Der Einfluss der europäischen Orientalistik
Der Begriff "Turan" wurde seit dem 6. Jahrhundert als eine Bezeichnung des geographischen Raumes im Sinne von "Turkestan", das heißt "Land der Türken", gebraucht. Barthélemy d'Herbelot (1625–1695) hat in seinem 1697 erschienenen Werk Bibliothèque orientale den Begriff "Turan" zur Kennzeichnung der östlichen und nördlichen Gebiete des Flusses Amu-Darja, der an der heutigen Grenze von Afghanistan und Tadschikistan entspringt und in den Aralsee mündet, in die europäischen Wissenschaftsdiskurse eingeführt.1 Im 19. Jahrhundert wurden die Begriffe "Turan" und "Turanier" inhaltlich erweitert sowie gemeinsam unter linguistischen und völkerkundlichen Aspekten untersucht. Der finnische Philologe und Ethnologe Matthias Alexander Castrén (1813–1852), der sich mit den uralischen, altaischen und den paleo-sibirischen Sprachen beschäftigte, postulierte eine linguistische, kulturelle und rassische Einheit der sogenannten Ural-Altaischen Völkerschaften. Der deutsche Orientalist Friedrich Max Müller (1823–1900) wiederum führte den Begriff der "Turanier" als eine neue Kategorie für nicht indogermanisch und nicht semitisch sprechende Völkerschaften Europas und Asiens ein.2
Als "Vordenker" der panturkistischen bzw. turanistischen Strömungen gilt der ungarische Turkologe Armin Vámbéry (Hermann Wamberger, 1832–1913).3 Der als turkophil bekannte Sprach- und Völkerkundler unternahm ausgedehnte Reisen durch das Osmanische Reich, Russland, Zentralasien und Persien und machte seine Beobachtungen in zahlreichen Vorträgen und Büchern publik. Er suchte nach den linguistischen und ethnolinguistischen Verbindungen zwischen dem Ungarischen und den so genannten altaischen Sprachen (bzw. den osttürkischen Idiomen) und wurde zum wichtigsten Vertreter der inzwischen überholten ural-altaischen These, wonach die ungarische Sprache der altaischen ("turko-tatarischen") Sprachgruppe zuzurechnen sei. Vámbéry zufolge stammten die Vorfahren der Ungarn aus Zentralasien und waren mit den Türken verwandt. In seinem Vorwort zu Reise in Mittelasien (1873) schrieb Vámbéry, sein Ziel sei es, Gemeinsamkeiten zwischen Ungarn, Finnen und Tataren zu erforschen.4
Der später als "advocate of the East" bezeichnete Vámbéry wertete auch die Bezeichnung "Türke" auf.5 Wie Vámbéry schrieb, fühlten sich die gebildeten Türken, die sich selbst als Osmanen betrachteten, "geradezu beleidigt", als er sie bei einem Aufenthalt in Konstantinopel in den 1880er Jahren über ihre "türkische" Herkunft aufzuklären versuchte. Die osmanische Staatselite, die sich zum Teil aus christlichen Konvertiten zusammensetzte, fühlte sich über regionale und ethnische Unterschiede hinweg einer osmanischen Hochkultur verpflichtet und empfand daher die ihnen von Vámbéry zugeschriebene Beziehung zu einem "Nomadenvolk" als Affront. In ihren Augen kam die Bezeichnung "Türke" nur dem niederen Volk, den Nomaden und den Bauern, zu.6 Vámbéry führte diese Wahrnehmung auf den Umstand zurück, dass der Islam wie nirgendwo sonst im Osmanischen Reich eine "Entnationalisierung" bewirkt hätte und dass der "heutige Osmane" ein Mensch sei, "in dessen Adern ein verschwindend kleiner Theil türkischen Blutes fließt, dessen Physikum auch nicht die geringste Spur des typischen Türken" aufweise.7
Vámbéry stand mit seinen Turan- bzw. Ural-Altai-Forschungen in der Tradition der ungarischen und westeuropäischen Orientforschung des 19. Jahrhunderts. Nach anfänglichen Irritationen stießen seine Ansichten auch bei der osmanischen Staatselite und der Intelligenzija auf breite Akzeptanz. Wahrscheinlich ist es der Prominenz Vámbérys im Osmanischen Reich geschuldet, dass der Panturkismus, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst kulturell und um die Jahrhundertwende auch politisch zu artikulieren begann, häufig als Turanismus bezeichnet wurde. Tatsächlich wurden beide Begriffe sowohl im Osmanischen Reich als auch in der zeitgenössischen europäischen Diplomatie sowie im Russischen Reich oft als Synonyme verwendet.8 Dabei war die geographische Reichweite des Turanismus größer als beim Panturkismus. Während letzterer die Einheit aller Turkvölker anstrebte, postulierte der Turanismus, manchmal auch tautologisch als Pan-Turanismus bezeichnet, die Einheit der türkischen, mongolischen und finnougrischen Völkerschaften, wobei diesen die gemeinsame Urheimat "Turan", eine mystisch verklärte Region in der zentralasiatischen Steppe, zugeschrieben wurde.9
