Einleitung
Im italienischen Staatsräsondiskurs des späten 16. Jahrhunderts entstand der Gedanke, dass ein Staat über eine möglichst große Bevölkerung verfügen und diese auch durch bevölkerungspolitische Maßnahmen vermehren sollte. Diese Theorie wurde ab 1600 auch in Deutschland rezipiert und in veränderter Form übernommen. Die Idee der Bevölkerungsvermehrung kollidierte mit der Forderung nach Monokonfessionalität, die die Aufnahme Anderskonfessioneller ausschloss. In theoretischer Form existierte dieser Widerspruch schon in der italienischen politischen Theorie, wo er jedoch unausgesprochen blieb. Erst der Ideentransfer ins Reich mit seiner andersartigen konfessionellen Konfliktlage führte zu einer expliziten Gegenüberstellung beider Prinzipien.
Im Gegensatz zur vielfältigen Arbeitsmobilität der Frühen Neuzeit, die erst durch die historische Forschung wieder ins Bewusstsein gerückt worden ist,1 wurden die großen religiös motivierten Migrationen bereits zeitgenössisch medial verbreitet und diskutiert. Ereignisse wie die Auswanderung der Hugenotten aus Frankreich in den 1680er Jahren oder jene der Salzburger Protestanten Anfang der 1730er Jahre prägten sich durch die Selbstbeschreibung der jeweiligen Gruppen und später durch Historiker, die das Schicksal der eigenen Vorfahren erforschten, ins öffentliche Gedächtnis ein. Ein wichtiger Baustein dieses Bildes war die preußische Aufnahmepolitik der Religionsflüchtlinge, die aus einer Mischung von Eigennutz und Nächstenliebe gegenüber den Glaubensgenossen resultierte. Diese preußische Peuplierungspolitik gilt als beispielhafte Manifestation des sogenannten Populationismus, der das kameralistische Denken des 18. Jahrhundert beherrschte. Trotz, oder vielleicht gerade wegen dieser allgemeinen Bekanntheit der Idee des Populationismus fehlen bisher Forschungen, die den Bevölkerungsdiskurs, seine Entwicklung und seine Auswirkungen umfassend untersucht haben. Dies gilt vor allem für das 17. und das frühe 18. Jahrhundert.2
Der Blick frühneuzeitlicher Obrigkeiten und politischer Theoretiker auf Migrationsvorgänge war zwiespältig. Auf der einen Seite findet man eine immer stärkere Definition „unnützer“ Personengruppen, wie Arme, Bettler, Juden oder "Zigeuner", deren Migration verhindert werden sollte, auf der anderen Seite aber parallel dazu eine merkantilistisch-kameralistisch instruierte „Bevölkerungspolicey“3, die Zuwanderung als Notwendigkeit der Staatserhaltung förderte. Um diesen Widerspruch näher zu beleuchten, möchte ich den Ursprung und die Entwicklung der Idee der Bevölkerungsvermehrung als politische Aufgabe darstellen, da die ambivalente Bewertung von einwandernden Fremden schon in den Anfängen des Bevölkerungsdiskurses angelegt ist. Einen Spezialfall innerhalb dieses Diskurses bildet dabei die Debatte um die religiöse Toleranz aus bevölkerungspolitischen Gründen, die im Anschluss beleuchtet wird. Sie setzt im Reich um die Mitte des 17. Jahrhunderts ein und hebt sich deutlich von anderen europäischen Ländern ab.
