Einführung
Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts fanden Zehntausende französischsprachige Reformierte Zuflucht in Deutschland. Diese Glaubensflüchtlinge werden seit dem 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum mit dem problematischen Sammelbegriff "Hugenotten" belegt. Dieser Beitrag konzentriert sich auf eine Gruppe von Exulanten, die oft zu den Hugenotten gerechnet werden, sich selbst jedoch als "Vaudois" bezeichneten. Die meisten von ihnen wurden 1698 aus dem Piemont vertrieben, das damals den Herzögen von Savoyen (seit 1720 Könige von Sardinien, seit 1861 Könige von Italien) gehörte.
Zuerst wird kurz Herkunft, Geschichte, Zusammensetzung und Selbstverständnis der "Vaudois" dargestellt, danach wird gefragt, welche (land)wirtschaftlichen, politischen, sozialen, kulturellen und kirchlichen Neuerungen sie den Regionen Deutschlands brachten, in denen sie angesiedelt wurden. Gab es, mit anderen Worten, einen "kulturellen Austausch" oder aber einen "Kulturtransfer" zwischen den Waldensern und ihrer neuen Heimat?
Die "Vaudois"
Der Begriff "Vaudois"1 hat in der französischen Sprache drei Bedeutungen.2 Üblicherweise werden damit die Waadtländer, Einwohner des schweizerischen Kantons Waadt (französisch: Vaud) bezeichnet. Allerdings wird schon seit dem Spätmittelalter der Begriff "Vaudois" auch für die Angehörigen einer als ketzerisch verurteilten Bewegung verwendet, die auf einen gewissen Valdesius (Petrus Waldus) aus Lyon zurückgeführt wurde. Es handelt sich hier um die französische Umsetzung des lateinischen Worts "valdenses". Im 15.–17. Jahrhundert diente der Begriff "Vaudois" zudem als Bezeichnung für Hexen bzw. "Vauderie" oder "Vaudoiserie" für Hexerei.3 In diesem Artikel wird er in der an zweiter Stelle genannten Bedeutung verwandt.
Valdesius war ein erfolgreicher Wanderprediger, der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Lyon lebte.4 Die Kirche verurteilte ihn und seine Schüler 1184 wegen Ungehorsams, da sie darauf bestanden, als Laien zu predigen, obwohl der zuständige Bischof die Genehmigung dazu verweigert hatte. Valdesius und seine Anhänger aber verwiesen auf das Beispiel der Apostel, die auch nur Fischer und Handwerker gewesen seien. Bald entstanden in den Kreisen der Waldenser Legenden, um ihre "apostolische Sukzession" zu belegen. So bekam Valdesius seit ca. 1350 den Vornamen "Petrus". In anderen Legenden führten die Waldenser sich sogar auf die Zeiten der Apostel zurück.5
Die Waldenserbewegung breitete sich trotz ihrer Verurteilung als ketzerisch bald über ganz West- und Mitteleuropa aus, wurde aber schließlich von der Inquisition weitgehend unterdrückt. Nur in den Cottischen Alpen konnten die Waldenser sich bis in die Neuzeit hinein behaupten. Bis zu ihrer blutigen Verfolgung in den Jahren 1545 bzw. 1561 gab es außerdem im Luberon und in Kalabrien noch Waldenser, die als Kolonisten aus den Cottischen Alpen gekommen waren.
Die Cottischen Alpen liegen auf der Wasserscheide zwischen dem Po und der Durance, die bei Avignon in die Rhône mündet. Die Waldenser waren im 16. Jahrhundert nur noch in einigen Bergtälern auf der italienischen Seite vertreten. Die wichtigsten waren das Pellicetal (damals val Luserne), das Germanascatal (damals val Saint Martin) und das längere Chisonetal (damals: val Cluson). Die ersten beiden gehörten, wie auch das untere Chisonetal (damals val Pérouse), zum Piemont und damit zum Herrschaftsgebiet der Savoyer; kirchlich unterstanden sie dem Erzbischof von Turin.
Das obere Chisonetal (damals val Pragela) gehörte dagegen zur Dauphiné, die schon 1349 französisch geworden war; kirchlich unterstand es jedoch ebenfalls dem Erzbischof von Turin. Erst 1713 fiel auch das obere Chisonetal an die Herzöge von Savoyen, aber bereits vorher unterhielten die Pragelaner enge Verbindungen zum unteren Tal und auch zum angrenzenden Germanasca- und Pellicetal, nicht zuletzt wegen der ihnen gemeinsam angelasteten "Ketzerei".6
Das Überleben der Waldenser in den Cottischen Alpen war sicherlich dieser Grenzlage zu verdanken. In Zeiten der Verfolgung konnten sie jenseits der Grenze Zuflucht suchen oder bekamen von dort Unterstützung. Nicht zu unterschätzen ist jedoch auch die Rolle ihrer Wanderprediger (Barba genannt).7 Diese "bäuerlichen Intellektuellen schlechthin"8 bildeten das Rückgrat der Bewegung und leiteten 1532 den Anschluss der Waldenser an die Reformation bzw. 1555 den Aufbau einer reformierten Kirche calvinistischer Prägung in den Tälern in die Wege.
