Formen, Verlauf und Akteure
Die Expansion des Osmanischen Reiches in Europa und auf dem Balkan seit dem 15. Jahrhundert war von ständigen und intensiven Migrationen verschiedener Bevölkerungsgruppen begleitet. Die Veränderung von Reichs- bzw. Staatsgrenzen und der Wechsel der Herrschaften in der Frühen Neuzeit gaben oft den Anstoß für Bevölkerungsbewegungen, für Ein- und Auswanderungen aus einem Herrschaftsbereich in einen anderen. Darüber hinaus führten ökonomische und soziale Gründe oft zu Binnenmigrationen und zu transimperialen Wanderungen. Auch religiöse Faktoren spielten eine Rolle, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen das Gebiet eines Vielvölkerstaates verließen und sich in einem Gebiet niederließen, in dem die eigene Religion dominierte. Fluchtbewegungen von Balkanchristen in das Habsburgische Reich sowie umgekehrt von muslimischen Bevölkerungsgruppen aus den von Habsburgern und Russen eroberten Territorien gehörten gleichsam zu den routinemäßigen Bevölkerungsbewegungen im Zeitalter der multiethnischen Imperien.
Auch die Zurückdrängung der Osmanen aus dem Donau-Balkanraum im 19. Jahrhundert war von Bevölkerungsverschiebungen begleitet. Waren früher vor allem Christen vor der osmanischen Herrschaft geflohen, setzte nun mit den territorialen Verlusten der Osmanen die Flucht der Muslime vor dem Kreuz ein. Die Nationalstaatsgründungen und die damit verbundenen territorialen Änderungen auf der Balkanhalbinsel gaben hierfür die Initialzündung. Die Abwanderung der Muslime erfolgte einerseits als spontane Flucht: Sobald die osmanischen Streitkräfte den Rückzug angetreten hatten, folgten ihnen große Teile der zivilen muslimischen Bevölkerung in das türkische "Mutterland". Die Zwangsmigration der Muslime andererseits war oft das Ergebnis einer gewaltsamen Vertreibung bzw. das Nebenprodukt der kriegerischen Auseinandersetzungen des Osmanischen Reiches mit den jeweiligen sich neu formierenden Balkanstaaten. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Formen der Abwanderung (Flucht und Vertreibung) waren fließend und lassen sich nicht immer deutlich voneinander trennen.
Das Ausmaß des muslimischen Exodus aus dem Balkangebiet lässt sich wie folgt bilanzieren: Die Entstehung der ersten beiden Nationalstaaten Griechenland und Serbien 1830/1831 ging mit systematischen Vertreibungen der Muslime einher. Im Verlauf des griechischen Unabhängigkeitskampfes (1821–1829) wurden rund 25.000 Muslime getötet.1 Die osmanische Armee hatte zuvor auf der Ägäis-Insel Chios einen Teil der christlichen Bevölkerung massakriert und Tausende ins Exil getrieben.2 Auf dem Balkan setzte im 19. Jahrhundert eine Gewalt ein, die sich immer weiter aufschaukelte und Gegengewalt produzierte, die teilweise mit neuen Motiven arbeitete wie etwa dem Kampf für die "nationale Sache" und als Vergeltung für das vorausgegangene "Leiden der Nation". So hatten die Osmanen die anti-türkischen Aufstände in der Herzegowina, Bosnien und Bulgarien (1874 bis 1876), in denen Tausende von Muslimen umgekommen waren, blutig unterdrückt. Die liberale und christliche Weltöffentlichkeit stellte sich dabei fast einmütig hinter die bulgarischen Aufständischen und nahm die muslimischen Opfer kaum zur Kenntnis.3 Eine Entwicklung, die sich exemplarisch in dem berühmten Pamphlet des britischen Oppositionsführers William E. Gladstone (1809–1898) Bulgarian Horrors and the Question of the East4 niederschlug.5 Die Gunst der anti-türkischen Stimmung nutzend hatte die zarische Regierung 1877/1878 einen Vorstoß ins Osmanische Reich gewagt. In diesem Krieg töteten russische und bulgarische Soldaten und Freischärlerbanden 200.000 bis 300.000 Muslime, über eine Million Menschen wurden heimatlos.6 Nach Ende des Krieges wurden rund eine halbe Million muslimische Flüchtlinge aus dem russischen Kaukasus und den unter russischem Schutz stehenden Gebieten südlich der Donau auf dem Boden des Osmanischen Reiches angesiedelt.7