Die Entstehung des Bevölkerungsdiskurses
Die theoretische Rechtfertigung aktiver Bevölkerungsvermehrung durch die Obrigkeit entstand vor allem im italienischen Staatsräsondiskurs des späten 16. Jahrhunderts. Mit der Rezeption der ratio status fanden auch die Bevölkerungsideen Eingang in das deutsche politische Denken. Das Endziel der Staatsräson war die Erhaltung, die conservatio des fürstlichen status, also der fürstlichen Herrschaft über ein Gemeinwesen.4 Dieser status musste in zwei Richtungen gesichert werden: nach außen gegen eroberungslustige Feinde, aber vor allem auch nach innen gegen aufständisches Volk oder die Drohung des religiösen Bürgerkriegs. Die innere Ruhe war also eine Grundvoraussetzung der conservatio status, die aber durch die Aufnahme von Fremden gefährdet werden konnte. Schon seit der Antike galten große Städte als unkontrollierbar und deutlich anfälliger für Aufstände als kleine überschaubare Städte oder Territorien.5 Platon (ca. 427–ca. 347 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.) hatten auch deswegen die Grenzen der Bevölkerungszahl ihrer Idealstädte festgeschrieben. Doch neben dem eher abstrakten Argument der Größe galten zuwandernde Fremde grundsätzlich als Unsicherheitsfaktor und Unruheherd, ihre Loyalität im Konfliktfall wurde angezweifelt.
Auf der anderen Seite plädierten die Staatsräson-Theoretiker in Bezug auf den Schutz nach außen für einen finanziell und militärisch potenten Staat, nur dieser könne seine Unabhängigkeit bewahren. Die Basis für diesen Machtstaat sollte eine zahlenmäßig große Bevölkerung bilden, die sowohl das militärische Potenzial stärken als auch – wichtiger – die notwendigen Steuern aufbringen sollte. In dieser Dichotomie der politischen Ziele der Staatsräson – Ruhigstellung der Gesellschaft auf der einen Seite, Aktivierung des machtpolitischen Potenzials auf der anderen Seite – liegt auch die ambivalente Bewertung der Fremden begründet.
Bei keinem Autor des späten 16. Jahrhunderts wurde dieser Zusammenhang so deutlich, wie bei dem ehemaligen Jesuiten Giovanni Botero (1544–1617), der mit seinem Werk Della Ragion di Stato den entscheidenden Schritt zur Verbreitung jenes Begriffes tat. Botero führte eine ökonomische und bevölkerungspolitische Komponente als zentralen Bestandteil der Politik ein, ja er setzte Macht mit Bevölkerungszahl gleich:
Lasset uns nun von der Macht / welche recht ein Macht genennet wirdt / unnd auff dem Volcke bestehet / auch etwas reden. Auff dieser Macht unnd Vermögen / bestehet alle andre Macht / wie die immer Namen haben mag: und wer viel Volckes hat / der hat auch uberfluß an allem dem / dahin sich der Menschen Kunst / geschicklichkeit und Verstand / erstrecket und gelanget: inmassen sichs auß diesem unserm Bericht / in welchem wir diese Namen / Volck und Macht / ohne unterscheid brauchen wollen / gnugsam erscheynen wirdt.6
Als praktische Maßnahme zur Erhöhung der Volkszahl schlug Botero die Aufnahme von Fremden vor. Wie schon Niccolò Machiavelli (1469–1527)[] vor ihm, erklärte er den Aufstieg Roms damit, dass die Stadt Fremde, sogar besiegte Feinde, freimütig aufgenommen und ihnen das Bürgerrecht verliehen habe. Doch er nannte auch zeitgenössische Beispiele, deren Erwähnung für einen Theoretiker der Gegenreformation erstaunlich anmuten: "Eben auff diese weise / ist zu unsern zeitten die Stat Genff in mercklichen auffgang gerhaten: in dem sie allen / so auß Franckreich und Italia der Religion unnd Glaubens halben vertrieben worden / gleichsam als ein freyes Asylum und sichere Freystat auffgethan."7
Botero begründete die positive Konnotierung von Bevölkerungsgröße und Fremdenaufnahme als wichtiges Element der machtpolitisch orientierten Staatsräson. Das Problem der gleichzeitigen Herstellung von Sicherheit nach innen und nach außen konnte er jedoch nicht auflösen. Denn die konfessionelle Einheit stellte in den Augen Boteros die Grundvoraussetzung für dessen Sicherheit und Überleben dar. Soweit er über dieses Thema schrieb, plädierte er keineswegs für religiöse Toleranz aus ökonomischen oder populationistischen Gründen. Der Leser findet also ein unabgeglichenes Nebeneinander unterschiedlicher und in letzter Konsequenz unvereinbarer politischer Forderungen. Dies fällt besonders bei Boteros Bewertung der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492 auf: einmal kritisierte er die Maßnahme, da sie zur Entvölkerung Spaniens beigetragen habe, an anderer Stelle lobte er die Vertreibung als gottgefälliges Werk, das der Herr mit der Entdeckung Amerikas und seiner Reichtümer belohnt habe.8
