Begriffsklärungen und Forschungsprozesse
Wie kein anderer Gegenstand der materiellen Kultur ist die Kleidung in unmittelbarer sinnlicher Weise mit dem historischen Akteur, seinem Körper, seinem Geschlecht und seinem Handeln verbunden. Mit dem Konzept von Kleidung als Körpertechnologie (Craik) und des visible self wird in der angloamerikanischen Literatur auf diese enge Verbindung von Körper, persönlicher und sozialer Identität mit der Kleidung verwiesen.1 Kleidung zeigt die Mechanismen für die gesellschaftliche Inklusion an, sie ist zugleich Instrument der sichtbaren Grenzziehungen und Mittel zum Aushandeln von kulturellen und sozialen Differenzen. Die europäische Geschichte ist reich an Beispielen für die Integrations- und Ausgrenzungsmechanismen mittels der modischen Kennzeichnung.
Kleidung als zentrales Objekt der visuellen und materiellen Kultur kommuniziert und transferiert Normen, kulturelle Vorstellungen im Hinblick auf Körper, Geschlecht, Ästhetik, Gestik, Geschmack und Selbst- wie Fremdbilder. Für eine mikrohistorische Perspektive bietet die Mode daher ein interessantes Beobachtungsfeld, weil sich bei ihr private und politische Prozesse vermischen.2 In europäischen Transferprozessen kommt ihr schon aus diesem Grund eine historisch wie kulturell hohe Bedeutung zu.
Mode hat eine verwirrende Begriffsgeschichte. Der Begriff (lat. modus) taucht bereits im 15. Jahrhundert mit Bezug zur Mode auf, verbreitet sich dann aber vor allem im 17. Jahrhundert. Einem 1690 veröffentlichten, von Antoine Furetière (1619–1688) verfassten Lexikon zufolge versteht man darunter in erster Linie eine Sitte, eine Lebensart oder die Art und Weise der Herstellung von Dingen. Kleidung, hier bezogen auf die höfische Kleidung, rangiert erst an dritter Stelle. In der folgenden Zeit allerdings, angeregt durch die Diskussionen über höfische Kleidung in den Modealmanachen und Modekalendarien, gewinnt der Begriff ein kleidungsspezifischeres Profil.3 Wenn der Philosoph und Publizist Christian Garve (1742–1798) in seinem Traktat über die Moden aus dem Jahre 1792 den Begriff Mode(n) auf verschiedene Gegenstände des täglichen Bedarfs, darunter auch auf die Kleidung, bezieht, macht er von einer bis heute möglichen Verwendung des Begriffes Gebrauch.4 So sind in dem Begriff zwei grundsätzliche Kategorien vereint: die Art der Beschaffenheit der Dinge und ihre Zeitlichkeit.
Über die historische und räumliche Entstehung und Verbreitung des Phänomens Mode herrscht in der Forschung Uneinigkeit. Gehört die Mode als kulturelles Phänomen, zu dessen signifikanten Kennzeichen u.a. der ständige Wechsel, Massenproduktion und -konsum zählen, ausschließlich in die Zeit der europäischen Moderne? Ist sie daher vor allem als eine Strategie westlicher Modernisierungsprozesse zu betrachten? Oder kann man modische Prozesse bereits in der Frühen Neuzeit und im Spätmittelalter verorten? In jüngster Zeit wird vermehrt Kritik daran geäußert, Mode als ausschließlich westliches Phänomen zu bewerten. Als Gegenargument wird angeführt, dass auch die Kleidungspraktiken nichtwestlicher Gesellschaften Wechsel und Veränderung kennen.5
Die eingangs dargelegte Definition von Mode als Körpertechnologie und als Teil identitärer Prozesse macht einen sowohl historisch wie räumlich weiten Gebrauch des Begriffes möglich und richtet den Fokus verstärkt auf individuelle wie gesellschaftliche Praktiken.
Die moderne, interdisziplinär ausgerichtete Kleidungsforschung untersucht im Unterschied zur herkömmlichen (kunsthistorisch orientierten) Kostümgeschichte nicht mehr isoliert Formen und Stile der Kleidung. Vielmehr betrachtet sie Kleidermode als Resultat von modischen Praktiken verschiedener historischer Akteure innerhalb eines spezifischen historisch-räumlichen Kontextes (Kleidungskultur). Sie unterstellt nicht mehr stillschweigend eine chronologische Kontinuität der Formen und Stile, sondern geht, vergleichbar der modernen historischen Forschung, von Brüchen und Diskontinuitäten aus. Vor allem betont sie, dass die Bedeutungen der Kleidung nicht von Beginn an festgelegt, sondern stets Gegenstand von gesellschaftlichen Verhandlungen und an spezifische zeiträumliche Kontexte gebunden sind. Daraus folgt auch, dass Kleidungsgeschichte durchaus einen unabhängigen Rhythmus und eigene Regeln im historischen Prozess herausbilden kann.6
Die moderne Kleidungsforschung macht sich dafür die Vielfalt der Quellen kritisch zunutze und setzt gezielt die Methode der Quellenkombinatorik ein. Die Bildquellen – in der herkömmlichen Kostümgeschichte nur allzu oft einseitig als Datierungsbeleg gedeutet – besitzen für die Kleidungsforschung eine besondere Komplexität. So sind sie weniger als zuverlässige oder eindeutige Informanten für Kleidungsformen zu verstehen, vielmehr als Repräsentationen und mediale Vermittlung von kulturellen Normen, Wünschen, Vorstellungen, Widerständen und Strategien, die zur "realen Kleidungskultur" eine spannungsreiche Beziehung unterhalten und diese sogar signifikant verändern können.
Die Modellierung der Geschlechterkörper
Mit dem ausgehenden Mittelalter vollendet sich eine Revolution in der europäischen Kleidungsgeschichte, die bereits im Hochmittelalter eingesetzt hat. Die seit dieser Zeit sich entfaltende neue Mode der höfischen Eliten erzeugte mit ihrem körperbetonten Zuschnitt eine neue Sicht auf die Geschlechterkörper, eine neuartige Konzeption von Kleidermode sowie neue ästhetische Vorstellungen und veränderte Sensibilitäten. Über die höfische Dichtung werden diese Neuerungen an den europäischen Höfen bekannt gemacht. Sie lassen erkennen, wie Kleidung als wesentlicher Bestandteil des höfischen Diskurses zur ideologischen "Lesbarkeit" der höfischen Welt beiträgt.7
Es lassen sich zwei entscheidende Formveränderungen beobachten: Die erste (bereits im Hochmittelalter) beinhaltet eine ausgeprägte Verlängerung und Verengung der Kleidung, die zweite eine extreme Verkürzung der Männerkleidung.