Der Berliner Kongress war 1878 angetreten, um die Modalitäten der gemeinsamen Vorherrschaft der europäischen Mächte in Südosteuropa auszuhandeln und vor allem den russischen Großmachtansprüchen einen Riegel vorzuschieben. Am Ende wurde die Souveränität von Montenegro, Serbien und Rumänien anerkannt, den großbulgarischen, großserbischen oder großgriechischen Träumen jedoch eine Absage erteilt. Dem Berliner Kongress sollte es aber nicht gelingen, einen dauerhaften Frieden in Südosteuropa herbeizuführen.8 Im Gegenteil, die Berliner Beschlüsse hatten gravierende Folgen für religiöse und ethnische Bevölkerungsgruppen, die sich nun zu Minderheiten degradiert sahen und Vertreibungen im Sinne der Entmischungspraxis befürchten mussten. Überall setzten sich gewaltige Flüchtlingskonvois in Bewegung, um der Rache von Eroberern anderer Religion oder Nationalität zu entfliehen. Christen aus den noch osmanischen Gebieten suchten Zuflucht in den neu entstandenen Nationalstaaten bzw. in den autonomen oder unter russischem oder österreichischem Schutz stehenden Territorien auf dem Balkan. Muslime aus Bulgarien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, von Kreta und Zypern wiederum wurden von den jeweiligen neuen Machthabern vertrieben und fanden Zuflucht in den noch osmanischen Regionen (Thrakien, Makedonien) oder im osmanischen Kernland (Anatolien) und in Syrien.9 Die Grenzen zwischen offener Vertreibung und unausweichlich gewordener Flucht waren auch hier fließend. Im Lauf der 1890er Jahren verließen rund 100.000 Bulgarisch sprechende Menschen das osmanisch gebliebene Makedonien in Richtung Bulgarien. Umgekehrt wurden im Lauf der bulgarischen Unabhängigkeitsbewegung (1876–1878) rund eine halbe Million Muslime aus Bulgarien vertrieben oder ergriffen die Flucht, um Racheaktionen zu entgehen oder um nicht von Ungläubigen regiert zu werden.10 Aus Bosnien-Herzegowina wanderten nach der Herrschaftsübernahme durch Österreich-Ungarn (1878) rund 130.000 Muslime, darunter vor allem Neusiedler, die noch nicht lange in der Region ansässig waren, und osmanische Amtsträger, ab, griechisch-orthodoxe Bauern zogen sich ebenfalls aus Bosnien zurück.11 Auch in Regionen ohne größere muslimische Gemeinden, wie etwa in Serbien und Montenegro, wurde die völlige Auswanderung der Muslime angestrebt. Einer Studie zufolge erprobte das Fürstentum Serbien sogar schon früh das Instrumentarium der vertraglich abgesicherten Vertreibung, indem es zwischen 1830 und 1878 in seinen Verträgen mit anderen Staaten die "völlige Auswanderung der Muslime" anstrebte. Bis zur Erreichung der völligen Souveränität regelte das serbische Ansiedlungsrecht, dass Muslime sich nicht in ländlichen Gebieten, sondern nur in Städten, vorzugsweise Garnisonstädten, niederlassen durften. Nach schrittweiser Erreichung der vollständigen Souveränität (1862, 1867) flohen die verbliebenen Muslime nun auch aus den Städten.12 So war Serbien zur Zeit der Orientalischen Krise (1875 bis 1878) "fast völlig" von Muslimen "gesäubert".13
Die Vertreibung der Muslime auf dem Balkan war eine Begleiterscheinung der kriegerischen Auseinandersetzungen des Osmanischen Reiches mit den sich neu formierenden Balkanstaaten. Die muslimische Zivilbevölkerung wurde in der Regel Opfer der kriegsbegleitenden Gewalt, ihre Vertreibung folgte. Die Kämpfe gegen die osmanischen Heere waren meistens begleitet von Übergriffen auf die Muslime, die allenthalben auf der Balkanhalbinsel für Kollaborateure der "Unterjocher" gehalten wurden.14 Das Verlaufsschema der Vertreibungen war nicht einheitlich: Entweder wurde der muslimischen Zivilbevölkerung gewaltsam die Lebensgrundlage entzogen, etwa durch die Vernichtung ihrer Dörfer und ihrer kulturellen und religiösen Güter,15 oder aber sie wanderte aus Furcht vor der sicheren Vertreibung "freiwillig" ab. Manche kehrten nach Beendigung der militärischen Auseinandersetzungen zurück, nur um bei einem erneuten Ausbruch der kriegerischen Gewalt wieder zu fliehen.16