Von großer Bedeutung war auch, dass die Waldenser tief in der Gesellschaft verwurzelt waren. Bereits im 14. Jahrhundert strebten die Gemeinden in den Bergtälern der Cottischen Alpen die Befreiung von allen feudalen Verpflichtungen an. Vor allem im Pragelatal konnte dies auch verwirklicht werden.9 Dieses Streben nach gemeindlicher Selbstständigkeit und Selbstverwaltung richtete sich nicht nur gegen die weltlichen Obrigkeiten, sondern auch gegen die katholische Kirche. Die Wanderprediger, die aus den Tälern stammten und die Bevölkerung in der okzitanischen Volkssprache unterrichteten, unterstützten durch ihre Kritik am Machtmissbrauch der Kirche die antifeudale, kommunale Bewegung in den Bergtälern.10
In den Tälern existierte eine kleine Oberschicht von Kaufleuten, Ärzten, Juristen, Großgrundbesitzern und später auch Pfarrern. Die große Mehrheit der Waldenser war jedoch in der Landwirtschaft tätig. Ihre Lebensbedingungen waren allerdings ganz unterschiedlich. Verantwortlich dafür waren an erster Stelle die geographischen Bedingungen auf der italienischen Seite der Alpen. Wie eine Mauer erhebt sich das Gebirge am Rande der Poebene. Zwischen den Tälern liegt auf einer Entfernung von weniger als 20 Kilometern oft ein Höhenunterschied von 400 bis zu 3.000 Metern; die Pässe nach Frankreich überwinden meist eine Höhe von 2.000 bis 2.500 Metern. Es gab daher innerhalb dieser Täler große klimatische Unterschiede, die sich direkt auf die Landwirtschaft auswirkten. Das Klima im unteren Bereich der Täler wurde im Sommer von der feuchten Wärme geprägt, die aus der Poebene aufstieg. Hier lebte die Bevölkerung von Milch, Getreide, Obst und Weinbau; in Krisenzeiten konnten sie auf Kastanien als Nahrungsmittel zurückgreifen.11 Oft wurde so viel produziert, dass ein Teil verkauft werden konnte. Überdies wurden hier im 17. Jahrhundert viele Maulbeerbäume angepflanzt;12 im Piemont wurde seit 1650 außerdem zunehmend Seide für Lyon produziert. Hinweise auf Tabakanbau gibt es nicht.
In den oberen Tälern dagegen herrschte alpines Klima mit langen Wintern – insbesondere während der damaligen kleinen Eiszeit. Hier wurde zwar auch Getreide angebaut, lebensnotwendig aber waren Viehzucht und Milchwirtschaft. Im Sommer zogen die Bauern auf die Almen. Hinweise auf den Anbau von Kartoffeln, der auch auf großen Höhen möglich ist, fehlen vor 1700 völlig.
Das ökonomische Potential der Waldenser erwies sich im Jahre 1532. Als die Barba und die waldensischen Notabeln auf einem Treffen in Chanforan zusammenkamen und beschlossen, sich der schweizerischen Reformation anzuschließen, stellten die Waldenser auf Vorschlag des Reformators Guillaume Farel (1489–1565), der damals in Berner Diensten stand, einen großen Betrag zu Verfügung, um den Druck der ersten reformatorischen Bibelübersetzung in französischer Sprache zu finanzieren.13 Diese sogenannte Olivétan-Bibel erschien 1535 in Neuchâtel.
Durchsetzen konnte sich die Reformation jedoch erst 20 Jahre später.14 Im Frühjahr 1555 baten die Waldenser die Compagnie des Pasteurs in Genf, ihnen Pfarrer und Schulmeister zu senden, die sie selbst bezahlten. Die Waldenser glichen sich jetzt in Bekenntnis, Frömmigkeit und Kirchenordnung Genf bzw. der reformierten Kirche an, die sich zu gleicher Zeit auch in Frankreich entwickelte und ebenfalls stark von Genf geprägt war. Die okzitanische Sprache blieb nur noch als Umgangssprache in Gebrauch; im Gottesdienst und in der Schule verwandte man das Französische.
Der Übergang zum reformierten Protestantismus bedeutete jedoch nicht das Ende des Waldensertums, im Gegenteil: Gerade in jener Zeit, in der sie ihre mittelalterlichen Traditionen aufgaben, bildete sich eine neue "waldensische" Identität heraus. Während die Waldenser vorher den Namen "Vaudois" – der sie als Ketzer und Hexen diskreditierte – immer abgelehnt hatten, bezeichneten sie sich seit 1561 stolz als peuple vaudois und später ihre Kirchengemeinden als églises vaudoises. Die Legende ihres apostolischen Ursprungs wurde revitalisiert und diente zur Verteidigung und als Markenzeichen der Waldenser. Sie beriefen sich angesichts der Unterdrückungsmaßnahmen des Herzogs von Savoyen auf ihre antiquitas: Ihre Vorfahren hätten seit Jahrhunderten die wahre Religion Jesu Christi überliefert. Daher – so forderten sie – stehe ihnen Religionsfreiheit zu.15 Gleichzeitig stellten die Waldenser ihre Bewegung im evangelischen Ausland als mater Reformationis (Mutter der Reformation) dar. Sie hätten bereits lange vor Martin Luther (1483–1546), Johannes Calvin (1509–1564) und den anderen Reformatoren die evangelische Wahrheit bezeugt. Die Waldenser beanspruchten also, "Vorreformatoren" zu sein.16
Die reformierte Waldenserkirche
Die neue Waldenserkirche blieb nicht auf die piemontesischen Täler beschränkt. Auch die sechs reformierten Kirchengemeinden17 des Pragelatals gehörten dazu. Die Waldenserkirche war also "binational". Das änderte sich erst 1598, als der Herzog von Savoyen den französischen Waldensern verbot, noch länger an den Synoden der Waldenserkirche teilzunehmen. Die Gemeinden des Pragelatals schlossen sich deshalb der Provinzsynode der Dauphiné an. Trotz ihrer Ausgliederung aus der Waldenserkirche betrachteten die Pragelaner sich weiterhin als "Waldenser".
