Einleitung
Bei der Betrachtung der Entstehung des Sports in England im 18. Jahrhundert muss man sich von mehreren Voraussetzungen freimachen, die vom Standpunkt der Moderne an den älteren Sport herangetragen werden könnten, damit der historischen Erscheinung aber nicht gerecht würden. Zunächst ist festzuhalten:
Das später vorherrschende Konzept "Sport" war im 18. Jahrhundert noch überlagert von allgemeinen Sensationen, Belustigungen und Gelegenheitsdarstellungen. Es war insofern frei verhandelbar und weitgehend zufällig in seinen Erscheinungsformen.
Ein Element körperlicher Ertüchtigung und physischer Leistung war zwar vorhanden, aber nicht immer dominant. Teilweise hatten sportliche Leistungen und Wettbewerbe eher Jahrmarktscharakter; sie dienten der Volksbelustigung.1
Es gab keinen bestimmten Kanon von Sportarten. Die später im Vordergrund stehenden Sportarten (Fußball, Tennis usw.) spielten noch keine Rolle.
Auch wenn Wettbewerbe organisiert wurden, so kam es noch nicht auf Rekorde an, auf absolut gemessene und vergleichbare Höchstzahlen.2 Das Motto "Schneller, höher, weiter" bezog sich nur auf lokale Gegebenheiten, auf ein spezifisches einzelnes Kräftemessen als Ereignis.
Abgesehen vom Pferderennen und Boxen waren alle sportlichen Wettbewerbe so gut wie regellos; man verständigte sich ad hoc über das Mögliche und Zulässige.
Es gab noch keinen Profisport, wenn auch bereits in den Anfangszeiten eine Tendenz erkennbar wurde, dass sich erfolgreiche Athleten auf eine bestimmte Spezialität verlegten und diese vermarkteten.
Das Element des Nervenkitzels durch Wetten war meist vorherrschend, insbesondere bei Pferderennen.
Insofern ähnelten sportliche Veranstaltungen eher Glücksspielen und Lotterien. Vergnügen und Spannung standen im Vordergrund. Aber auch Gewinnsucht und Habgier bestimmten die Teilnahme an solchen Veranstaltungen. Die athletischen Elemente solcher Wettbewerbe traten oft zurück.
Kulturtransfer? Englischer Sport in deutschen Augen
Dementsprechend sind die frühen Berichte deutscher Reisender aus England auf Schaustellungen bezogen, die heute nicht mehr im Rahmen des Sports gesehen werden: Hahnenkämpfe, Bären- und Bullenbeißen und ähnliche blood sports waren kennzeichnend für England in der Frühen Neuzeit. Sie erlaubten hohe Wetteinsätze, Nervenkitzel und Unterhaltung. Sie hörten nicht schlagartig auf im Zeitalter der Aufklärung, doch konnte der dänische Zoologe Johann Christian Fabricius (ca. 1748–1808) 1784 bemerken, sie seien zwar vormals sehr häufig gewesen, "itzt aber beynahe gänzlich aus der Mode gekommen".3 Die traditionellen blood sports wichen allmählich jenen Wettbewerben, die den Vergleich menschlicher Leistungen zum Gegenstand hoher Wetteinsätze machten, bisweilen verbunden mit mehrtägigen Amüsements.4 Diese Veränderung ist für den sozialen Aufstieg des Sports von Bedeutung, denn solche Wettbewerbe mit Tieren sanken sozial ab und wurden allenfalls noch von Unterschichten ausgerichtet, während sie in einer früheren Zeit sozial gemischte Vergnügungen, sogar unter Einschluss des Adels, gewesen waren.
Jagdvergnügungen5 und Pferderennen bildeten in diesem Bereich eine gewisse Ausnahme. "Die Engländer sind große Liebhaber der Parforce-Jagd, die beständig eine außerordentliche Menge Menschen versammelt. Man sieht oft einige hundert zu Pferde einen Fuchs jagen, wobey sie über Gräben und Hecken setzen."6 Hier wird sogleich ein Element kultureller Abgrenzung erkennbar: Deutsche Beobachter, als Reisende und Schreibende eher der kulturell führenden Schicht zugehörig, äußerten sich grundsätzlich mit Abscheu angesichts englischer blood sports.7 Auch in England selbst waren es religiöse Gefühle und Aufklärung, welche nicht zu einer grundsätzlichen Ächtung, aber doch zur Zurückdrängung bestialischer Grausamkeiten führten.8 Als sich am Ende des 18. Jahrhunderts Regelungen eines Tierschutzes abzeichneten, waren es die kontinentalen Beobachter, die darauf hinwiesen, dass solche Maßnahmen auf Gesetzgebungsebene nur in England nötig und angebracht seien. Tierschutzgesetze seien insofern nicht Ausdruck fortgeschrittener Humanität, sondern umgekehrt ein Armutszeugnis für den Zustand öffentlicher Moral in Großbritannien.9
Überhaupt lässt sich feststellen, dass "Sport", so sehr er auch in England ein Element ständeübergreifender Vergesellschaftung darstellen mochte, von deutschen Beobachtern, die den gebildeten Ständen angehörten und sich selbst für gebildet hielten, nicht selten überhaupt nicht wahrgenommen oder mit Absicht ignoriert wurde. In den viele Lebensbereiche berücksichtigenden Reiseberichten des Schriftstellers Karl Philipp Moritz (1756–1793), des Leiters der Hamburger Handelsakademie Johann Georg Büsch (1728–1800), der Schriftstellerin Sophie von La Roche (1730–1807) und anderen findet sich keine einzige Bemerkung zum Thema Sport!10
Die Palette der Sportarten
Über welche Sportarten wurde überhaupt berichtet?