Ab 1600 findet man die Ideen zur Bevölkerungsvermehrung auch im Reich. Ihre Einführung in die politische Debatte war Teil der übergeordneten Rezeption des Staatsräsondenkens in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts. Der kurpfälzische Diplomat und Professor Hippolyt von Colli (1561–1612), selbst Sohn eines geflüchteten italienischen Protestanten, war der Erste, der in mehreren Werken die Erhöhung der Bevölkerungszahl als Ziel einer fürstlichen Regierung postulierte.9 In der Folgezeit bezogen sich viele Steuertraktate explizit auf Botero, wenn sie die Vermehrung der Bevölkerung zur Erhöhung der Einkünfte forderten. Immer wieder wurde dabei die Frage gestellt, ob es tatsächlich legitim und nützlich sei, Fremde aufzunehmen und ihnen das Bürgerrecht zu verleihen, so vom Straßburger Johannes Ruremund: "Obgemeltem bericht von viele der Einwohner naget dise frag an / Ob es nutzlich seye viel frembde in ein Staat und in Burgerlichen schutz anzunemen?"10 Dabei wurden Autoritäten für beide Standpunkte aufgezählt: Aristoteles und der vielzitierte französische Jurist Pierre Grégoire hätten sich dagegen ausgesprochen, da beide Zuzügler als Verderber der Sitten und Förderer von Aufständen ansähen. Dagegen hätten Botero und Scipio Ammirato (1531–1601) den Nutzen der zuziehenden Fremden betont. Für alle deutschen Autoren musste jedoch ein bestimmter Kriterienkatalog vor der Aufnahme erfüllt sein, der die Zuverlässigkeit der Neubürger sicherstellen sollte. Dennoch unterschieden sie sich letztlich in der Bewertung der Fremdenaufnahme, je nachdem welchem der zwei Prinzipien – Sicherheit oder Machtsteigerung – sie Priorität zubilligten. Der Aristoteliker Georg Schönborn äußerte sich skeptisch gegenüber der Fremdenaufnahme, während sich Steuerautoren wie Hermann Latherus dafür aussprachen.11
Die Frage der Konfession spielte in diesen Debatten des frühen 17. Jahrhunderts keine Rolle. Zwar nannten protestantische Autoren immer wieder Städte oder Regionen, die durch die Aufnahme von Religionsflüchtlingen zu hoher Blüte gelangt seien, neben Genf vor allem die nördlichen Niederlande, doch forderten sie deswegen keineswegs die Aufnahme Konfessionsfremder. Auf katholischer Seite verband der politisch einflussreiche Jesuit Adam Contzen (1571–1635) die Forderung nach aktiver Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik mit konfessionellem Fundamentalismus.12 Der mögliche Widerspruch zwischen Bevölkerungsvergrößerung und Monokonfessionalität, die ja auch zu Vertreibung bisheriger Untertanen führen konnte, wurde nicht thematisiert. In dieser Hinsicht folgte die Diskussion im Reich zunächst dem italienischen Vorbild, wo ebenfalls keine Lösung des Widerspruchs versucht wurde. Nur stand das Problem in Italien gar nicht auf der Tagesordnung und konnte daher von Botero als abstraktes Gedankenspiel behandelt werden, während der Umgang mit anderskonfessionellen Minderheiten in der gespannten konfessionellen Lage des Reiches eine konkrete und drängende politische Frage darstellte. Umso mehr erstaunt es, wie wenig im bevölkerungspolitischen Kontext darüber geschrieben wurde. Insbesondere wurde die konfessionelle Grenze einer aktiven Bevölkerungspolitik von den gelehrten politici nicht erwähnt, sondern stattdessen die Beziehung beider Bereiche überhaupt negiert. Dies deutet auf die Unhinterfragbarkeit des monokonfessionellen Prinzips, das gar nicht explizit gemacht werden musste. Nur im Rahmen konfessioneller Beschränkung konnte Bevölkerungspolitik gedacht werden, alles andere würde die Existenz des status gefährden.