Das Pragelatal war 1598 vollständig reformiert und blieb das auch bis tief ins 17. Jahrhundert. Im Mai 1685 – also ein halbes Jahr vor der Aufhebung des Ediktes von Nantes – verbot König Ludwig XIV. (1638–1715) die reformierte Kirche im Pragelatal.18 Ungefähr 2.500 Pragelaner (ein Drittel der Bevölkerung des Tals) flohen 1685–1687 über die Schweiz nach Deutschland.19 Einige fanden schon damals endgültig Aufnahme in der Landgrafschaft Hessen-Kassel und waren beteiligt an den Gründungen von Carlsdorf, Mariendorf, Schöneberg und Schwabendorf.20 Im Jahre 1693 siedelten mehr als 1.600 Pragelaner in die piemontesischen Waldensertäler um,21 wurden aber 1698 auch von dort vertrieben und ließen sich 1699 zuerst im südlichen Hessen nieder.
Im Jahr 1713 gab Frankreich im Frieden von Utrecht22 das Pragelatal an den Herzog von Savoyen ab. Dieser führte bis 1730 eine harte Rekatholisierungspolitik durch, weil er eine Stärkung der Waldenserkirche durch die Wiedereingliederung des Pragelatals unterbinden wollte. 1730 verließen die letzten Waldenser das Tal, mehr als 400 Personen.23
Seit 1598 war also die Waldenserkirche auf das Piemont beschränkt. Diese genoss bereits seit 1561 das Recht, die reformierte Religion öffentlich auszuüben. Grundlage war der Vertrag von Cavour. Herzog Emanuel Philibert von Savoyen (1528–1580) musste den Waldensern die Religionsfreiheit zugestehen, nachdem sein Versuch, sie mit Gewalt zu rekatholisieren, wegen des bewaffneten Widerstands der Waldenser und seines eigenen Geldmangels fehlgeschlagen war.24 Trotz des Vertrags von Cavour galten die Waldenser weiterhin als Ketzer und Rebellen. Meist versuchten die Herzöge, durch die Aussendung von katholischen Missionaren, durch Geldzahlungen und durch restriktive Edikte die Waldenser zu konvertieren. Gelegentlich kam es auch zu Gewaltanwendung und blutigen Verfolgungen. Die Waldenser konnten sich jedoch behaupten, nicht nur durch ihren erfolgreichen bewaffneten Widerstand, sondern auch wegen massiver diplomatischer Hilfe aus dem Ausland.
Trotzdem wurde die Lage für die Waldenser im Piemont im Laufe des 17. Jahrhunderts immer schwieriger. 1630 besetzte Frankreich das linker Ufer der Chisone, wo sich drei der größten Waldensergemeinden (Villar, Pinache und Perouse) befanden. Zwar gehörten diese Gemeinden weiterhin der piemontesischen Waldenserkirche an, aber sie waren 1685 vom Widerruf des Ediktes von Nantes durch Ludwig XIV. betroffen. Den Dragonnaden (Strafmaßnahmen, mit denen Protestanten zur Konversion gezwungen werden sollten) ausgesetzt, wurden die meisten Waldenser des Perosatales zum Schein katholisch. Nur wenige flohen.25
Anfang 1686 untersagte Herzog Viktor Amadeus II. von Savoyen (1666–1732) unter dem Druck Ludwigs XIV. die Ausübung der reformierten Religion ebenfalls am rechten Ufer der Chisone und in den beiden anderen Waldensertälern. Nachdem die piemontesischen Waldenser vergeblich Widerstand geleistet hatten, wurden sie Ende 1686/Anfang 1687 ausgewiesen und nach Genf deportiert. So schien 1687 das Ende der Waldenser in den Cottischen Alpen besiegelt.
Wie die Waldenser aus dem Pragelatal, die 1685 geflohen waren, suchten auch die piemontesischen Waldenser zuerst Zuflucht in Deutschland, gerieten dort jedoch in die Wirren des Pfälzischen Erbfolgekriegs (1688–1697), so dass viele wieder in die Schweiz zurückkehrten. Hier bereitete der Waldenserpfarrer Henri Arnaud (1643–1721)[] bereits seit 1688 in Zusammenarbeit mit dem niederländischen Gesandten Gabriel de Convenant insgeheim die bewaffnete Rückkehr vor. Die Expedition fand im August 1689 statt. Ungefähr 1.000 Waldenser und Hugenotten erreichten in einem Gewaltmarsch von 12 Tagen die piemontesischen Waldensertäler und traten dort in einen Guerillakrieg ein.26 Diese "Glorreiche Rückkehr" war einer der Gründe dafür, dass Viktor Amadeus II. sich im Juni 1690 mit der antifranzösischen Koalition verband.
Auf Einladung des Herzogs, der jetzt Truppen gegen Frankreich brauchte, zogen 1690/1691 die meisten Waldenser, die noch im Ausland waren, mit ihren Familien in die piemontesischen Waldensertäler zurück. Nachdem die Alliierten 1693 kurzfristig das Chisonetal besetzten hatten, siedelten, wie bereits erwähnt, ca. 1.600 Pragelaner in die piemontesischen Waldensertäler um. Das Gleiche taten 1693 ca. 1.200 Einwohner des Perosatals.27 Seit 1690 kamen außerdem viele Hugenotten ins Piemont, um gegen Frankreich zu kämpfen. Sie hofften, dass der Krieg Ludwig XIV. zwingen würde, das Edikt von Nantes wieder in Kraft zu setzen.