Pferderennen gab es auch anderswo in Europa. Sie waren aber in England besonders prominent und standen mehr als in anderen Ländern im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Fabricius berichtete: "Das Pferderennen ist gleichfals eine England eigenthümliche Belustigung, und in keinem Lande wird es auch so häufig, und mit so vielem Umfange getrieben, als hier."11 Sie wurden in Newmarket und andernorts vom König gefördert, was allgemein einleuchtete, weil man damit der Pferdezucht einen Anreiz geben konnte, mithin der Kultivierung einer allgemein nützlichen Ressource, sei es nun für die Jagd, das Transportwesen oder die Kriegführung.12
Ballspiele gab es auch anderswo in Europa, namentlich in den italienischen Städten.13 England wurde auf diesem Felde insofern prominent, als sich hier gewisse Regeln herausbildeten und verschiedene Formen des Ballspiels gegeneinander abgrenzten. Fabricius berichtete 1784, Ballspiele würden in England "nicht sehr häufig" getrieben.14 Die Ausdifferenzierung und Normierung der Ballspiele stellt wesentlich eine Entwicklung erst des 19. Jahrhunderts dar. Cricket empfand man schon in älterer Zeit als englische Spezialität.15
Boxen wurde immer als besonders englisch angesehen (wie es auch das Wort schon ausweist!); es entwickelte sich im 18. Jahrhundert zu einem Modesport, für den sich auch Adlige nicht zu schade waren. Der preußische Publizist Johann Wilhelm von Archenholtz (1743–1812)[] berichtete 1789, "die Kampfwuth" des Boxens "greife wie eine Seuche um sich"; man sehe "jetzt die Britten, von jedem Alter, von jedem Geschlecht, von jedem Stande, worunter selbst eine Menge Frömmlinge waren, den Faustfechtern mit einer unbegränzten Leidenschaft nachlaufen, die sich blutig, ja zu Krüppeln schlugen".16 Schon im 18. Jahrhundert wurden feste Regeln kanonisiert (wenn auch später noch verändert); ein rigider Verhaltenskodex legte fest, was beim Boxen erlaubt war und was verboten.17 Dabei ist mitzubedenken, dass auch Duelle in Form von Boxkämpfen ausgetragen wurden.18 Es konnte sich die Vorstellung festigen, der Faustkampf Mann gegen Mann sei gewissermaßen das edlere, gerechtere Kräftemessen im Vergleich mit einem Duell auf Pistolen oder einem Fechtkampf mit Florett oder Degen. Zeitgenössische Quellen berichten vielfach von Duellen in Form von Boxkämpfen. Archenholtz spitzte dies 1789 sogar auf die Feststellung zu: "Die Faustkämpfe brachten die Duelle mit Degen und Pistole aus der Mode."19
Ringen war überall auf dem Lande Brauch, wurde aber im 18. Jahrhundert zunehmend durch Boxen verdrängt. Bei ländlichen Lustbarkeiten ist Ringen als spontanes Kräftemessen ebenso bezeugt wie in der Metropole, sowohl zum Spaß als auch zur Begleichung von Ehrenhändeln.20
Fechten gab es zu allen Zeiten, vor allem in adlig bestimmten Gesellschaften, wurde aber in England im 18. Jahrhundert als etwas Französisches angesehen und deshalb im Allgemeinen den Franzosen überlassen.21
Athletische Wettkämpfe wie Laufen, Springen, Werfen usw. existierten noch nicht im später standardisierten und formalisierten Sinne22 (abgesehen von lokalen Events wie den Olympick Games in den Cotswolds).23 Wohl aber riskierte man Wetten darauf, wer eine gewisse Strecke als Erster zurücklegen würde, oder ob es gelänge, eine gewisse festgesetzte Zeit zu unterbieten. Allgemein hielt man (wie Archenholtz) Wetten für "eine auszeichnende Brittische Sitte".24
Schwimmen kam nur in Einzelfällen als Gegenstand einer Wette vor.25 Es entwickelte sich als Sportart erst nach 1800.26
Rudern wurde ebenfalls zum Gegenstand von Wetten. Dabei ging es nicht immer nur um eine Auseinandersetzung von zwei Ruderern oder zwei Booten; teilweise wurden auch schon umfassendere Regatten ausgeschrieben. Segelregatten kamen vor dem 19. Jahrhundert kaum vor.27 Vergleichbar mit den Pferderennen wurde Rudern als Schule der Seeleute und somit als Voraussetzung für die Marine in Krieg und Frieden öffentlich gefördert, auch mit königlichen Preisen.28
Golf war in England noch so gut wie unbekannt.29 In Schottland spielte man Golf wohl schon seit dem 15. Jahrhundert; die frühesten vereinsförmigen Zusammenschlüsse von Golfern datieren aus der Mitte des 18. Jahrhunderts (St Andrews Club 1754, später Royal and Ancient). Als erster deutscher Reisender beschrieb erst 1844 der Bremer Stadtbibliothekar Johann Georg Kohl (1808–1878) die für Schottland charakteristischen sports: Curling und Golf.30
Nachdem das Bogenschießen in Schottland eine gewisse Popularität erlangt hatte,31 wurde es auch in England in den 1790er Jahren wieder aufgenommen.32 Dabei spielte die Förderung durch den Kronprinzen, den späteren Georg IV. (1762–1830), eine wichtige Rolle.33
Angeln war eine traditionelle englische Beschäftigung,34 die freilich eher als Zeitvertreib gesehen wurde denn als Sport. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Angeln zu einer sportlichen Freizeitbeschäftigung für Arbeiter, wenngleich mit geringerem Prestige als die Jagd.35
Die durch die spätere Schul- und Collegesportbewegung so stark akzentuierte Komponente des Teamgeistes in Mannschaftssportarten spielte im 18. Jahrhundert noch keine Rolle (wenn auch vereinzelt Mannschaftssportarten wie cricket beschrieben wurden). Für Rugby, Fußball, Hockey, Baseball usw. gab es allenfalls Vorläufer, die aber gesamtgesellschaftlich noch wenig verbreitet waren. In Randregionen hatten bestimmte besondere Mannschaftsspiele eine angestammte Bedeutung (Hurling in Irland; das später so genannte Rugby in Wales).36
Während deutsche Reisende in England eine Fülle sportlicher Aktivitäten beobachten konnten, von denen ihnen manche ganz neu und fremd waren, bemerkten doch auch einige von ihnen, dass es in England etwas nicht gab, was sie von zuhause her kannten und am ehesten mit Volksbelustigungen in Verbindung brachten: das Vogelschießen. Überhaupt fiel ihnen auf, dass es keine Schützengilden und keine Schießübungen gab. Sie konnten sich dies nur mit der Verteidigungssituation erklären, dass England sich als Insel zu Wasser verteidigte und dass die Städte schon seit dem Mittelalter unbefestigt wären und auch keine Bürgerwehren kennen würden.37
Zur Charakteristik des Sports in England im 18. Jahrhundert
