Einleitung: Definition und Forschungsstand
Der Begriff "Personalunion" geht auf den Göttinger Juristen Johann Stephan Pütter (1725–1807) zurück.1 Zwar hatten schon Rechtsgelehrte des 17. Jahrhunderts die Herrschaft einer einzelnen Person über verschiedene Territorien diskutiert, doch war Pütter der erste, der dies in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1760 als "unionis solum personalis" bezeichnete und damit den Begriff als solchen einführte.2 Pütter verwies darauf, dass es sich nicht um eine zeitgenössische Entwicklung des 18. Jahrhunderts, sondern um ein historisches Phänomen handele. Für die gesamte Frühe Neuzeit ließen sich Verbindungen anführen, in denen ein einzelner Herrscher über mehrere Staaten verfügten. So schrieb Pütter: "Erfahrungen und Geschichte stimmen damit überein, dass es nichts weniger als ungewöhnlich ist, dass mehrere einzelne Staaten in einen größeren vereinigt werden."3 In seinen Überlegungen zum "Teutschen Staats- und Fürsten-Rechte" unterschied Pütter zwischen zwei Typen, die er als persönliche Verbindung bzw. Personalunion oder als Realverbindung bzw. Realunion bezeichnete.4 Die moderne Rechtsgeschichte hat diese Unterscheidung übernommen und Kriterien festgelegt, wann eine Verbindung als Personalunion definiert werden kann, nämlich nur dann, wenn außer der Identität des Herrschers keine weiteren politischen Verpflichtungen zwischen beiden Staaten bestehen. Die Person des Souveräns stellt somit die einzige Verbindung zwischen beiden Staaten dar.5
In Bezug auf die ständischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit, in denen Staatlichkeit unabhängig von der Person des Monarchen nur mit Einschränkungen vorstellbar war, der Souverän über zahlreiche Prärogativen und Entscheidungsgewalten verfügte und der Hof als ein wichtiges politisches Zentrum verstanden werden musste, ist eine solche Unterscheidung nicht eindeutig aufrecht zu halten.6 Pütter führte an, dass in einer Personalunion "zwey oder mehrere Staaten zwar einerley Regenten haben, aber doch in ihren Grundgesetzen unterschieden bleiben."7 Er sah allerdings die Notwendigkeit, noch eine weitere Unterscheidung hervorzuheben, die explizit auf die Person des Monarchen eingeht. In einer Personalunion, schrieb er, nehme der Regent zwei Funktionen wahr, die voneinander getrennt werden müssten. Dies bedeute beispielsweise, dass "der König von Großbritannien eine andere Person als König, eine andere als Churfürst von Braunschweig-Lüneburg" darstelle. Der Herrscher sei zwar in einer Person vereinigt, "aber doch in jeder Eigenschaft ganz anders zu betrachten."8
Dass eine solche Unterscheidung zwar theoretisch möglich, in ihrer praktischen Umsetzung allerdings nur begrenzt durchzuhalten ist, lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Der Vorschlag, dass der britische Monarch Georg III. (1738–1820)[] als Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg einer Koalition von Mächten beitreten solle, die gegen Großbritannien und damit gegen ihn selbst als Souverän Krieg führte, wie dies 1801 von hannoverscher Seite vorgeschlagen wurde, erschien den Zeitgenossen und vor allem Politikern des frühen 19. Jahrhunderts als befremdlich.9 Zwar existierte die Vorstellung von den zwei Körpern des Königs und damit eine abstraktere Vorstellung von Herrschergewalt besonders in Großbritannien, doch blieb die Person des Monarchen trotz zeitgenössischer Begrifflichkeiten von Nation und Gemeinwohl, Minister und Landesvertretungen eng mit der Vorstellung von Staat verbunden. Die Bedeutung des politischen Körpers für die Vorstellung von Herrschaft war in Teilen durchaus wörtlich zu nehmen.10
Die moderne historische Forschung hat die Trennung einer Personalunion in zwei voneinander unabhängige Teile hinterfragt. Durch die Einführung des neuen Begriffs "composite statehood" für eine rein dynastische Verbindung zweier Staaten wurde zunächst versucht, bewusst neue Schwerpunkte jenseits der Person des Monarchen zu setzen. Das Ziel war, eine allzu schematische Unterscheidung zweier voneinander getrennter Bereiche im Gegensatz zu einer homogenen Realunion zu vermeiden, zumal auch in Staaten, die eine vertragliche Verbindung eingegangen waren oder fremde Gebiete annektiert hatten, Formen von Sonderrechten aeque principaliter überlebten und Autonomien beispielsweise in der regionalen Rechtsausübung oder regionalen Politik weiterbestanden.11
Im Zuge der an globalen Entwicklungen orientierten Empire-Forschung erweiterte sich die Diskussion über informelle Abhängigkeiten bzw. staatliche Verbindungen und damit auch das Spektrum, in das sich dynastische Verbindungen zweier Staaten einordnen ließen. Ein Vorschlag lautete, das Konzept des "Empires" mit seinen Polen von Zentrum und Peripherie als analytische Folie in die Personalunions-Forschung zu integrieren.12
Hinter diesen erweiterten Fragestellungen verbirgt sich die Ansicht, dass schematische Unterscheidungen in Realunion und Personalunion der historischen Realität nicht gerecht werden. Gleichzeitig interessieren sich solche methodischen Zugänge weniger für die Konflikte, die aus einer Personalunion entstanden, als für die Synergien. Rechtshistorisch besteht zwar das Bedürfnis einer Definition und damit der Distinktion zwischen Personalunion und Realunion, dennoch erscheint es legitim zu fragen, an welchem Punkt sich die historische Wirklichkeit über die juristische Definition von zwei strikt getrennten Bereichen hinwegsetzte.