Den neu gegründeten Staaten war die Verminderung der muslimischen Bevölkerung ein Anliegen, da sie ethnisch homogene Nationalstaaten anstrebten. Für diese systematische "Bevölkerungsbereinigung" ist später der Begriff "ethnische Säuberung" benutzt worden. Ihren Höhepunkt erreichten die "ethnischen Säuberungen" während der Balkankriege von 1912/1913, als die verbliebenen Territorien des Osmanischen Reiches auf dem Balkan zwischen den rivalisierenden Balkanstaaten aufgeteilt wurden. Die Kriege der Balkanstaaten Montenegro, Bulgarien, Serbien und Griechenland gegen das Osmanische Reich (1912) und schließlich gegeneinander (1913) zeichneten sich nicht nur durch den Staatenkrieg mit Hilfe regulärer Armeen aus, sondern auch durch eine Ausweitung und Brutalisierung der Gewalt. Durch die Teilnahme der bewaffneten Zivilbevölkerung (Freischärlergruppen oder anderen paramilitärischen Formationen) am Kriegsgeschehen, wurden die Grenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten verwischt, die Zivilbevölkerung massiv in Mitleidenschaft gezogen. Auf allen Seiten beraubten, ermordeten und vertrieben die Partisanen (komitadschis, ceta, bashibozuk oder fedai)17 die Zivilbevölkerung der Gegenseite. Den Kämpfern ging es nicht allein um den Sieg, sondern um die physische Vernichtung des Kriegsgegners, von der die Zivilbevölkerung in der Regel nicht ausgenommen wurde.18 Was die Muslime betrifft, strömten sie aus allen von den Balkanstaaten besetzten ehemals osmanischen Gebieten in das osmanische Kernland.19 Die Flüchtlingsgruppen waren alles andere als einheitlich, umfassten sowohl autochthone balkanische Bevölkerungsgruppen (muslimische Albaner, slawische bzw. bulgarischsprachige Muslime wie die Pomaken, muslimische Roma etc.) als auch Angehörige der Turkvölker wie Krimtataren sowie Kaukasusvölker wie die Tscherkessen, aber auch Juden.20
Die Zahl der muslimischen Flüchtlinge nach dem ersten Balkankrieg (1912) wird auf 400.000 geschätzt. Die meisten davon waren schon aus anderen Regionen vertrieben worden.21 Nach dem zweiten Balkankrieg (1913) kamen allein in Saloniki rund 135.000 Flüchtlinge an. Über eine Million Flüchtlinge ließen auf der Flucht ihr Leben, sie waren ermordet worden oder an Hunger und Epidemien gestorben.22 Auch wenn der erste Balkankrieg seinerzeit von den Führern der Konfliktparteien als moderner "Kreuzzug der Balkanstaaten" gegen die "asiatische Barbarei" verklärt worden ist,23 verliefen die Frontlinien tatsächlich viel komplizierter, als es der dichotomische Gegensatz zwischen Christentum und Islam suggerieren mag. Denn im zweiten Balkankrieg bekämpften sich auch die christlichen Staaten des Balkans untereinander: Griechen beispielsweise wurden nicht nur aus dem osmanischen Kleinasien vertrieben, sondern auch aus dem erweiterten Serbien und aus dem vergrößerten Bulgarien. Aus dem ehemals osmanischen Saloniki wiederum, einer Vielvölkerstadt par excellence, wurde nun eine griechische Stadt. Türken/Muslime, Juden, Bulgaren und andere Bevölkerungsgruppen verließen die Region oder wurden von den neuen Eroberern vertrieben.24 Den Exodus der kaukasischen Muslime seit 1878 aus dem Zarenreich eingeschlossen, erfuhr das verbliebene Kerngebiet des Osmanischen Reiches bis 1914 einen Bevölkerungszuwachs von rund 2,5 Millionen Muslimen.25
Seit den Balkankriegen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges fanden auch die ersten systematischen nationalen Homogenisierungen (Zwangstaufen, Zwangsislamisierung, Zwangsassimilation, Vertreibungen und Massaker) statt.26 In dieser Periode kam es zu bilateralen, völkerrechtlich legitimierten Umsiedlungen per Vertrag. Der Friedensvertrag von Adrianopel (1913) war der erste zwischenstaatliche Vertrag, der einen Bevölkerungsaustausch zwischen dem Osmanischen Reich und Bulgarien vorsah, allerdings auf formal freiwilliger Basis und beschränkt auf die Bewohner der Grenzregionen.27 Die Regelung wurde zwar aufgrund des Kriegsausbruchs 1914 weitgehend hinfällig, doch zuvor waren bereits ca. 20.000 Familien (9.472 bulgarische, 9.714 muslimische) ausgetauscht worden.28 Diesem folgte der im Friedensvertrag von Neuilly (1919) ausgehandelte, wiederum freiwillige Bevölkerungsaustausch zwischen Bulgarien und Griechenland.29 Beide Regelungen, die zwar nicht umfassend umgesetzt werden konnten, wirkten als Referenz für die nachfolgenden Bevölkerungstransfers. Eine weitere Etappe