Die erste ersetzt die bis dahin übliche fränkisch-byzantinische Tunikaform durch eng anliegende, lange Gewänder für Mann und Frau. Sie führt zu einer verstärkten Erotisierung des Körpers durch Betonung der weiblichen Taille und der männlichen Beine unter langen, seitlich geschlitzten Röcken.8
Die zweite, angesiedelt im Spätmittelalter, formuliert eine deutliche und endgültige Trennung der vestimentären Geschlechterwelten. Grundlage dieser "Geburt der Mode" bildet eine Reihe von kleidungstechnischen Innovationen, die allmählich einen vollständig neuen Kleidungstyp in Europa entstehen lassen. Vor allem die Schnitttechnik (Ärmeltechnik, wattierte Kleidung, vordere Kleidungsöffnung) setzt sich nun als Prinzip der Kleidungsherstellung durch. Sie führt zu einer radikalen Verkürzung des Männerrockes zur kurzen, eng anliegenden Schecke (Jacke) mit einem unauffällig gewordenen Wams, an dem die Beinlinge mittels Schnüren befestigt werden. In der Frauenkleidung besteht die knöchellange Gewandung weiter fort, jedoch werden die geschlechtlichen Körpermerkmale durch den engen Zuschnitt (Cotte und Muodor) und durch Dekolleté und Surkot (Übergewand) stärker betont. Ein im Spätmittelalter charakteristisches Repräsentationskleid von unterschiedlicher Länge für Männer wie Frauen (bei Frauen ohne vordere Öffnung) bildet die Houppelande, deren Kostbarkeit in wertvollen Pelzen und erlesenen Stoffen zur Geltung kam.9
Eine bis dahin unbekannte vestimentäre Prachtentfaltung dient den adligen Eliten als Strategie zur sozialen Differenzierung. Höfisch (hövesch) wird zum Schlüsselbegriff und alles "Nichthöfische" als "dörperlich" (ein Begriff aus dem sich der moderne "Tölpel" ableitet) verachtet. Die enge Nähe der feudalen Grundherrschaft zur agrarischen Lebensweise macht die Abgrenzung zum Nichthöfischen begreifbar. Kleidung wird hier zu einer maßgeblichen Strategie, die Distanz visuell, sinnlich und körperlich zu manifestieren. Eine wichtige Funktion erfüllt dabei das festliche Kleidungszeremoniell: Es bestätigt die sozialen Verhältnisse und vollzieht performativ die Lehren vom höfischen Menschen.10
Wie werden diese Strategien vestimentär zum Ausdruck gebracht und im europäischen Kontext der Zeit rezipiert? Die Farben z.B. bilden ein wesentliches Distinktionsmerkmal der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, nicht nur weil sie in der Herstellung aufwendig sind und sich oft durch ihre orientalische Herkunft auszeichnen, sondern weil sie in ihrer symbolischen Aufladung fest in die soziale Ordnung integriert werden. Am Beispiel der Geschichte der Farbe Blau wurde erzählt, wie im Verlauf vom 11. bis zum 14. Jahrhundert die Hierarchie der Farben sozial völlig neu organisiert wird. Anfänglich als Farbe völlig missachtet – es wurde sogar von ihrer Nichtexistenz gesprochen –, erfährt sie schließlich eine Aufwertung als Symbolfarbe des französischen Königs, was zu einer völligen Umgestaltung der alten Ordnung führt.11 Eine ähnlich eindeutige soziale Hierarchie existierte auch bei den Pelzen, bei denen z.B. Hermelin, Zobel und Nordisches Eichhorn zum privilegierten Luxus der höchsten Eliten gehörten. In Fragen des Kleidungzuschnittes nehmen sich die adligen Höfe die burgundisch-niederländische Mode zum Vorbild, insbesondere die weibliche Mode.12
Die wachsende Bedeutung der Mode im gesellschaftlichen Leben bewirkt einen gesteigerten Konsum an Stoffen, Edelsteinen und Pelzen. Gerade der extreme Bedarf an Pelzen führt zu einem ersten frühen Interesse an der Erkundung und späteren Kolonialisierung Sibiriens durch die russischen Zaren. Die königlichen Rechnungsbücher vermitteln Einblicke in diesen Pelzkonsum als eine wirkungsvolle Form der conspicuous consumption (Geltungskonsum). So hat der englische König Edward I. (1239–1307) zwischen 1285 und 1288 119.300 Eichhörnchenfelle, 3.200 Lammfelle sowie 60 Hermeline für seinen Bedarf anschaffen lassen.13 Diese conspicious consumption steht nicht nur für den Wunsch nach stärkerer gesellschaftlicher Differenzierung, sondern markiert auch den Grad gewachsener Beherrschung und Distanz der Natur als dem "kulturell Anderen" gegenüber.
Insgesamt lässt sich in Europa eine zunehmende wirtschaftliche Prosperität beobachten, die durch die Verbesserung der handwerklichen Techniken zu einer Stärkung der gesellschaftlichen Stellung der Handwerke führt. Ihnen vor allem verdankt sich der städtische Wohlstand und die wachsende städtische Machtausbildung. Dabei gewinnen vor allem textile Handwerke wie das Tuchmacherhandwerk an politischem Einfluss.14
Ermöglicht wird dieser Konsum durch einen regen Handel zwischen europäischen Wollproduktionsstätten und Handelszentren wie Gent, Ypern, Arras, Brüssel, Troyes, Köln, Antwerpen, Florenz, Venedig (mit dem Osmanischen Reich), Paris und durch den Handel mit dem Orient.15 Die europäischen Städte, vor allem in Flandern, liefern Wollgewebe von einfacher bis feinster Qualität. Der Handel mit den Stoffen und Farben beinhaltet eine eigene Art der Kommunikation und des Transfers: So stammen die kostspieligen Stoffe (wie Seide, Damast, Baldachin, Atlas) und Farben (wie Indigo, Safran, Scharlachrot) aus Italien und dem Orient; aus dem Norden (Russland, Skandinavien) werden, vermittelt über die Hanse, die ebenso kostbaren Pelze (Zobel, Hermelin, Nordisches Eichhörnchen usw.) geliefert.16
Die enge Handelsverbindung mit den flandrischen Städten und der Handel mit dem Orient kommt dem burgundischen Hof zugute, der unter Karl dem Kühnen (1433–1477) die mittelalterliche Mode in Eleganz und Raffinesse extrem verfeinert und stilisiert, begleitet von einer Hofetikette, in der die Mode eine zentrale Stellung innerhalb der innerhöfischen Kommunikation behauptet.17 Durch das Privileg des Herrschers, die Wahl der Farben der Hofkleidung zu bestimmen, markiert er sichtbar seine Raumansprüche und seine soziale Überlegenheit – eine Strategie, die nach Ansicht von Historikern bereits den monarchischen Anspruch auf absolute Herrschaftsausübung andeutete.18 Insbesondere der burgundische Hof unter Karl dem Kühnen erringt wegen seiner modischen Extravaganz auch in Sachen Farben Vorbildcharakter und Ausstrahlungskraft für die europäischen Höfe.19
Modeherrschaft war und blieb über Jahrhunderte hinweg eine Angelegenheit der Höfe und damit des Adels, der imstande war, sich modische Extravaganz zu leisten, geschmackliche Kompetenz zu erwerben und die städtisch-bürgerliche Konkurrenz auf Distanz zu halten. Dadurch gewinnt Mode von Beginn an eine europäische Reichweite, denn die adligen Höfe – verbunden über Heiratspolitiken, Heroldswesen, Söldnerwesen und Künstler – stehen in enger und dauernder Kommunikation. Insbesondere der burgundische Hof verstand es, durch eine geschickte Rhetorik der Macht und durch ein gut ausgebautes Heroldswesen sich als modisches Leitbild anzupreisen und auch zu behaupten.