Religionstoleranz aus bevölkerungspolitischen Gründen
Diese Verbindung von Konfessionalismus und Bevölkerungsdenken, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch vollständig plausibel gewesen war, zerbrach in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Den Kontext dieses Wandels stellen die nun reichsrechtlich geregelte Pluralität der Konfessionen, die Debatten und Rechtsstreitigkeiten um die konkrete Umsetzung der Normaljahrsregelung sowie die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges dar. Trotz der Aneignung und mancher Modifikationen hatte sich die gelehrte Debatte bis dahin in den Bahnen bewegt, die von der italienischen Theorie vorgegeben waren. Nun wurde die komplizierte konfessionelle Lage des Reichs mit einbezogen und der Widerspruch zwischen Bevölkerungssteigerung und Monokonfessionalität benannt. In Hinblick auf den Ideentransfer kann man argumentieren, dass sich die deutsche Bevölkerungsdebatte nach einem halben Jahrhundert endgültig von den italienischen Ursprüngen emanzipierte.
Ökonomische und politische Autoren untersuchten nun das Verhältnis von Bevölkerungspolitik und konfessioneller Einheit und postulierten deren Unvereinbarkeit. Religiöse Intoleranz wurde zunehmend zu ihrem wichtigsten "Feindbild". Dies hing auf der einen Seite mit dem Versuch dieser politischen Theoretiker zusammen, das konfessionelle Moment aus der Entscheidungsfindung der Politik zu verbannen bzw. auf bestimmte, für die Religion relevante Bereiche zu begrenzen. Dazu kam, dass sich die Debatte um die von den Zuwanderern ausgehende Gefahr wandelte. Jetzt stand nicht mehr die Gefahr eines von ihnen angezettelten Aufstandes oder Religionskrieges zur Diskussion. Diese hatte an Plausibilität verloren und bildete nicht länger das zentrale Problem politischen Denkens. Stattdessen wurden die Fremden nun einzig nach materiellen Gesichtspunkten bewertet, als potenziell ökonomische und moralische Bereicherung oder Belastung des Gemeinwesens.
Es waren ganz unterschiedliche Autoren, die gegen die schädliche Wirkung der religiösen Intoleranz argumentierten, sowohl die ganz auf ökonomische Fragen konzentrierten deutschen Merkantilisten als auch politische Autoren, die den Staatsräsongedanken konsequent weiterführten. So verteidigte etwa der christlich geprägte Johann Elias Keßler (1631–1726) in seiner Staats-Regul von 1678 im Prinzip die Monokonfessionalität, doch er ließ eben auch Ausnahmen zu:13 Wenn der Staat, aus welchen Gründen auch immer, an einem Mangel an Bevölkerung leide, sei es durchaus legitim, Konfessionsfremde aufzunehmen. In diesem Fall müsse die "Christliche / Politische Regular-Dictatur ... mit ihrem Rigeur ein Auge zuthun".14 Das sahen Kirchenvertreter naturgemäß anders. Diese gerieten aber zunehmend unter Rechtfertigungsdruck, wie ein Traktat des Superintendenten von Lübeck, Meno Hanneken (1595–1671), zeigt. Unter dem Titel Theologisches Bedencken / Ob der Kayserlichen Freyen Reichs-Stadt Lübeck zurahten / Daß sie zu Beforderung des Commercii und zeitlicher Nahrung / frembder jedoch im Römischen Reich zugelassener Religion-Verwandten in die Stadt annehme befasste er sich konkret mit der Frage nach Aufnahme von Reformierten im streng lutherischen Lübeck. Da der Rat der Stadt der Aufnahme nicht abgeneigt war, musste Hanneken seine Ablehnung vorsichtig formulieren. Natürlich sei es legitim, dass sich redliche Patrioten darüber Gedanken machten, wie der darniederliegenden Wirtschaft der Stadt aufzuhelfen sei:
Wann man den sihet / wie an unterschiedlichen Oerten / wo allerley Religionen auffgenommen sind / die Einwohner herrlich florieren, stattliche Handlungen führen / und also reich und mächtig worden sind / So entstehen bey etlichen die Gedancken / es möchte auch nicht ein unebenes Mittel seyn / dadurch dieser lieben Stadt wol geholffen würde / wann auch anderer Religionen ... zugethane in diese Stadt auffgenommen würden / und in derselben oder in dero Gebiet ihr Religionis exercitium haben möchten.15
Der Zusammenhang zwischen religiöser Toleranz und florierender Ökonomie erschien vielen Zeitgenossen also evident. Das ist zwar keineswegs Hannekens Meinung, doch fällt auf, dass er sie als wichtigstes Argument seiner Gegner referierte und wie schwer er sich damit tat, eine Antwort darauf zu finden. Letztlich konnte er sich nur auf den Beistand Gottes berufen. Dieser werde nur den Gottesfürchtigen zuteil, daher werde der Herr auch jene materiell belohnen, die bei der einzig wahren Konfession blieben.16 Grundsätzlich verblieb der Superintendent lieber auf dem sicheren Feld der Reichsrechts, das zu keiner Aufnahme Konfessionsfremder verpflichte, weshalb diese abzulehnen sei.
Einen weiteren Schub erhielt die Debatte im Reich durch die Aufhebung des Edikts von Nantes (1598) und die anschließende Einwanderungswelle der Hugenotten. In lutherischen Territorien wie dem Herzogtum Württemberg und dem Kurfürstentum Sachsen standen die ökonomisch und fiskalisch argumentierenden Befürworter den konfessionell motivierten Gegnern der Aufnahme gegenüber. Die Theologen beider Territorien warnten davor, das "heimliche Gift" des Calvinismus zu unterschätzen. Dieser Gefahr dürfe man die Untertanen nicht um weltlicher Vorteile willen aussetzen. Keine "utilitas publica, so durch einführung der Manufacturen diesem Hertzogthumb zuwachse", wiege "den Verlust nur einer eintzigen Seelen" auf, erklärten die württembergischen Ober- und Konsistorialräte im Jahr 1685.17 Weder in Württemberg noch in Sachsen kam es zunächst zu einer organisierten Aufnahme von Hugenotten.18
Doch der medial verbreitete Erfolg der Aufnahmepolitik in Brandenburg-Preußen und anderen Territorien verlieh dem ökonomischen Argument der Befürworter weiteren Glanz. Hatte der Lübecker Superintendent noch Handelsstädte im Sinn, als er auf die – in seinen Augen: scheinbar – positiven Beispiele der religiösen Toleranz hinwies, hatte das Konzept nun auch seine Tauglichkeit für Territorialstaaten unter Beweis gestellt. So sahen es zumindest jene sächsischen Kritiker, die seit dem frühen 18. Jahrhundert das Zurückbleiben des Kurfürstentums hinter Preußen mit der verpassten Chance der Hugenottenaufnahme erklärten. Ein anonymer sächsischer Autor erklärte: "Mit grossen Hauffen würden sich die Schätze in solches ergossen haben / daferne den so tapffern als klugen Chur-Fürsten Johann Georg den dritten die Geistlichkeit mit ihrem unverantwortlich-schädlichem Abmahnen / wegen Einnehmung derer aus Franckreich Anno 1685. und folgenden Jahren weichenden so genannten Hugenotten / nicht daran verhindert hätte".19