der völkerrechtlich abgesegneten Zwangsmigrationen erfolgte mit dem griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch auf Grundlage des Lausanner Friedensvertrages 1923. Nach diesem Transferabkommen, das Zwangscharakter hatte, wurden die griechisch-orthodoxen Christen Kleinasiens (meistens turkophon) gegen die muslimischen Bevölkerungsteile aus Griechenland (meistens griechischsprachig) ausgetauscht. Dabei handelte es sich auch um eine nachträgliche Sanktionierung der bereits vollzogenen Flucht- und Vertreibungsbewegungen beider Bevölkerungsgruppen seit den Balkankriegen.30 Das Lausanner Abkommen diente als Vorbild – bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg galten Bevölkerungstransfers als legitime Mittel der Politik, um "Nationalitätenkonflikte" zu lösen und somit zur "Friedenssicherung" beizutragen. Im Laufe des Ersten Weltkrieges und dem anschließenden griechisch-türkischen Krieg (1920–1922) wanderten rund 1,2 Millionen Muslime, darunter auch die nach dem Lausanner Abkommen zwangsausgetauschten 400.000 Personen, in die Türkei ein. In umgekehrter Richtung hatten über eine Million Griechen ihre angestammte Heimat in der türkischen Ägäis- und der Schwarzmeer-Region verlassen müssen bzw. wurden vertrieben, die Verbliebenen wurden bis auf einige Ausnahmen zwangsumgesiedelt. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass von der im Jahre 1911 auf dem Balkangebiet lebenden muslimischen Bevölkerung im Jahre 1923 nur noch 38 Prozent übrig geblieben war. Die Mehrheit war vertrieben, geflüchtet, auf der Flucht gestorben oder getötet worden.31
Von den Vertreibungsaktionen in Jugoslawien in der Zeit des Zweiten Weltkrieges waren die verbliebenen Balkan-Muslime nicht primär betroffen, sie gerieten aber zwischen die Fronten der kriegsführenden Parteien. In Bosnien-Herzegowina suchten z.B. politische Vertreter der Muslime die Anlehnung an die deutsche Besatzungsmacht gegen den kroatischen ustaša-Terror oder arbeiteten mit den serbischen četnici zusammen, wobei die Letzteren ihre Gewalt auch gegen die Muslime richteten.32 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schien die gewaltsame Vertreibung von unerwünschten Bevölkerungsgruppen zu einem Abschluss gekommen zu sein. Bis zum Zusammenbruch des jugoslawischen Vielvölkerstaates in den 1990er Jahren fand eher eine lautlose massenhafte Hinausdrängung der verbliebenen Muslime statt, die gegenüber den durch Krieg und Gewalt ausgelösten Vertreibungsaktionen des 19. Jahrhunderts zumeist in den Hintergrund gedrängt wurde.33 Abgesehen von der Vertreibung der Muslime aus Bulgarien in den 1950er und 1980er Jahren verlief die Abwanderung der Muslime nach dem Zweiten Weltkrieg eher unspektakulär; sie betraf Individuen oder kleinere Gruppen und war in der Regel verbunden mit den Modernisierungsmaßnahmen in den neuen Balkanstaaten (siehe den nächsten Abschnitt zu "Ursachen").
War die Vertreibung der Balkan-Muslime nach dem Vertrag von Lausanne an ein vorläufiges Ende gekommen, so begann sie erneut im Kontext des Zusammenbruchs des jugoslawischen Vielvölkerstaates Mitte der 1990er Jahre (Bosnien, Kosovo).
Ursachen
Mit dem Aufkommen nationalistischer Ideologien wurde die Völkervielfalt zum Problem. Der Aufstieg des Nationalstaatsprinzips stellte grundsätzlich alle Vielvölkerimperien in Frage. Auch die Osmanen wurden von den anwachsenden Nationalbewegungen der christlichen Reichsvölker herausgefordert. Parallel zum fortschreitenden Zerfall der osmanischen Zentralgewalt im 19. Jahrhundert regten sich besonders im europäischen Reichsteil (osmanisch: Rumelien) Bestrebungen nach größerer politischer Freiheit, die sich in nationale Erhebungen wandelten. Die Ideen der Französischen Revolution, besonders aber lokale Verhältnisse, lösten zunächst Aufstände und Bandenkriege gegen die Willkür- und Unterdrückungsmaßnahmen der osmanischen Herrschaft aus. Sie brachten zuerst den Serben 1815 eine begrenzte politische Autonomie, 1830 sagten sich die Griechen vom Vielvölkerstaat der Osmanen los. Bis 1908 hatten sich die meisten Völker im osmanischen Südosteuropa vom Reich gelöst.