Trotz gesellschaftlicher Dominanz des Adels geht die moderne Forschung davon aus, dass im Spätmittelalter die mittleren, ja selbst unteren Stände mehr und mehr vom modischen Geschehen beeinflusst waren, zumindest versuchten sie, daran zu partizipieren. Dieser zunehmenden sozialen Dynamik im Kleidungsverhalten versuchten die städtischen Obrigkeiten seit etwa dem 13. Jahrhundert vermehrt durch Kleiderordnungen zu begegnen – für Deutschland erst seit dem Spätmittelalter, in Oberitalien (Genua 1157), Frankreich (1180), Spanien (1234) und England (1363) zeitlich früher. Die Absicht dieser Kleiderordnungen galt einer Aufrechterhaltung des städtischen Gemeinwohls, das man durch übermäßigen Luxus und Kleidungsaufwand gefährdet sah.20 Diese versuchte "Lesbarkeit der Welt" (Dinges) bleibt jedoch weniger Realität als Absichtsbekundung der städtischen und später (in der Frühen Neuzeit) der landesherrlichen Obrigkeiten. In vieler Hinsicht erreicht sie sogar das Gegenteil. Denn die Kleiderordnungen tragen dazu bei, Kenntnisse über Kleidung zu vermitteln und den Blick für Differenzierungen durch Kleidung zu schärfen.21
Mit der Einführung der Mode der verkürzten Kleider entsteht allmählich eine Separierung zwischen der Kleidung für die Geistlichkeit und die Gelehrten, die dem langen männlichen Gewand treu bleiben, was für lange Zeit zu ihrer beruflichen Kennzeichnung wird. Darin formuliert sich eine longue durée, wie sie mit der Aufteilung in Rock und Hose auch für die vestimentären Geschlechtermodelle gilt und im Motiv des Hosenkampfes sein bildliches Pendant findet.22
Bei Forschungen zur Kleidungsgeschichte des Mittelalters ist die Monopolstellung des Adels hinsichtlich der Überlieferung der Quellen zu berücksichtigen. Dazu sind originale Materialfunde kaum vorhanden, reichhaltiger hingegen präsentiert sich der Fundus an Schrift- und Bildquellen: Dichtung, Moralpredigten vor allem der Kirche, die zum Maßhalten aufruft und sich gegen die erotisierte und luxuriöse Kleidung wendet, aber auch Rechnungsbücher, Handschriften usw., sakrale Plastik sowie profane Bildwerke einschließlich z.B. der Siegel.
Europäische Urbanität und Mode (das 16. Jahrhundert)
Die Öffnung des europäischen Horizontes mit der "Entdeckung" Amerikas (1492) und die Handelskontakte mit anderen Kontinenten (Asien, hier vor allem China, Indien) sowie der intensive Handelsaustausch insbesondere mit dem Osmanischen Reich (vor allem vonseiten der Republik Venedig) lassen eine neue, machtvolle soziale Gruppe wie das urbane Handelsbürgertum – z.B. die Augsburger Fugger – entstehen. Ihre Mitglieder bringen eine Flut an bisher unbekannten Handelsgütern nach Europa: Gewürze, textile Stoffe (ägyptische Baumwolle, indische Baumwollstoffe, Seide aus Persien, Irak, Syrien), kostbare Stoffarten wie Damaskin, Baldacchino (Seide mit figurativen Ornamenten), Kamokas (Seide aus China), Dabiki (ägyptische Seide mit goldenen Blumen), Derivate (Mischprodukte aus Seiden und Leinen wie Brokatelle oder Filaticcio), Schmuckmaterialien (Edelsteine aus Indien), Farbstoffe (Scharlachrot aus Armenien, Garance und Henna aus Arabien), Holzarten aus Brasilien, Indien und Ceylon, Indigo aus Bagdad, Safran aus Indien. Ebenso verbreiten sich die Kenntnisse der fremden, nichteuropäischen Kleidungsstile.23 Die Seidenstraße allein liefert ein Musterbeispiel für einen internationalen Kultur- und Techniktransfer.24
So erwächst dem Adel mit Beginn der Frühen Neuzeit in dem städtischen Handelsbürgertum der damaligen bedeutenden Wirtschaftszentren Europas (u.a. Mailand, Venedig, Genua, Paris, Lyon, Brüssel, Antwerpen, Nürnberg, Augsburg, Köln, Danzig) eine Konkurrenz, die Kleidung gezielt als Mittel zur Sichtbarmachung ihres gewachsenen sozialen Status, ihrer politischen Macht und ihres Prestiges einsetzt.25
Davon zeugen eine Zunahme von Bildnissen und Dokumenten persönlicher wie gesellschaftlicher Art (Porträts, Kostümbücher, genealogische Handschriften oder Hausbücher) sowie die Darstellungen gesellschaftlicher Ereignisse wie Geschlechtertänze, die das gewachsene Selbstbewusstsein der urbanen Eliten zum Ausdruck bringen. In dieser Form der Darstellung zeichnet sich eine neue Idee der Repräsentation ab, nämlich Status und Macht zunehmend an den personalisierten Körper zu binden. Sie steht im Kontrast zum Repräsentationsverständnis der adligen Eliten, die mit dem Wappen als Zeichen der Stellvertretung auf einen kollektiven Verwandtschaftskörper Bezug nehmen. Dabei werden vom Bürgertum bewusst Normverstöße gegen Kleiderordnungen in Kauf genommen.26 Ein interessantes historisches Zeugnis für die Kleidungspraktiken liefert das reich illustrierte Kostümbüchlein des Augsburger Bürgers Matthäus Schwarz (1496–1564), Hauptbuchhalter des Handelsunternehmens Fugger. In seiner Kleidungsbiographie wird seine luxuriöse Garderobe mit ihren kostbaren Stoffen und Farben zum maßgeblichen Element für die Konstruktion eines männlichen bürgerlichen Selbst im städtischen Raum. Sie liefert zugleich den Verweis auf den Stellenwert der kaufmännischen Welt mit ihrem international vernetzten Handel.27