Auch andere Forscher im Zusammenhang der westeuropäischen Orientalistik, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu institutionalisieren begann, lieferten Anregungen für die Idee des Panturkismus. Während der französische Orientalist Joseph de Guignes (1721–1800) schon 1756 die "barbarischen" Völkerschaften der Hunnen, Türken und Mongolen ins europäische Geschichtsbild rückte,10 wurde sein Landsmann und Kollege Léon Cahun (1841–1900) rund ein Jahrhundert später neben Vámbéry zur wichtigsten Inspirationsquelle für den Panturkismus. Cahuns romanhaft geschriebenes Werk Introduction à l'Histoire de l'Asie; Turcs et Mongols des origines à 1405, das 1896 erschien, übte großen Einfluss auf die französischsprachige, gebildete Schicht der Osmanen aus.11 Das Buch lag in allen Buchhandlungen in Konstantinopel aus und wurde 1899 von Necip Asım Yazıksız (1861–1935) ins Türkische übersetzt.12 Cahuns Studie inspirierte unter anderem Ziya Gökalp (1876–1924), den berühmtesten Panturkisten und Vordenker des türkischen Nationalismus, zu seinen eigenen Forschungen über die Geschichte der "Türken" in der vorislamischen Zeit.13 Léon Cahun beschrieb die Türken als ein "Eroberervolk", dem weit bessere Krieger angehört hätten als den Arabern und Persern. Er erklärte nicht nur den mongolischen Kriegsherren Dschingis Khan (1162–1227), sondern auch die ersten Bewohner Europas zu Türken. Prominente Orientalisten wie die in Russland lehrenden Wilhelm Radloff (1837–1918)14 und Vasilij Vladimirovič Bartol'd (1869–1930)15 lieferten ebenfalls wichtige Arbeiten zur Geschichte und Sprachenvielfalt Mittel- und Zentralasiens und inspirierten künftige Turkologen und Anthropologen. Gleichzeitig machten sich in der zeitgenössischen Linguistik und Ethnolinguistik, etwa bei dem deutschen Philologen und Indogermanisten August Schleicher (1821–1868), naturwissenschaftliche Einflüsse bemerkbar. Entsprechend Charles Darwins (1809–1888) Diktum vom Survival of the Fittest prophezeite er den Untergang der unterlegenen Sprachgruppen zugunsten der überlegenen indogermanischen Sprachen.16 In der Folge versuchten führende Turkologen und Orientalisten den Nachweis zu erbringen, dass die Turksprachen ebenfalls überlebensfähig seien und überdies von Sprachträgern gesprochen würden, die einen gewichtigen Beitrag zur abendländischen Zivilisation geleistet hätten.
In diesem Zusammenhang kommt den Arbeiten Mustafa Celâleddin Paşas eine besondere Rolle zu. Der polnische Emigrant (geboren als Konstanty Polklozic Borzęcki, 1826–1876), der nach seiner Flucht in das Osmanische Reich 1848 zum Islam konvertierte und in den osmanischen Staatsdienst eintrat, spielte eine bedeutende Rolle bei der Propagierung des türkischen Einheitsgedankens und der Zivilisiertheit der "Türken". In seinem Buch Les Turcs anciens et modernes (1869) behauptete er, die türkische Sprache sei eine der Ursprachen, die einen wichtigen Einfluss auf das Lateinische und das Griechische gehabt hätte, und vertrat darüber hinaus die Ansicht, dass die Quellen der abendländischen Zivilisation in der türkischen Vergangenheit zu finden seien. Die Wiedergabe der türkischen Sprache mit dem arabisch-persischen Alphabet sah Celâleddin als problematisch an und forderte sowohl eine Sprachreinigung des Türkischen von fremden Elementen als auch die Übernahme des lateinischen Alphabets.17 Mit diesen und anderen Theorien legte Celâleddin Paşa einen Grundstein für die sich entwickelnde türkisch-nationale Bewegung.18
Anhand dieser Arbeiten begann die osmanische Intelligenzija, sich mit der vorislamischen Vergangenheit der "Türken" zu befassen.19 Ahmed Vefik Paşa (1823–1891), osmanischer Bürokrat und Schriftsteller, erklärte seinen Landsleuten die Notwendigkeit einer genuin nationalen Geschichte und forderte die Abkopplung der alttürkischen von der osmanischen Geschichte.20 Sein Zeitgenosse Süleyman Paşa (1838–1892) befasste sich in seinem Buch Tarih-i Alem21 ("Weltgeschichte", 1876), in dem Vorstellungen westlicher Orientalisten ihren Niederschlag fanden, mit der Vorgeschichte der Osmanen.22 In einer Zeit, in der in den osmanischen höheren Schulen nur klassische Abhandlungen der osmanisch-islamischen Geschichte gelehrt wurden, führte Süleyman Paşa erstmals Kompendien ein, die sich mit der alttürkischen Geschichte befassten. Auch Şemseddin Sami (1850–1904), Dramatiker, Schriftsteller und Übersetzer, widmete sich der türkischen Linguistik und gab 1899 ein türkisches Wörterbuch (Kamus-i Türki) heraus,23 das viele Jahre lang die Grundlage für die zeitgenössische türkische Schriftsprache sein sollte.24
Die Beschäftigung mit den Ursprüngen der "Türken" im Osmanischen Reich ging Hand in Hand mit den Modernisierungsbestrebungen dieser Zeit: In den gebildeten Schichten im Osmanischen Reich wuchs das Interesse an säkularer europäischer Kultur, an westlichen intellektuellen Trends, Technologie und Wissenschaft. Als Reaktion auf den europäischen Philhellenismus widmeten sich die osmanischen hommes de lettres auch zunehmend der westlichen Philosophiegeschichte, der griechischen Antike sowie der westlichen Literatur und Poesie. Bei diesen Studien ging es in erster Linie darum, die Gleichwertigkeit mit Europa zu betonen und zu demonstrieren, dass Osmanen bzw. Türken ebenfalls zu den "ältesten" staatsgründenden Völkern in der Geschichte zu zählen seien.