Damit begab sich die Geschichtswissenschaft in den Bereich der Transferforschung und öffnete sich Themen jenseits der Rechts- und der Politikgeschichte. Kulturtransfer in einem weiten Sinne, der neben Formen der Kunst und Kultur auch die Bereiche Öffentlichkeit, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft betraf, trat zunehmend in den Vordergrund des Interesses. Besonders interessant waren die Fälle, in denen sich durch eine Konzentration auf diese "weichen" Kategorien auch für die Bereiche des Rechts und der Politik neue Befunde ergaben.13 Eine solche methodische Zugangsweise ordnete sich sowohl in eine moderne Ideengeschichte als auch in eine Kulturgeschichte des Politischen ein.
Methode: Großbritannien und Hannover als paradigmatischer Forschungsgegenstand
Eine europäisch vergleichende Studie über Personalunionen bleibt ein Desiderat der Forschung.14 Auch der vorliegende Beitrag kann eine solche nicht liefern, sondern konzentriert sich auf die Frage des Transfers zwischen den beiden Teilen einer Personalunion. Als Forschungsgegenstand wurde die dynastische Verbindung zwischen dem Vereinigten Königreich (Großbritannien und Irland) auf der einen Seite und dem Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg, das 1814 zum Königreich Hannover erhoben wurde, auf der anderen Seite ausgewählt.15
Verschiedene Gründe lassen eine Diskussion dieser Verbindung als lohnenswert erscheinen. Zunächst ist die Unterschiedlichkeit beider Teile hervorzuheben. Als der hannoversche Kurfürst Georg I. (1660–1727)[] im Herbst 1714 nach London reiste, um den britischen Thron zu besteigen, waren Großbritannien und Braunschweig-Lüneburg im Hinblick auf politische Einflussnahme, wirtschaftliche Entwicklung und sozio-politische Rahmendaten sehr verschieden. Das Kurfürstentum, das unter dem Namen Hannover bekannt war, war um vieles kleiner, ein Staat im Alten Reich und keine politische Größe innerhalb der europäischen Mächte. Die Unterschiedlichkeit lässt sich anhand der Einwohnerzahlen der beiden Hauptstädte eindrucksvoll belegen: Hatte London um 1700 bereits über 500.000 Einwohner, so stieg die Einwohnerzahl in Hannover (Stadt) von etwa 10.000 im Jahre 1680 auf etwa 14.000 Einwohner 1735. Kurz vor dem Ende der Personalunion hatte sich der Unterschied weiter vergrößert. Nun lebten in der britischen Hauptstadt 1,6 Millionen Menschen, während Hannover nur etwas über 23.000 Einwohner zählte. Auch in den Bereichen Industrialisierung, Presse und globale Expansion lassen sich zahlreiche Unterschiede anführen, die verdeutlichen, dass diese Personalunion zwei sehr unterschiedliche Partner verband.16
Dennoch muss Hannover um 1700 als ein dynamischer Staat im Verband des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verstanden werden. Nachdem das Fürstentum Braunschweig-Lüneburg 1692 die Kurfürstenwürde erhalten hatte, zählte man zum exklusiven Kreis der "Kaisermacher";17 Hannover befand sich also um 1700 auf politischer Augenhöhe mit Brandenburg-Preußen. Während sich die Hohenzollern 1701 zu Königen in Preußen krönten, legte das britische Parlament im Act of Settlement die Thronfolge der Kurfürstin Sophie (1630–1714)[] und ihrer Nachkommen in Großbritannien fest. Die Dynamiken, die sich aus dieser Verbindung ergeben würden, waren zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch nicht absehbar.18
Seit 1714 herrschten die Welfen auf dem britischen Thron. Trotz der unterschiedlichen Entwicklung der zwei Staaten überdauerte die Personalunion 123 Jahre, bevor sie 1837 aufgrund abweichender Erbfolgeregelungen aufgelöst wurde. Die Epoche von 1714 bis 1837 wird in Großbritannien mit dem Begriff "Hanoverian Britain" umschrieben. Georg I. folgten sein Sohn Georg II. (1683–1760)[] und dessen Enkel Georg III. als Herrscher beider Staaten. Die beiden letzten Hannoveraner waren Brüder, Georg IV. (1762–1830)[], der älteste Sohn Georgs III., und Wilhelm IV. (1765–1837)[], der ebenfalls aus der kinderreichen Familie von Georg III. und Königin Charlotte von Mecklenburg-Strelitz (1744–1818) entstammte.19 Zwar wurde Königin Viktoria (1819–1901)[] als "the last Hanoverian monarch" bezeichnet, doch regierte seit 1837 Ernst August (1771–1851)[], der Herzog von Cumberland, in Hannover, das auf dem Wiener Kongress 1814 zum Königreich erhoben worden war.20
Schließlich war auch die intensive zeitgenössische Debatte ein Grund, sich der Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover als Gegenstand anzunehmen. In beiden Ländern wurde die Beziehung zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit unterschiedlicher Intensität diskutiert. Der Wegfall der Vorzensur in England 1695 und die Bedeutung von Parlamentsdebatten für den öffentlichen Diskurs lassen die britische Diskussion besonders interessant erscheinen.21 In Hannover war die öffentliche Debatte nicht so intensiv, aber in Einzelfällen, etwa nach dem Wegfall der Zensur im Kurfürstentum 1803, oder in Einzelveröffentlichungen wie z.B. Reiseberichten oder politischen Traktaten kam es zu Reflexionen über die beiden Staaten des Souveräns.22
Der Zugang, eine einzelne Personalunion zu diskutieren, hat freilich aufgrund der Heterogenität solcher Verbindungen auch Schwächen. Ungarn und Böhmen im 15. Jahrhundert, Polen und Frankreich im 16. Jahrhundert, die Niederlande und England im 17. Jahrhundert, das Königreich beider Sizilien und Spanien oder Preußen und Neuchâtel im 18. und 19. Jahrhundert stellen unterschiedliche Staaten und unterschiedliche Verbindungen dar. Personalunionen gingen auch nicht immer auf den gleichen Ursprung zurück. Statt dynastischer oder konfessioneller Gründe konnte auch eine Königswahl, wie im sächsisch-polnischen Fall, zwei Staaten durch einen gemeinsamen Herrscher verbinden. Weitere Unterschiede ließen sich anführen. Dennoch erscheint der hier gewählte Zugang vor dem bisherigen Forschungsstand als sinnvoller Kompromiss.