Den in der Gesellschaft sich verschärfenden Unterschieden zwischen den Geschlechtern trägt auch die Kleidungskultur Rechnung.28 So verstärken sich Tendenzen in der Kleidermode, die Markierung der Geschlechterkörper durch die vestimentäre Gestaltung zu betonen: Es vollzieht sich eine klare, endgültige kleidungstechnische Trennung von Oberteil (Mieder) und Rock in der weiblichen Mode, die männliche Bekleidung mit Hemd, Wams und verschiedenen kurzen oder bis zu den Knien reichenden Hosenformen (Pauke, Pluderhose) nimmt eine eigene modische Entwicklung.29 Aufsehen und moralischen Anstoß erregt die sogenannte geschlitzte oder "zerhackte" Mode, die sich bereits im 15. Jahrhundert, aus Italien kommend und vermittelt über die Landsknechte, während des 16. Jahrhunderts in ganz Europa verbreitet.30 Sie zeugt durch das kunstvolle Zerlegen der textilen Oberfläche und das auf diese Weise ermöglichte visuelle Spiel mit verschiedenen Stoffen sowohl von einem immensen kleidungstechnischen Aufwand und Können als auch von einer ungewohnten aggressiven männlichen Eleganz.31 Sie manifestiert sich symbolhaft in der Schamkapsel (Braguette), der vestimentär stilisierten und übertrieben vergrößerten Darstellung des männlichen Geschlechtsteils.
Kostbare Stoffe mit Pelz, Metall und Edelsteinschmuck werden zum Mittel der sozialen innerstädtischen Differenzierung (z.B. lange goldene Ketten als Zeichen der Patrizier). Visuelle Kennzeichen für Stand, Status und Lebensalter bilden die vielfältigen Kopfbedeckungen, insbesondere das an Formen reiche Barett für die städtischen Eliten.
Modische Homogenisierung der urbanen Eliten bei gleichzeitig sich verstärkender Stratifikation in der Kleidung wird als zentrale Tendenz der Epoche erkennbar.
So wird einerseits das Aussehen der bürgerlichen Eliten vereinheitlicht, andererseits drückt die Mode deutlich die inneren Spannungen aus. Große Unterschiede existieren zwischen wohlhabenden Kaufleuten und Handwerksmeistern einerseits und der handwerklichen Mittelschicht anderseits, "zwischen der Genossenschaft armer Rebleute und reicher Metzger, zwischen vornehmen Kürschnern und armen Seilern, ja sogar zwischen Weißgerbern und den wesentlich angeseheneren Rotgerbern".32 Vergleichbares gilt auch für die soziale Distanz zwischen den Führungseliten der Städte und den aufstrebenden Gruppen der Bürgerschaft, zwischen den Mitgliedern der bürgerlichen Genossenschaften und den institutionellen kirchlichen Hierarchien, zwischen Laien und Klerikern – und dies nicht nur in großen Städten wie Paris, Antwerpen, Florenz, Köln, Augsburg, sondern auch in den kleinen Landstädten.33
Modische Transferleistungen innerhalb Europas werden für den männlichen Kleidungsstil vor allem von den mobilen Heeren der Landsknechte erbracht, die als Träger modischer Innovationen gezielt Aufsehen erregten, und zwar sowohl im 16. Jahrhundert als auch in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges; insbesondere waren sie auf deutschen Territorien wirksam.34 Die Bedeutung der Söldner als Modeträger erklärt sich auch aus der noch nicht bestehenden Trennung zwischen militärischer und ziviler Kleidung.
Zu einem weiteren, maßgeblichen Modetransfer in den damaligen Staaten Europas trugen die üppig illustrierten Trachtenbücher bei, die zwischen 1532 und 1600 eine starke europaweite Rezeption erfuhren.35 Diese Publikationen, zumeist regulär und in verschiedenen Sprachen (französisch, italienisch, deutsch) herausgebracht, liefern zum ersten Mal eine Übersicht über die gebräuchlichen Moden der großen urbanen Handelszentren einschließlich des Osmanischen Reiches36 sowie des asiatischen und afrikanischen Kontinents; seltener finden sich Darstellungen aus der sogenannten Neuen Welt.37 In den Trachtenbüchern wird erkennbar, dass die osteuropäischen Gesellschaften wie Polen (niederer Adel) und Russland mit dem Wechsel von einer westeuropäischen Kleidung zum byzantinischen Stil mit Kaftan ("Zupan"), einem mantelartigen, reich verzierten Gewand mit langen Ärmeln, einen modischen Sonderweg einschlagen. Vermutlich hat sich diese Wendung in der Mode im 15. Jahrhundert vollzogen und wird erst unter Peter I. (1672–1725) um 1700 wieder eine westeuropäische Orientierung finden.38
In ihrer klaren Differenzierung der Welt nach eigenen (europäischen) und fremden kulturellen Kleidungsgewohnheiten können die Trachtenbücher als ein früher Versuch betrachtet werden, sowohl zu einer Standardisierung der europäischen Mode im Sinne der civilité beizutragen als auch nationale und europäische Identitäten auszubilden.39
Hofmoden und bürgerliche Ehrbarkeit (Ende des 16. bis Ende des 18. Jahrhunderts)
Die modische Bedeutung der Städte hat die Macht der adligen Höfe nicht verdrängen können. Je nach machtpolitischen und kulturellen Konstellationen machen sich modische Einflüsse unterschiedlicher geographischer Herkunft bemerkbar. So ist bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts die Vorbildwirkung italienischer Mode auf die Höfe erkennbar, die dann mehr und mehr durch die Moden anderer nationaler Höfe abgelöst wird.40