Die ersten kulturellen Impulse zur Erweckung eines genuin türkischen Nationalgefühls, die wiederum unter dem Einfluss der europäischen Geisteswelt entstanden waren und sich allein auf die "Türken" im Osmanischen Reich bezogen, blieben gegenüber dem offiziell geförderten supranationalen Konzept des "Osmanismus" eine Randerscheinung. Tatsächlich stießen die ersten Vorstöße auf den Widerstand der islamischen Orthodoxie und der Hohen Pforte. So wurden einige der Veröffentlichungen aus dem Kreis der Jungosmanen, etwa die Dichtungen von İbrahim Şinasi (1826–1871) aus dem Jahr 1859, die Sprachforschungen Şemseddin Samis und das Theaterstück Vatan ("Vaterland") von Namık Kemal (1840–1888) nach der Erstaufführung 1873 als staatsgefährdend verboten.25
In einer Zeit der wachsenden Unabhängigkeitsbestrebungen der christlichen Reichsvölker wurde der Osmanismus als eine Art Reichspatriotismus zur Staatspolitik erklärt, um das Vielvölkerreich vor einem Auseinanderdriften zu bewahren. Die kaiserlichen Erlasse von 1839 und 1856 sowie die 1876 verabschiedete osmanische Verfassung sollten einen modernen Territorialstaat schaffen, der seinen Bürgern, gleich welcher Religion und Herkunft, die Gleichheit vor dem Gesetz verleihen und die freie Religionsausübung garantieren sollte. Die Reformen sollten in erster Linie die staatliche Autorität stärken, die sezessionistischen Kräfte im Reich neutralisieren und damit den Expansionsbestrebungen europäischer Mächte entgegenwirken, namentlich Russlands, das sich als Beschützer der orthodoxen Bevölkerung im Osmanenreich inszenierte. Unter diesen Umständen schien es der osmanischen Staatsführung nicht zweckmäßig, einen allein auf die türkische Ethnie aufbauenden Nationalismus zu fördern.
Nachdem es jedoch nicht gelang, die christlichen Nationalbewegungen zu neutralisieren, kam wechselweise die staatlich geförderte Politik des Panislamismus ins Spiel. Um die ebenfalls im "nationalen Erwachen" begriffenen muslimischen Reichsbevölkerungen (Albaner, Araber, Kurden) stärker an das Vielvölkerreich zu binden, appellierte man stärker an das gemeinsame Band der Religion und hob den islamischen Einheitsgedanken (ittihad-i Islam) hervor. Auch die Vertreibung von muslimischen Kaukasusvölkern, die nach der Eroberung und Pazifizierung des Hohen Kaukasus durch das Zarenreich massenhaft in das Osmanische Reich hineinströmten, lieferte der Politik des Panislamismus unter Sultan Abdülhamid II. (1842–1918)[] neue Legitimation.26 Vereinfacht lässt sich sagen, dass bis etwa 1900 die ideellen Grundlagen für eine panturkistische Bewegung geschaffen worden waren, sich aber ihre politisch-gesellschaftliche Breitenwirkung im Osmanischen Reich erst nach der Jahrhundertwende entfaltete. Tatarisch-türkische Emigranten aus dem Zarenreich spielten in diesem Prozess eine entscheidende Rolle.
Russlandmuslime und der Panturkismus
Die Russlandmuslime hatten aus guten Gründen schon vor ihren Glaubensbrüdern im Osmanenreich ein nationales Bewusstsein entwickelt, das die geistige Voraussetzung für die Entwicklung des politischen Panturkismus bildete. Denn während die raison d'être der osmanischen Staatselite darin bestand, mit supranationalen Integrationskonzepten das Zusammenhalten des multiethnischen und multikonfessionellen Vielvölkerreiches zu gewährleisten, gehörten die Muslime Russlands zu einer der zahlreichen fremdethnischen Bevölkerungsgruppen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene Spielarten einer national-religiösen Absetzungsbewegung hervorbrachten.