Der Beitrag gliedert sich in zwei Teile. Zunächst soll nach den Institutionen und Netzwerken gefragt werden, die durch die Personalunion als Institution, aber auch durch die Schwierigkeiten, die sich bei zwei Höfen mit nur einem Herrscher ergaben, entstanden sind. Dabei sollen sowohl staatliche Strukturen als auch informelle Beziehungen diskutiert werden. Zentrale Frage ist hierbei, ob sich Strukturen aus der dynastischen Verbindung ergaben, die der Beziehung Kontinuität verliehen. Im zweiten Teil stehen individuelle Formen des Austauschs im Mittelpunkt. Während die Anglophilie vieler Deutscher aus dem Alten Reich von der Forschung lebhaft diskutiert worden ist, haben nur wenige Forscher auf den Austausch zwischen den beiden Staaten aufgrund der bestehenden Personalunion hingewiesen. In diesem Kontext soll das Konzept des Transfers insofern problematisiert werden, als nicht nur die Möglichkeiten aufgezeigt werden sollen, die eine Personalunion bot, sondern auch darzulegen ist, dass sich Teile einer Gesellschaft bewusst von dem assoziierten Gegenüber distanzierten. Der implizit eingeforderte Transfer zwischen zwei Staaten rief Widerstand hervor und führte zu einer stärkeren Homogenität nach innen statt einer Öffnung nach außen.
Institutionen und Netzwerke
Die Verbindung zwischen Großbritannien und Hannover war durch die protestantische Erbfolge zweifach legitimiert. Zum einen speiste sich die Legitimität aus der dynastischen Verbindung zwischen dem britischen Königshaus und der Familie der Kurfürstin Sophie von Braunschweig-Lüneburg. Sophie war die Tochter der englischen Prinzessin Elisabeth Stuart (1596–1662), deren Vater, Jakob VI. von Schottland (1566–1625), von 1603 bis 1625 als Jakob I. in England geherrscht hatte.23 Neben dieser dynastischen Legitimation existierte eine konfessionelle. In der Auseinandersetzung zwischen Krone und Parlament hatte sich im Kontext der Glorious Revolution 1688/1689 die protestantische Erbfolge in Großbritannien durchgesetzt. Der Act of Settlement von 1701 bekräftigte noch einmal unter Nennung von Sophies Namen, was bereits 1689 festgelegt worden war: In Großbritannien würde nur noch ein protestantischer Herrscher den Thron besteigen. Unter Königin Anne (1665–1714) kam es zwischen den beiden Parteien der Whigs und Tories zu heftigen Auseinandersetzungen um die Thronfolge. Doch trotz der Stärke des Jakobitismus als politischer Ideologie und zweier Rebellionen gegen die Staatsmacht schien nach 1714 ein katholischer König als Souverän und damit als Oberhaupt der anglikanischen Kirche keine erfolgversprechende Option.24
In der Forschung zur Personalunion ist die konfessionelle Legitimation stets hervorgehoben worden, unter anderem um das zufällige Zustandekommen der Verbindung zwischen Großbritannien und Braunschweig Lüneburg zu betonen.25 Mehr als 50 Kandidaten mit unmittelbareren Ansprüchen auf den Thron kamen aufgrund ihrer katholischen Konfession nicht in Betracht.26 Auch die Zeitgenossen haben diesen Aspekt betont, wenn sie die Thronbesteigung Georgs I. als protestantische Sukzession bezeichneten. Das welfische Königshaus versuchte hingegen, die dynastische Legitimation in den Vordergrund zu stellen. Dabei kamen nicht nur die frühen Stuart-Könige, sondern auch der mittelalterliche Welfe Heinrich der Löwe (1129–1195) und dessen englische Verbindung als Referenzpunkt in Frage.27
Die ersten Jahre der Personalunion waren von fehlender Stabilität geprägt. Die politischen Reaktionen Großbritanniens erklären sich dadurch, dass das Land bereits wenige Jahre zuvor eine Thronübernahme durch einen ausländischen Prinzen erlebt hatte. Direkte Referenzen zu der Herrschaft von Wilhelm III. von Oranien (1650–1702) lassen sich herstellen, insbesondere anhand der gesetzlichen Regelungen, die im Umfeld der protestantischen Sukzession verabschiedet wurden. Wilhelm III. hatte eine Gruppe von Günstlingen mit Ämtern und Besitz versorgt. Unter den hannoverschen Königen sollte deshalb per Parlamentsgesetz verhindert werden, dass auch Georg I. Personen aus seinem deutschen Umfeld bevorzugt behandelte. Per Gesetz wurde festgeschrieben, dass kein Ausländer ein politisches Amt in Großbritannien übernehmen dürfe.28 Zusammen mit dem Monarchen aus dem Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg hatten sich einige Hannoveraner in London etabliert, die beabsichtigten, in der Nähe des Herrschers Politik zu betreiben, und sich zunächst mit einem Teil der britischen Minister und Politiker solidarisierten. Dabei orientierten sich Interessensdivergenzen nicht notwendigerweise an der nationalen Herkunft der Protagonisten, so dass die entstehenden politischen Lager nicht als "britisch" oder "hannoversch" bezeichnet werden können. Doch das Verbot der Übernahme von Ämtern führte dazu, dass sich die Hannoveraner seit den 1720er Jahren aus der Politik in Großbritannien zurückzogen.29 Dies ist durchaus auch wörtlich zu verstehen: Der hannoversche Geheime Rat Johann Casper von Bothmer (1656–1732) verließ sein Haus in der Downing Street, in dem wenig später der Minister Robert Walpole (1676–1745) eine lange Tradition etablieren sollte.30