Die Nationalstaatsbildungen des 19. und 20. Jahrhunderts waren geprägt von einem durchgehend kriegerischen, mit Gewalt verbundenen Prozess. Die "Befreiung" des eigenen Volkes von fremder Herrschaft implizierte nicht selten die Vertreibung von andersnationalen Bevölkerungsgruppen. Die Vertreibung oder gar die Vernichtung der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe war somit wichtiger Bestandteil jener "Befreiungskriege", die auf die Schaffung ethnisch homogener Nationalstaaten zielten. Andersethnische Bevölkerungsgruppen, die nun zu Minderheiten degradiert wurden, galten als unerwünscht, weil sie dem nationalstaatlichen Vereinheitlichungsstreben scheinbar im Wege standen. Besonderen Zündstoff erhielt die Nationsidee auf dem Balkangebiet, wo die "ethnische" Landkarte in vielen Gebieten durch Fragmentierung bzw. Überlagerung sowie von ständiger Fluktuation gekennzeichnet war. Als Folge der historischen Wanderungs- und Siedlungsbewegungen lebte auf dem Balkan eine Vielzahl an Volksgruppen kleinräumig zusammen. Die verschiedenen Volksgruppen mit unterschiedlichen Sprachen und verschiedenen Religions- und Konfessionsgemeinschaften begannen sich im Lauf des 19. Jahrhunderts ethnisch zu definieren und sich von der osmanischen Macht wie auch von den alteingesessenen Nachbarn gewaltsam abzugrenzen. Eine unvermeidliche Diskrepanz entstand dadurch, dass die Nationalisten des 19. Jahrhunderts "historische Rechte" auf ein bestimmtes Territorium geltend machten, das zwischenzeitlich von einer anderen "Ethnie" bevölkert worden war, und sie sich zur Verstärkung ihres Anspruchs auf das moderne "Selbstbestimmungsrecht" im fraglichen Gebiet beriefen.34 Als Orientierungspunkt für die "Wiedergeburt der eigenen Nation" boten sich oft die mittelalterlichen Großreiche an, die es wieder herzustellen galt: das antike Makedonien und Byzanz für die Griechen, das "Großbulgarische", "Großserbische" oder "Großkroatische" Reich für die Bulgaren, Serben oder Kroaten.35 Diesem Ziel standen die alteingesessenen Nachbarn, die ebenfalls ihre eigene Nationalität reklamierten, jedoch im Weg. Um die Diskrepanz zwischen den historischen Rechten und dem modernen nationalstaatlichen Ordnungsprinzip zu lösen, boten sich verschiedene Strategien an, die auf dem Balkan eine Kette von Katastrophen auslösten: So suchte man in der ersten Variante, die Staatsgrenzen den ethnischen Siedlungsverhältnissen bzw. die ethnischen Siedlungsgrenzen den Staatsgrenzen anzupassen, was zwangsläufig zur Sprengung von Vielvölkerimperien und Vielvölkergebieten (z.B. das Osmanische und das Habsburgerreich, Makedonien, Thrakien und Zypern etc.) führen musste. Die zweite Variante dagegen legte die Anpassung der ethnischen Siedlungsverhältnisse an die bestehenden Staatsgrenzen nahe. Diese Möglichkeit wiederum umfasste in der Regel eine breite Palette an Homogenisierungsmaßnahmen, die von Zwangsassimilierung über Bevölkerungsaustausch bis hin zur Vertreibung und Massenmord reichen konnten.36
Die europäischen Großmächte sind diesen Entwicklungen nicht nur nicht entgegen getreten, sie haben die bestehenden interethnischen Konflikte vielmehr aus unverhohlenen Eigeninteressen angeheizt. In der Folge von Staatsneubildungen, Grenzverschiebungen und Regimewechseln kam es schließlich zu Vertreibung, Flucht und Zwangsassimilation von Millionen von Menschen. Die erste Welle der Vertreibungen im 19. Jahrhundert betraf insbesondere die Angehörigen der vormals dominanten Bevölkerungsgruppe, also Muslime verschiedener "ethnischer" Abstammung und Türken sowie die Juden, die als Kollaborateure der "Unterdrücker" galten. Es war das Unglück der muslimischen Gemeinschaften auf dem Balkan, dass oft allein ihre Präsenz sie zu Feinden der im Entstehen begriffenen Nationen machte. Die Vertreiber unterschieden nämlich selten zwischen der Zivilbevölkerung, den osmanischen Machtträgern (Armee und Verwaltungsinstanzen) und gewalttätigen Aufständischen, an denen es freilich nicht mangelte. Ein größeres Unglück resultierte für Muslime und Juden daraus, dass die Herrschergewalt der Osmanen, von der sie abhängig waren, nicht in der Lage war, sie zu schützen. Sie wurden Opfer des Reichszerfalls und des Nationalstaatsprinzips auf dem Balkan, das mehr oder minder auf ein "unmixing of peoples" hinauslief. Im weiteren Verlauf wurden neue Feindbilder und neue Abgrenzungen kultiviert, diesmal auch gegen die christlichen, aber "fremdethnischen" Bevölkerungsgruppen in den jeweiligen neuen Nationalstaaten. Denn sie alle waren trotz aller "Säuberungen" noch keineswegs ethnisch homogen und in nationaler Hinsicht nicht "komplett" vereinheitlicht. Im Innern wiesen sie noch fremdethnische Minderheiten auf, während jenseits der Staatsgrenzen noch Konnationale der eigenen Staatsnation lebten und ihrerseits eine Minderheitengruppe darstellten. In jedem Fall standen die so konstruierten Minderheiten dem Einheitsstreben der jeweiligen Titularnation im Wege. Die Folge waren neue Konflikte, die bis zu "ethnischen Säuberungen" reichen konnten, wie sie zuletzt in den Kriegen zwischen den Nachfolgestaaten Jugoslawiens beobachtet werden konnten.