Zu dieser Zeit bildete die Forderung nach Religionsfreiheit aus Gründen der Bevölkerungsvermehrung bereits eines der Basisargumente der sich etablierenden, protestantisch dominierten Kameralwissenschaft. Justus Christoph Dithmar (1677–1737), seit 1727 erster Professor für Kameralwissenschaft in Frankfurt/Oder, formulierte in seiner Einleitung in die Oeconomische Policei- und Cameral-Wissenschaften in Wolffscher Manier: "§ II. Die Volckreichheit eines Staats wird befördert durch die Vermehrung der Einheimischen und Anlockung der Fremden. ... § IV. Die Fremden werden angelocket und ins Land gezogen durch Religions-Freyheiten."20
Innerhalb Europas bildet die intensive deutsche Debatte um das Verhältnis von religiöser Toleranz und Bevölkerungspolitik in den Jahrzehnten vor und nach 1700 eine Besonderheit. Auf der einen Seite ignorierte sie in markanter Weise die philosophische Toleranzkonzeption, die zeitgleich in Westeuropa wie im Reich diskutiert wurde.21 So entwickelte bekanntlich John Locke (1632–1704)[] im Letter concerning Toleration die Unterscheidung zwischen der staatlichen und der kirchlichen Sphäre und das damit einhergehende Interventionsverbot des Staates in die religiösen Privatangelegenheiten, so lange diese nicht den Staat gefährdeten.22 Demgegenüber vertraten die kameralistischen Autoren die Position, dass es kontraproduktiv sei, wenn der Staat in zu großem Maße in die religiösen Belange eingreife. Wie gering hier die Rolle eines frühliberalen Denkens à la Locke war, zeigen die Forderungen derselben Autoren nach strengen Auswanderungsverboten, die individuelle Rechte ganz dem staatlichen Nutzen unterordneten. Im bevölkerungspolitischen Toleranzdiskurs wurden denn auch nicht die naturrechtlichen Thesen von Samuel Pufendorf (1632–1694)[] oder Christian Thomasius (1655–1728)[] zugunsten der Toleranz herangezogen,23 sondern einfach ein keines weiteren Arguments oder Nachweises bedürfender populationistischer Nutzen postuliert.
Auf der anderen Seite fällt auf, dass in den westeuropäischen Kernländern des philosophischen Toleranzdiskurses keinerlei Verbindung zur Bevölkerungsfrage gezogen wurde. Diese deutsche Besonderheit scheint mit der komplexen konfessionellen Gemengelage im Reich zusammenzuhängen, den vielen gemischtkonfessionellen Gebieten und insbesondere dem heiklen Verhältnis zwischen Lutheranern und Calvinisten. Denn die konkreten politischen Streitigkeiten kreisten mehrheitlich um die Aufnahme Reformierter in lutherische Territorien. Die spezifische Komplikation der Zulassung unterschiedlicher protestantischer Konfessionen fehlt etwa im englischen Fall. Dort fand zur gleichen Zeit eine intensive Auseinandersetzung über die Vor- und Nachteile einer liberalisierten Einwanderungspolitik statt, die schließlich 1709 in die kurzfristige Lockerung der Einbürgerungsbestimmungen mündete. In dieser langen Debatte um ökonomischen Nutzen spielte die Frage religiöser Toleranz praktisch keine Rolle.24 Die kontinentaleuropäischen Emigranten nach England waren ohnehin fast ausschließlich Protestanten gewesen, von den niederländischen Exilanten des 16. Jahrhunderts über die Hugenotten bis hin zur großen Pfälzer Auswanderung von 1709. Über katholische Einwanderung wurde daher gar nicht diskutiert, auch die Masseneinwanderung irischer Katholiken setzte erst später ein. Gleichzeitig war bei den kontinentalen Protestanten die Frage irrelevant, welcher Denomination man angehörte, weshalb die Bevölkerungspolitik von der Toleranzfrage abgekoppelt blieb.