Weitere Regelungen ließen sich anführen, die die abwehrende Reaktion der Briten auf die Thronbesteigung Georgs I. demonstrierten. So wollte man dem Monarchen untersagen, sich ohne Parlamentsbeschluss aus dem Land zu entfernen, eine Regelung, die zwar zunächst beide Häuser des Parlaments passierte, anschließend jedoch wieder aufgehoben wurde.31 Die Entscheidung, keinen Gesandten nach Hannover zu schicken, fällt in eine andere Kategorie: Nach diplomatischem Verständnis war ein Diplomat bei der Person des Herrschers akkreditiert, daher erschien ein Gesandter in Hannover aus britischer Sicht unnötig. Dennoch ist festzuhalten, dass die verantwortlichen britischen Minister deutlich weniger über Hannover als über die anderen Stände und Teilstaaten des Alten Reiches und Deutschen Bundes wussten. Dies änderte sich erst nach 1837, als mit dem Ende der Personalunion ein britischer Gesandter in Hannover seinen Dienst antrat.32 Die Personalunion manifestierte sich auf britischer Seite in keiner Institution, die die Verbindung zwischen Großbritannien und Hannover über die Person des Monarchen hinaus verfestigte. Kein politischer Vertreter befasste sich verantwortlich mit der Personalunion, kein Hannoveraner wurde in die politischen Gremien aufgenommen, und auch die sonst üblichen diplomatischen Kontakte bestanden nicht.
Die einzige hannoversche Repräsentation in London war die sogenannte "Deutsche Kanzlei", zwei kleinere Räume im St. James's Palace.33 Ein Geheimer Rat fungierte als Vertreter des Rätegremiums in London, wobei seine eigentliche Aufgabe darin bestand, die Kommunikation zwischen dem Monarchen und den Geheimen Räten vor allem über deutsche Angelegenheiten zu organisieren. Der hannoversche Vertreter war nicht Mitglied des britischen Kabinetts. Sein Status war vielmehr mit dem eines ausländischen Gesandten zu vergleichen, der direkten Zugang zum Monarchen besaß, ohne den mühsamen Weg über die britischen Minister zu gehen.34 Die moderne Forschung ist sich über die Bedeutung der Deutschen Kanzlei uneins. Die Geheimen Räte in Hannover sahen nur ungern einen starken Mann in London, so dass der Posten in der Regel mit einem Vertrauensmann besetzt wurde, von dem die Räte keinen eigenen Aktionismus erwarten mussten. Nur während der napoleonischen Kriege – und bezeichnenderweise nach Entlassung der Geheimen Räte und Neubesetzung des Gremiums – entwickelte die Kanzlei in London ihr volles politisches Potential.35 Nach dem Ende der Personalunion nahm der Leiter der Kanzlei 1837 nicht die Funktion eines diplomatischen Vertreters in der britischen Hauptstadt an, sondern kehrte nach Hannover zurück.
Der Blick von Hannover über den Kanal zeigt zunächst einmal Unsicherheit über das Fortbestehen der Personalunion. Bei seiner Abreise aus dem Kurfürstentum hatte Georg I. ein vorläufiges Regierungsreglement hinterlassen, das später in einigen Punkten modifiziert wurde. Die Geheimen Räte in Hannover waren berechtigt, eine Reihe von Entscheidungen eigenständig zu treffen, doch in den meisten Fällen sollte weiterhin der Souverän in London konsultiert werden. Unter die Prärogative des Monarchen fielen unter anderem die Reichs- und die Außenpolitik.36 Die mühsame Korrespondenz zwischen Hannover und London führte in diesem Zusammenhang zu zahlreichen Verspätungen, die sich politisch als sehr nachteilig herausstellen sollten.37
In seinem Testament hatte Georg I. festgelegt, dass die Personalunion getrennt und die Souveränität in jedem der beiden Staaten auf jeweils einen seiner Söhne übergehen würde. Doch Georg II. unterdrückte das Testament seines Vaters.38 Es kam im Umfeld des Siebenjährigen Krieges und der Regentschaftskrise 1788/1789 zu Diskussionen in Hannover, ob es wünschenswert sei, die Personalunion aufzulösen, doch die angeführten provisorischen Regelungen blieben bestehen.39 Neben der Deutschen Kanzlei entstanden keine weiteren politischen Institutionen, die für den Kontakt zwischen Großbritannien und Hannover zuständig waren, so dass in vielen Fällen informelle Kanäle der Kommunikation benutzt wurden. Britische Minister erhielten viele ihrer Informationen aus Regensburg, wo ein britischer Gesandter am Reichstag die Tagesgeschäfte beobachtete.40 Der Monarch korrespondierte mit hannoverschen und britischen Vertretern an anderen europäischen Höfen, wobei die Informationen teilweise über die Geheimen Räte in Hannover, teilweise an ihnen vorbei liefen. Auch diplomatische Vertreter kommunizierten miteinander und arbeiteten in der Regel nach den gleichen Prämissen, in einzelnen Fällen auch intensiv zusammen.41 Dort, wo wie im Falle Nordafrikas keine hannoversche Vertretung vorzufinden war, kam es sogar dazu, dass britische Konsuln Dokumente für hannoversche Untertanen ausstellten.42 Derartige Kontakte können zahlreich nachgewiesen werden, folgen aber keinem festen Schema und gingen oft auf die Initiative einzelner Briten oder Hannoveraner zurück.