Das Aufkeimen der "nationalen Idee" bei den Muslimen Russlands verlief dabei nicht synchron. Zu den Muslimen im Zarenreich zählten diverse Bevölkerungsgruppen, die sich in ihrer ethnischen Zusammensetzung, in ihren kulturellen und politischen Traditionen sowie in den Lebens- und Wirtschaftsformen erheblich unterschieden. Auch in der Erfahrung der Fremdherrschaft gab es Differenzen: Während die sesshaft gewordenen Wolgatataren schon seit dem 16. Jahrhundert im russischen Herrschaftsbereich lebten, kamen die nomadischen Muslime Mittelasiens erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter russische Herrschaft.27 Gemeinsam war diesen Bevölkerungsgruppen die Zugehörigkeit zum Islam und in der Regel die Sprache. Die Dialekte der Turksprachen unterschieden sich von Region zu Region vor allem in der Phonetik und dem Wortschatz, weniger jedoch in der Typologie, so dass zwischen den Sprechern der meisten Turksprachen eine Verständigung möglich war.28 Die Volkszählung von 1897 ermittelte, dass ca. 90 Prozent der turksprachigen Einwohner des Zarenreiches (die wiederum rund 11 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten), Muslime waren.29 Das heißt, noch vor dem "nationalen Erwachen" bot vielmehr die gemeinsame Zugehörigkeit zum Islam ein Identifikationsangebot, während die Sprache, wenn überhaupt, eine nachrangige Rolle spielte. Für die national mobilisierten Muslime Russlands stellte sich daher alsbald die Frage, welche Rolle der Islam in ihrer nationalen Identitätskonstruktion spielen würde: War die Religion im Vergleich zur modernen Idee der ethnischen Herkunft und der nationalen Zugehörigkeit nachgeordnet oder eine primäre, "andere Identitäten überlagernde Integrationsideologie"? 30
Die Genese des nationalen Bewusstseins bzw. der panturkistischen Idee, die aus dem gleichen Fundus an Mythen und Symbolen schöpften, wurde durch bestimmte innere und äußere Entwicklungen und Umstände gefördert. Russischer Expansionsdrang, die kulturelle Zivilisierungsmission, Eroberungs- und Pazifizierungspolitik gegenüber fremden Ethnien und Konfessionen spielten hierbei eine Rolle, wiewohl die seit dem 18. Jahrhundert imperial ausgerichtete russische Politik nicht systematisch antimuslimisch war, sondern zwischen Pragmatismus und offener Repression mit aggressiven Formen der Assimilationspolitik (Russifizierung, Christianisierung) schwankte. So konnte die Politik der Assimilation in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Wolga-Ural-Region die islamischen Institutionen unterdrücken, da diese als Quellen einer muslimischen Widerstandstradition angesehen wurden, auf der anderen Seite aber Kooperationsbereitschaft gegenüber den weltlichen muslimischen Eliten beinhalten.31 Die Territorialisierung des Russischen Imperiums nach westeuropäischem Nationalstaatenkonzept im späten 19. Jahrhundert, die unter anderem eine Reaktion auf die separatistischen Nationalismen war und zugleich diese erst recht heraufbeschwor, setzte die fremden Nationalitäten einem rigiden Assimilierungsdruck aus.32
Die Entwicklung der nationalen Idee unter den Tataren im Zarenreich korrelierte mit der wirtschaftlichen und soziokulturellen Entwicklungsstufe der jeweiligen muslimischen Siedlungsgebiete innerhalb des Zarenreiches. So waren es insbesondere die wirtschaftlich weiter entwickelten Gebiete um Kasan, auf der Krim und in Aserbaidschan, in denen im 19. Jahrhundert ein spezifisches "tatarisches" bzw. "türkisches" nationales Bewusstsein entstand. Trägergruppen der nationalen Bewegung waren wirtschaftliche (Kaufmannschaft und Unternehmertum) und geistliche Eliten, denn gerade sie waren von der russischen Assimilationspolitik unmittelbar betroffen. Für die Wirtschaftseliten implizierte der russifizierende Homogenisierungsdruck handfeste finanzielle Einbußen und Diskriminierungen. Die Entwicklung und Ausdehnung des Handels und der Industrieunternehmen der Tataren wurden durch hohe Steuerlasten und restriktive Maßnahmen der russischen Regierung gegängelt oder gar verhindert.
Auch das regionale kulturelle Eigenleben der Tataren geriet zunehmend unter kulturellen Russifizierungsdruck. Eine Reihe von islamischen Schulen (medrese) wurde geschlossen und der Neubau von Schulen und Moscheen Restriktionen unterworfen. In Kasan wurde die Orthodoxe Theologische Akademie aktiv, um durch die 1863 gegründete Il'minskij-Schule (benannt nach dem russischen Orientalisten Nikolaj Ivanovič Il'minskij (1822–1891)) die Christianisierung der jungen Tataren voranzutreiben.33 Nicht zuletzt durch die Militärreform von 1874, die den Militärdienst erstmals auch für Muslime zur Pflicht erklärte,34 sahen sich kasantatarische Eliten mit den Herausforderungen der Modernisierung im Russischen Reich konfrontiert, auf die sie zunächst mit einer islamischen Reformbewegung reagierten. Impulse für das "nationale Erwachen" gingen auch von der 1804 in Kasan gegründeten Universität aus, an der orientalische Studien und Tatarischunterricht eingeführt und in deren Druckerei tatarische Publikationen produziert wurden. Das im 19. Jahrhundert aufblühende tatarische Publikationswesen besaß über die regionalen Grenzen hinweg eine außerordentliche Ausstrahlungskraft.35