Diese Hoffnung zerschlug sich. Im Frieden von Rijswijk, der den Pfälzischen Erbfolgekrieg 1697 beendete, machte Ludwig XIV. den französischen Protestanten kein einziges Zugeständnis.28 Die öffentliche Ausübung der reformierten Religion blieb verboten, und die Flüchtlinge durften nur nach Frankreich zurückkehren, wenn sie konvertierten. Bereits ein Jahr vorher, 1696, hatte Ludwig XIV. überdies einen Sonderfrieden mit dem Herzog von Savoyen abgeschlossen. In einem Geheimartikel wurde vereinbart, dass Viktor Amadeus II. alle Protestanten, die aus Frankreich gebürtig waren, aus dem Piemont ausweisen sollte.29 Der Herzog begab sich dann am 1. Juli 1698 an die Ausführung.30 Alle französischen Waldenser und Reformierten, die nicht konvertieren wollten, mussten das Piemont verlassen. Davon waren auch die Waldenser von dem 1630 von Frankreich besetzten linken Ufer des Perosatals betroffen, obwohl dieses Gebiet 1696 wieder unter savoyische Herrschaft zurückgekehrt war.31 Allein die Waldenser, die im Pellicetal, im Germanascatal oder am rechten Ufer des Perosatals geboren waren, durften bleiben; sie hielten hier trotz aller Repressalien die Waldenserkirche bis zum heutigen Tag am Leben.32
Die Aufnahme der Waldenser in Deutschland
So mussten im August 1698 ungefähr 3.000 Waldenser und Hugenotten das Piemont verlassen. Dank diplomatischer Unterstützung des niederländischen Sondergesandten Pieter Valkenier (1641–1712)[] 33 zeigten sich 1699 mehrere Territorien in Südhessen und das Herzogtum Württemberg bereit, die Vertriebenen aufzunehmen. Grundlage dazu bildeten die sogenannten "Privilegien". Diese erlaubten den Waldensern "Kolonien" zu gründen, das heißt neue Gemeinwesen mit eigenen Sonderrechten. Meist wurden sie in speziellen, planmäßig angelegten "welschen" Dörfern angesiedelt, wofür die deutschen Nachbardörfer Gemarkungsteile abtreten mussten.
Die Pragelaner wurden für Südhessen bestimmt, wo sie im reformierten Ysenburg-Wächtersbach die Kolonie Waldensberg und im ebenfalls reformierten Nassau-Schaumburg die Kolonie Charlottenberg (heute Rheinland-Pfalz) gründeten. Einige Familien errichteten Dornholzhausen im lutherischen Hessen-Homburg, dessen regierender Landgraf allerdings reformiert war. Der größte Teil der Pragelaner wurde im lutherischen Hessen-Darmstadt angesiedelt, wo sie die Kolonien Walldorf und Rohrbach-Wembach-Hahn gründeten.
Die Waldenser aus dem Perosatal gingen nach Württemberg und gründeten die Kolonien Großvillars mit Kleinvillars, Perouse und Pinache mit Serres. Mit ihnen gelangten auch viele aus Frankreich gebürtige Reformierte nach Württemberg, die seit 1690 – oder manchmal schon viel länger, wie der Pfarrer Henri Arnaud aus Embrun in der Dauphiné – in den piemontesischen Waldensertälern gewohnt hatten. Sie kamen in Dürrmenz mit den Filialen Corres, Sengach und Schönenberg bzw. in Wurmberg unter. Später, um 1700/1701, zogen viele Pragelaner, die zuerst in Hessen angesiedelt worden waren, nach Württemberg um, weil sie dort bessere Bedingungen vorfanden, und gründeten die Kolonien Nordhausen, Neuhengstett und Palmbach mit Untermutschelbach (erst seit 1806 gehören Palmbuch und Mutschelbach zu Baden). So entstanden 1699 und 1701 dreizehn Waldenserkolonien in Deutschland, die meisten von ihnen in Württemberg. Sie pflegen bis heute die Erinnerung an ihre besondere Herkunft.34
(Land)wirtschaftliche Auswirkungen
Bei den Waldensern handelte es sich bis auf wenige Ausnahmen um Bauern.35 Trotzdem fanden sie Unterkunft in Deutschland. Die Landesherren siedelten 1686 bzw. 1699 sogar gern Bauern an, weil sie Gebiete rekultivieren wollten, die teilweise schon seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr bewirtschaftet wurden oder im Pfälzischen Erbfolgekrieg verwüstet worden waren. Sie hofften, dass sich dies positiv auf die Steuereinnahmen des Landes oder auf ihre persönlichen Einkünfte auswirken würde.