Es stellt sich die Frage, ob sich – neben dem Netzwerk diplomatischer Vertreter, das als Corps diplomatique kein spezifisches Phänomen einer Personalunion darstellte – informelle Kontakte aus anderen Bereichen nachweisen lassen, die zu festeren Strukturen und Kontinuitäten führten und damit einen transpersonellen Charakter besaßen. Es ist in diesem Zusammenhang überraschend, dass es auf dem Feld der Wirtschaft anscheinend nur wenige oder gar keine Kooperationen gab, obwohl Hannover für Großbritannien zum Absatzmarkt und Umschlagplatz wurde.43 Allerdings zeigten die Monarchen aus dem Hause Hannover in Bereichen der Kartographie und Landwirtschaft Interesse am Wissenstransfer zwischen beiden Staaten. Georg II. und Georg III. ließen detaillierte Karten anfertigen und Teile des Landes vermessen.44 Georg III. unterstützte 1764 die Gründung einer landwirtschaftlichen Akademie in Celle.45 Aus diesen Gründungen ergaben sich jedoch keine institutionellen Beziehungen nach Großbritannien. Die rasante industrielle Entwicklung im Vereinten Königreich nahmen die Hannoveraner in erster Linie als Beobachter wahr. Kooperationsprojekte wie beispielsweise der Bau eines Hafens in Harburg wurden nicht verwirklicht.46
Im militärischen Bereich zeigte sich hingegen der Einfluss der Personalunion. Von britischer Seite wurde zwar ausdrücklich gefordert, dass britische Ressourcen nicht für hannoversche Belange eingesetzt werden dürften. Die Annexion der Herzogtümer Bremen und Verden im Kontext des Großen Nordischen Krieges 1715 stellte einen ersten heftig umstrittenen Präzedenzfall dar.47 Doch war man auf britischer Seite im Kriegsfall der Unterstützung durch hannoverschen Truppen nicht abgeneigt. In fast allen militärischen Konflikten seit dem Beginn der Personalunion kämpften neben britischen auch hannoversche Truppen, da der britische Monarch als Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg Truppen in Hannover rekrutieren konnte.48 Aber auch hier sind deutliche Einschränkungen notwendig, zumal militärische Kooperationen auf ganz unterschiedliche Weise stattfanden. Während sich 1783 eine Gruppe freiwillig angeworbener Hannoveraner in die britische Kolonie Indien aufmachte, kämpften in den Revolutionskriegen zwangsrekrutierte Soldaten gegen die französische Armee.49
Mit der hannoverschen Erinnerung an die Personalunion stark verbunden ist die Königlich Deutsche Legion, ein Fremdencorps, das in britischen Diensten zwischen 1803 und 1815 gegen das napoleonische Frankreich kämpfte und 1816 aufgelöst wurde. Im seit 1801 von Frankreich und Preußen abwechselnd besetzten Hannover rekrutierten hannoversche Offiziere im Namen Georgs III., des Königs von Großbritannien und Kurfürsten von Hannover, Soldaten für den Kampf gegen Napoleon Bonaparte (1769–1821)[]. Oberbefehlshaber der Truppen wurde ein Sohn Georgs III., Adolph Friedrich (1774–1850), der Herzog von Cambridge.50 In der Erinnerung an die napoleonischen Kriege in Hannover nimmt die Königlich Deutsche Legion einen prominenten Platz ein. Die Waterloosäule und das Denkmal für den General Graf Karl von Alten (1764–1840)[] vor dem Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv zeugen heute noch davon. Ob es sich bei dem Eintritt in die Legion wirklich um einen Ausdruck patriotischer Loyalität vor dem Hintergrund der Personalunion handelte oder die schwierigen ökonomischen und sozialen Veränderungen im Anschluss an die Besetzung ausschlaggebend waren, ist nur teilweise zu beantworten.51 Allerdings zeigen die Verhandlungen über die Besoldung der Offiziere und Soldaten und besonders die Rentenansprüche, die von Seiten der Legionäre 1815/1816 formuliert wurden, dass die Legion für Großbritannien – zumindest aus juristisch-politischer Sicht – ein Fremdencorps blieb.52
Institutionen mit staatlichem Charakter oder Netzwerke, die über die Initiativen einzelner Personen hinausgingen und so größere Kontinuität entwickelten, haben sich aus der Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover nicht ergeben. Immerhin stellte die Rekrutierung für die Königlich Deutsche Legion, die mehr als zwölf Jahre andauerte, ein mögliches Argument für kontinuierlichere Formen der Zusammenarbeit beider Staaten und damit des Transfers dar. Die Erinnerungen vieler Legionäre verdeutlichen, dass unter den Zeitgenossen die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Dienst in der Legion und der Personalunion gestellt wurde. Allerdings erwecken die unmittelbare Auflösung und der Umgang der britischen Behörden mit den Legionären nach 1816 den Eindruck, dass es sich um kein sehr erfolgreiches Modell der Kooperation und des Transfers handelte. So wie in der Personalunion das persönlich-dynastische Element eine entscheidende Rolle spielte, war der Transfer zwischen beiden Staaten generell auf individuelle Interessen und Unternehmungen begrenzt.
Individuelle Formen des Transfers
Einer eher pessimistischen Sicht auf die Bedeutung der Personalunion sind die vielen Einzelfälle des Austauschs und Transfers entgegenzuhalten, die sich in den 123 Jahren zwischen Großbritannien und Hannover abspielten. Grenzen in Freizügigkeit und Mobilität, Entrepreneurship und politischem Denken beeinflussten das Leben der Europäer im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert stark.53 Noch hatte die Welt eben erst begonnen, sich zu verwandeln.54 Vor diesem Hintergrund erscheint es ein bemerkenswertes Resultat der Personalunion, dass sich eine Reihe von Hannoveranern auf den Weg nach Großbritannien machte und umgekehrt.