Deutsche Reisende wie der Bücher- und Kunstsammler Zacharias Konrad von Uffenbach (1683–1734) oder der Darmstädter Gerichtspräsident Friedrich Justinian von Günderode (1765–1845) erlebten in England staunend etwas, was sie aus ihrer Heimat noch nicht kannten: einen besonderen Umgang mit der Zeit, die zunehmend exakt gemessen wurde; ein Wertlegen auf genau vermessene räumliche Distanzen; extreme Regelhaftigkeit und Fairnessgebote in Bezug auf den wettbewerblichen Vergleich z.B. bei Pferderennen.38 Wettbewerbe zwischen Zuchtpferden wurden als prestigeträchtige Auseinandersetzungen ihrer Eigentümer ausgetragen. Diese mussten dafür selbst keine sportlichen Leistungen vollbringen. Die "Jockeys" (oder "Bereiter", wie sie anfangs in deutschen Quellen genannt wurden) dienten den Besitzern als Knechte; sie waren zunächst nicht sportliche Stars, sondern Dienstboten der Pferdebesitzer (wenn sich hier auch im späten 18. Jahrhundert bereits eine gewisse Professionalisierung abzeichnete). Das Hauptaugenmerk galt der Pferdezucht. Bei Pferderennen achtete man in erster Linie auf die Pferde selbst, die mit Champagner oder Weißwein stimuliert und mit höchster Sorgfalt trainiert, geritten und gepflegt wurden. Einzelne legendäre Rennpferde (z.B. Flying Childers) zieren noch heute die Geschichtsbücher; sie wurden in unzähligen Aquarellen, Aquatinten, Kupferstichen usw. verherrlicht.39
Die Wettkomponente war europäischen Reisenden vom Kontinent zwar nicht prinzipiell fremd, doch wurde sie allgemein als in England exzessiv bemerkt.40 Schaudernd beschrieben Ausländer, wie Engländer ihr ganzes Vermögen aufs Spiel setzen: "Die Wetten bey diesen Pferderennen sind unglaublich, vorzüglich bey den zwey vornehmsten zu Newmarket und Epsom. Es geschieht oft, dass Personen ihr ganzes Vermögen hier verspielen, zumal wenn sie auf gut Glück wetten, und mit den Wettkünsten unbekannt sind."41 Wo es nur um das Wetten ging, konnte man genauso Kampfhähne aufeinander losgehen wie Pferde gegeneinander rennen lassen; man konnte statt dessen aber auch auf Menschen setzen. Im Gegensatz zum späteren Sportverständnis interessierte dabei nicht der absolute Rekord möglichst hochgezüchteter, vergleichbarer Leistungsträger, sondern die relative Überlegenheit beim gegebenen Anlass.42 Wetten wurden deshalb nicht nur auf starke Athleten oder schnelle Läufer abgeschlossen, sondern oft gerade auf Behinderte. Berichtet wird beispielsweise von Wetten auf Greise, die miteinander konkurrierten, wer am schnellsten eine Meile zurückzulegen im Stande sei: Im gegebenen Fall siegte ein 92jähriger über zwei Jüngere.43 Mägde veranstalteten leichtgeschürzt einen Wettlauf um ein neues Hemd oder Knechte um einen Tressenhut.44 Kriegsveteranen organisierten ein Kricketspiel, bei dem die eine Mannschaft aus Kriegsbeschädigten mit einem Holzbein, die andere aus solchen mit einem Holzarm bestand.45 Ein übermäßig Dicker machte sich anheischig, ein schwieriges, ansteigendes Gelände mit einer bestimmten Anzahl von Sprüngen zu überwinden.46 Häufig wurde darauf gewettet, von einer Stadt zur anderen und zurück in einer bestimmten Zeit zu gelangen. Die Steigerungsform solcher Wetten erreichte im späten 18. Jahrhundert Extreme wie eine Reise nach Jerusalem und zurück in einer festgesetzten Zeit oder nach Lappland und zurück.47
Im Unterschied zu späteren Zeiten erkennt man das Improvisierte solcher Wettkämpfe oft daran, dass Wettkämpfer sich nach Abschluss der Wettvereinbarungen noch eine gewisse Zeit ausbedangen, damit sie sich auf die in Aussicht genommene Leistung vorbereiten konnten. Sie mussten also ihren Körper erst in eine Verfassung bringen, in der sie das angestrebte Ziel erreichen konnten. Dies gilt nicht nur für Boxer, die auch aus Gewinnsucht und zur Steigerung der öffentlichen Aufmerksamkeit den Termin des großen Kampfes hinauszuzögern suchten; es gilt auch für Läufer, die eine bestimmte Strecke in einer bestimmten Zeit in Aussicht gestellt hatten, dafür aber erst noch trainieren mussten.48
Am beliebtesten war das Boxen, das sich in den Jahren nach 1788 von einer Mode zu einer Besessenheit steigerte.49 Damals machten sich Stars einen Namen, die noch heute die Geschichtsbücher des Sports zieren: James Figg (1695–1734), Jack Broughton (1704–1789), Richard Humphries (gest. 1827), Daniel Mendoza (1764–1836) usw. Es wurden genaue Regeln für solche Gefechte festgelegt, angefangen von der Höhe und Abmessung der Bühne über die Einteilung der Kämpfe in Runden, die Dauer solcher Runden, die erlaubten Schläge, die genauen Modalitäten der Beendigung des Kampfes, bis hin zu den Preisgeldern. Boxhandschuhe waren anfangs noch nicht üblich, wurden jedoch allmählich eingeführt, um das Risiko dauerhafter Körperschäden zu verringern. Auch Gewichtsklassen gab es noch nicht; gerade David-gegen-Goliath-Kämpfe wie Thomas Johnson (1750–1797) gegen Isaac Perrin 1789 (der erste wog 13, der zweite 18 Stones) scheinen eine besondere Faszination ausgeübt zu haben.50
Ein offensichtliches Problem im Zusammenhang mit Sportarten wie dem Boxen bestand darin, dass man sie nur mit Mühe gegen gewöhnliche Schlägereien abgrenzen konnte. Im nicht seltenen Fall, dass einer der Kämpfer an den Folgen der Schläge starb, musste der andere deshalb mit dem Vorwurf des Mordes rechnen. In den Jahren, in denen die Boxmode auf dem Höhepunkt war, entwickelten sich rechtliche Verfahrensweisen im Umgang mit solchen Fällen, wenngleich hier jeder einzelne Richter einen großen Ermessensspielraum besaß. Im Allgemeinen wurde der Sieger vom Mordvorwurf freigesprochen und kam mit einer mäßigen Strafe wegen Totschlags davon.51 Aber auch diese "Lösung" zeigt noch, dass man nicht von einer autonomen Sphäre des Sports mit eigenen Regeln ausgehen konnte; das Kämpfen mit der Faust wurde weiterhin im allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen gesehen. Der Sport besaß noch keinen Eigenweltcharakter.52 Die Massenaufläufe aus Anlass von Boxkämpfen (zum Boxkampf zwischen Humphries und Mendoza 1789 bei Stilton strömten 3.000 Menschen!) scheinen ein durchaus bedrohliches Ausmaß angenommen zu haben.53 In revolutionären Zeiten konnte man solche Wettkämpfe mit all ihren Begleiterscheinungen auch als Störung der öffentlichen Ordnung auffassen. Friedensrichter gingen deshalb dazu über, sich von berühmten Preisboxern hohe Kautionen stellen zu lassen.54
Wettbewerbe dieser Art wurden nicht eigentlich als "Sport" bezeichnet, sondern als "Lustbarkeit", "Volksvergnügen" oder "Ergötzung", wenn sie nicht gar in der Rubrik "Sonderbarkeiten der Nation" abgelegt wurden.