Auch in Aserbaidschan führten die ab Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung und die damit forcierten sozioökonomischen Transformationsprozesse zur Entstehung eines Unternehmer-Kapitalismus und einer muslimischen Bourgeoisie. Der russische Integrationsdruck und zusätzlich die kommunalen Auseinandersetzungen mit Armeniern und den europäischen Kolonisten führten hier ebenfalls zu einer Rückbesinnung auf die eigene Kultur. Wie die Tataren in Kasan und auf der Krim reagierten auch die Aseris auf die gesellschaftlichen Umwälzungen mit der Neugestaltung ihres sozialen, kulturellen und konfessionellen Lebens. Die Entstehung und Verbreitung des muslimisch-türkischen Druckwesens im 19. Jahrhundert förderte dabei die Migration der Ideen nicht nur in den muslimischen Gemeinden innerhalb des Zarenreiches, sondern auch über seine Grenzen hinweg. Besaß das Osmanische Reich ohnehin traditionell große Anziehungskraft als spirituelles und geistiges Zentrum der Muslime, wurden nach dem russisch-osmanischen Krieg 1877/1878, der eine Massenmigration der Russlandmuslime ins Osmanische Reich auslöste, die kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungen noch enger geknüpft.36
Als Wegbereiter eines "modernen" Nationalbewusstseins gilt die als Djadidismus bezeichnete Erneuerungsbewegung des Islam, die die Reformierung der islamischen Religion mit aufklärerisch-säkularen Forderungen verband.37 Nicht zuletzt unter dem Einfluss des Krimtataren Ismail Gaspirali (Ismail Gasprinskij, 1851–1914)[] stand der Djadidismus für eine Stärkung des muslimischen Zusammengehörigkeitsgefühls durch den reformierten Islam und die Bildung einer je nach Lesart als muslimisch, türkisch oder panturkistisch verstandenen Nation.38 Die "vorgestellte" Nation wurde überwiegend als die Abstammungsgemeinschaft der Turkvölker verstanden, die durch das Band der ethnischen und sprachlichen Herkunft zusammengehalten werde. Wie andere Nationalismen verwies auch der Djadidismus auf eine historisch schon einmal existente Nation, die im Zuge der russischen Kolonialisierung vernichtet worden sei und die es zu neuem Leben zu erwecken gelte. Für diesen Zweck musste erst eine gemeinsame Schrift- und Sprachkultur geschaffen werden, wie es die als Vorbild betrachteten modernen europäischen Kulturen durch Standardisierung ihrer jeweiligen Sprachen bereits vorgemacht hätten.39 In der von Gaspirali herausgegebenen Zeitung Tercüman ("Übersetzer", 1883–1918) wurde dem linguistischen Aspekt der nationalen Identität breiter Raum gewidmet. Demnach war die kulturelle Selbstbestimmung der Turkvölker nur im Rahmen einer sprachlichen Vereinheitlichung möglich, die dann die "Einheit in Sprache, Denken und Handeln" ("dilde, fikirde ve işte birlik") der Turkvölker nach sich ziehen würde.40 Gaspirali schwebte eine alltürkische Sprache vor, die von der "Krim bis nach Herat, von Konstantinopel bis Kaschgar" von allen "Türken", von Gebildeten wie vom einfachen Volk gesprochen werden würde.41 Die neu zu schaffende Turksprache sollte sowohl von den ornamentalen Bestandteilen des Osmanisch-Türkischen als auch von russischen Sprachelementen gereinigt werden und damit zur besseren Verständigung der Muslime Russlands und des Osmanenreiches beitragen.42 Die Zeitung Tercüman wurde bis in das russische Revolutionsjahr 1905 hinein das wichtigste Organ der tatarischen Nationalisten sowie der djadidistischen Sprachreform und fand auch unter den Eliten im Osmanischen Reich großen Anklang.
Der von den Djadidisten verbreitete Gedanke der nationalen Selbstbestimmung als Fortschrittsdiskurs übte über regionale und nationale Grenzen hinweg Einfluss auf die muslimische Intelligenz des Russischen Reiches aus. Für sie und mit einer zeitlichen Verzögerung auch für die osmanischen Eliten um die Jahrhundertwende galt das europäische Konzept der Nation als ein Indikator für Modernität und Fortschritt. Dabei wurde der Djadidismus je nach Region, historischer Periode und Reformmilieu als Islamismus, Türkismus oder Panturkismus interpretiert. Doch anders als der Panturkismus, der die säkular-nationalistischen Grundannahmen mit dem Djadidismus teilte, sah Letzterer keine politische Forderung im Sinne einer Loslösung vom Russischen Reich vor.43
Nicht zuletzt durch die vom Djadidismus ausgehenden Impulse wurden die Wolga- und Krimtataren zum Vorreiter der nationalen Strömung.44 In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts formierten sich hier politische Zirkel mit panturkistischer, tatarisch-nationaler, panislamischer, sozialistischer und liberaler Richtung. Ähnliche Entwicklungen zeichneten sich auch bei den Aseris ab, die sprachlich mit den Türken des Osmanenreiches noch enger verwandt waren. Auch hier fanden panislamische und panturkistische Strömungen Anhänger, die in Konkurrenz zu den Liberalen und Sozialisten standen. Panislamische und panturkistische Ideen wiederum schlossen sich nicht aus, sondern verstärkten sich zuweilen gegenseitig. Als Türke war man im Allgemeinen gleichzeitig Muslim. Unter panturkistischen Einflüssen wurde der Blickwinkel jedoch immer mehr eingeengt, bis die islamische Geschichte, die Geographie, die Sprache und schließlich selbst der Islam mehr und mehr "türkisch" konnotiert wurden.45 Anregungen für die türkistische bzw. panturkistische Strömung, die in dieser Zeit in der Regel als Synonyme verstanden wurden, fanden ihre Protagonisten in den oben skizzierten frühen Arbeiten der europäischen und russischen Orientalistik und Turkologie. Diese trugen erheblich dazu bei, der sich formierenden Bewegung einen wissenschaftlichen Nimbus zu geben und die nationale Ideologie historisch zu begründen. Das von der Turkologie gezeichnete Bild der rassisch-ethnischen Herkunft der Türken, die Stilisierung ihrer Sprache und ihres Brauchtums sowie der Mythos der gemeinsamen turanischen Abstammung aller Turkvölker lieferten den panturkistischen Aktivisten wichtige Argumente.
