und in einer zweibändigen rätoromanischen Teilausgabe publiziert. Am 21. Oktober 2013 haben wir in der italienischen Schweiz den zwölften Band, d.h. drei weitere Bücher, der Öffentlichkeit übergeben. Somit sind heute zwölf der 13 Bände, also 36 plus zwei Bände LIR [Lexicon Istoric Retic], erschienen. In einem Jahr soll die Buchausgabe mit dem 13. Band abgeschlossen werden. Schon seit 15 Jahren wird der Inhalt der Artikel ohne Bilder im sogenannten e-HLS unentgeltlich angeboten. Wir waren bereits dem Grundsatz des Open Access verpflichtet, bevor es den Begriff überhaupt gab! Das HLS behandelt in 36.000 Artikeln (Biographien, Familienartikel, Ortsartikel und Sachartikel) die Geschichte der Schweiz vom Auftreten der ersten Menschen bis heute und basiert auf dem Ansatz der histoire totale. Die meisten Artikel sind sehr kurz, aber einige sind länger und umfangmäßig mit den EGO-Beiträgen vergleichbar (zum Beispiel die Kantonsartikel oder große Sachartikel).

Der Fokus bleibt aber nicht auf die Schweiz beschränkt: So haben wir Artikel zu allen Ländern der Erde, die die Geschichte der Schweizer Beziehungen zu diesen Staaten sowie zu vielen für die Schweiz wichtigen Gebieten oder Orten, vor allem in der ausländischen Nachbarschaft behandeln (so zum Beispiel zu Mainz oder zu Ausländern, welche für die Schweiz wichtig waren, wie etwa Lenin oder Elisabeth von Österreich). Das ist unser bescheidener Beitrag zur transnationalen Geschichtsschreibung. Und das ist ein dornenvolles Unterfangen. Aber wem sage ich das! Die nationale Optik beeinflusst die Darstellung mehr als wir uns je erträumt hatten. Als Beispiel sei der sogenannte Veltliner Mord von 1620 genannt, als die katholischen und italienischsprachigen Veltliner sich gegen ihre deutschsprachigen und mehrheitlich protestantischen Graubündner Herren auflehnten. Der italienische Autor des Artikel Veltlin stellte das Ereignis als politischen und sozialen Aufstand der unterdrückten Veltliner gegen ihre deutschsprachigen Herren dar, wohingegen der deutschsprachige und protestantische Bündner Autor im Artikel Veltliner Mord das Ereignis als antiprotestantische, gegenreformatorische Gräueltat beschrieb, die von Mailand und Madrid orchestriert worden war. Man glaubte, zwei verschiedene Ereignisse vor sich zu haben. Erst durch Gespräche konnten die beiden Artikel so aneinander angeglichen werden, dass sie sich mindestens nicht mehr diametral widersprachen.

Unsere große Herausforderung ist aber die Drei- bzw. Viersprachigkeit, also die Interkulturalität. Wir übersetzen die Artikel in neun Übersetzungsrichtungen. Wir stellen fest, dass die Aufgabe stark vereinfacht wird, da wir "nur" die schweizerische Realität behandeln und sich die politischen, rechtlichen und sozialen Bedingungen in den letzten 500 Jahren über die Sprachgrenzen hinweg stark angenähert haben. Schwierig wird es, wenn sich interkulturelle (sprachliche) und transnationale Aspekte kumulieren. So sind etwa Artikel über die benachbarten Regionen Frankreichs für die deutsche und italienische Redaktion schwieriger zu bearbeiten als die Artikel aus der französischsprachigen Schweiz. Und trotzdem gibt es immer wieder fast unlösbare Probleme, vor allem je weiter man in der Zeit zurückgeht. Besonders die Rechtsgeschichte bereitet uns immer wieder Kopfzerbrechen. Das kann zwei Gründe haben: Entweder gab es eine historische Realität nur in einer Sprachregion oder die Historiographien der einzelnen Sprachräume haben den Gegenstand völlig anders angegangen. Zwei Beispiele: Pieve, eine Art Großpfarrei, die aber später auch eine politische Gebietskörperschaft werden konnte, gibt es nur im italienischen Sprachraum. Oder als weiteres Beispiel: Die deutschen Artikel Stadtrechte und Landrechte konnten nur mit einem lexikalischen Salto mortale ins Französische und Italienische übersetzt werden, da die französische und die italienische Rechtsgeschichtstradition diese Kategorie nicht kennt: "La Suisse latine ne connaissait pas ces catégories", heißt es lapidar in der französischen Ausgabe und im Italienischen: "Nelle regioni di lingua italiana non vi era differenza fra diritto territoriale e diritto cittadino". Und solche Beispiele gibt es viele. In solchen Fällen thematisieren wir das Problem in den betroffenen Artikeln: "Sprachrelevant" sagen wir dazu. Daher sind die Artikel in den drei Sprachausgaben nicht immer zu 100 Prozent identisch. Eine zweite Lösung ist die komparatistische Gegen- oder Nebeneinanderstellung. Als Beispiel: Die Literaturgeschichte der Schweiz wird in je eigenen Artikeln zur deutschen, französischen, lateinischen etc. Literatur abgehandelt oder wie im Fall des Artikels Verlage in eigenen Kapiteln zu Verlagen in der Deutschschweiz, in der italienischen Schweiz etc. Als dritte Lösung fasst die Redaktion zuweilen die Beiträge von zwei oder mehr Autoren in einem einzigen Artikel zusammen. Ein solcher Beitrag wird dann von den beteiligten Autoren gemeinsam gezeichnet (eine sogenannte Ko-Autorenschaft).

