See also the article "The Monument" in the EHNE.
Palladio und die Grand Tour
Die beispiellose Begeisterung für die Architektur Andrea Palladios (1508-1580) bleibt unverständlich, wenn sie nicht als Teil eines allgemeinen Interesses an der italienischen Halbinsel betrachtet wird. Erst im Rahmen der Grand Tour, die im frühen 17. Jahrhundert insbesondere in England zum unverzichtbaren Erfahrungsschatz des compleat gentleman1 erklärt wurde, erlangte die Architektur Andrea Palladios auch außerhalb Italiens einen größeren Bekanntheitsgrad. Eine wichtige Mittlerrolle nahm der englische Diplomat und Politiker Henry Wotton (1568–1639) ein. Von Venedig aus machte er das englische Publikum mit den Bauten Palladios auf der terra ferma, dem Hinterland Venedigs, vertraut. Dass er ein intimer Kenner der italienischen Renaissancearchitektur und ihrer theoretischen Grundlagen war, zeigt sein 1624 veröffentlichter Essay mit dem schlichten Titel "The Elements of Architecture".2 Hierin vermittelt Wotton dem englischen Publikum erstmals in eingängiger Form die zentralen Kategorien der italienischen Architekturtheorie, die er gleichwohl kritisch bewertet.
Dessen ungeachtet wurde die palladianische Baukunst schon bald zur Obsession. Dies gilt insbesondere für die Villenarchitektur, die Palladio in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in großer Zahl für die venezianische nobiltà errichtete.3 Hierzu entwickelte er einen vergleichsweise neuen Bautypus. Wie etwa das Beispiel der Villa Emo zeigt, verbindet er das Herrenhaus (casa di villa) mit flankierenden Seitenarmen (braccia) und betont die Hauptachse durch einen der Tempelarchitektur entlehnten Portikus. Während Palladio hiermit dem steigenden Bedürfnis der venezianischen Oberschicht nach Repräsentation auf dem Land in kongenialer Weise zu entsprechen schien, verkörperte seine 1565 begonnene Villa La Rotonda schon bald das Ideal einer vollkommenen Baukunst.
Die große Wirkung der genannten Beispiele zeigte sich bereits im frühen 17. Jahrhundert. Unter den ersten Reisenden aus England, die Henry Wotton zu den Villen Palladios führte, befand sich unter anderen der Hofkünstler und spätere Vorbereiter des englischen Palladianismus Inigo Jones (1573–1652). Jones war bis zu diesem Zeitpunkt vor allem durch Bühnenentwürfe für den englischen Hof, so genannten masques, in Erscheinung getreten. Während seiner Venedig-Reise kam er erstmals mit der italienischen Renaissancearchitektur in Kontakt, die bis zu diesem Zeitpunkt kaum einen Einfluss auf die englische Baukunst ausgeübt hatte. Darüber hinaus erwarb Jones während seines Italienaufenthaltes eine Ausgabe der "Quattro Libri Dell'Architettura,"4 die Palladio 1570 veröffentlicht hatte. Sie besaßen einen maßgeblichen Anteil daran, dass das Gesehene auch Eingang in die englische Baupraxis fand. Denn als erste systematische Lehrbücher ermöglichten sie einen vergleichsweise einfachen Zugang zur klassischen Architektursprache. Darüber hinaus besitzen die Architekturbücher Palladios die besondere Qualität, dass sie zugleich demonstrieren wie man die dargestellten Prinzipien für die eigenen Entwürfe fruchtbar machen kann. Denn neben den Darstellungen römischer Tempel und Basiliken finden sich Palladios eigene Projekte für Paläste und Villen, die er selbstbewusst in die Tradition der antiken Baukunst stellt. Die zahlreichen Annotationen in Jones' Ausgabe der "Quattro Libri" zeugen davon, dass er erst in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Vorbild Palladio die nötigen Kenntnisse erwarb, um anschließend zu einem der wichtigsten Architekten Englands aufsteigen zu können.