Die Pragelaner, die im südlichen Hessen angesiedelt wurden, waren von Haus aus Viehbauern. Die Böden, die ihnen zur Verfügung gestellt wurden, waren jedoch schlecht, und zur Viehhaltung fehlten die Weiden. Daher zogen viele bald nach Württemberg weiter oder in die Hugenottengründung Neu-Isenburg. Neue Kulturen haben die Pragelaner anscheinend in Hessen nicht eingeführt. Wohl verbreitete sich in den meisten hessischen Waldenserkolonien bald der sogenannte Hankulierstuhl, ein halbautomatischer Strumpfwirkerstuhl, welchen die Hugenotten aus Frankreich mitgebracht hatten.36 Denn nur durch Hanfhecheln und vor allem durch die Strumpfwirkerei konnten die Waldenser ihre Existenz in Hessen schließlich sichern.37
Die Waldenser aus dem Perosatal, die in Württemberg ansässig wurden, hatten nicht nur Erfahrung mit Viehzucht, sondern auch mit Ackerbau, Weingärten, Obstbäumen und Seidenkultur. In Württemberg erwartete man deshalb viel von ihrer Ansiedlung.38 Der Herzog hielt die Waldenser für geeignet, wieder eine Seidenkultur in Württemberg aufzubauen, und stellte ihnen Setzlinge zur Verfügung. Insbesondere in Schönenberg (das zuerst Des Mûriers d.h. "Maulbeerbäume" hieß) und in Großvillars wurde dieses Projekt einige Jahrzehnte lang verfolgt – auf Dauer jedoch ohne Erfolg.39 Ebenfalls erhoffte man sich, dass die Waldenser die Tabakkultur dauerhaft einführen könnten – was sie jedoch bald wegen der zu geringen Verkaufspreise wieder aufgaben.40 Die Waldenser sollen angeblich auch die Luzerne, eine kleeartige Futterpflanze, die auch auf kargen Böden gedeiht, mitgebracht haben – aber dies ist unwahrscheinlich.41
Noch heute wird gern erzählt, dass die Waldenser die Kartoffel nach Württemberg gebracht hätten. Dafür stützt man sich auf einen Bericht aus dem Jahr 1710, dem zufolge Antoine Seignoret von Luserna im Piemont dem Pfarrer Henri Arnaud in Schönenberg 200 Kartoffeln gebracht habe. Dieser habe die Ernte über die Waldenserkolonien verteilt und so die Nutzung der Kartoffel bekannt gemacht. Dieser Bericht ist allerdings nur in Drucken aus der Zeit um 1850 enthalten, die so viele Unstimmigkeiten aufweisen, dass es sich unmöglich um die Originalfassung von 1710 handeln kann.42 Bemerkenswert ist allerdings, dass die "Kartoffelgeschichte" bereits lange vor 1850 auch außerhalb der Waldenserkreise zirkulierte. Das älteste bisher bekannte Zeugnis stammt von dem hessischen Pfarrer Johann Ludwig Christ (1739–1813), der aus dem hohenlohischen Öhringen stammte. Er schrieb 1781 in seinem Werk Unterricht von der Landwirthschaft: "Im Jahr 1710 aber wurden [sic] die Kartoffel durch einen Waldenser, Namens Anton Seignoret, der sie als eine Seltenheit verkauft hatte, erst am Rhein und in unsern Gegenden ausgebreitet."43 Es ist unklar, woher Christ diese Information hatte. Möglicherweise zirkulierte der Bericht von 1710 in unterschiedlichen handschriftlichen Fassungen. Eindeutig belegt ist der Anbau von Kartoffeln bei den Waldensern erst 1736. Louis Gros, der von 1729 bis 1736 Pfarrer in Nordhausen war, bat nämlich im Juni 1736 den Herzog von Württemberg um den kleinen Zehnten der Kartoffeln "die seine Gemeindemitglieder im Überfluß anpflanzen".44 Es ist also nicht auszuschließen, dass zumindest Württemberg den Waldensern nicht nur die Wiederaufnahme der Seidenkultur, sondern auch die Einführung des Kartoffelanbaus verdankt.
Anders verhielt es sich in Dürrmenz. Hier wurden vor allem Hugenotten angesiedelt. Diese brachten die Strumpfwirkerei mit, allerdings mit weniger Erfolg als in Hessen.45 Auch in den anderen Kolonien, insbesondere Neuhengstett, waren später viele Waldenser als Strumpfwirker tätig.
Politisch-soziale Auswirkungen
Die Ansiedlung der Waldenser erfolgte auf der Grundlage sogenannter Privilegien.46 Darin legten die Landesherren die Aufnahmebedingungen fest. Sie ermöglichten es den Waldensern nicht nur, Kolonien zu errichten, also eigene Gemeinwesen mit korporativen Sonderrechten, sondern verliehen ihnen auch persönliche rechtliche Vergünstigungen.47
Zu den wichtigsten Sonderrechten der Kolonien gehörte die freie und öffentliche Ausübung der reformierten Religion (siehe unten) und einer eigenen niederen Gerichtsbarkeit (inklusive dem Recht, eigene Gerichte mit Schultheißen und Bürgermeistern zu wählen).48 Wichtige persönliche Sonderrechte der Kolonisten waren die Befreiung von der Leibeigenschaft, das Recht auf freien Abzug und die Zunftfreiheit. Außerdem erhielten die Waldenser für einen bestimmten Zeitraum Steuerfreiheit. Diese Privilegien galten allerdings nur für die Waldenser, nicht für die Beisassen, das heißt die zugewanderten männlichen Deutschen, auch nicht, wenn sie eine Waldenserin geheiratet hatten; nur die wenigen deutsche Ehefrauen wurden integriert.
Die Waldenser genossen in Südhessen und Württemberg ein hohes Maß an Selbstverwaltung und persönlicher Freiheit, wie sie es aus der Heimat kannten.49 Diese Privilegien hatten sie seit 1688 in ihren Verhandlungen mit den deutschen Landesherren hartnäckig angestrebt,50 und sie konnten dies dank der tatkräftigen Unterstützung des niederländischen Gesandten Pieter Valkenier auch durchsetzen. Die Waldenser erhielten also besondere Rechte in deren Genuss die meisten Deutschen erst ein Jahrhundert später in Folge der Französischen Revolution und der französischen Besetzung kamen. Um 1700 war man sich dieser zukunftsweisenden Bedeutung der Privilegien allerdings nicht bewusst. Die Nachbardörfer beklagten sich immer wieder über die Privilegierung der Waldenser und es kam darüber sogar zu Handgreiflichkeiten.51 Darin äußerte sich auch Unzufriedenheit mit der Politik der Landesherren, die ihre eigenen Interessen auf Kosten der einheimischen Bevölkerung verfolgten und deren traditionelle Rechte aushebelten.