Ganz anders sieht die Situation natürlich in Frankreich aus. Angesichts der Auswanderung der Hugenotten könnte man eine lebendige Debatte über die Folgen für den Bevölkerungsstand des Landes erwarten, insbesondere da das Ziel der großen Bevölkerung fest im politisch-ökonomischen Diskurs des Landes verankert war. Das Edikt von Fontainebleau (1685) hatte daher auch die Auswanderung der Protestanten explizit untersagt, konnte sie aber letztlich nicht verhindern. Während manche der antifranzösischen Flugschriften im Reich hämisch den zu erwartenden Aderlass Frankreichs kommentierten,25 fand dortselbst keine öffentliche Debatte dazu statt. Literaten, Künstler und Beamte bejubelten die weise Entscheidung des Sonnenkönigs.26 Einzig in internen Memoranden wurden die möglichen negativen Folgen thematisiert. Sébastien Le Prestre, Marquis de Vauban (1633–1707), der Festungsbaumeister, Statistiker und ökonomische Denker, wagte es gar, dem König ein Mémoire pour le rappel des Huguenots vorzulegen, um den ökonomischen und militärischen Schaden rückgängig zu machen.27 Noch Jahrzehnte später ist ein Unterschied zwischen der (gedruckten) französischen und der deutschen Bewertung des Geschehens wahrnehmbar: Der fränkische Geheimrat Ernst Ludwig Carl (1682–1743) kommentierte in seinem französisch publizierten Traité de la richesse des princes (1723) die Thesen Pierre de Boisguilberts (1646–1714). Dieser hatte in mehreren Werken die Wirtschaftspolitik Jean-Baptiste Colberts (1619–1683) heftig angegriffen und einen Niedergang des französischen Reichtums in der Regierungszeit Ludwigs XIV. (1638–1715) konstatiert, weshalb sein Hauptwerk Le Détail de la France 1707 verboten wurde.28 Carl stimmte der grundsätzlichen Niedergangsanalyse des Franzosen zu, mokierte sich jedoch über die mangelnde Erwähnung der offensichtlichen Hauptursache: der religiös motivierten Vertreibung. Denn als Populationist wusste Carl: "Un Etat dépeuplé & un Etat pauvre & miserable sont la même chose."29 In Frankreich waren es nicht die utilitaristisch argumentierenden ökonomischen Autoren, die sich für die religiöse Toleranz aussprachen, sondern dann die philosophes der Aufklärung.
Im ökonomischen und politischen Diskurs des Alten Reiches hatte sich also im frühen 18. Jahrhundert die Notwendigkeit religiöser Toleranz aus bevölkerungspolitischen Gründen voll durchgesetzt. Doch inwieweit orientierte sich die bevölkerungs- und religionspolitische Praxis tatsächlich an diesen Konzepten? Dazu muss man zunächst betonen, dass der öffentliche Diskurs um die bevölkerungspolitisch motivierte Toleranz ein weitgehend protestantischer war. Auf katholischer Seite wurde der angenommene Widerspruch zwischen Bevölkerungsvermehrung und Monokonfessionalität ignoriert. Das fällt gerade bei den bedeutendsten katholischen ökonomischen Autoren des späten 17. Jarhunderts auf, den drei "österreichischen Kameralisten"30 Becher, Hörnigk und Schröder. Insbesondere der Konvertit Johann Joachim Becher (1635–1682) propagierte die Vergrößerung der Bevölkerung durch Einwanderung als zentrale Aufgabe einer guten Regierung. In der Frage der Religionsfreiheit hielt er sich jedoch merklich zurück, er erwähnte sie einfach gar nicht. Diese Vorsicht erscheint angesichts seiner ohnehin prekären Situation an den Höfen in München und Wien nachvollziehbar. Ein Vergleich der gedruckten Traktate auf der einen Seite und den berühmtesten Fällen religiöser Migration auf der anderen Seite – hier Hugenottenaufnahme, dort Vertreibung der Salzburger Protestanten 1731/1732 – scheint ein klares Bild zu ergeben: Die Protestanten betrieben Bevölkerungspolitik, während für katholische Territorien die konfessionelle Einheit Priorität hatte.
Das Bild differenziert sich jedoch, wenn man etwa den Umgang mit den in den 1730er Jahren im Erzbistum Salzburg, aber auch im habsburgischen Salzkammergut und der Steiermark öffentlich auftretenden Kryptoprotestanten detaillierter betrachtet. Die Salzburger Regierung wurde von den Ereignissen und dem Ausmaß des Phänomens vollkommen überrollt, sodass sie schließlich keine Alternative mehr zur massenweisen Ausweisung sah.31 Die Wiener Regierung versuchte dagegen eine andere Lösung des gleichen Problems in ihren Territorien. Während die Kryptoprotestanten zunächst mit allen Mitteln zur Konversion gedrängt werden sollten, wurden sie als letzte Maßnahme zur Transmigration gezwungen. Die alpenländischen Protestanten wurden unter militärischem Zwang nach Siebenbürgen umgesiedelt, wo ohnehin schon geduldete Protestanten lebten.32 Damit konnte Wien einen doppelten Effekt sicherstellen: die konfessionelle Einheit der habsburgischen Kernländer wurde wiederhergestellt, doch das Haus Habsburg verlor auch nicht das Menschenpotenzial, das die Kryptoprotestanten darstellten.