Sozialgeschichtliche Aspekte des Sports
Deutschen Reisenden fiel sofort ins Auge, dass Adlige und Gentlemen häufig an sportlichen Ereignissen beteiligt waren.55 In erster Linie natürlich in der Rolle des Ausrichters, der einen gewissen Preis für eine gewisse Leistung auslobte oder einen Boxkampf bzw. ein Pferderennen ansetzte. Sodann waren Adlige und Gentlemen beliebt als Kampfrichter, deren Entscheidungen sich Unterlegene eher unterordneten als denjenigen solcher Personen, die einen umstrittenen gesellschaftlichen Status innehatten. Diese Schiedsrichterfunktion war auch für den sozialen Frieden wichtig, da bei manchen sportlichen Wettkämpfen bereits im 18. Jahrhundert nicht nur Hunderte, sondern Tausende von Menschen zusammenkamen. Die Wahrung von Ruhe und Ordnung verlangte einen bestimmten Rahmen, der am ehesten durch sozial respektierte Personen geboten werden konnte, also etwa Friedensrichter auf dem Lande oder Magistratspersonen in den Städten.56
Erwähnenswert ist, dass Adlige und Gentlemen sich nicht dafür zu schade waren, gelegentlich selbst in den Ring zu steigen, und sich nicht nur mit Gleichrangigen maßen, sondern zuweilen auch ohne Rücksicht auf soziale Unterschiede mit Nicht-Ebenbürtigen, etwa berühmten Meistern im Boxen oder Fechten, – was auf dem europäischen Kontinent undenkbar gewesen wäre. Hier zeichnen sich Elemente einer sozialen Besonderheit ab, eines Eigenweltcharakters des Sports. Denn die Sondersituation beispielsweise eines Boxkampfes zwischen einem Adligen und einem sozial unterlegenen Recken führte keineswegs dazu, dass die gesellschaftliche Rangordnung auch außerhalb des Kampfes ins Wanken geraten wäre.
Fast alle sportlichen Wettkämpfe, von denen wir aus den Quellen des 18. Jahrhunderts erfahren, stellen sozial gemischte Situationen dar. Sie haben den Charakter öffentlicher Vergnügungen, bei denen keine Zugangssperre besteht und allenfalls das Eintrittsgeld regelt, wer dabei sein darf und wer nicht. Insofern sind sie marktförmig, widersprechen also den Prinzipien der Ständegesellschaft. Freilich wurden gerade diese Marktsituation und diese relative Gleichheit im Umgang der Stände von kontinentalen Besuchern als für England typisch angesehen. "Gleichheit" gehörte zur "englischen Freiheit"; sie entsprach dem politischen Ideal der Anglophilen.57
An den öffentlichen Veranstaltungen, die aus Anlass sportlicher Ereignisse entstanden, nahmen also Zuschauer aller Stände teil. Das heißt freilich nicht, dass sich die Gesellschaft in öffentlichen Vergnügungen gewissermaßen gespiegelt hätte oder dass die Teilnahme aller Stände proportional adäquat gewesen wäre. Die Prominenz des Adels in den Quellen ist nicht nur durch die Berichtsituation bestimmt, also nicht nur eine typische Verzerrung bei der Entstehung von Schriftquellen; sie spiegelt vielmehr eine soziale Realität. Das hängt damit zusammen, dass zur adligen Lebensform gerade ein solches Freizeitverhalten gehört, wie es sich auch in den Sportereignissen zeigt. Da Adlige nicht arbeiteten, verfügten sie über mehr Zeit als Bürger, sich den sports zu widmen.58 Sie hatten außerdem mehr Grund, die Langeweile zu fürchten und ihrem Bedürfnis nach Abwechslung und Unterhaltung nachzugehen. Schließlich besaßen sie genug Geld, um ihre Wünsche zu verwirklichen. Ganz davon abgesehen, dass das gesellschaftliche Hervortreten als Preisgeber oder Kampfrichter soziales Ansehen verlieh und dokumentierte. Freigiebigkeit bei Preisgeldern, Verschwendung bei der Durchführung von Sportereignissen und ruinöse Wetten manifestierten conspicuous consumption.59 In diesem Sinne kann man sogar sagen, dass das gesellschaftliche Hervortreten des Sports in England weitgehend an die Strukturgegebenheit einer leisure class von Adligen und reichen Bürgern gebunden war.
Damit verband sich aber gerade nicht soziale Exklusivität. Eine Fuchsjagd mochte unter Umständen sozial exklusiv sein, aber grundsätzlich gab es Sportarten mit dem haut goût von upper class, wie sie im viktorianischen Zeitalter hervortraten,60 im 18. Jahrhundert noch nicht. Im Gegenteil, fast alle Sportveranstaltungen fanden im öffentlichen Raum statt. Dazu gehörten Menschenmengen, die selbstverständlich zum größten Teil aus Unterschichten stammten. Typisch ist folgende Konstellation: Sportenthusiasten führender Schichten veranstalteten ein Ereignis, das sie durch hohe Preisgelder und hohe Wetteinsätze sozial hochrangig einstuften; gleichzeitig schließen sich Zuschauer aller Schichten an, die side beddings tätigten, sich also im Prinzip wie die sozial Führenden verhielten, aber ihrem materiellen Leistungsvermögen angepasst. Wenn also bei einem Pferderennen beispielsweise wenige Adlige und Gentlemen (vielleicht auch Pferdezüchter, Jockeys oder Gastwirte) Guineen wetteten, traten gleichzeitig Massen von Kleinwettern auf, die Shillinge einsetzten. Solche Wetten waren zumeist unreguliert. Sie wurden zwischen einzelnen Teilnehmern abgeschlossen, aber auch in größerem Maßstab auf bloßen Zuruf hin unter Personen, die nicht miteinander bekannt waren, also bloß situativ zu Partnern in einer speziellen Wette wurden. Für die Entwicklungsstufe des Sports in England im späten 18. Jahrhundert ist es kennzeichnend, dass in dieser Phase die ersten Buchmacher ständige Büros einrichteten, dass sich der Sport also auch in diesem Sektor professionalisierte.61
Die Masse der Teilnehmer aller Sportereignisse bestand ohne Zweifel aus Angehörigen der Unterschicht. Dies ergibt sich nicht nur aus den demographischen Zahlenverhältnissen, sondern auch (wie beim Adel) aus den schichtbezogenen üblichen Verhaltensformen. Immer wieder wird der Vorwurf laut, dass sich kleine Leute bei Sportwetten um ihren letzten Schilling brächten; aus bürgerlicher Sicht ein unverständliches und unmoralisches Verhalten, wo es doch galt, Grundbedürfnisse des Lebens wie Nahrung, Kleidung und Wohnung zu sichern.62 Hier zeigt sich, dass die öffentlichen Vergnügungsangebote gerade im Bereich des aufsteigenden Sports nicht nur die Bedürfnisse der sozial Führenden bedienten, sondern auch die der sozial Benachteiligten. Auch sie suchten Vergnügen, Abwechselung, Ablenkung, Spannung und Nervenkitzel. Ihre möglicherweise stupide Alltagsarbeit wurde kompensiert oder zumindest unterbrochen im festlichen Exzess.