Wenn der Transfer zwischen Großbritannien und Hannover diskutiert werden soll, sind die Reisen der Monarchen von Großbritannien nach Hannover besonders hervorzuheben. Mit dem Schiff, das aufgrund schlechter Wetterbedingungen teilweise bis zu 40 Tage unterwegs war, reisten Georg I. und Georg II. mehrfach von London nach Hannover; auch einige britische Minister begleiteten die Monarchen. Während der Abwesenheit des Königs wurde ein Regierungsrat in London eingesetzt.55 Die British Library verfügt über eine Karte des Jagdgebiets in der Göhrde, auf der der Monarch Georg I. und eine Reihe von Personen zu erkennen sind, die sich intensiv unterhalten.56 Auf Jagden, Empfängen und Festlichkeiten im Umfeld einer Königsreise trafen sich Briten und Hannoveraner und tauschten politische Vorstellungen und Programme aus. Für die Reisen von Georg I. und Georg II. ist dies überzeugend belegt.57
Georg III. ist hingegen niemals in Hannover gewesen. Mehr als 60 Jahre bekamen die Bewohner des Kurfürstentums ihren Souverän nicht zu sehen, so dass zweifellos eine Entfremdung entstand.58 Gleichzeitig belegen wichtige Entscheidungen des dritten Welfen auf dem britischen Thron sein Interesse am Alten Reich. Mit der Ernennung seines Sohnes Friedrich August (1763–1827), des Herzogs von York, zum Bischof von Osnabrück, der Ausbildung dreier seiner Söhne an der Universität Göttingen und der Verleihung des Oberbefehls der Königlich Deutschen Legion an Adolph Friedrich, den Herzog von Cambridge, zeigte die königliche Familie Präsenz in Hannover.59 Der Herzog von Cambridge wurde 1814 zum Generalgouverneur und 1831 zum Vizekönig ernannt. Es war seine Familie, die noch im 19. Jahrhundert als die eigentlich hannoversche Familie galt, während sein Bruder Georg IV. das Kurfürstentum lediglich 1820 im Anschluss an seine Thronbesteigung besuchte. Wilhelm IV. hielt sich während seiner Regierungszeit nicht in Hannover auf.60
Neben einzelnen Mitgliedern der Dynastie reiste auch der Adel von Großbritannien nach Hannover und umgekehrt. Das Kurfürstentum und spätere Königreich entwickelte sich zwar nicht zum festen Reiseziel einer britischen Grand Tour, doch in anderen Bereichen entstand Interesse am Gegenüber. Die Gründung der Universität Göttingen als "Georgia Augusta" zu Ehren Georgs II. trug besonders zum Austausch zwischen britischen und hannoverschen Wissenschaftlern bei. Die Kommunikation über die Deutsche Kanzlei schuf ein wissenschaftliches Netzwerk, das Veröffentlichungen, Manuskripte und Korrespondenzen schnell und zuverlässig von London nach Göttingen oder vice versa transportierte. Die Universitätsbibliothek erhielt so Bücherbestellungen in großem Umfang über die diplomatische Post.
Dabei waren weniger die politischen Entscheidungsträger als vielmehr das Personal der Deutschen Kanzlei die treibenden Kräfte. Hier ist besonders die Familie Best zu nennen, deren Mitglieder über mehrere Jahrzehnte die Stelle des Sekretärs der Deutschen Kanzlei einnahmen.61 Auch wurden zahlreiche englische Mitglieder in die Göttinger Akademie der Wissenschaften aufgenommen, und Göttingen war Vorreiter bei der Etablierung des universitären Englischunterrichts. Göttinger Professoren wie Johann David Michaelis (1717–1791) und Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799)[] unterhielten regen Kontakt mit englischen Gelehrten,62 derartige Verbindungen ergaben sich aber lediglich aus Initiativen an der Universität und persönlichen Kontakten zur Deutschen Kanzlei. Eine Wissenschaftsförderung durch den Monarchen oder eine andere politische Institution existierte nicht, was auch die eher geringe Zahl englischer Studenten in Göttingen zeigt.
Ambitionierte hannoversche Politiker reisten nach London, um bei dem Monarchen vorstellig zu werden. Auch der wohl erfolgreichste hannoversche Politiker in London, Ernst Herbert Graf Münster (1766–1839), war dem Monarchen durch einen Aufenthalt lange vor seinem Dienstantritt bekannt. Bereits die Zeitgenossen haben seine politische Karriere seit 1801 mit dem guten Verhältnis zu Georg III. in Verbindung gebracht.63 Dabei konnte ein solcher Besuch auch nachteilige Folgen haben, wie etwa im Fall des späteren preußischen Ministers Karl August von Hardenberg (1750–1822), der aufgrund des offensichtlichen Interesses des Prinzen von Wales an seiner Frau seine Bemühungen um einen Posten in London aufgab und gänzlich aus dem hannoverschen Dienst ausschied.64 Der spätere Leiter der Deutschen Kanzlei, Ernst Ludwig Julius von Lenthe (1744–1814), bereiste Großbritannien und schilderte seine Eindrücke von Industrieanlagen, Bergwerken und Parlamentswahlen in seinem Tagebuch.65
Der Hof war im 18. Jahrhundert ein sehr politischer Ort, an dem sich Vertreter unterschiedlicher Milieus und Gruppierungen aufhielten.66 In Hannover führte die Abwesenheit des Monarchen dazu, dass das Hofleben und die damit verbundenen kulturellen und politischen Netzwerke zunehmend an Bedeutung verloren.67 In Großbritannien hatte sich der Hof nach dem Feuer von 1512 aus dem politischen Zentrum in Westminster in die umliegenden Paläste von Hampton Court und die kleineren Residenzen, ab 1530 in den Whitehall Palace verlagert.68 Unter Georg I. und George II. wurde Kensington Palace ausgebaut. Georg III. erstand Buckingham House, verbrachte jedoch viel Zeit in Kew in Surrey.