Selbst wenn auf Salzburger Seite die Erhaltung der Monokonfessionalität in diesem Fall eindeutig die ökonomischen Argumente überwog, kann das nicht als genuin katholische Haltung verstanden werden. Vielmehr scheint sich hier ein Unterschied zu manifestieren zwischen dem kleinen, nicht machtpolitisch aktiven geistlichen Territorium – auf den Peter Hersches Definition des Barockkatholizismus zutrifft33 – und dem im Wettbewerb stehenden habsburgischen Machtstaat, der im 18. Jahrhundert die gleichen bevölkerungspolitischen Ziele verfolgte wie Preußen.
Denn gerade in Österreich und Preußen lässt sich eine Vermischung von Bevölkerungs- und Religionspolitik konstatieren, die in den theoretischen Schriften nicht vorgesehen war. Statt der in der Theorie postulierten Unterordnung des Konfessionellen unter die machtpolitisch motivierte Bevölkerungsvergrößerung konnten sich in der Praxis populationistische mit konfessionspolitischen Motiven verbinden. So war die preußische Politik der Fremdenaufnahme nicht erst seit der Hugenottenansiedlung in den 1680er Jahren, sondern schon von der Anwerbung niederländischer Siedler in den späten 1640er Jahren eben auch und gerade konfessionspolitisch motiviert. Die calvinistischen Kurfürsten versuchten durch diese Ansiedlungen ihrer Konfession eine größere Basis im immer noch weitgehend lutherischen Brandenburg-Preußen zu schaffen.34 Anders als in der zeitgenössischen Bevölkerungstheorie, wo sich Konfessionspolitik auf der einen und Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik auf der anderen Seite als unvereinbare Kalküle gegenüberstanden, waren sie hier eng miteinander verflochten. Das gleiche Bild bietet die österreichische Impopulationspolitik im wiedereroberten Ungarn ab dem späten 17. Jahrhundert. Auch hier prägten unterschiedliche Motive die Kolonisationspraxis: Natürlich sollte der ökonomische Wert des wiedergewonnenen Landes sowie seine Verteidigungsbereitschaft gegenüber den immer noch nahen Türken durch die Vermehrung der Bevölkerung erhöht werden. Daneben ging es aber auch um die Stärkung des katholischen Elements gegenüber den calvinistischen ungarischen Adligen. Die Neusiedler wurden in den katholischen Gebieten Südwestdeutschlands angeworben, aus den Erblanden selbst durften sie nicht kommen, um die dortige Bevölkerungszahl nicht zu vermindern.35
Fazit
Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Die Bewertung von Migration hing in der Frühen Neuzeit ab von der jeweiligen Hierarchie unterschiedlicher Kalküle, mit denen Bevölkerungsbewegungen betrachtet werden konnten. Drei solcher Kalküle standen dabei in einem ständigen Spannungsverhältnis: das machtstaatlich motivierte der Bevölkerungsvergrößerung, das schon vor dem Dreißigjährigen Krieg theoretisch formuliert und verbreitet worden war. Das religiöse, das entweder die konfessionelle Einheit zum Ziel hatte oder die Stärkung einer bestimmten Konfession im Staat, das im Zuge des 17. Jahrhunderts in den theoretischen Texten immer mehr in Verruf geriet, in der Praxis aber entscheidend für Regierungshandeln blieb. Und schließlich ein drittes, sicherheitspolitisches Kalkül, das in Fremden zunächst gefährliche Aufrührer, später ökonomische Schmarotzer sah. Dieses war zwar für die alltäglichen kleinräumigen und kleinteiligen Migrationen bedeutsam, wurde aber in der bevölkerungstheoretischen Literatur am wenigsten thematisiert.