So waren mit der erfolgreichen Durchsetzung des nationalstaatlichen Ordnungsprinzips die einzelnen "nationalen Fragen" keineswegs gelöst, sondern es entstanden neue Konfliktpotentiale zwischen den nun zu "Minderheiten" degradierten Bevölkerungsgruppen und der postulierten Staatsnation. Auf jeden Fall ließ das Nationalstaatsprinzip die ethnische Vielfalt grundsätzlich als problematisch erscheinen. Die post-osmanischen Nachfolgestaaten waren in der Zwischenkriegszeit in der Regel nicht nur mit dem Aufbau und der Transformation ihrer Staaten und Gesellschaften beschäftigt, sondern gleichzeitig auch mit der Gründung der jeweiligen Nation, die tendenziell eine Übereinstimmung der ethnischen mit den staatlichen Grenzen anstrebte. Die staatsbürgerliche Praxis folgte oft den Kriterien der Abstammungsnation. In den allermeisten Fällen wurden in den neuen Balkanstaaten zwar alle Staatsbürger des Landes de jure gleichgestellt, doch die Praxis sah anders aus, so dass die jeweilige Staatsbürgerschaft praktisch nur für die Angehörigen der eigenen Nation galt. Die ausgrenzenden Bestimmungen betrafen keineswegs nur Fremde oder Zugewanderte, sondern auch oder vor allem die alteingesessenen Bevölkerungsgruppen, die bereits seit Jahrhunderten auf dem fraglichen Territorium lebten.37 In den sich zunehmend als ethnisch definierenden Nationalstaaten waren Minderheiten per se unerwünscht, ihre "Angehörigen Bürger zweiter Klasse und Objekte ständiger Versuche, sie durch Assimilation, Vertreibung oder durch andere Methoden" loszuwerden.38
Ein prononciert ethnisch begründeter Nationalismus war z.B. im Griechenland der Zwischenkriegszeit zu beobachten, wo das Nationalstaatsprinzip beim Wort genommen worden war. So wähnte sich das neu gegründete Griechenland als ein Land, das aus ethnischen Griechen bestand. Nicht wegzudiskutierende Andersartigkeiten wurden im religiösen und sprachlichen Bereich, nicht jedoch in ethnischer Hinsicht geduldet. So wurden die Muslime Westthrakiens gemäß Lausanner Vertrag als "muslimische Minderheit" bezeichnet, nicht jedoch als Türken griechischer Staatsbürgerschaft. Entsprechend wurde auch die Existenz von ethnischen Minderheiten wie Slawen, Aromunen oder Albanern in Nordgriechenland oder auf den Ägäis-Inseln bestritten; nach der offiziellen Lesart gelten sie noch heute als slawo- bzw. albanophone Hellenen.39 Ähnliche nationale Vorstellungen lassen sich freilich auch in den übrigen Staaten der Region finden. Sie pendeln in der Regel zwischen einem explizit ethnisch begründeten und einem implizit religiös, d.h. christlich verstandenen Nationalismus, wobei der letztere nicht selten ein "mit Überwertigkeitswahn gekoppeltes missionarisches Element enthält" und die Innen- und Außenpolitik dieser Länder bestimmt.40 Je nach Opportunität wurden in den jeweiligen Balkannationalismen "Türken" als Eindringlinge verstanden, die dahin zurückgehen sollten, wo sie herkamen. Der Rauswurf der Türken/Muslime aus dem christlichen Europa wurde dann oft mit ihrer "Rückständigkeit" begründet. So schrieb der griechische König Konstantin I. (1868–1923) als Befehlshaber der griechischen Offensive im Sommer 1921 an seine Schwester: "It is extraordinary how little civilized the Turks are … It is high time they disappeared once more and went back into the interior of Asia whence they came."41 Nicht selten wurden den Türken/Muslimen aber auch die Andersartigkeit abgesprochen, um sie zu assimilieren und ihnen damit jegliche Ansprüche auf Minderheitenschutz verweigern zu können. So sah beispielsweise der bulgarische Nationalismus in den muslimischen Pomaken zwangsislamisierte Bulgaren, in Makedoniern sprachlich serbisierte Bulgaren und in den uebrigen Muslimen im Land das Opfer "kombinierter Zwangsislamisierung und Zwangstürkisierung".42
Doch nicht nur das exklusive Nationsverständnis und die damit einhergehenden Repressalien für die Minderheiten stimulierten die muslimische Auswanderung. Auch die defizitären inneren Staatsbildungsprozesse bzw. staatlichen Modernisierungsmaßnahmen erzeugten auf vielfache Weise einen Emigrationsdruck bei den "Andersartigen". Dazu gehörte in erster Linie die Übernahme eines durchgreifenden Modernisierungsprogramms, das in den meisten strukturell unterentwickelten Staaten des Balkans alle sozialen, politischen und ökonomischen Bereiche tangierte. Mit der Einführung oder Transformation einer Vielzahl von staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen wurden vertraute konfessionelle Einrichtungen zumeist abgeschafft oder zentralisiert. Damit ging auch ein Stück konfessionelles Eigenleben verloren. Das staatlich normierte Disziplinierungs- und Regelungswerk betraf vor allem die politischen, fiskalischen, militärischen und