Die britisch-hannoverschen Monarchen befanden sich also seit 1714 gewissermaßen außerhalb der politischen Zentren beider Staaten. Diese These ist natürlich nur mit Einschränkungen aufrecht zu halten. Auch wenn sich seit der Auseinandersetzung in den Bürgerkriegen, der Restauration und Revolution die Distanz zwischen Monarch und Parlament auch im Bereich des Politischen weiter vergrößert hatte, blieb der Souverän ein zentraler Anziehungspunkt für Vertreter von Interessen und Parteien. Das Vorrecht auf die Vergabe von Hofämtern und kirchlichen Würden, die Möglichkeit der finanziellen Unterstützung oder anderer Formen der Protektion, aber auch die Einflussnahme auf die Ernennung von Ministern gewährleisteten, dass der Monarch während der gesamten Dauer der Personalunion sein politisches Gewicht behielt.69
Neben den höchsten Posten am Hof konnte der Monarch auch Stellen an Musiker, Erzieher und Vorleser aus dem Kurfürstentum vergeben. Der bekannteste Hannoveraner, Georg Friedrich Händel (1685–1759), kam bereits unter Georg I. nach London, und auch Wissenschaftler wie Friedrich Wilhelm Herschel (1738–1822), der vor dem Siebenjährigen Krieg geflohen war, und Georg Christoph Lichtenberg verbrachten einige Zeit in Großbritannien. Im Königlichen Haushalt übernahmen Hannoveraner etwa den Posten eines Chor- oder Schulmeisters, im weiteren Umfeld der Familie fanden sich auch Bürger anderer deutscher und europäischer Staaten. Einzig die Deutsche Kapelle (German Chapel) im St. James's Palast scheinen die hannoverschen Monarchen mit Vorliebe mit lutherischen Geistlichen aus dem Kurfürstentum und Königreich besetzt zu haben.70
Insgesamt handelte es sich jedoch um episodenhafte, zufällige Formen des Austauschs, von einer umfangreichen Auswanderung von Hannover nach Großbritannien kann man nicht sprechen. Das Inselreich auf der anderen Seite des Kanals galt als teuer und ungesund,71 während die hannoverschen Eliten im Kurfürstentum eine durch landwirtschaftliche Erträge gesicherte Existenz führten, die in der Zeit der Personalunion nur wenige Herausforderungen erfuhr. Auch politisch kam es erst am Ende der Personalunion zu substantiellen Auseinandersetzungen. Die am britischen Vorbild orientierte landständische Verfassung aus dem Jahre 1814 stellte die Vormacht des Adels in Hannover zumindest potentiell in Frage und wurde deshalb besonders von konservativeren Adeligen angegriffen. Hatte 1814 ein britischer Prinz, der Herzog von Cambridge, die Landstände eröffnet, so war es sein älterer Bruder, Ernst August, der Herzog von Cumberland, der 1837 nicht nur den Thron in Hannover bestieg, sondern noch im gleichen Jahr die Verfassung aufhob.72 Die Hannoveraner bewunderten bis zu diesem Zeitpunkt das Vereinigte Königreich ebenso wie viele Deutsche; sie verfolgten die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung, die politischen Debatten und die Krisenfestigkeit der parlamentarischen Demokratie intensiv. Im Fall Hannovers blieb es trotz der Personalunion größtenteils bei der Betrachtung oder – wie ein britischer Beobachter im Fall von Göttingen feststellte – bei der Imitation der britischen Verhältnisse. Den Schritt über den Kanal unternahmen nur wenige Bewohner des Kurfürstentums.73
Von britischer Seite aus beschäftigten sich ebenfalls Politiker, vereinzelte aristokratische Besucher und wenige Interessierte aus Wissenschaft und Kunst mit dem Kurfürstentum und späteren Königreich.74 Ein anderer Aspekt erscheint für die Frage des Transfers von politischen Ideen, Vorstellungen und Weltbildern jedoch wichtiger. Während sich im 18. Jahrhundert ein britisches Nationalgefühl formte,75 spielten Feindbilder – hier besonders Frankreich – eine entscheidende Rolle. Durch die Abgrenzung nach außen formte sich ein deutlicheres Bild nach innen, so dass Differenzen, beispielsweise zwischen Schotten, Iren und Engländern, weniger deutlich hervortraten. Für die Personalunion und die Beziehung der Briten zum Kurfürstentum lässt sich eine vergleichbare Entwicklung feststellen. Der öffentliche Diskurs über die Verbindung mit Hannover verstärkte die eigene politische Identität und schuf ein homogeneres Bild des "Wir" oder der "Nation".76 Dies zeigte sich bereits 1715, als die Annexion der Fürstentümer Bremen und Verden im britischen Parlament und der britischen Öffentlichkeit heftig diskutiert wurde.77 Fast alle militärischen Auseinandersetzungen vom polnischen Thronfolgekrieg (1733–1738) über den österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1748), die Besetzungen Hannovers durch die Franzosen im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) und die Besetzung und Annexion durch Frankreich und Preußen in der militärischen Auseinandersetzung mit dem napoleonischen Frankreich führten zu öffentlichen Debatten in Presse, Parlament und – so darf man vermuten – darüber hinaus. Umstritten blieb die Frage, ob und aus welchen Gründen man sich für die deutschen Interessen des britischen Monarchen einsetzen sollte.78 War Hannover, wie es der Premierminister William Pitt der Ältere (1708–1778) formulierte, der Mühlstein um Großbritanniens Hals?79 Oder musste man sich nicht viel mehr, wie es Charles James Fox (1749–1806) zwei Generationen später anführte, politisch und gegebenenfalls sogar militärisch dafür einsetzen, die Freiheit Hannovers und damit den Frieden auf dem Kontinent zu erhalten?80 So entstand das Bild von Hannover als der Achillesferse Großbritanniens, die für die britische Außenpolitik bis zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bedeutsam war. Auch für die Zeit nach 1783 lassen sich noch Argumente für das Kurfürstentum Hannover als "British interest" anführen.81