Bei den Privilegien des 17. Jahrhunderts handelte es sich in erster Linie um Sonderrechte, die ein Fürst einer Gruppe von Einwanderern gewährte. Die Waldenserprivilegien enthielten jedoch auch vertragliche Elemente: Der Landesherr konnte also keine Änderungen vornehmen, ohne vorherige Beratung mit und Zustimmung durch die Waldenser. Darauf hat insbesondere der Staatsrechtler und Historiker Friedrich Karl von Moser (1723–1798) im Jahr 1798 in seinem Werk Actenmäßige Geschichte der Waldenser hingewiesen. Die Waldenser seien, nachdem der Herzog von Savoyen seinen Vertrag mit ihnen gebrochen und sie ausgewiesen hatte, "in den Stand der natürlichen Freiheit" zurückgetreten und hätten als freie Menschen mit dem Herzog von Württemberg einen neuen, "wahre[n] und würkliche[n] gesellschaftliche[n] Vertrag" abgeschlossen, der ihnen Religionsfreiheit und andere Freiheiten garantierte.52 Die Waldenserprivilegien waren auch wegen dieser vertraglichen Elemente zukunftsweisend.
Während der napoleonischen Zeit wurde flächendeckend das Wirklichkeit, was die Waldenser bereits im Kleinen auf der Ebene von Privilegien erfahren hatten. Religionsfreiheit, die Befreiung von Leibeigenschaft, das Recht auf freien Abzug und Zunftfreiheit wurden im Zuge der Neuordnung des Verhältnisses zwischen Obrigkeiten und Untertanen Gemeingut. Das Vertragsdenken setzte sich allmählich durch. Es gibt keine Hinweise, dass die Waldenser durch ihre Privilegien zu diesem gesamtgesellschaftlichen Emanzipationsprozess beigetragen haben. Vielmehr wurden die Privilegien in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aufgehoben¸ die deutschen Beisassen wurden nun zu vollgültigen Bürgern und die Regierung der Migranten-Kolonien wurde in die Hände von Bürgermeister und Gemeinderat gelegt. Die alten Kolonien wurden also in die neuen staatlichen Verwaltungsapparate eingegliedert. Zwar blieben sie in kommunaler Hinsicht selbstständig bis ins 20. Jahrhundert, hatten aber keinen besonderen Status mehr.
Religiös-kirchliche Auswirkungen
Die Waldenser orientierten sich seit 1555 am Genf Calvins. Typisch für die reformierten Kirchen im Piemont und in Frankreich war die presbyterial-synodale Kirchenverfassung. Jede einzelne Gemeinde war selbstständig und wurde von den gewählten Kirchenältesten verwaltet. Gemeinsame Angelegenheiten wurden auf den Synoden geregelt, wozu jede einzelne Gemeinde Vertreter entsandte, nicht nur Pfarrer, sondern auch Kirchenälteste.
Schon 1688, als die Waldenser erstmals in Deutschland angesiedelt werden sollten, forderten sie, ihnen zu erlauben
in allen örtern, allwo sie sich setzen werden, frey und offentlich ihre Exercitia religionis …, vermög Ihren uhralten waldensischen freyheiten, und gebrauch, zue üben und zue haben, in eben solcher form und gebrauch, wie es ihre Vätter vor undenklichen zeiten und folglich die Frantzösische reformirte Kirchen Ihrer Kirchen Disciplin gleichförmig practiciret haben.53
In den Privilegien von 1699 konnten sie dies durchsetzen. Sowohl in Hessen wie auch in Württemberg erhielten die Waldenserkolonien die freie und öffentliche Ausübung ihrer Religion und damit eine kirchliche Freiheit und Autonomie.54 Dies unterschied sie erheblich von ihren lutherischen Mitbürgern, die es mit einer Kirchenorganisation zu tun hatten, welche in der späteren kirchenrechtlichen Theoriebildung als Episkopal- oder Territorialsystem bezeichnet wurde und unter landesherrlicher Prärogative stand. Die Waldenser dagegen durften wie im Chisonetal ihre Gemeinden selbstständig verwalten, also Kirchenälteste, Pfarrer und Schulmeister selbst wählen, und Kirchenzucht üben. Auch wurde es ihnen erlaubt, Synoden zu veranstalten, sogar über die Grenzen der Territorien hinweg, sodass württembergische, hessische und badische Gemeinden zusammenkamen – "ein Zugeständnis, das im Zeitalter des Territorialstaates als höchst bemerkenswert bezeichnet werden muss".55
Auch die kirchlichen Privilegien der Waldenserkolonien waren zukunftsweisend, wirkten aber damals nicht in die lutherischen Landeskirchen hinein.56 Den Waldensern selbst gelang es allerdings langfristig nicht, die presbyterial-synodale Kirchenstruktur aufrecht zu erhalten, wenn auch vor allem aus Geldmangel. Die letzte Synode fand 1769 in Dürrmenz statt.57 1823 wurden die Waldensergemeinden in Württemberg in die lutherische Kirche zwangsintegriert. Bei der Aufnahme dieser Reformierten wurden "weder eine theologische Diskussion noch Überlegungen zu einer Revision der Kirchenverfassung angeregt".58
Im Laufe des 19. Jahrhunderts gewannen die Landeskirchen in Deutschland mehr Unabhängigkeit vom Staat. Die Selbstverwaltung der örtlichen Kirchengemeinden wurde gestärkt, und die ersten landeskirchlichen Synoden wurden abgehalten. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die alten Waldenserprivilegien dabei beispielhaft gewirkt haben. Oft ist nicht einmal der Einfluss Calvins und der reformierten Kirchenordnungen nachzuweisen, obwohl Elemente der presbyterial-synodalen Kirchenverfassung übernommen wurden. Im Grunde setzten sich hier Forderungen des politischen und kirchlichen Liberalismus durch.