In erster Linie bildeten einfache Leute die Kulisse für öffentliche Veranstaltungen aller Art; für die englische Öffentlichkeit war es – zumal im urbanen Raum der Metropole London – eine Selbstverständlichkeit, dass alle ohne Ausnahme Zutritt hatten. Soweit die Möglichkeit des Zuschauens und Teilhabens an Eintrittsgelder geknüpft war, trugen die Massen der Herbeiströmenden wesentlich zum Zustandekommen von Sportereignissen bei, indem ihr Eintrittsgeld Bestandteil der Kalkulation bei der Aufbietung berühmter Boxkämpfer oder Rennpferde war. Aber auch die Möglichkeit der Teilhabe sozial gering Eingestufter an Sportereignissen im aktiven Sinne kennzeichnet die englischen Verhältnisse zutiefst: Durch Übung ihrer Körperkraft oder Geschicklichkeit gelang es ihnen, ihre soziale Herkunft vergessen zu machen; im Boxring konnte auch ein verachteter Jude auf einen berühmten Lord treffen. Ein Teil des Reizes sportlicher Wettkämpfe bestand wohl auch in dieser Utopie: der Möglichkeit einer temporären, situationsgebundenen Aufhebung der sozialen Ordnung (wie bei den Saturnalien, im Karneval usw.63).
Die Herausbildung herausragender athletischer Leistungsfähigkeit lag nahe für Arbeiter, die sich auch in ihren alltäglichen Verrichtungen und Berufstätigkeiten durch Körperkraft, Gewandtheit und Ähnliches auszeichnen konnten. Bei nicht wenigen Sportereignissen wird eigens betont, aus welcher beruflichen Übung heraus die betreffenden Leistungen vollbracht wurden, so unterschied man beispielsweise beim Rudern auf der Themse zwischen watermen und Amateuren. Hier entstand dann ein Konfliktfeld mit den Gentlemen, die ihre Körperkraft und Muskelstärke ohne beruflichen Zweck übten: Man konnte sie dafür bewundern, dass sie etwas Zweckloses taten, womit sie (im Einzelfall) gewissermaßen die soziale Ordnung als gerechtfertigt erscheinen ließen: die Adligen als die "Besten", Tugendadel, Ritterideal.64 Man konnte es aber auch "unfair" finden, dass körperlich Arbeitende ihren Vorteil gegenüber Angehörigen der leisure class skrupellos zur Geltung brachten, womit sie gewissermaßen die ständische Ordnung gefährdeten.
Ein weiterer Aspekt der Teilhabe sozialer Unterschichten an öffentlichen Vergnügungen liegt darin, dass sie in der Nachahmung aristokratischen Wettverhaltens auch ihre eigenen ökonomischen Werte manifestierten. Während bürgerliches Leben auf Arbeiten, Sparen und sorgsames Wirtschaften ausgerichtet war, gab es den Standardvorwurf an soziale Unterschichten, sie lebten nur in den Tag hinein und vergeudeten sofort, was sie eventuell im Tagelohn erworben hätten. Auch in England machte man Arbeitern den Vorwurf, sie betätigten sich nur, bis sie etwas Brot und Gin hätten, um dann sogleich die Arbeit fahren zu lassen und sich dem Konsum zu widmen, bis sie durch Not wiederum getrieben würden, einer erneuten Beschäftigung nachzugehen.65 Zu einem solchen proletarischen Lebensstil mochte das Wetten gehören, weil die in bürgerlicher Sicht konstitutive Verbindung von Arbeit und Ertrag in sozialen Unterschichten noch nicht habitualisiert war. Wie man (aus der Sicht eines Tagelöhners) durch Arbeit einen Shilling gewinnen konnte, konnte man ihn auch durch Zufall bei einer geglückten Wette erzielen. Umgekehrt konnte ein Shilling bei einem glücklosen Wetteinsatz genauso leicht zu Wasser werden, wie er im anderen Fall zu Gin geworden wäre. Gambling war ein Problem, das mit dem englischen Sport im 18. Jahrhundert konstitutiv verbunden war.66
Religionsgeschichtliche Aspekte des Sports
An diesem Punkt wird deutlich, dass die Lebensformen, in deren Kontext der Aufstieg des Sports in England im 18. Jahrhundert erfolgte, tiefer liegende Wurzeln hatten, die auch in Bezug auf ihre religiöse Komponente beleuchtet werden müssen. Was oben als "bürgerliche Werte" bezeichnet wurde, entfaltete sich in England in erster Linie im puritanischen Strang der Geschichte, in den Sekten, bei den Methodisten usw. Vor allem mit den Quäkern verband sich eine strikte Moraleinstellung wie auch ein besonders auf Ehrlichkeit bezogenes Wirtschaftsgebaren, das einen strengen Konnex von Arbeit und Ertrag voraussetzte. Übertretungen wurden nicht weniger streng sanktioniert als im Bereich der Sexualmoral. Spielen und Wetten wurden deshalb als gotteslästerlich angesehen, als Vergehen wider die göttliche Weltordnung. Dabei galt schon die Teilnahme an öffentlichen Vergnügungen als anrüchig, weil sie Zeitverschwendung bedeutete. Im Falle von Hahnenkämpfen, Pferderennen und dergleichen kam der Aspekt der Grausamkeit gegen Tiere hinzu, welcher für Quäker, Methodisten usw. ein Vergehen gegen Mitgeschöpfe darstellte und zunehmend öffentlich angeprangert wurde. Durch die englische Geschichte der Frühen Neuzeit zieht sich ein Strang der Kritik an jeder Art von Sportveranstaltungen, eine prinzipielle Ablehnung des Sports aus religiösen Gründen.67