Einer der ersten, die das politische Programm des Panturkismus formulierten, war der Aserbaidschaner Ali Bäy Hüseynzadä (Turan) (1864–1940). Hüseynzadä hatte in St. Petersburg Medizin studiert, wobei er sich wie die meisten seiner Kommilitonen für Panslawismus und Sozialismus begeisterte. In den 1890er Jahren führte er seine Studien in Konstantinopel fort und schloss sich der jungtürkischen Geheimorganisation "İttihad-ı Osmani Cemiyeti" ("Vereinigung der osmanischen Einheit") an. Er nahm am osmanisch-griechischen Krieg (1897) teil und kehrte danach nach Baku zurück, um dort einer der Anführer der nationalistischen Bewegung zu werden und für die Vereinigung der transkaukasischen Turkvölker mit dem Osmanischen Reich zu werben.46 Hüseynzadä war der transnationale Propagandist der panturkistischen Bewegung, und seinem Denken lag ein säkular-positivistisches Weltbild zugrunde. Diesem zufolge wurde die Geschichte als ein Entwicklungsprozess und der Nationalstaat als die höchste Stufe der Entwicklung verstanden. Die nationale Idee galt als Motor des Fortschritts, denn nur nationalbewusste Gesellschaften hätten die europäische Zivilisation hervorbringen können. Mit der Losung: "Türkisierung, Islamisierung, Europäisierung ("Türkleştirmek, İslamlaştırmak, Avrupalılaştırmak") gab Hüseynzadä die ideelle Richtung vor, die über die Grenzen des Russischen Reiches hinaus zur Grundlage der alltürkischen Strömung wurde und nicht zuletzt Ziya Gökalp, den späteren Ideologen des türkischen Nationalismus, zu seinen Thesen inspirierte.47
Unter diesen Voraussetzungen vermochte Yusuf Akçura (1876–ca. 1935), Intellektueller und Politiker kasantatarischer Herkunft, zu einer Symbolfigur des Panturkismus zu werden, die sowohl in Russland als auch in der Türkei und in Westeuropa zu Hause war.48 Akçura verfasste 1904 den in Kairo veröffentlichten Aufsatz Üç tarz-ı siyaset ("Drei Wege der Politik"), der in der osmanischen Öffentlichkeit zunächst mit Stillschweigen übergangen, aber nach der Jungtürkenrevolution von 1908 zum Manifest der panturkistischen Bewegung wurde.49 Darin rechnete Akçura mit der offiziellen Staatsideologie des Osmanischen Reiches (Osmanismus, Panislamismus) ab und sah allein in der Vereinigung aller Turkvölker den Fortbestand des Osmanischen Reiches gewährleistet. Vor der russischen Revolution von 190550 kehrte er nach Kasan zurück, wo er einer der Führer der Nationalbewegung der Kasantataren wurde und die allislamische Union "İttifak" mit organisierte. Akçura wurde in das erstmals in Russland einberufene Parlament (Duma) gewählt. In Kasan gab er die Zeitung Kazan Muhbiri ("Kasaner Korrespondent", 1905–1911) heraus.51 Nach dem Ende des russischen "Völkerfrühlings" und der Wiedererstarkung der Autokratie emigrierte Akçura 1907 nach Konstantinopel, wo er unter anderem die Zeitschrift Türk Yurdu ("Heimat der Türken"),52 das wichtigste Organ der panturkistischen Propaganda, herausgab und außerdem die "Gesellschaft Tatarischer Emigranten", die "Gesellschaft der Studenten aus Rußland", die "Gesellschaft der Krimstudenten" und den "bucharischen Wohltätigkeitsverein" gründete. Zusammen mit anderen Emigranten aus Russland war er zudem an der Gründung des Vereins "Türk Derneği" ("Türkischer Verein") beteiligt, der neben der Reformierung der türkischen Sprache die Erweckung des Solidaritätssinns unter den Turkvölkern anstrebte.53
Die politische Liberalisierung nach der russischen Revolution von 1905 fand mit dem Staatsstreich von 1907 ein jähes Ende. Sowohl panturkistische als auch nationale Bewegungen mit oder ohne politische Forderungen nach Vereinigung mit dem Osmanischen Reich waren nunmehr Verfolgungen und Repressionen ausgesetzt. Wie Yusuf Akçura emigrierten in dieser Zeit auch Politiker und Intellektuelle wie Ahmet Ağaoğlu (1869–1939),54 Sadri Maksudi Arsal (1880–1957), Resulzade Mehmet Emin (1884–1954) und Ahmed Zeki Velidi Togan (1890–1970), um nur einige der prominenten Namen zu nennen, ins Osmanische Reich, wo sie dem als Fortschrittsgarant verstandenen Nationalismus unter panturkistischem Vorzeichen zu mehr Popularität verhalfen.55 Der Schwerpunkt des Panturkismus verlagerte sich dadurch vom Zarenreich in das Osmanische Reich.