Mit der Verschiebung der europäischen Machtverhältnisse zugunsten Spaniens entstehen neue Differenzierungen innerhalb der europäischen Kleiderkulturen. In Anlehnung an die burgundische Etikette versucht die höfische Kultur die vielfältigen politischen, kulturellen und sozialen Einflüsse, die durch den Prozess der Reformation in Gang gebracht werden, zu kanalisieren. Insbesondere der kastilianisch-spanischen Hofkultur als Symbol der Gegenreformation verschafft die Vormachtstellung unter Karl V. (1500–1558) Reputation und Einfluss an den adligen Höfen im übrigen Europa bis ca. 1620, an manchen Höfen wie dem Wiener Hof bis ins 18. Jahrhundert hinein.41
Mit ihren geometrischen, strengen Formen visualisiert die Hofmode die körperdisziplinierende Wirkung der Bekleidung und ihre Aufgabe, den Körper durch kunstvolle Gestaltung der höfischen Etikette einer zentralistisch gelenkten Monarchie zu unterwerfen.42 Der um die Mitte des 16. Jahrhunderts auftauchende kegelförmige Reifrock wird die Frauenkleidung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Varianten beherrschen. Dabei wird das tief heruntergezogene Korsett oder Mieder (auch Schnürbrust genannt) mit spitzem Schoß zum zentralen Bestandteil der Frauenmode. Es zwingt den weiblichen Körper in eine strenge, geometrische Form mit schmaler Taille und breiten Hüften (durch Polster künstlich erweitert) als normativem weiblichem Körperideal, das zwei gegeneinander auf die Spitze gestellten Kegeln gleicht.43
Die männliche Bekleidung findet zu einem festen Formenrepertoire, bestehend aus der spanischen Pauken- oder Pluderhose (zumeist mit Rosshaar gefüllt), zeitweise noch mit der Schamkapsel, kurzem, engem Wams und Beinlingen, letztere seit Mitte des 16. Jahrhunderts auch gestrickt. Sie macht auch Anleihen bei bestimmten in der Armee beliebten Kleidungselementen wie losem Wams, längeren Hosen und wadenhohen Lederstiefeln.
Weiße Hemdkragen, zumeist aus feinster Spitze, sind neuartige Zeichen der Distinktion, die Reinlichkeit als Strategie sozialer Abgrenzung versteht, als "eine Wäsche, die sauber macht".44 Die spanische Mode liefert zudem ein Beispiel für die unterschiedliche europäische Rezeptionsweise eines Kleidungsstils, der in den italienischen Stadtstaaten in dieser Strenge kaum Eingang findet, in Frankreich abgemildert wird, in England wiederum wegen seiner Eignung für repräsentative Zwecke auf ein besonders großes Echo stößt.45
Der nach wie vor prunkvollen Mode der adligen Höfe steht im Verlauf des 17. Jahrhunderts ein nüchterner Kleidungsstil bürgerlicher Schichten (Kaufleute) gegenüber. Er setzt sich vom ostentativen Aufwand adliger Lebensführung durch Strenge und Puritanismus in Farben und Kleidungsformen ab und vollzieht mit der Hinwendung zu mehr Natürlichkeit in den Repräsentationen der darstellenden Künste auch einen Wandel in der allgemeinen Bedeutungsgebung für das vestimentäre Erscheinungsbild: Es soll die inneren Werte zum Ausdruck bringen.46
Die Farbe Schwarz
Ein Beispiel dafür, dass bei aller politischen, religiösen sowie gesellschaftlichen Divergenz sich eine gemeinsame modische Geschmackskultur durchsetzen kann, bezeugt die der spanischen Mode zugeschriebene schwarze Farbe.47 Sie findet Akzeptanz selbst bei Gruppen aus religiös reformierten Ländern in Form der sogenannten holländischen Mode in England, Norddeutschland, den skandinavischen Ländern und sogar später bei Quäkern in Nordamerika. Bezüglich Ethik, Körperdisziplinierung und Geschlechterkörper stehen sie in ihren Auffassungen dem katholisch-absolutistisch geprägten Kastilien durchaus nahe. Die Farbe Schwarz wird zugleich Ausdruck von Ehrbarkeit und Anstand als den maßgebenden Normen der neuen bürgerlichen Mittelschichten.48
Höfische Inszenierung und bürgerliche Modestile: Frankreich als Modevorbild
Mit dem Westfälischen Frieden 1648 gewinnt die Mode des absolutistischen französischen Hofes, insbesondere unter Ludwig XIV. (1638–1715), die Oberhand bei der modischen Orientierung der höfischen Kulturen Europas. Unter seiner Herrschaft wird die Mode als Bestandteil der Hofetikette noch stärker stilisiert, um schließlich als Machtinstrument der Monarchie die Privilegien des Adels und zugleich seine Abhängigkeit und enge Bindung an den König visuell zu demonstrieren.49
Dabei durchdringt die antike Vorstellung des Theatrum Mundi die Gesellschaft und prägt die modischen Inszenierungen. Im höfischen Festwesen findet diese Theatralisierung des Lebens ihre optimale Steigerung.50 Die Frauen in prachtvollen manteaux (Rock und Mieder) mit Polsterungen an den Hüften und häufig einer sichtbaren devantière (Unterrock) stehen im Mittelpunkt des höfischen Lebens, allerdings nicht mehr als "Partnerin" wie in der Renaissance oder als Idealgestalt wie in der Zeit der Minnesänger, sondern als liebliche Dekoration der streng patriarchalischen Ordnung. Gleichzeitig macht sich der bürgerlich-aufgeklärte aristokratische Einfluss aus Holland und England bemerkbar.