In diesem Kontext ist es von Bedeutung, dass durch das Emporkommen der Puritaner seit dem späten 16. Jahrhundert in England eine ausgebreitete Debatte um öffentliche Vergnügungen stattgefunden hatte.68 In dieser Debatte nahm die Frage der Sonntagsheiligung eine besondere Stellung ein.69 In England und Schottland entwickelte sich eine in Europa einzigartige Kultur der Heiligung des als Sabbat aufgefassten Sonntags, welche von ausländischen Besuchern durch die Jahrhunderte stets mit Staunen aufgenommen wurde: Am Sonntag durfte man nicht arbeiten; man durfte auch nicht musizieren oder sich sonst wie belustigen, schon gar nicht mit Tanz und Spiel im Wirtshaus.70 Sportveranstaltungen konnten deshalb auch im späten 18. Jahrhundert in aller Regel noch nicht sonntags stattfinden. Bei Pferderennen war es typisch, eine "Rennwoche" einzuplanen, die am Montag begann und vor dem Wochenende abschloss. Öffentliche Ring- oder Fechtkämpfe an einem Sonntag waren lange undenkbar, doch man scheint versucht zu haben, die traditionellen Verordnungen durch neue Formen der Veranstaltung wie Boxkämpfe auszuhöhlen.71 Der in weiten Teilen des Landes übliche und von den Zünften auch als Gewohnheitsrecht reklamierte "Blaue Montag" (der teilweise sogar den Dienstag einschloss!) enthielt nicht zuletzt auch darin seinen Sinn, dass er Erholung ohne Rücksicht auf die gesetzlich festgelegten Sonntagsbeschränkungen ermöglichte.72 Erst im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der arbeitsfreie Samstagnachmittag zu einem umkämpften Besitzstand der Arbeiter. Hier eröffnete sich ein weites Feld für den Sport.
Weiterhin ist zu bedenken, dass sich in dem "Kampf der Kulturen", der im frühen 17. Jahrhundert stattgefunden hatte, die Stuartkönige auf die Seite des einfachen Volkes geschlagen und gegen die Puritaner positioniert hatten, und zwar mit der Declaration of Sports73, einem Dokument, auf das sich mehrfach berufen werden sollte. Darin bekräftigte zunächst Jakob I. (1566–1625), dann auch Karl I. (1600–1649), dass die Volksvergnügungen, neben Tanz und Spiel vor allem auch die sportlichen, im Anschluss an den sonntäglichen Gottesdienst durchaus ihr Recht hatten. Die Krone machte sich zum Anwalt der kleinen Leute gegen den Versuch der Puritaner, die ganze Lebenswelt mit strikten Verhaltensregeln und Verboten methodisch zu durchdringen. Nur Exzesse wurden beschnitten, zu viel Zeit durfte der Arbeit nicht entzogen werden. Umgekehrt waren die Könige der Meinung, dass die Möglichkeit zu Erholung und Vergnügen den Alltag würze und die Arbeit erträglich mache. Ja, man konnte durchaus in Erwägung ziehen, ob nicht ein geregeltes Vergnügen die Arbeitsleistung steigere, solange gleichzeitig die Exzesse der Faulheit, Gewalttätigkeit und Trunkenheit beschnitten würden.
Diese Stuart-Position, welche die Adelskultur gewissermaßen mit der Volkskultur verband, wurde nach den puritanischen Exzessen der Bürgerkriegszeit des mittleren 17. Jahrhunderts mit der Restauration erneut zur Norm. Karl II. (1630–1685) war nach 1660 der erste König, der an Pferderennen teilnahm und das Rennen in Newmarket regelmäßig mit seiner Anwesenheit beehrte.74 Die katholisierende Tendenz der Stuartkönige wirkte hier gewissermaßen als Korrektiv des Puritanismus und förderte zugleich eine Loslösung der Eigensphäre des Sports aus dem wesentlich von der protestantischen Nationalreligion bestimmten gesellschaftlichen Leben in Großbritannien.
Das 18. Jahrhundert ist durchzogen von Klagen der Kirchenleute über die Massen, die sich dem kirchlichen Einfluss entzogen, sonntags nicht mehr in die Kirche gingen und ihren Lebenswandel nicht mehr an religiösen Normen orientierten.75 Die Entstehung des Sports in England muss auch in diesem Kontext gesehen werden: Die geschilderten Volksvergnügungen boten vielen Menschen Abwechslung, Vergnügen, Spannung, Spiel und Nervenkitzel; sie ermöglichten eine Form von Kultur, die nicht mehr kirchlich bestimmt und nicht an Bildungsvoraussetzungen geknüpft war.
Geschlechtergeschichtliche Aspekte des Sports
Sport war Männersache. Dies gilt im 18. Jahrhundert jedoch in anderer Weise als in der bürgerlichen Gesellschaft, die erst in ihrer Spätphase im 20. Jahrhundert den Sport in der Breite allmählich auch für Frauen öffnete und damit völlig neue Verhältnisse sowohl im Sport als auch in der Gesamtgesellschaft herstellte.
Der Unterschied zwischen der Zeit der ständischen Gesellschaft und der bürgerlichen Epoche besteht darin, dass Unterschichten im 18. Jahrhundert vom bürgerlichen Ideal noch kaum berührt waren, dass also auch Transgressionen gegenüber dem, was für eine Frau "schicklich" war und was nicht, noch gar nicht in der Weise festgestellt werden konnten, die dann im viktorianischen Zeitalter zu so klaren Abgrenzungen führte. Einerseits waren also die Verhaltensanforderungen an eine Lady im 18. Jahrhundert sehr dezidiert und exzessiv. Andererseits konnten Frauen aus Unterschichten, sofern sie keinen Anspruch auf bürgerliche Respektabilität erhoben, sich Freiheiten erlauben, die später undenkbar gewesen wären.
Unterscheidet man zwischen aktiver Teilnahme an Sportveranstaltungen und dem bloßen Zuschauen, stellt sich die Lage so dar: Grundsätzlich waren Frauen als Aktive nicht vorgesehen und von fast allen Sportarten ausgeschlossen. Ausnahmen zeigten sich in Einzelfällen bei den Volksvergnügungen auf dem Lande, wo etwa Wettläufe der Mägde beschrieben wurden. In einem Einzelfall wissen wir sogar von weiblichen Kricketmannschaften, die sich in Burry in Sussex gebildet hatten, wo dann die verheirateten Frauen gegen die unverheirateten antraten.76 Durchbrechungen der Regel waren im Fall von spontanen Wetten möglich: Wie man auf einen Esel oder einen Dickbäuchigen oder Holzbeinigen wetten konnte, wurden auch Wetten auf "Frauenzimmer" abgeschlossen, die eine bestimmte Strecke liefen oder eine andere sportliche Leistung vollbrachten.