Soll man nun angesichts dieser Schwierigkeiten resignieren und auf transnationale und interkulturelle Geschichtsschreibung verzichten? Nein! EGO hat es ja auch gewagt. Um ein abgerundetes Bild zur Geschichte der gesamten Schweiz zu erhalten, wenden wir ein dreistufiges Modell an:

  1. Wir wählen Autoren aus, die am besten Gewähr bieten, dass sie sprachübergreifend forschen und entsprechende Kenntnisse haben. Allen Autoren bläuen wir ein, dass sie die ganze Schweiz behandeln müssen: Zürich oder Genf sind nicht die Schweiz! Diese Sensibilisierung bewirkt schon einiges, reicht aber nicht.
  2. Artikel mit interkultureller bzw. gesamtschweizerischer Relevanz legen wir jeweils wissenschaftlichen Beratern aller Sprachregionen zur Prüfung vor. Für transnationale Artikel haben wir beispielsweise eigene Berater für Frankreich, (Süd-)Deutschland und Italien. Und da kommen häufig Ergänzungen oder Korrekturen. Wir unterbreiten einen Artikel also nicht einem wissenschaftlichen Beirat oder einem Gremium, sondern Einzelpersonen, die sich hinsichtlich der jeweiligen Fachgebiete, Sprachregionen oder Länder durch eine besondere Kompetenz auszeichnen.
  3. Eine zentrale Funktion im Aufbau einer interkulturellen Gesamtschau der Schweizer Geschichte nimmt die Übersetzung ein. Sie ist mehr als nur die technische Übertragung eines Textes von einer Sprache in eine andere. Mit der Übersetzung schaffen wir ein neues Werk, das der Kultur, der Logik und der historiographischen Tradition der Zielsprache entspricht und dem génie de la langue gerecht wird. Häufig wirken die Übersetzungen auf die Originalartikel in der Originalsprache zurück, sei es dass das Original nicht klar war oder dass die Übersetzer bzw. die Übersetzungsredaktion Lücken und Fehlaussagen für die eigene Sprachregion aufdecken.

Das Resultat dieses aufwendigen Vorgehens sind relativ abgerundete, sprachlich (hoffentlich) einigermaßen akzeptable Texte in den verschiedenen Sprachen, die nach unserer Erfahrung als "eigene" wahrgenommen genommen, auch wenn da und dort die Übersetzung bzw. eine andere historiographische Tradition deutlich wird. Für diesen Kommentar wurde ich gefragt, wie übersetzte Beiträge in verschiedenen sprachlichen Nutzergruppen rezipiert werden, ob zum Beispiel deutsch verfasste, ins Französische übersetzte Lexikoneinträge von Frankophonen akzeptiert werden. Bei den unzähligen kleinen Lexikonartikeln spielt das tatsächlich keine Rolle. Hier stellen wir keine unterschiedliche Nutzung je nach Originalsprache des Artikels fest. Eigentlich gilt dasselbe auch bei den größeren Artikeln. Aber bei diesen wird häufiger als bei kleinen Beiträgen bemängelt, dass einzelne Aspekte aus der einen oder anderen Region oder Sprachgruppe nicht oder nicht genügend berücksichtigt worden seien. Die Sensibilität für eine nicht ausgewogene oder lückenhafte Darstellung ist hier wesentlich größer.

Ich weiß, dass das vom HLS angewandte Vorgehen kostspielig ist; es funktioniert wohl nur für ein kleines Land wie die Schweiz. Mir selber wird schwindlig, wenn ich daran denke, EGO müsste in alle europäischen Sprachen übersetzt werden – doch erst dann wäre das Werk hundertprozentig transnational und interkulturell! Aber vielleicht könnte man in der Revisionsrunde eine Gegenlektüre der Artikel durch Spezialisten in den einzelnen, jedenfalls in den wichtigeren, auch peripheren Sprachregionen ins Auge fassen. Anschliessend könnten die EGO-Beiträge entweder durch die Autoren des Originalartikels oder durch die Redaktion ergänzt und europäisch "abgerundet" werden, oder man könnte den EGO-Artikeln die Beiträge der Experten als selbstständige Aussagen beigeben – sei es in Form von ergänzenden Artikeln oder als Diskussionsbeiträge. Dann ginge der Wunsch von Kollege Kontler nach einer "comparative and transnational history" noch etwas besser in Erfüllung.

Marco Jorio, Bern1

Anhang

  1. ^ Dr. Marco Jorio, Chefredaktor, "Historisches Lexikon der Schweiz" (HLS), Bern, Schweiz (marco.jorio@dhs.ch).

Redaktion: Claudia Falk

Zitierempfehlung

Jorio, Marco: Multi-/Inter-/Trans-Nationalität. Kommentar, in: Joachim Berger (Hg.), EGO | Europäische Geschichte Online – Bilanz und Perspektiven, Mainz 2013-12-15. URL: https://www.ieg-ego.eu/joriom-2013-de URN: urn:nbn:de:0159-2014021750 [JJJJ-MM-T].

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