Grob betrachtet kristallisieren sich in dieser Epoche zwei unterschiedliche Ethik- und Moralvorstellungen heraus. Die eine bleibt weiterhin der Repräsentationskultur des Hofes verpflichtet, die andere, bürgerlich-protestantische, tendiert zu Schlichtheit und Echtheit als den maßgeblichen Werten.51
Breite, ausladende Reifröcke und Paniers (Untergestelle) mit eng geschnürtem Mieder (Schnürmieder, Brustpanzer), Korsett, Stecker und Echelles aus kostspieligem Damast, Atlas und Samtstoffen bei den Frauen; bunte, reich bestickte, kurze Westen, Justaucorps sowie Fräcke und Kniehosen mit Strümpfen bei den Männern prägen im 18. Jahrhundert das allgemeine Bild der adligen Kleidung bis kurz vor die Französische Revolution.52
Bürgerliche Schichten betreiben grundsätzlich weniger Aufwand und postulieren gegenüber der vom Adel kultivierten Künstlichkeit das Ideal der Natürlichkeit, d.h. modisch unverstellter Körper und Körpersprache – eine Vorstellung, die in England selbst vom Adel übernommen wird.53
Diesem Ideal entspricht um 1800 vor allem die korsettfreie Empiremode, die aus Frankreich kommend einen weiblichen Kleidungsstil mit unter der Brust einsetzender Taille einführt und helle, leichte Baumwollstoffe propagiert.54
Für die bürgerliche Kleidung gewinnt die städtische Welt im 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung, insbesondere jene Metropolen wie London, Paris, Sankt Petersburg oder Wien, in denen ein reger sozialer Verkehr Einflüsse und Neuerungen bei der Mode fördert und erleichtert. Der gesteigerte Luxus, gewachsene Kleidungskenntnisse und wohlhabende bürgerliche Käuferschichten lassen neue Kleidungsbedürfnisse und sogar -stile entstehen.55 Stilausprägungen machen deutlich, wie sehr das alte Modell einer obrigkeitsstaatlichen Kleiderordnung bereits an Wirksamkeit verloren hat.
Dieses ohnehin wenig effiziente Instrument zur Regulierung eines von oben sozial definierten Kleidungskonsums wird Ende des 18. Jahrhunderts definitiv eingestellt. Das moderne Kleidungsbewusstsein, das im 19. Jahrhundert zur vollen Entfaltung gelangt, ersetzt den sozialen Zuweisungscharakter durch individuelle Geschmackskompetenz und finanzielles Vermögen und macht Mode zum maßgeblichen Mittel der Persönlichkeitsgestaltung.56
Medien der Mode: Modejournale
Eine Untersuchung der textilen Geschichte von Paris lässt beispielhaft erkennen, wie sich bereits während des 18. Jahrhunderts verstärkt ungewohnte Konsum- und Geschmacksmuster in der Kleidung herausbilden, die sich weitgehend von der ständischen Ordnung emanzipieren.57 Gewachsene Kleidungskompetenz, gestiegener Luxus und wohlhabende Käuferschichten favorisieren die Entstehung einer eigenen Modepresse. Modische Neuigkeiten wurden bis Ende des 18. Jahrhunderts noch über Kleidungspuppen (Modelldekorationen auf Puppenkörpern) an europäischen Höfen und Städten – bis hin nach St. Petersburg – bekannt gemacht. Sie konnten dort von der Bevölkerung auf öffentlichen Plätzen bestaunt werden.58 In Form von Modekupfern, -almanachen und -kalendern, gedacht für ein exklusives adliges wie bürgerliches Publikum, wird allmählich eine eigenständige Modepresse vorbereitet. Die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in periodischer Regelmäßigkeit publizierten Modejournale (in Deutschland: Journal des Luxus und der Moden, herausgegeben von Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) seit 1787, in Frankreich: Mercure Gallant ab 1672 und Galerie des Modes zwischen 1778 und 1787) brachen das Informationsmonopol des Adels und trugen zur Etablierung der bürgerlichen Mode bei, definiert als saisonaler und ökonomisch motivierter Wechsel.59 Das in Deutschland erfolgreiche Journal des Luxus und der Moden förderte zugleich die Verbreitung aufklärerischer, bürgerlicher Ideale wie z.B. die Ideen zur Kinderkleidung und -erziehung und verfolgte mit dem Wunsch nach einer eigenständigen deutschen Modewirtschaft das Ziel, "den grenzüberschreitenden Handel zu beleben und den Wohlstand zu vermehren" – ganz im Sinne der französischen Enzyklopädisten.60 Auf diese Weise wurden mittels des gesteigerten Konsums neue soziale Differenzierungen eingeführt.61
Mit seiner Einteilung in Bild und Text gab das Journal bereits jene Struktur vor, die bis heute für Modezeitschriften kennzeichnend ist. Sie stellen als Medium der Vermittlung und damit Werbung die notwendige Verbindung zwischen Konsument und Produzent her. Durch Abbildungen liefern sie die Möglichkeit zur Nachahmung und regen den Konsum an.62
Modewirtschaft, Modekonsum, Reformkleidungsbewegung (19. Jahrhundert)
Die Mode des 19. Jahrhunderts erlebt einen dynamischen Wechsel bisher unbekannten Ausmaßes und einen gesteigerten Verbrauch – möglich insbesondere durch die zunehmende industrielle Fabrikation der Kleidung mit der Entstehung der Konfektion (entscheidend: die Erfindung der Nähmaschine 1855) sowie durch neuartige Farbtechnologien (chemische Farben gegen Ende des 19. Jahrhunderts).63
Der Massenkonsum in der Bekleidung ist eine Folge der demographischen Entwicklung und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, vor allem jedoch der kulturellen Veränderungen und der gewandelten Verhaltensmuster, die sich mit der entstehenden Nachfrage allmählich ausbilden. Dies illustriert das Beispiel des Berliner Hausvogteiplatzes in seiner bunten Mischung von Produktion, Handel und Vertrieb. Um 1900 und bis in die 1920er Jahre hinein verdankt er seinen Ruf, die vermutlich größte Konfektionsstätte der Welt zu sein, vor allem dem Handel.64 Eine Folge ist die Entstehung von Warenhäusern in den Metropolen der Zeit (Paris, London, Berlin, Sankt Petersburg, Wien, Stockholm, Kopenhagen, Chicago usw.), die mit ungewohnten Warenpräsentationen und einem reichhaltigen Stoff- wie Kleidungsangebot breiten Schichten der Gesellschaft – bis hin zu den Arbeitern – den Zugang zum Modekonsum ermöglichen.65 Im Zuge dieser modischen Entwicklungen vollzieht sich eine vollständige Feminisierung des Modekonsums.66
Moden im 19. Jahrhundert
Besaß die Empiremode um 1800 eine gelockerte, freie Form, so kehrt die Frauenkleidung mit der Biedermeiermode um 1825–1830 wieder zu einer konservativen Frauenmode mit Krinoline und enger Taille zurück. Verschiedene, zeitlich aufeinanderfolgende Korsettformen machen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Frauenkörpern vestimentäre Repräsentationsobjekte in Form von Tournüre und S-Kurve und drücken darin auch die gesellschaftlich untergeordnete Rolle der Frau aus. Mehr denn je spiegeln die Kleidungsmodelle die zeitgenössischen Geschlechterrollen und Körperbilder wider, die nur dem Mann eine aktive und öffentliche Rolle zugestehen. So betont der immer dunklere und schmucklosere bürgerliche Männeranzug mit seinem festen Repertoire von Röhrenhosen verschiedener Art, Hemd, Jacke und Weste Funktionalität und Sachlichkeit und behauptet sich bis heute als bürgerliche Normkleidung.67 Der Wechsel der Moden speist sich stilistisch aus dem historischen Stilrepertoire (Renaissance, Barock, Rokoko), zitiert aber auch Einflüsse aus osteuropäischen Ländern, vor allem was Pelzmoden anbelangt.