Inigo Jones und der frühe Palladianismus in England
Die Gelegenheit zur Anwendung des Gelernten erhielt Jones bereits einige Jahre nach seiner Rückkehr aus Italien. Im Jahr 1616 beauftragte Jakob I. (1566–1625) Jones damit, für seine Frau Anna von Dänemark (1574–1619) einen neuen Palast in Greenwich zu entwerfen.5 Der Lage weit außerhalb der Stadt entsprechend griff Jones hierzu auf die palladianische Villenarchitektur zurück. Es schlossen sich weitere Projekte an, die unmittelbar aus der Beschäftigung mit Palladios Architekturbüchern hervorgingen. Für seinen drei Jahre später entworfenen Bankettsaal in Whitehall orientierte sich Jones neben den Villen Palladios an dessen Rekonstruktion eines ägyptischen Saales in den "Quattro Libri". In den dreißiger Jahren folgten prominente Aufträge wie die Covent Garden Church (1630), eine Adaption von Palladios Darstellung des tuskischen Tempels, sowie die Umgestaltung der gotischen St. Paul's Cathedral (1633–1640), die sich wiederum Palladios Interpretation des Sol-und-Luna-Tempels in den "Quattro Libri" nutzbar machte.
Die Orientierung an Palladio war fortan nicht mehr aus der englischen Architekturgeschichte wegzudenken. Selbst Architekten, die allgemein dem Barock zugeordnet werden, bezogen sich in ihren Entwürfen immer wieder auf das italienische Vorbild. So zitierte etwa Sir Christopher Wren (1632–1723), neben Jones der erfolgreichste englische Architekt des 17. Jahrhunderts, in seinem Entwurf für die Trinity College Library in Cambridge (1676) Palladios Kreuzgang für das venezianische Kloster S. Maria della Carità (1560–1570), während Sir John Vanbrughs (1664–1726) Howard Castle (seit 1699) das palladianische Villenschema mit der Tradition des englischen Landsitzes verband.
Der Palladianismus als ästhetische Norm
Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts konnte sich der Palladianismus allerdings als eine normative Ästhetik in England durchsetzen. Dies geschah in enger Verbindung mit dem Aufstieg einer neuen politischen Elite. Im Jahr 1714 bestiegen die Hannoveraner den englischen Thron und beendeten damit die langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien der Tories und Whigs. Insbesondere der whiggistische Adel profitierte von dem politischen Machtwechsel, aus dem eine neue, von den Idealen der englischen Frühaufklärung durchdrungene Elite hervorging. An die Stelle der alten Ordnung, wie sie in der Phase der Restauration noch einmal auflebte, trat nun die konstitutionelle Monarchie als Kompromiss aristokratischer und bürgerlicher Interessen. Hieraus erwuchs ein neues Nationalbewusstsein, das sich in direkter Opposition zu den Verhältnissen auf dem Kontinent sah. Dies umfasste selbstverständlich auch die Künste. Architektur und Gartenkunst des Barock wurden gleichermaßen als Symbole des kritisierten Absolutismus verworfen. An deren Stelle trat ein moralphilosophisches Ideal, das im Wesentlichen auf der selbstbestimmten Vervollkommnung des aufgeklärten Subjekts basierte. Als Ausdruck dieses neuen Selbstbewusstseins galt neben dem englischen Landschaftsgarten die palladianische Villa.6
Bereits im Jahr 1715 veröffentlichte der englische Architekt Colen Campbell (1675–1729) ein aufwändiges Stichwerk, das in diesem Sinne die nunmehr schon traditionelle Vorliebe englischer Architekten für Palladio mit dem Versuch verband, einen "Vitruvius Britannicus"7 zu konstruieren. Campbell entfaltete in diesem aufwändigen Tafelwerk zum ersten Mal ein Panorama der englischen Architektur seit dem 17. Jahrhundert. Die Architektur Palladios wurde hierin als das größte Vorbild begriffen und Inigo Jones als würdiger Epigone. Die italienische Barockarchitektur hingegen lehnte Campbell in seinem knappen Vorwort des "Vitruvius Britannicus" als regellos ab. Nach dem allgemeinen moralischen Verfall auf dem Kontinent, so der englische Architekt, eigne sich Italien kaum mehr als Vorbild. Die Grand Tour dorthin wird dementsprechend den "Mistakes in Education"8 subsumiert. Es sei nunmehr an England, das humanistische Erbe fortzuführen.