Diese belegten Ausnahmen bestätigen aber nur die Regel, dass Frauen als sportlich Aktive nicht zu denken waren, weil dies nach allgemeiner Meinung ihrem "Geschlechtscharakter" widerspräche. Als Rennreiterinnen beispielsweise traten Frauen im 18. Jahrhundert nicht auf, ebenso wenig als Ringerinnen, Boxerinnen oder Fechterinnen (wenn es auch auf Jahrmärkten hin und wieder Ausnahmen gegeben haben mag).77 Auch Rudern, Schwimmen und ähnliches kam für Frauen nicht in Frage.
Diese Auskunft bedarf insofern der Ergänzung, als Frauen unter der Menge der Zuschauer keineswegs selten waren. Man muss die Sportereignisse auch als gesellschaftliche Vergnügungen in den Blick nehmen. Dabei wurden freilich Unterschiede gemacht. Bei blood sports wie Hahnenkämpfen, Bären- und Bullenbeißen usw. waren Frauen grundsätzlich ausgeschlossen.78 Auch bei Box-, Ring- und Fechtkämpfen durften Frauen nicht zuschauen. Wohl aber bei Pferderennen und Wetten anderer Art. Eine Kultur des Sehens und Gesehenwerdens, wie sie seit dem späten 18. Jahrhundert in England entstand und Newmarket, Epsom und Ascot zu gesellschaftlichen Ereignissen machte, setzte auch auf das weibliche Element der Gesellschaft. Die künstlerischen Darstellungen solcher Ereignisse, die sich dann im 19. Jahrhundert häuften, zeigen Frauen sogar prominent in all ihren Rollen: als gefallsüchtige Damen in modischer Toilette, als sportfanatische Teilhaberinnen öffentlicher Lustbarkeiten, als Trösterinnen der Männer bei sportlichen Niederlagen oder Wettverlusten, als Warnerinnen vor der Spielsucht und dem bürgerlichen Ruin des Wettens. Denn nicht nur der Sport – auch das Wetten war Männersache.79
Tendenzen des 18. Jahrhunderts: Professionalisierung, Kommerzialisierung, Normierung, Propagierung
1. Professionalisierung: Je selbstverständlicher die Praxis des Sports zur Lebensführung breiter Schichten hinzugehörte, desto mehr konnte Sport zu einer Einnahmequelle für Athleten und Unternehmer werden. Daraus ergab sich folgerichtig die Tendenz, die gelegentliche Einnahmequelle zu einer dauerhaften zu machen und das Hobby zum Beruf.
Zuerst findet sich diese Tendenz bei Boxern. Freilich war es zu gefährlich, nur von den Einnahmen von Boxkämpfen leben zu wollen, die doch immerhin das Risiko der Invalidität enthielten, also auch bei einem hohen Preisgeld letztlich nicht zu einem dauerhaften und sicheren Lebensunterhalt führten. Die Meister des Boxens versuchten sich zu helfen, indem sie Boxschulen gründeten und sich damit bemühten, ihr athletisches Renommee in eine kontinuierlich sprudelnde Einnahmequelle umzusetzen.80 Die nächste Stufe der Kommerzialisierung bestand darin, dass sie solche Boxschulen für zahlende Zuschauer öffneten.81 Boxer verhielten sich in dieser Hinsicht wie Ringer, Fechter und andere Experten für lehrbare Kampftechniken. Durch die modische Attraktivität des Boxens im späten 18. Jahrhundert (man hat nicht zu Unrecht von einer wahren "Boximania" gesprochen!82) eröffneten sich freilich für Boxer Einnahmechancen, die früher und in anderen Kampftechniken nicht erreichbar gewesen waren.
Hinzu kam die Professionalisierung der Jockeys: Manche von ihnen wurden durch ihre Erfolge bei Pferderennen so berühmt und beliebt, dass sich Pferdezüchter und Gentlemen darum bemühten, sie dauerhaft in ihre Dienste zu nehmen und ihnen ein Einkommen zu gewährleisten, das vom aktuellen Rennerfolg unabhängig war und auch die Aussicht auf Alterssicherung enthielt.
2. Kommerzialisierung: Die Ausrichtung sportlicher Wettkämpfe und öffentlicher Volksvergnügungen wurde seit dem 18. Jahrhundert zunehmend zu einer finanziellen Einnahmequelle durch Eintrittsgelder der Zuschauer.83 Beim Boxkampf zwischen Thomas Johnson und Michael Ryan 1789 bezahlten über 1.000 Zuschauer pro Kopf den beachtlichen Preis von einer halben Guinee Eintrittsgeld!84 Dementsprechend lohnte es sich nun, in Sportstätten wie Rennbahnen, Boxringe, Amphitheater für Zuschauer usw. zu investieren. Hier kommt den Gastwirten eine besondere Bedeutung zu, für die jeder Massenauflauf eine Goldgrube darstellen konnte und die dementsprechend an der Erzeugung solcher lukrativer Events direkt interessiert waren.85
Im Zusammenhang der Entstehung von Öffentlichkeit im England des 18. Jahrhunderts ist freilich zu bemerken, dass Sportereignisse nur ein Teilsegment darstellten. Die entstehende Konsumgesellschaft generierte Vergnügungsstätten aller Art, nicht zuletzt in der Hauptstadt London, und brachte neben Theatern, Komödien-, Opern- und Konzerthäusern, Kaffeehäusern, Variétés (z.B. Sadler's Wells) und öffentlichen Vergnügungsstätten wie Vauxhall oder Ranelagh Gardens auch immer mehr Sportereignisse und Einrichtungen für Wettkämpfe aller Art hervor.86
Kommerzialisierung bedeutet auch, dass der monetäre Aspekt im sportlichen Geschehen eine immer größere Rolle spielte. Preisgelder, Legegelder, Eintrittsgelder stiegen immer weiter in die Höhe. Wettbüros verstetigten sich; der Beruf des Buchmachers entstand, der seitdem in der englischen Gesellschaft eine größere Rolle spielt als anderswo.87 Die Kommerzialisierung lässt sich im Rahmen der Entstehung einer Konsumgesellschaft sehen, die man in England auf das 18. Jahrhundert datiert.88
3. Normierung: Insbesondere bei den Pferderennen und im Preisboxen wurden die Regeln immer rigider und differenzierter. Während man sich in früheren Zeiten ad hoc über die Durchführung von Wettkämpfen nach bestimmten Absprachen geeinigt hatte, wurde es insbesondere aufgrund der schwindelerregenden Höhe der Wetteinsätze entscheidend, dass alle Beteiligten über regelkonforme Durchführung, gerechte Anwendung der Regeln (Schiedsrichter mit sozialem standing), Sicherheit gegen Korruption usw. auf gleichem Fuß standen. Insbesondere der Einfluss sozialer oder materieller Ungleichheit mussten ausgeschlossen werden. Alles, was Sport heißt, ist durch extreme Regelhaftigkeit gekennzeichnet, die sich seit dem 18. Jahrhundert herauszubilden begann. In geradezu symbolischer Weise sollten in diesem eigenweltlichen Lebensbereich gleiche Bedingungen für alle Teilnehmer geschaffen werden. Unabhängig von der Frage der Billigkeit wurden deshalb Standards definiert, kanonisiert und bis zum Exzess getrieben.