Kulturelle Auswirkungen
Die Waldenser wurden in Deutschland als "Welsche" bezeichnet, denn sie fielen vor allem durch ihre für Einheimische unverständliche Sprache auf, da sie in ihrem alltäglichen Leben alpenprovenzalisch, einen okzitanischen Dialekt sprachen. In der Schule lernten die Kinder französisch lesen und schreiben, meist an Hand der Bibel und des Genfer Psalters. Rechnen wurde kaum gelehrt. Die Gottesdienste fanden ebenfalls in französischer Sprache statt.
Die Pfarrer, die bis 1750 oft in Lausanne oder Genf studiert hatten, beherrschten die französische Sprache meist sehr gut, und sie waren es auch, welche die offiziellen Schreiben in französischer Sprache an die deutschen Obrigkeiten bzw. an ausländische Instanzen verfassten.59
Wir besitzen dagegen nur wenige Briefe von waldensischen Dorfbewohnern, aber auch in ihnen wurde meistens die französische Sprache verwendet.60 Aus Inventarlisten geht hervor, dass in den Kolonien außer der französischen Bibel und dem Psalter meist nur erbauliche Literatur in französischer Sprache zirkulierte.61 Weltliche Literatur, wie Bücher über Mathematik oder aber Romane, wurde anscheinend nicht gelesen. Darstellungen der Waldensergeschichte wurden nachweislich erst am Ende des 18. Jahrhunderts gekauft.62
Eine eigene literarische Produktion der Waldenser in französischer Sprache gab es kaum. Die wichtigste Ausnahme ist die Histoire de la Glorieuse Rentrée von Henri Arnaud aus dem Jahr 1710. Die Waldenser trugen also in Hessen und Württemberg kaum zur Verbreitung der französischen Sprache bei.
Gründe für diese geringe literarisch-kulturelle Ausstrahlung der Waldenser waren ihre bittere Armut und ihre Isolierung. Die Schulmeister waren meist Handwerker aus dem Dorf. Es gab unter ihnen keine Akademiker oder Literaten. Die Kenntnis der französischen Sprache ging deshalb schnell zurück und war bald mangelhaft, wie zum Beispiel die Inschriften an den Häusern in Kleinvillars zeigen.
Über die Volkskultur der Waldenser ist kaum etwas bekannt. Die wichtigste Quelle ist das Werk Kurzer Abriß der Geschichte der Wirtembergischen Waldenser, das der Pfarrer Andreas Keller von Neuhengstett 1796 veröffentlichte,63 sowie sein ausführliches Tagebuch.64 Keller war allerdings ein aufgeklärter Pfarrer, dem nicht besonders daran lag, in die Lebenswelt seiner Gemeindemitglieder einzudringen. Er beklagte vielmehr, dass die Waldenser viel "von ihrer Originalität und alten Simplizität verlohren" hätten.65 Sie "stehen auf einer sehr niedrigen Stufe der Kultur", so stellte er fest, wofür Keller den schlechten Schulunterricht und den "Mangel der Sprache" verantwortlich machte.66 Wie sollten Bauern gleich "drei Sprachen [Okzitanisch, Französisch und Deutsch] recht verstehen?"67 Hinzu kam ihr verbreiteter Aberglaube. Die Waldenser unterschieden zum Beispiel zwischen Menschen von gutem und bösem Blut (Hexen) und versuchten jeder Vermischung beider vorzubeugen.68 Auch sittlich waren sie laut Keller heruntergekommen.69
Kellers Darstellung führte schließlich dazu, dass die Waldenser gezwungen wurden, sich sprachlich zu assimilieren. In Württemberg wurde ihnen 1823 die Verwendung der französischen Sprache in Schule und Kirche verboten.70 Im Jahr 1820 war dies bereits in der ehemaligen Landgrafschaft Hessen-Darmstadt und 1821 in Baden geschehen.
Waldensische Identität
Wegen des Fehlens von Selbstzeugnissen ist schwer festzustellen, wie die Waldenser sich selbst verstanden, nachdem sie sich in Deutschland angesiedelt hatten. Sicher ist nur, dass sie die französische Sprache lange Zeit als wesentlichen Bestandteil ihrer Identität betrachteten. Sowohl in Hessen als auch in Württemberg regte sich heftiger Widerstand, als Pfarrer im Laufe des 18. Jahrhunderts versuchten, die deutsche Sprache in Schule und Gottesdienst einzuführen, und die Regierung die französische Sprache schließlich verbieten wollte. Die Bemühungen, außerhalb von Schule und Kirche das Französische zu erhalten, waren allerdings zum Scheitern verurteilt.71 Nur das Patois (d.h. ihr alpenprovenzalisch-okzitanischer Dialekt) konnte sich noch einige Jahrzehnte behaupten.