Panturkistische Bewegung im Osmanischen Reich
Die russlandtürkische Intelligenz war von Anfang an in der Oppositionsbewegung der Jungtürken ("Komitee für Einheit und Fortschritt", KEF) vertreten, die sich gegen das absolutistische Regime Sultan Abdülhamid II. formiert hatte. Nach der jungtürkischen Revolution 1908 gewann der alltürkische Gedanke immer mehr an Boden, allerdings zunächst überwiegend in kultureller Hinsicht, da das panturkistische Gedankengut selbst beim KEF auf Vorbehalte stieß. Akçuras Traktat Üç tarz-ı siyaset fand zunächst in der osmanischen Politik und Öffentlichkeit keinerlei Beachtung, und das panturkistische Ideengut wurde im Allgemeinen von Anhängern des Ancien Regime und einem großen Teil der Öffentlichkeit vor allem aus (pan-)islamischer Perspektive abgelehnt.56
Einen enthusiastischen Verkünder fand der Panturkismus in Ziya Gökalp, der mit der in Saloniki gegründeten Zeitschrift Yeni Kalemler ("Junge Federn") eine Gruppe von Jüngern um sich scharte, um das "neue Ideal" der alltürkischen Idee bekannt zu machen. Die Zeitschrift propagierte im Sinne Gaspiralis eine Reinigung der türkischen Sprache von arabischen und persischen Elementen und verkündete eine neue Literatur und Kultur, "die sich [sic] einzig und allein auf der alttürkischen Überlieferung aufbauen sollten."57 Inspiriert von der westlichen Orientalistik und Turkologie und sekundiert durch die Emigranten aus Russland entwarf Gökalp einen nationalen Mythos, an dessen Anfang die "vorgestellte" gemeinsame Herkunft der Turkvölker aus "Turan" stand. So schrieb Gökalp in seinem Gedicht "Turan": "Vatan ne Türkiye'dir Türklere ne Türkistan – Vatan büyük ve müebbet bir ülkedir: Turan."58
Das "türkische Ideal" nach Gökalp sah eine Synthese aus völkischem Nationalismus, einem modernisierten Islam und europäischem Fortschritt vor. Wie seine Gesinnungsgenossen in Russland träumte Gökalp von einem sich von Konstantinopel bis nach China erstreckenden Großreich der Türken, das den alten Glanz der Herrscher Attila (gest. 453), Dschingis Khan und Timur (1336–1405) erneuern sollte. Der "rote Apfel" galt als Symbol der Weltmachtträume der (Pan)-Turkisten.59
Die Niederlagen des Osmanenreiches im Tripoliskrieg (1911) und im Balkankrieg (1912) gaben dem politischen Panturkismus Auftrieb. Nach den Balkankriegen 1912/1913 hatte das Vielvölkerreich seine europäischen Besitzungen bis auf Ostthrakien eingebüßt. Die Niederlagen der osmanischen Streitkräfte wurden unter anderem mit dem fehlenden patriotischen Bewusstsein der Soldaten erklärt.60 Die Erhebung der muslimischen Albaner (1912) und mehrere Aufstände im Jemen und Hauran (Syrien) erschütterten zudem den Glauben an die vermeintlich über alle Nationalismen erhabene umma (Gemeinschaft der Muslime). Zuvor hatte die Niederlage Russlands im Japanisch‑Russischen Krieg (1905) gezeigt, dass der Erbfeind nicht unbezwingbar war. Das seit dem coup d´état von 1913 alleinregierende jungtürkische Komitee für Einheit und Fortschritt sah sich aus realpolitischen Gründen zwar weiterhin der Verteidigung der Einheit des nach wie vor multiethnischen und multikonfessionellen Reiches verpflichtet, gleichzeitig aber ergriff es radikale Maßnahmen zur Türkisierung des Landes, die sich vor allem im Bereich der Wirtschafts-, Bildungs- und Siedlungspolitik bemerkbar machten und verheerende Wirkungen auf die ohnehin schon konfliktreichen Beziehungen zu den nichtmuslimischen Gemeinschaften hatten. In dieser Zeit blühte die panturkistische Publizistik auf. 1911 wurde unter der Leitung von Yusuf Akçura die Zeitschrift Türk Yurdu ("Heimat der Türken") und 1912 die Organisation "Türk Ocağı" ("Türkischer Herd")61 gegründet, um das "Solidaritätsgefühl zwischen den Türken aller Welt [zu] erwecken" und zur Hebung des "intellektuellen, sozialen und ökonomischen Niveaus, an der Vollendung der türkischen Sprache und Rasse" beizutragen.62
Nachdem das Osmanische Reich auf Seiten der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg eingetreten war, schien die Stunde der Abrechnung mit Russland geschlagen zu haben. Die Verwirklichung der panturkistischen Visionen, die "Befreiung der Brüder im Auslande" schienen nun greifbar nahe. Die osmanische Kriegspropaganda rief offen zur Zerschlagung Russlands auf, und Gökalp verkündete siegessicher in seiner "Roten Ballade" ("Kızıl Elma Destanı"): "Das Land des Feindes wird in Ruinen liegen. Die Türkei wird wachsen, wird Turan werden." ("Düşmanın ülkesi viran olacak – Türkiye büyüyüp Turan olacak.")63
Tekin Alp (Moïs Cohen, 1883–1961), mazedonischer Jungtürke und einer der führenden Panturkisten, schrieb in seiner Propagandaschrift Türkler bu Muharebede Ne Kazanabilirler ("Was können die Türken in diesem Krieg gewinnen?", 1914),64 die 1915 unter dem Titel Türkismus und Pantürkismus in Weimar auch auf Deutsch erschien, ohne Umschweife, dass die Vereinigung aller Turkvölker unter osmanischer Führung durch die Zerstörung des "moskovitischen Feindes" zu verwirklichen sei:
Wenn der russische Despotismus durch die ihm gegenüberstehenden tapferen deutschen, österreichischen und türkischen Heere – wie zu erhoffen ist – gestürzt wird, dann werden dreißig bis vierzig Millionen Türken die Unabhängigkeit erhalten. Zusammen mit den zehn Millionen osmanischer Türken ergibt das ein großes Volk von fünfzig Millionen, die einer neuen großen Zivilisation entgegengehen. Diese ist vielleicht der deutschen vergleichbar, da sie Kraft und Bestreben haben wird, sich immer mehr zu erheben.65
Die Enttäuschung war umso größer, als an der Kaukasusfront die osmanische Armee Anfang 1915 von den russischen Truppen bei Sarıkamış vernichtend geschlagen wurde. Statt der erhofften Befreiung der "Stammesgenossen" vom "russischen Joch" geriet nun osmanisches Staatsgebiet unter russische Besatzung. Tatsächlich hatte die osmanische Kriegsführung mit Revolten der kaukasischen Muslime gerechnet. Der Aufstand der Adscharen (muslimische Georgier) im Dezember 1914, der von russischen Truppen unterdrückt wurde, stand mit der osmanischen Politik des Anheizens nationaler Separatismen im Zusammenhang, aber ein gesamtkaukasischer Aufstand blieb aus.66 Wie eine Reihe nichtmuslimischer Nationalitätenvertreter im Russischen Reich versuchten auch Vertreter der muslimischen Nationalisten bzw. Panturkisten, Unterstützung von den Mittelmächten bzw. vom Deutschen Reich zu erhalten. Unter dem Vorsitz von Yusuf Akçura fand z.B. eine Konferenz der Wolgatataren statt, die sich unter anderem mit der Aufstellung tatarischer Truppenkontingente befasste, die sich aus tatarischen Kriegsgefangenen in Deutschland rekrutieren sollten.67
Als einer der beharrlichsten Kämpfer für die panturkistische Politik gilt Enver Paşa (ca. 1881–1922)[], osmanischer Kriegsminister während des Ersten Weltkriegs, der die Niederlage von Sarıkamış und die Invasion osmanischer Truppen in Transkaukasien 1918, die zur kurzzeitigen Einnahme Bakus führte, zu verantworten hatte. Selbst nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches am Ende des Weltkrieges blieb Enver Paşa seinen panturkistischen Visionen treu. Er starb im Kampf gegen die Bolschewiki 1922 während des Basmatschi-Aufstandes im heutigen Usbekistan.68
Der Zusammenbruch des Zarismus schien allerdings völlig neue Chancen zu eröffnen. Die Februarrevolution in Russland 1917 verlieh den bereits 1905 mobilisierten nationalen Bewegungen enormen Aufschwung, der sich nach der Oktoberrevolution fortsetzte. Eine Reihe antisowjetischer Aufstände und kurzlebige Regierungen bei den Turkvölkern in Zentralasien bilden nur eine Facette der nationalen Entwicklungen im kollabierten Russischen Reich.69 Die Mehrheit der politischen Organisationen der muslimisch-turksprachigen Bevölkerung schlug jedoch einen gemäßigten politischen Kurs ein. Vor dem Hintergrund der Liberalisierung der Nationalitätenpolitik in der Folge der Februarrevolution stand weniger die Loslösung von Russland zur Debatte als die Frage, ob "eine kulturelle oder territoriale Autonomie vorzuziehen sei".70 Das revolutionäre Russland schien größere Spielräume für die Muslime zu bieten als das zu diesem Zeitpunkt noch existierende autoritäre Osmanenreich. Am bemerkenswertesten war die Situation bei der aserbaidschanischen Musawat-Partei, die im Ersten Weltkrieg zur wichtigsten panturkistischen Partei in Aserbaidschan wurde, um nach 1917 einen national-aserbaidschanischen Kurs einzuschlagen.71
Der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs bereitete allen imperialen panturkistischen Träumereien mit einem Schlag ein Ende. Man darf ohne Übertreibung sagen, dass mit ihm das Ende des politisch auftretenden Panturkismus einherging. Wie stark er die reale Politik der Jungtürken besonders nach 1913 beeinflusst hatte, kann man diskutieren, aber dass er zur herrschenden Ideologie wurde, lässt sich trotz aller panturkistisch verbrämten Expansionsrhetorik nicht behaupten. So nimmt es nicht wunder, dass sich im türkischen Bürgerkrieg (1918–1922) der auf Anatolien bezogene Gedanke eines türkischen Nationalstaats durchsetzte. Er ließ kulturellen Einheitsbestrebungen, die sich zwangsläufig gegen Sowjetrussland hätten richten müssen, keinen Raum, geschweige denn einem imperialen Panturkismus. Das gebot schon die Tatsache, dass die türkische Nationalbewegung um Mustafa Kemal (Atatürk) (1881–1938)[] ihren einzigen Verbündeten, die Bolschewiki, nicht zu verprellen gedachte.72 In der 1923 gegründeten Republik Türkei wurde panturkistischen Ambitionen somit eine Absage erteilt. Im Zweiten Weltkrieg schließlich lebte die panturkistische Bewegung noch einmal kurz, aber schwach auf, weil es schien, dass durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 erneut eine Verbindung zu den Muslimen der UdSSR hergestellt werden könne. Aber nach der deutschen Niederlage bei Stalingrad 1943 wurden diese Überlegungen unterdrückt und geächtet.73 Bis heute nicht ausgestorben ist dagegen der türkisch-nationale Abstammungsmythos, der "Turan" zur Urheimat der Türken erklärt und Zivilisationen schaffende Völker wie die Sumerer und Hethiter zu Alttürken macht.74