kulturellen Bereiche, durch welche nun neue Kriterien der Inklusion und Exklusion festgelegt wurden. Der Modernisierungs- bzw. Assimilations- und Akkulturationsdruck, der sich unter anderem im obligatorischen Militärdienst, in der Durchsetzung der jeweiligen Landessprache in den Minderheitenschulen und in Repressionen bei der Religionsausübung zum Ausdruck brachte, verstärkte die Emigrationsneigung der Muslime/Türken in den jeweiligen Balkanstaaten.43 Die "lautlose Abwanderung" der Muslime in "Friedenszeiten" wurde in der Regel durch verschiedene politische Maßnahmen herbeigeführt, die auf eine zahlenmäßige Reduzierung der verbliebenen Muslime hinausliefen. Die Hinderung der Rückkehr der geflohenen Muslime, die Regelung der Eigentumsfragen und Rechtsansprüche zu Lasten der muslimischen Flüchtlinge bzw. der muslimischen Minderheit wirkten oft als "Emigrationsstimulans", der eine kontinuierliche muslimische Abwanderung bis in die Gegenwart zur Folge hatte.44
Die Abwanderung der Muslime lässt sich insofern auch als Ergebnis dieser internen Konflikte im Rahmen des Nationswerdungsprozesses deuten, aber auch im Kontext des Ost-West-Konfliktes verorten, der z.B. in Bulgarien 1950/1951 und in den 1980er Jahren eine Massenausweisung der Muslime in die benachbarte Türkei zur Folge hatte.45 Die Wanderungsbewegungen der Muslime in den "Friedenszeiten" fallen in der Regel nicht in die Rubrik der gewaltsamen Vertreibung, waren aber keineswegs nur "freiwillig" motiviert, da sie eine Reaktion auf die Gefährdungen des Gemeindelebens darstellten.46 Die kollektive Aussiedlung der Muslime wurde im Übrigen auch von der Republik Türkei dezidiert gefördert, die während der 1930er bis 1950er Jahre versuchte, ihre seit dem Ersten Weltkrieg teilweise vollständig verwüsteten und entvölkerten Gebiete mit Muslimen aus den südosteuropäischen Ländern zu besiedeln.47 Sie schloss Verträge mit Griechenland, Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien ab, um Muslime, die in diesen Ländern als "Fremde" bzw. als Überbleibsel der osmanischen Herrschaft galten, in die Türkei zu holen. Ca. 600.000 Muslime wurden zwischen 1923 und 1933 auf diese Weise "heimgesiedelt". Auch diese Abwanderung per Vertrag folgte allerdings nicht immer dem Motiv der "Freiwilligkeit", zumal die repressiven Maßnahmen der geschilderten Art in den Herkunftsländern wesentlich zur Auswanderungsbereitschaft der Muslime beigetragen haben.
Folgen
Im 19. Jahrhundert erlebte das Osmanische Reich eine der schwersten Systemkrisen seit seinem Bestehen. Verschiedene Krisensymptome trafen seit dem 18. Jahrhundert aufeinander, die das Vielvölkerreich in eine langjährige Agonie stürzten: Staatsbankrott, innere Aufstände und aufeinanderfolgende Kriege führten zu beträchtlichen territorialen Verlusten und beendeten schrittweise die osmanische Herrschaft auf dem Balkan. Die Niederlagen und territorialen Verluste schlugen auch auf die innere Verfassung des Reiches durch – in Form einer veritablen wirtschaftlichen und politischen Legitimationskrise. Die chronische Labilität des Reiches wurde mit der Ankunft von über einer Million muslimischer Flüchtlinge aus dem Kaukasus und aus dem Balkangebiet noch zusätzlich verschärft. Die anhaltenden Emigrationsströme der Muslime verschiedener Volkszugehörigkeit stellten den ohnehin schon um seine wirtschaftliche Existenz kämpfenden Staat vor ein schier unlösbares Problem. Die Versorgungslage der Flüchtlinge war katastrophal, viele der Flüchtlinge blieben auf sich selbst gestellt. In größeren Städten lebten die meisten in armseligen Verhältnissen am Rande der Stadt, in der Provinz fanden viele durch Bandenbildung und Raubüberfälle ihr Auskommen.48
Die Aufnahme der muslimischen Flüchtlinge hatte vor allem die Konsequenz, dass das Vielvölkerreich sich zunehmend zu einem Land der Muslime verwandelte. Betrug der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung des Osmanischen Reiches im Jahr 1821 noch 60 Prozent, stieg ihr Anteil 1914 durch den anhaltenden Strom der Migranten und den Verlust christlich besiedelter Gebiete bereits auf 80 Prozent.49 Zwischen 1821 und 1922 wanderten rund 5,3 Millionen Muslime in das Reich ein.50 Schätzungen zufolge wies im Gründungsjahr der Republik (1923) rund 25 Prozent der Bevölkerung einen "Migrationshintergrund" auf.51