Als die Waldenser 1699 in Hessen und Württemberg angesiedelt wurden, hielten dies viele von ihnen für vorläufig und rechneten damit, in das "Land der Väter" zurückkehren zu können.72 Auch als diese Hoffnung sich nach 1713 durch die rigorose Rekatholisierungspolitik der Savoyer zerschlug, betrachteten viele Kolonisten weiterhin die Waldensertäler als ihre eigentliche Heimat. Insbesondere Jean Henry Perrot (1798–1853) pflegte diesen waldensischen Patriotismus.73 Er blieb auch nach 1823 erhalten. Schon 1889 fand die erste Reise von württembergischen Waldensern nach Italien statt. 1905 reiste der wichtige hessische Waldenserhistoriker Daniel Bonin (1861-1933)74 in die Täler, und auch heute noch gehört eine solche Reise für viele Waldensernachfahren zum "Pflichtprogramm". Gegenwärtig gibt es außerdem viele Gemeindepartnerschaften zwischen den Waldenserkolonien in Deutschland und ihren (inzwischen katholischen) Herkunftsorten im Chisonetal.75
Nicht nur Waldensernachfahren "pilgerten" in die Waldensertäler des Piemonts. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein religiöser Tourismus um die Waldenser, zuerst von England, später auch von Deutschland aus. Einzelne Besucher kamen auch in die deutschen Waldenserkolonien, wie der Engländer Charles Holte Bracebridge (1799–1872).76 Auch Waldenser aus dem Piemont machten sich auf den Weg nach Hessen und Württemberg. Es war vor allem der Reisebericht des Waldenserhistorikers Alexis Muston (1810-1888), der das Bild der deutschen Waldenser in Italien prägte.77
Die apostolische Legende
Die Identität der deutschen Waldenser wurde also bis ins 19. Jahrhundert von der Verwendung der französischen Sprache, danach vor allem von dem Rückbezug auf die Waldensertäler bestimmt. Inwieweit gilt das auch für die Legende ihres apostolischen Ursprungs?
Wie wir gesehen haben, rekonstruierten die Waldenser diese Legende genau in der Zeit, als sie Calvinisten wurden. Sie kultivierten sie und setzten sie bewusst zur Selbstlegitimation im evangelischen Ausland ein. Dies traf auf Resonanz, zumal zu gleicher Zeit mehrere Werke erschienen, in denen die Waldenser als "Vorreformatoren" dargestellt wurden. Das wichtigste dieser Werke war ohne Zweifel der Catalogus testium veritatis des strengen Lutheraners Matthias Flacius Illyricus (1520–1575), der die Waldenser auf "Petrus Valdus" zurückführte. Für ihn waren die Waldenser Vorläufer Luthers.78 Besonders wirksam waren auch die Kurzdarstellungen Theodor Bezas (1519–1605), der die Waldenser auf die Zeit der Apostel zurückführte und ihren Namen, wie schon im Mittelalter, vom lateinischen "vallis" (Tal) herleitet.79
Im Jahre 1618 veröffentlichte der französisch-reformierte Pfarrer Jean-Paul Perrin (ca. 1580 - nach 1623) als erster einige waldensischen Handschriften aus dem Mittelalter bzw. aus dem frühen 16. Jahrhundert.80 Bald galten diese Dokumente als Nachweis, dass die Waldenser von Anbeginn an oder zumindest seit Valdesius von Lyon stets dem Evangelium im reformatorisch-paulinischen Sinne treu geblieben seien. Insbesondere der Waldenserpfarrer Jean Léger (1615–1670) trug durch sein großes Werk Histoire générale des églises évangéliques des Vallées de Piemont; ou vaudoises, das 1669 erschien, zur Verbreitung dieses Rufs der Waldenser über ganz Europa bei. Nicht nur Reformierte und Böhmische Brüder, auch Lutheraner, Anglikaner und Mennoniten erkannten in den Waldensern Wegbereiter ihrer Lehre. Die Polemik Jacques Bénigne Bossuets (1627–1704) und anderer katholischer Historiker gegen diese Legende blieb vergeblich. Erst die historische Kritik des 19. Jahrhunderts entlarvte sie als historisch haltlos.
Für die Waldenser aber war sie ein starkes Argument, z.B. auch um diplomatische und finanzielle Hilfe zu erlangen. Als sie 1686–1688 und dann wieder 1699 Aufnahme in Deutschland suchten und dabei auf den Widerstand lutherischer Theologen stießen, die ihnen vorwarfen, "Calvinisten" geworden zu sein, beriefen sie sich ebenfalls auf die Legende ihres apostolischen Ursprungs. So schrieb Henri Arnaud zum Beispiel in dem Memorial, das er am 17. Oktober 1698 an Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg (1676–1733) richtete: "Die Waldenser sind ein Volk, dessen Religion ebenso alt ist wie die der Apostel".81 Auch wenn dies nicht unbedingt überzeugend wirkte,82 wurden die Waldenser schließlich aufgenommen, allerdings als Reformierte, die seit 1648 reichsrechtliche Duldung genossen.83 Aber dies, ein regelrechter Durchbruch – es war immerhin das erste Mal, dass man Reformierten in den beiden lutherischen Territorien Hessen-Darmstadt und Württemberg die öffentliche Ausübung ihrer Religion zugestand – wurde dadurch erleichtert, dass die Waldenser sich selbst als vorreformatorische Kirche darstellten und so die Hoffnung nährten, sich bald in die lutherische Kirche einzugliedern.
Es scheint, dass die Legende ihres apostolischen Ursprungs zuerst auch bei den Waldensern in Württemberg weiterlebte. Insbesondere Henri Arnaud betonte diesen Ursprung in seinem Buch: Histoire de la Glorieuse Rentrée, und die Synode der deutschen Waldenser verwendete 1739 das Waldenserwappen aus Piemont als Siegel.84 Später findet man allerdings bei ihnen kaum mehr Belege.
Die Legende von dem apostolischen Ursprung der Waldenser war sicherlich der wichtigste Beitrag, den die Waldenser zur religiös-kulturellen Kultur in Deutschland geleistet haben. Die Popularität dieser Legende war allerdings nicht das Verdienst der armen waldensischen Kolonisten in Hessen und Württemberg, sondern ist vielmehr dem Werk von Jean Léger zu verdanken, das 1750 auch in deutscher Übersetzung erschien.85