Die Frauenmoden, vor allem das Korsett, werden jedoch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts europaweit – allerdings in geringerem Ausmaß in Frankreich und Südeuropa – zum Gegenstand von Reformen: Ärzte wie Carl Heinrich Stratz (1858–1924) und Heinrich Lahmann (1860–1905) oder der Zoologe Gustav Jäger (1832–1917) sind daran ebenso beteiligt wie die Künstler Henry van de Velde (1863–1957), Richard Riemerschmid (1868–1957), Alfred Mohrbutter (1867–1916), Gustav Klimt (1862–1918) u.a. sowie die bürgerliche Frauenbewegung. Im Zuge anderer kultureller Bewegungen wie Sport und Freikörperkultur wird ein von modischen Zwängen befreites Körperideal nach antikem Vorbild (Venus von Milo) propagiert, das durch Beweglichkeit und Funktionalität die Frauenkleidung für den Modernisierungsprozess passgerecht umgestalten will. In diesem Prozess werden Körper wie Kleidung ("Bekleidungsphysiologie") Teil des wissenschaftlichen Diskurses und speziell der Körper zum Gegenstand neuartiger kultureller Differenzierungsstrategien (gesund/krank, normal/anormal usw.).68
Wurden Diskurse über Mode und Modeverhalten bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts von rechtlichen und ökonomischen (siehe Kleiderordnungen) oder religiösen (Predigten) Fragen beherrscht, so wandern die Diskurse über Modeverhalten nun in die Arenen von Politik, Wissenschaft und Kunst. In den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt dabei die Beziehung zwischen Modeverhalten, Individuum und Gesellschaft.69
Auf zwei Sonderphänomene in der modischen Entwicklung im 19. Jahrhundert sei kurz hingewiesen: Mit dem Uniformwesen, das sich den stehenden Heeren und einer neuen Heerestechnik absolutistischer Herrschaft im 18. Jahrhundert verdankt, entsteht eine spezifische männliche Kleidungsform, zuerst im militärischen, dann zunehmend auch in den zivilen Bereichen des Staates. Uniformen signalisieren die Disziplinierung (Hygiene, Körperhaltung) des männlichen Körpers und machen ihn zum visuellen Zeichen und Instrument für die Durchsetzung staatlicher bzw. amtlicher Autorität.70
Ein anderes Phänomen des 19. Jahrhunderts ist bedingt durch das massive, europaweite Aufkommen ländlicher regionaler Kleidungsstile ("Trachten"). Sie verdanken sich zum einen neuen Stratifikationsprozessen und Identitätskonstruktionen auf dem Lande und zum anderen der bürgerlichen Agrarromantik. Gerade in den osteuropäischen Ländern wurde die ländliche Folklore instrumentalisiert für nationale Unabhängigkeitsbestrebungen.71
Die "Neue Frau" – Transformationen im 20. Jahrhundert
Mit dem 20. Jahrhundert, vor allem in den zwanziger Jahren, vollzieht sich in der Mode wie auch allgemein in der Gesellschaft eine grundlegende Transformation gängiger Geschlechterbilder und -rollen. In jener Zeit gipfelt der Reformprozess im Phänotyp "Neue Frau" mit Bubikopf, Zigarette und kniekurzen Röcken bzw. Hemdkleidern, die das seit Jahrhunderten verborgene Frauenbein zum ersten Mal entblößen. Dem entspricht ein neues Selbstbewusstsein der Frauen, die infolge zunehmender Berufstätigkeit (Sekretärin, Angestellte, Telefonistin usw.) Mode zum beruflichen Aufstieg nutzen und zum ersten Mal im öffentlichen Raum selbstständig agieren können.72
Galt die Männermode bis dahin als Ausdruck der Modernität, so erscheint sie nun als eher konservativ, zu sehr an dem starren, einfarbigen bürgerlichen Anzug festhaltend. Die in England um 1929 durch den Psychologen John Carl Flugel (1884–1955) gegründete Men's Dress Reform Party macht sich daher die Reformierung der Männerkleidung zur Aufgabe.
Transfer durch Medien
Die "Neue Frau" ist vor allem ein Bildtopos, zu dessen Verbreitung und Verfestigung die damals zahlreichen und nach sozialer Klientel differenzierenden Modejournale erheblich beigetragen haben. Mit der Modefotografie kommt eine neue Bildgattung hinzu, die eine andere Wahrnehmung von Mode, etwa durch Detailansichten und Nahaufnahmen von Körper und Gesicht, ermöglicht. Durch die leichtere Herstellung von Modeabbildungen begünstigt sie die Beschleunigung des modischen Wechsels und begründet durch ihre enge Symbiose mit der aufsteigenden Filmindustrie das Star- und Modelsystem. Auf diese Weise trägt sie zur diskursiven Produktion und Zirkulation von Geschlechterbildern und -rollen bei.73
Mode unter Diktatur und Okkupation
Mit den dreißiger Jahren kehrt insgesamt in vielen europäischen Ländern ein allgemeiner Konservatismus in die Frauenmode und in der Frauenrolle ("Mütterlichkeit", Betonung der Geschlechterdifferenz) zurück, jedoch ohne die modernen Kennzeichen des modischen Erscheinungsbildes grundlegend zu verändern.