Die Hohe Pforte, die Regierung des Osmanischen Reichs, reagierte auf diese neue Entwicklung mit verschiedenen, teilweise miteinander konkurrierenden Rezepten (Osmanismus, Panislamismus, Panturkismus).52 Zunächst einmal verpufften die im Geiste der Tanzimat-Reformen eingeführten liberalen Prinzipien, die den Weg zum modernen Verfassungsstaat zu eröffnen schienen. Die durch die Sultanserlasse von 1839 und 1856 sowie schließlich durch die Verfassung von 1876 offiziell sanktionierte Idee der Gleichberechtigung der verschiedenen Nationalitäten im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie waren angesichts der erfolgreichen Nationalbewegungen der Balkanvölker zunächst gründlich diskreditiert. Die Jahrzehnte nach der Orientkrise (1875–1878) waren geprägt von heftigen ethnisch-religiösen Auseinandersetzungen vor allem in Ostanatolien, das von armenischen, kurdischen und anderen christlichen und muslimischen Gemeinschaften besiedelt war. Die Ansiedlung von muslimischen Flüchtlingen in diesem ohnehin schon gewaltgeprägten Raum trug zur zusätzlichen Verschärfung der Lage bei.53
Die demographische Verschiebung zugunsten des muslimischen Bevölkerungsteils hatte auch eine panislamische Politik zur Folge, die besonders unter Abdülhamid II. (1842–1918)[] zum Ausdruck kam. Bei den muslimischen Untertanen Anatoliens war der Islam allemal tief verwurzelt. Die muslimischen Flüchtlinge aus dem Kaukasus- und Balkanraum hatten gerade die Erfahrung gemacht, dass sie allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit aus ihrer angestammten Heimat vertrieben worden waren. Der Islam galt daher sowohl dem Regenten Abdülhamid als auch der Opposition als Integrationselement, um die verschiedenen muslimischen Bevölkerungsgruppen (Türken, Kurden, Tscherkessen, Tataren, Bosniaken, Albaner, Lasen etc.) in einem muslimischen Kollektiv zusammenzuführen.54 Fast zeitgleich wurden die Grundlagen für ein türkisches Nationalbewusstsein gelegt, wenn es auch erst einige Jahrzehnte später explizit zum Ausdruck kam. Die turkstämmigen Immigranten aus dem Zarenreich und die Balkanflüchtlinge spielten hierbei eine entscheidende Rolle. Viele der späteren Politiker, die im Ersten Weltkrieg und in der kemalistischen Ära das Land führen sollten, stammten in erster oder zweiter Generation von Muslimen/Türken aus dem Balkan ab.55
In der letzten Phase seines Bestehens griff das Osmanische Reich selbst zu einer Politik der nationalen (zunächst überwiegend religiös verstandenen) Homogenisierung.56 Die jungtürkische Revolution von 1908 brach letztlich dem türkischen Nationalismus Bahn, dessen Ausschließlichkeit die Nichtmuslime, vor allem Armenier, die bis dahin als die loyalste Minderheit galten, deutlich zu spüren begannen. In der Konsequenz trafen türkische Führungs- und nichtmuslimische Autonomieansprüche zusehends aufeinander. Den Zusammenhalt des Reiches konnten die osmanischen Regierungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur noch mit Gewalt gewährleisten. Seit den verheerenden Balkankriegen folgten radikale Maßnahmen zur Türkisierung des Landes, die sich vor allem im Bereich der Wirtschafts-, Bildungs- und Siedlungspolitik bemerkbar machten. Schließlich eskalierten die Konflikte "im Wechselspiel von erzwungener Assimilierung von oben, Widerstand von unten" und verstärkter Repression als Antwort auf den Widerstand in den Armeniermassakern von 1895/1896 und 1909.57 Im Ersten Weltkrieg wurde beinahe die gesamte armenische Bevölkerung in Kleinasien ausgerottet oder vertrieben, die griechisch-orthodoxe Bevölkerung der küstennahen Gebiete schon vor dem Krieg deportiert oder getötet.58 Oft beteiligten sich auch muslimische Flüchtlinge, die einst selber Opfer von Vertreibungen geworden waren, an den Überfällen auf christliche Dörfer und ihre Einwohner.59 Ihre Rolle in dem Vertreibungsgeschehen in Kleinasien (1914–1922) ist bislang nicht systematisch untersucht worden. Eine Opfer-Täter-Verbindung wird jedoch oft hergestellt. So wurde etwa gezeigt, dass der Großteil der Führungskader der Jungtürken von ehemaligen Vertriebenen bzw. ihren Nachkommen abstammt. In der osmanischen paramilitärischen Sonderorganisation (Teşkilat-ı Mahsusa), die als Todesschwadron gegen die Nichtmuslime während der Einparteiendiktatur der Jungtürken eingesetzt wurde, aber auch in den unteren Kadern der jungtürkischen Partei spielten die einstigen Kaukasus- und Balkanflüchtlinge offensichtlich eine nicht unerhebliche Rolle:
On lower levels, in the ranks of the Special Organisation (Teşkilat-ı Mahsusa) that played an important role in the massacres, immigrants, especially Circassians, made up the main component. Even if we have no contemporary evidence from 1915 to show that revenge was the primary motive for these people, the overrepresentation of refugees among the killers is striking.60
Somit gehörten die ehemaligen muslimischen Flüchtlinge/Migranten zu den Bevölkerungsgruppen, die das gesamte Ausmaß der nationalen Homogenisierungen in ihrer ganzen Brutalität erlebt haben – wie man aufgrund der unzureichenden Forschungslage vermuten darf: viele von ihnen sowohl in der Rolle der Opfer als auch der Täter.61