Großbritanniens Selbstfindung fand innerhalb eines Diskurses über die Personalunion seinen Widerhall.82 Insofern ist die These, dass es sich bei "composite statehood" um ein europäisches Phänomen handelte, das einem modernen Europa der Regionen entspräche, nur teilweise überzeugend.83 Zwar wurden Grenzen überquert und kultureller Transfer bzw. gegenseitige Rezeption spielte bei der Personalunion eine wichtige Rolle. Bei genauerer Betrachtung war die Herausbildung nationaler Identitäten für die Spielregeln innerhalb einer Personalunion aber ebenso bedeutsam. Entsprechend sollte auch die Transferforschung nicht nur die Möglichkeit des Austauschs, sondern auch die Verstärkung von Widerständen in den Blick nehmen, die aus dem Fluss von Ideen und Kontakten entstehen konnten.84
Schluss
Das Ende der britisch-hannoverschen Personalunion wird in der Literatur als "sang- und klanglos" beschrieben; weder in Großbritannien noch in Hannover habe man ernsthaft davon Notiz genommen, dass sich diese Verbindung gelöst habe.85 In London betrat mit der jungen Königin Viktoria eine neue Akteurin die politische Bühne, deren Jugendlichkeit eine neue Zeit einzuläuten schien.86 Weit weg erschienen die Feierlichkeiten, die 1814 aufgrund des Siegs der Alliierten über Napoleon und des einhundertjährigen Bestehens der Personalunion veranstaltet worden waren.87 In Hannover verabschiedete sich mit der Person des Herzogs von Cambridge ein britischer Prinz, der dort aufgrund der Personalunion seine Funktion als Vizekönig wahrgenommen hatte, mit öffentlichen Paraden von der Bevölkerung.88 Ihm folgte sein Bruder Ernst August, der Herzog von Cumberland, der für das Ende der Personalunion mitverantwortlich gemacht werden kann, da er sich keiner großen Beliebtheit in der britischen Bevölkerung erfreute. Seine Reputation als Erzkonservativer hatte sich in der Öffentlichkeit mit dem Vorwurf des rüden Umgangs mit seinen Untergebenen und der Abneigung gegen seine Nichte, die neue Königin, vermischt.89 Von 1818 bis 1828 lebte er in Berlin am Hof der Hohenzollern. Nach dem Ende der Personalunion kursierte ein Spottjeton, eine Münze, "Back to Hanover" tituliert, die den neuen König von Hannover zu Pferde zeigte, wie er allegorisch den Kanal übersprang. Dieser Jeton bezog sich unmittelbar auf die Gedenkmünze, die 1714 zu Ehren der Thronbesteigung angefertigt worden war.90 Aus britischer Sicht hatte die Aktie der Personalunion an Wert verloren.
Die Deutsche Kanzlei wurde schließlich aufgelöst und eine hannoversche Botschaft in London etabliert.91 Auch von britischer Seite sandte man einen diplomatischen Vertreter nach Hannover. Zu fragen bleibt, ob die oben beschriebenen Formen des Transfers fortgeführt wurden. Dynastisch blieben die beiden Königshäuser trotz des schwierigen persönlichen Verhältnisses zwischen Viktoria und Ernst August in engem Kontakt, insbesondere die Familie des Herzogs von Cambridge wurde zu einer "hannoverschen" Familie.92 Nach der Etablierung eines Hofs in Hannover gab es für Politiker und Günstlinge allerdings kaum noch einen Anlass, nach London zu reisen.93 Auf anderen Ebenen schien der Status quo hingegen fortzuwirken: Wirtschaftlich blieb Hannover ein Absatzmarkt für die Briten,94 und auch das gesellschaftliche Interesse am Gegenüber blieb bestehen.
Gleichzeitig versuchte man in Hannover bereits seit 1814, also noch während der Personalunion, sich aus dem Schatten Großbritanniens zu befreien. Dieser Prozess, der mit der oben beschriebenen Herausbildung nationaler Identität in Großbritannien zwar nicht gleichzusetzen ist, aber doch als vergleichbares Resultat der Personalunion verstanden werden sollte, verstärkte sich nun.95 Die Hannoveraner betonten trotz aller Bewunderung und Sympathie für die britischen Erfolge die eigene Identität, während Hannover für die Briten zunehmend eine Erinnerung an das Vorherige und im Kontext eines Fortschrittsdiskurses das Rückschrittliche wurde.96 Obgleich vieles darauf hinweist, dass in Hannover wirtschaftliche, rechtliche und politische Entwicklungen später einsetzten als in anderen Staaten des Deutschen Bundes, scheint die Personalunion mit Großbritannien die Vorstellung von der Rückschrittlichkeit Hannovers verstärkt zu haben. In diesem Sinne ist das Bild, das wir von dem Königreich Hannover nach 1837 haben, auch ein Produkt der dynastischen Beziehung mit Großbritannien. Doch überblickt man die gesamte Dauer der Personalunion, so erscheint die Argumentation durchaus nachvollziehbar, dass sich durch die Beziehung mit dem Kontinent eine europäische Traditionslinie der britischen Geschichte etablierte. Es mindert den Wert dieser europäischen Dimension nur oberflächlich, dass eine solche europäische Idee vor allem in den Köpfen einzelner entstand und nicht institutionell verortet werden kann sowie dass der größte Teil des Austauschs und des Transfers auf individuelle Initiativen und Schicksale zurückging.97