Es erwies sich, wie so oft in der Geschichte, dass die Kleidermode den internationalen Raum und Rahmen braucht, um sich zu entfalten. So blieb auch unter der Herrschaft der Nationalsozialisten (1933–1945) der Wunsch nach einer deutschen Mode mehr eine propagandistische Strategie als Realität. Allerdings wurden Versuche zu einer durchgreifenden Uniformierung der deutschen Öffentlichkeit unternommen (BDM-Gruppen, Aufmärsche, die Pflege nationaler Kleidung wie Dirndl, Tracht usw.).74
Modemächte – Modenationen
Auf europäischer Ebene verliefen viele modische Entwicklungen zwar ähnlich, verbanden sich jedoch oft mit spezifischen nationalen oder regionalen Prägungen; sie verliefen nicht im gleichen Rhythmus und bezogen nicht alle Schichten gleichermaßen ein. Die Herrschaft Napoleon Bonapartes (1769–1831) förderte keineswegs die Verbreitung der französischen Mode, sondern erzeugte im Gegenteil Tendenzen zur Förderung oder Rückbesinnung auf nationale Moden. Dies spiegelt sich auch im Journal des Luxus und der Moden, das von seiner einstigen Begeisterung für die französische Mode zum Fürsprecher von nationalen Moden à la Justus Möser (1720–1794) wird. Unter dem Einfluss der Slawophilen in Russland und ebenfalls zur Betonung nationaler Eigenheiten wird das russische Nationalgewand wieder belebt und sogar bei Hofe für Empfänge verordnet (1834). Umgekehrt konnten politisch motivierte Maßnahmen wie die Blockade Englands durch Frankreich nicht die französische Begeisterung für die englische (Herren-)Mode bremsen.75
Als Modemächte (in Produktion, Handel und Design) behaupteten sich nach der Französischen Revolution England und Frankreich. Gewann London das Monopol für Männerkleidung, so errang Paris die Dominanz in der Frauenmode und später, verstärkt durch die Etablierung des Systems einer "Mode-Couture" seit Charles Fréderic Worth (1825–1895) unter Napoleon III. (1808–1873), auch die Vorrangstellung im Bereich des hochwertigen Modedesigns.76
Berlin wiederum stieg – vor allem dank der Textilhersteller und Konfektionäre aus dem Umfeld von Juden, französischen Hugenotten und Norditalienern (Piemont) – um 1900 zum europaweit wichtigsten Produktions- und Handelsort für Konfektion auf.77
Die "Sprache" der Mode geriert sich fast überall europäisch und betont stets ihre Verankerungen in der europäisch-urbanen Welt. Die Modejournale des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts machen dazu Anleihen bei orientalisch imaginierten Kleidungsstilen und heben so die europäische Vernetzung mit der kolonialen Welt hervor. Wie so oft bei modischen Prozessen handelte es sich eher um den Import oder Export von Bildern, um propagandistische Argumente, um Fantasien oder Stimmungen als um real vollzogene Aneignungspraktiken. Die Macht einer jeweiligen "Mode" hängt von verschiedenen Instrumentarien ab wie der Kommunikation, kompetenten kulturellen agencies oder politischen und gesellschaftlichen Ereignissen, auf die Mode geradezu seismographisch reagiert. Sehr selten jedoch erweisen sich verordnete Moderichtungen als erfolgreich.
Im 19. Jahrhundert befördern die Netzwerke von Produktion und Handel, Verkehr und ein beginnender Tourismus eine europaweite Vermittlung bürgerlicher Moden. Beteiligt sind in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch künstlerische Strömungen, allen voran die Avantgardebewegungen wie der italienische Futurismus (ca. 1910–1940) oder die russischen Konstruktivisten (1900–1925), die Mode in ihre künstlerischen Konzepte aufnehmen und zur Erneuerung ihrer Erscheinungsformen beitragen.
Diskurse über Mode spiegeln auch Widerstände gegen neue modische Einflüsse wider, ein Thema, das seit dem Spätmittelalter bis in die Moderne (1930er Jahre) stets von neuem wiederkehrt – allerdings unter jeweils veränderten ideologischen Zeichen. Modische Einflüsse von außen werden als bedrohlich empfunden, weil sie auf die traditionellen Identitäten, Vorstellungen und Normen einwirken und diese verändern können. So werden in der moralisch-satirischen Literatur der Reformation fremde Moden kritisch ins Visier genommen; Beispiele dafür sind Vom Hosenteufel, eine Schrift des Theologen Andreas Musculus (1514–1581) und Wider den Kleyder-Teuffel von Johannes Strauss. Ökonomische Interessen wie moralische Einwände gehen dabei meistens Hand in Hand. Häufig gilt die Kritik jedoch der Modemacht Frankreichs (18. und 19. Jahrhundert), die, als übermächtig empfunden, publizistisch bekämpft wird. Entsprangen die Einwände gegen Ende des 18. Jahrhunderts vor allem dem merkantilistischen Interesse an einer "nationalen" Produktion, so nehmen die Modediskurse mit Beginn des 19. Jahrhunderts (Reformkleidung) bis in die 1930er Jahr sehr starke nationale bis nationalistische Züge an.78
Rückblickend zeichnet sich in der europäischen Landschaft ab, wie sehr die historische Vielfalt der Moden in Europa in einem permanenten Spannungsfeld zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen der Heterogenität der Nationen und einer europäischen Identität, zwischen Europa und Nordamerika einerseits und der nichteuropäischen Welt wie dem Orient, Afrika, Lateinamerika oszilliert. Das Beispiel Russland illustriert mit seiner forcierten Verwestlichung der Kleidungsgewohnheiten unter Zar Peter I., wie sehr die Übernahme der damaligen westeuropäischen Moden (um 1700) Anschlussfähigkeit an gesamteuropäische Modernisierungsprozesse signalisiert, während umgekehrt mit der Rückwendung zum Nationalkostüm im Stil der traditionellen byzantinischen Gewandung unter dem Einfluss der Slawophilen dem modernen nationalen Gedanken entsprochen wird.79
Mode und Modernität 1945–1950: ein Ausblick
Wegen des allgemein herrschenden Mangels in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bleibt die Mode relativ schlicht und dem Bild der Kriegszeiten verhaftet, wenngleich, wie es die Modejournale belegen, sie weiterhin international Aktivität beweist. Dann jedoch (nach 1950) kommt es im Rahmen des allgemeinen, gesteigerten Massenkonsums (Amerikanisierung) zu einer explosiven Entwicklung der Kleidermoden (Dior und der New Look, Lizenzvergabe), gerade im Bereich der weiblichen Mode: Beschleunigter Modewechsel und massiver Konsum von Moden, die zwischen extremer Erotisierung (Minirock) und emanzipativen Zügen schwanken, bleiben ihre Kennzeichen. Neue Impulse ins Modegeschehen vermitteln neben der Haute Couture die seit den 1950er Jahren sich entfaltenden Jugendkulturen (Halbstarke, Hippies) bis zu den heutigen Punks, Techno- und Hip-Hop-Szenen. Anstelle der früheren vertikalen sozialen Schichtung (trickle down) von oben nach unten, wie sie Georg Simmels (1858–1918) Modetheorie (1911) vorhergesehen hat, kommt es zu einer Vermischung von vielfältigen Einflüssen, bei der das Modegeschehen zu einem subtilen Verhandlungsraum von veränderten Geschlechter- und Gruppenkonstruktionen wird. Die Inszenierung des Selbst avanciert darin zu einem Schlüsselbegriff.80