Wie sehr Campbell hiermit der neuen Elite aus der Seele sprach, zeigte sich in dem ungeheuren Ansehen, das der Architekt fortan genoss. In den folgenden Jahren erhielt er vor allem für den Bau von Landsitzen zahlreiche Aufträge, die von einer vergleichsweise freien Interpretation der palladianischen Villenarchitektur bis zur sprichwörtlichen Kopie von Palladios Villa La Rotonda reichten. Unter den prominenten Auftraggebern Campbells befand sich auch Richard Boyle, der 3. Earl of Burlington und 4. Earl of Cork (1694–1753). Als Nachkomme einer whiggistischen Adelsfamilie, die Wilhelm von Oranien (1650–1702) während der Glorreichen Revolution (1688/1689) tatkräftig unterstützt hatte, war Burlington im neuen Geist des postrevolutionären England erzogen worden. Kurze Zeit nach der Machtübernahme der Hannoveraner ließ Burlington sein Londoner Stadthaus durch Campbell umbauen und begann sich schließlich selbst zunehmend für Architektur zu interessieren.
Palladianischer Klassizismus
Einen wesentlichen Anteil hieran hatte wiederum die Erschließung des palladianischen Werkes. Während einer Italien-Reise erwarb Burlington ein großes Konvolut an Palladio-Zeichnungen, von denen er 1730 eine Auswahl unter dem Titel "Fabbriche Antiche Disegnate da Andrea Palladio"9 veröffentlichte. Nach seiner Rückkehr aus Italien unternahm Burlington den Versuch, den Palladianismus als Staatsarchitektur durchzusetzen.10 Hierzu ermächtigt fühlte er sich einerseits durch seinen neu erworbenen Fundus palladianischer Entwürfe und Antikenstudien. Andererseits besaß er den Einfluss und die Mittel, die neue Ästhetik durch ambitionierte Publikationen wie den "Designs of Inigo Jones"11 oder Isaac Wares (gest. 1766) "Four Books of Andrea Palladio's Architecture" (1738)12 in die Öffentlichkeit zu tragen. Zu Beginn der dreißiger Jahre unternahm Burlington dann den vor diesem Hintergrund folgerichtigen Versuch, die neue Ästhetik auch im Bereich der öffentlichen Bauaufgaben durchzusetzen. Hierzu besetzte er nicht nur Schlüsselpositionen des Royal Office mit befreundeten Architekten. Darüber hinaus entwarf er in Konkurrenz zu dem Barockarchitekten Nicholas Hawksmoor (1661–1736) ein ambitioniertes Parlamentsgebäude. Es handelte sich um eine streng klassizistische Architektur in monumentalem Maßstab, die im Unterschied zum etwa gleichzeitig geplanten Parlamentsgebäude des palladianischen Architekten Sir Edward Lovett Pearce (ca. 1699–1733) in Dublin (1729–1731) allerdings nie verwirklicht wurde.13
Wenngleich sich Dilettanten wie Burlington ihrem eigenen neuen Selbstverständnis entsprechend gern als vitruvianische Architekten darstellen ließen, wäre es dennoch verfehlt, würde man in diesem Zusammenhang von Baukünstlern im klassischen Sinne sprechen. Zwar ließ sich der Earl gern als englischer Vitruv oder Palladio feiern, allerdings interessierte er sich kaum für baupraktische Probleme. Der Entstehungsprozess von Burlingtons Projekten zeigt vielmehr, dass er die Architektur primär als einen ästhetischen Gegenstand wahrnahm.14 Diese Haltung zeigte sich auf zwei Ebenen. Zum einen überließ Burlington die konkrete Umsetzung seiner Projekte den Architekten seines palladianischen Zirkels. Zum anderen erwuchsen Burlingtons Entwürfe selbst im Wesentlichen aus der Kombination von Motiven, die er seinem Fundus palladianischer Zeichnungen entnahm. So stellt sich etwa Burlingtons eigenes Haus in Chiswick (1725–1729) im Wesentlichen als Verbindung dreier unterschiedlicher Entwürfe Palladios dar, die zu allem Überfluss mit dessen Studien zur römischen Thermalarchitektur verbunden wurden. Auf dieser Grundlage führte Burlington erstmals in Europa eine Architektur vor Augen, deren Klassizismus bereits von den Zeitgenossen besonders hervorgehoben wurde.