Dies gilt zunächst im Bereich der Pferderennen, wo man genaue Regelungen über das Alter der Pferde, über Berechnung der Altersschwellen, Geschlecht usw. zulässiger Pferde für bestimmte Rennen fixierte. Aber nicht nur dies: Infolge der herrschenden Ansicht, dass ein leichter Jockey gegenüber einem schwergewichtigen im Vorteil sei, orientierte man sich an einem Normgewicht, zu dessen Erreichung vor dem Wettbewerb gewogene Jockeys Blei in ihre Taschen laden mussten, um wirklich eine gleich schwere Last auf ihre Pferde zu bringen.89
Durch den Boxmeister John ("Jack") Broughton wurden die Regeln des Boxens in den 1740er Jahren erstmals fixiert. Der Anlass: Nachdem er versehentlich einen Gegner nicht nur k. o. geschlagen, sondern getötet hatte, setzte er sich systematisch und letztlich mit dauerhaftem Erfolg für Schlagbeschränkungen ein, beispielsweise durfte man nun nicht mehr unter die Gürtellinie schlagen, einen zu Boden gegangenen Gegner nicht mit Tritten oder Faustschlägen traktieren usw.90 Im Zusammenhang des Wettens wurden alle sportlichen Auseinandersetzungen zunehmend von Regeln eingehegt, die sie zu einer besonderen Art des Spiels und damit auch zu einer eigenen Kulturform ausgestalteten. In der Folge bedeutete die Teilnahme an solchen regulierten Sportarten deshalb nicht mehr nur Sublimierung von Grausamkeit und Gewalt,91 sondern auch Teilhabe an einer symbolischen Handlung, die so regelhaft ablief, wie man das immer von Zufall und Schicksal bedrohte Leben gerne gestaltet hätte.
Dass die Tendenz zur Vereinbarung einheitlicher Regeln und zu deren landesweiter Durchsetzung im späten 18. Jahrhundert auch auf andere Sportarten übergriff, lässt sich an der Regulierung der Kricketregeln durch den Marylebone Cricket Club 1787 erkennen. Nun wurden Regelwerke in gedruckter Form verbreitet; Kricket wurde als spezifischer Gentlemen's Sport mit einer Aura von Zeremonien umgeben.92
4. Propagierung: Im England des 18. Jahrhunderts wurde Sport erstmals seit der Antike zu einer öffentlichen Angelegenheit von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung und mithin zu einer signifikanten Form von Kultur. In Zeitungen und Zeitschriften wurde zunehmend über Sportereignisse berichtet und auf Veranstaltungen aufmerksam gemacht: Insofern war die Entstehung einer bestimmten Form von Öffentlichkeit und eine spezifische mediale Situation die Voraussetzung für die Entstehung des Sports in England. Nachdem ein Rennkalender schon seit 1727 gedruckt worden war, entstand 1792 erstmals eine Zeitschrift, die sich ganz dem Sport widmete (The Sporting Magazine).93
Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Funktion der Metropole: Führende Schichten pendelten im Jahreslauf regelmäßig zwischen London und ihren Landsitzen; sie verfolgten gemeinsame Interessen und lebten in einer zentrierten Kultur. Während bloß ländliche und regionale Vergnügungen kaum Beachtung gefunden hätten, bot London ein allgemeines Forum für alle modischen Trends. Die Entstehung des Sports hat eine ihrer Voraussetzungen also auch darin, dass die öffentliche Aufmerksamkeit erregt, bedient und angeheizt werden konnte durch eine Werbung für Vergnügungen und Sport.
Erstmals seit der Antike wurden Regeln, Anweisungen und Darstellungen des Sports publiziert (abgesehen von den Fechtbüchern des 17. Jahrhunderts). Ein Boxer wie Daniel Mendoza veröffentlichte sogar Bücher über seine Kunst: The Art of Boxing (1789).94 Das zeigt, dass Sport zu einer Angelegenheit der gebildeten Schichten geworden war. Nun gab es freilich so etwas wie eine zugleich reiche und gebildete, aus Adel und Bürgertum in enger Verflechtung zusammengesetzte leisure class nirgendwo sonst als in England. Ihr Vorbild trug wesentlich bei zur Verbreitung des Sports (des englischen Sports!) überall in den Kolonien,95 darüber hinaus dann auch in einem anglophilen Europa.
Die Hauptargumente für Sport als Lebensform, die in der Industrie-, Massen- und Mediengesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts am meisten Durchschlagskraft erhalten sollten, waren dabei in der Entstehungsphase des Sports im 18. Jahrhundert noch völlig marginal: Kaum jemals wurde Sport als gesundheitsfördernd bezeichnet und kaum jemals zur Steigerung militärischer Wehrhaftigkeit gepriesen. Das lässt den Schluss zu, dass es andere Motive gewesen sein müssen, welche die Besucher zu Sportereignissen hinzogen und die Entstehung eines Lebensbereiches mit Eigenweltcharakter ermöglichten. Abgesehen von psychologischen Motiven (wie Unterhaltungsbedürfnis, Nervenkitzel durch Wettleidenschaft, Sublimierung von Gewalt usw.) wird man dabei auch an spezifische Charakteristika der englischen Situation um 1800 denken müssen: Übergang von einer ländlich-bäuerlichen Gesellschaft zu einer Industriegesellschaft mit Verlust der traditionellen Bräuche und Lebensformen; Übergang von einer durchgreifend christlich geprägten Gesellschaft mit religiösen Festen und einem kirchlichen Jahreslauf zu einer säkularen; Notwendigkeit sozialer Integration von Massen, Zuwanderern, Proletariern.