Zu den zahlreichen Bewunderern der neuen englischen Architektur zählte unter anderen der deutsche Architekt Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff (1736–1800). Im Anschluss an eine gemeinsam mit Leopold III. Friedrich Franz, Fürst und Herzog von Anhalt-Dessau (1740–1817) unternommene Grand Tour durch England adelte er Chiswick House gar als Verwirklichung des "goût de l'ancienne Grèce".15 In die Heimat zurückgekehrt, reifte in dem Fürsten allmählich die Idee, seinen vergleichsweise unbedeutenden Staat in ein modernes "Klein-England" zu verwandeln. Inmitten des hierzu geschaffenen ersten Landschaftsgartens außerhalb Englands ließ der Fürst durch seinen Architekten Erdmannsdorff anstelle des alten Jagdschlosses eine moderne Villa im Stile Campbells und Burlingtons errichten.16
Der Palladianismus als Staatsarchitektur
In England selbst war der Palladianismus zu diesem Zeitpunkt allerdings längst zum Gegenstand der Kunstkritik geworden. In seiner "Analysis of Beauty" (1753)17 verband William Hogarth (1697–1764) mit dem palladianischen Architekturdilettanten à la Burlington eine ästhetische Monotonie, die er dem Reichtum des Barocken und Pittoresken gegenüberstellte. Aus einer ganz ähnlichen Haltung heraus ließ der Schriftsteller und Kunstsammler Horace Walpole, 4. Earl of Orford (1717–1797) in unmittelbarer Nähe zu Chiswick House einen Landsitz errichten, der als gebautes Gegenmanifest zum Klassizismus Burlingtons aufzufassen ist. An die Stelle der palladianischen Zitate und der damit verbundenen Ästhetik klassizistischer simplicity tritt hier die schöne Unregelmäßigkeit neogotischer Formen.18
Wenngleich somit die große Dominanz des Palladianismus allmählich relativiert wurde, blieb der Klassizismus für die Architektur Englands bis in das späte 18. Jahrhundert prägend. In London entstanden insbesondere in den Jahren kurz vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verschiedene Großprojekte, die das Stadtbild entscheidend veränderten. Im Jahr 1769 pachtete der schottische Architekt Robert Adam (1728–1792) unmittelbar an der Themse ein großes Grundstück, das er anschließend mit so genannten terraced houses bebaute.19 Hiermit wurde erstmals der Versuch unternommen, das Ufer gestalterisch zu vereinheitlichen. Ähnlich den Landhäusern Adams, ist hierin der Einfluss des Palladianismus weiterhin spürbar, wenngleich nunmehr an die Stelle eindeutiger Adaptionen der neue internationale Klassizismus tritt. Dies gilt in gleichem Maße für das zweite prominente städtebauliche Projekt des 18. Jahrhunderts, das Somerset House von Sir William Chambers (1723–1796).20 1776 erhielt Chambers, neben Adam der einflussreichste britische Architekt der zweiten Jahrhunderthälfte, den Auftrag zum Entwurf eines modernen Verwaltungsbaus an der Themse. Entsprechend der neuen Bedeutung Englands als Weltmacht stellte sich der vierseitig geschlossene Komplex nach seiner Vollendung im Jahr 1786 als klassizistischer Residenzbau dar.
Derartige Großprojekte konnten jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die englische Großmacht zu dieser Zeit ihre erste Krise durchlebte. Während der Bauarbeiten für Somerset House errangen die amerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit vom britischen Mutterland. Hiermit ging allerdings zunächst keine kulturelle Emanzipation einher. Im Gegenteil, die amerikanischen Architekten des 18. Jahrhunderts orientierten sich in architektonischen Fragen auch weiterhin am englischen Vorbild.21 Bereits der Architekturdilettant Peter Harrison (1716–1775) entwarf hier in den vierziger Jahren auf der Grundlage englischer Stichwerke Bauten im Stile des palladianischen Klassizismus und noch Thomas Jefferson (1743–1826), der spätere Präsident der USA, orientierte sich beim Entwurf seines eigenen Hauses am Typus der palladianischen Villa. Mit dem Bau des Kapitols zu Beginn des 19. Jahrhunderts wandelt sich der Palladianismus dann endgültig zu einer Staatsarchitektur monumentalen Ausmaßes.