Religiös-antijüdischer Antisemitismus (Antijudaismus)
Die antijüdische Vorgeschichte des modernen Antisemitismus ist lang, christlich motiviert und gegen das Judentum als Religion gerichtet. Als Vorstufe des modernen Antisemitismus in Europa bildet sie auch heute noch den Fundus für eine Reihe von Bildern und Stereotypen, die aus dem christlich-antijüdisch geprägten Mythenkontext stammen, nun aber in andere Artikulationsformen des Antisemitismus eingegangen sind.1 Der moderne Antisemitismus hat seine Ursprünge damit im christlichen Antijudaismus. Zahlreiche Motive des modernen Antisemitismus verweisen auf seine christlich-antijüdische Geschichte, obgleich sich sowohl die Artikulationsformen des modernen Antisemitismus wie auch seine reflexive Bezogenheit auf den gesellschaftlichen Kontext grundlegend verändert haben.2
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856–1939)[] hat in seiner religionspsychologischen Studie Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939)3 erstmals den Versuch unternommen, den psychosozialen Motiven des religiösen Antisemitismus theoretisch auf den Grund zu gehen.4 Dabei betont Freud vor allen Dingen den abstrakten Gesetzescharakter der jüdischen Religion und die den Menschen auferlegte Versagung, selbst göttlich sein zu können, als zentrale Motive für die antijüdische Orientierung des Christentums. In den christlichen Mythen habe sich die Ablehnung der jüdischen Religion dabei mit aggressiven Ängsten gegenüber dem Judentum verbunden, dessen Selbstverständnis der Auserwähltheit im antijüdischen Ressentiment zu einem Mythos von Weltbeherrschung und Weltkontrolle umgedeutet worden sei. Insofern zeige sich hieran auch die letztliche Willkürlichkeit der antisemitischen Projektionsorientierung gegen die Juden, da das Motiv für die Entstehung des antijüdisch-religiösen Antisemitismus in Reflexions- und Legitimationsproblemen des Christentums selbst zu suchen sei. Dabei habe sich das Judentum lediglich aufgrund seiner religiösen Architektur für die antijüdischen Ressentiments angeboten.
Die europäische Dimension der vormodernen Vorgeschichte des modernen Antisemitismus zeichnete sich hierbei historisch in erster Linie durch eine Parallelexistenz der Stereotype aus. Vermittlung und transnationale Beziehungen waren im Vorfeld der Entstehung der Nationalstaaten allein deshalb in deutlich geringerem Maß ausgeprägt, weil sich die Kommunikationsstrukturen noch primär regional organisierten und gerade erst im Begriff waren, über die Durchsetzung einheitlicher Nationalsprachen eine nationale Dimension zu erlangen, wobei die europäische Perspektive insofern in integrativer Hinsicht noch nicht gegeben war.5
Ein Großteil der antisemitischen Stereotype und Bilder entstand bereits im christlichen Kontext, viele wurden dezentral verbreitet. Dies wurde zum Beispiel mit Blick auf den bis in die Gegenwart allgegenwärtigen Mythos einer "jüdischen Weltverschwörung" gezeigt, dessen Genese und Relevanz seit dem 13. Jahrhundert aufgezeigt wurden.6 Der antisemitische Mythos einer "jüdischen Weltverschwörung" im hohen und späten europäischen Mittelalter zeigt, dass auf der Ebene des religiös-intellektuellen Austausches bereits das Fundament für die spätere transnationale Verbreitung antisemitischer Ressentiments gelegt wurde und sich diese in christliche Traktate, Dekrete und Chroniken einschrieben, jenseits der Zugehörigkeit zu einem weltlichen Herrschaftsverband. Zu den zentralen antisemitischen Mythen zählten dabei neben der Dämonisierung die Ritualmordlegenden, der Vorwurf des Hostienfrevels und die Verbindung mit epidemischen Erscheinungen, etwa der Pest, aber auch der Vorwurf der Hexerei und Ketzerei.7 Das Christentum war insofern ein früher Motor für die weitreichende Verbreitung antisemitischer Stereotype, noch lange bevor diese in einer nationalen oder transnationalen Dimension gedacht wurden. Der Mythos einer jüdischen Verschwörung blieb dabei "allseits verfügbar" und verfestigte sich zur semantischen Selbstverständlichkeit.8
Der moderne Antisemitismus hat den religiösen Antisemitismus, der in seiner antijüdischen Zielrichtung zwar willkürlich, aber keineswegs zufällig war, traditionell inkorporiert und kann damit "sein christliches Erbe nicht leugnen",9 wobei die binnenstrukturelle Codierung antisemitischer Chiffren die genetischen Simultanitäten von vormodernem und modernem Antisemitismus offenkundig werden lassen. Mit Sigmund Freud ist festzuhalten, dass der Antisemitismus bzw. der Judenhass seinen theologischen Ursprung im Christentum hat und dieser unbewusst in Form von christlichen Metaphern und Mythen in den Phantasien des modernen Antisemitismus weiterlebt.10 Der Grund, aus dem der Antisemitismus sich "den Juden" als Projektionsobjekt gewählt hat, besteht in den Differenzen von Christentum und Judentum.11 So formiert sich der Antisemitismus in seiner Genese vom religiösen Antijudaismus zum völkisch-rassistischen Antisemitismus als – angesichts der bis zur Massenvernichtung getriebenen antisemitischen Barbarei: zweifelsfrei pathischer – Versuch zur "Schiefheilung" (Sigmund Freud) der einschneidenden narzisstischen Kränkung als Ausdruck antisemitischer Phantasien, als "Gerücht über die Juden"12 – und nicht als ernsthafte Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion oder der Geschichte des Judentums.
Völkisch-rassistischer Antisemitismus
Dass sich die christlich-religiösen Motive des Antijudaismus in den modernen Antisemitismus transformiert haben, hat seine zentrale Ursache dabei allerdings im gesellschaftlichen Kontext der Moderne. Hannah Arendt (1906–1975)[] beschreibt in ihrem Buch The Origins of Totalitarianism (1951) einen über mehrere Jahrhunderte währenden Transformationsprozess des Antisemitismus, bei dem sich der Antisemitismus zunehmend von realen religiös-gesellschaftlichen Konflikten zwischen Juden und Nichtjuden entkoppelte und letztlich in der totalen Ideologie des Nationalsozialismus völlig von diesen löste. Die Verbindung der religiös-antijüdischen Vorstellungen mit den im 18. und 19. Jahrhundert aufkommenden pseudowissenschaftlichen Rassetheorien bewirkte dabei eine Dimension der Erfahrungslosigkeit, in der letztlich nur noch die Antisemiten darüber entschieden, wer als Jude zu gelten hatte und wer nicht. Damit wurde die Ursache für antisemitische Aggressionen die, mit Jean-Paul Sartre (1905–1980) gesprochen, "idée de Juif", also das Bild und die Vorstellung des Jüdischen, die sich der Antisemit macht.13 Durch die Formierung des Antisemitismus als gesellschaftspolarisierendes Moment im Rahmen der Nationenwerdungsprozesse der europäischen Moderne sowie des Widerstandes gegen die jüdische Emanzipation und die soziale und rechtliche Gleichstellung der Juden wurde der Antisemitismus zum cultural code,14 also zu einem Phänomen, das die politischen Kulturen innerhalb der nationalen Gesellschaften segmentiert und innerhalb dieses Segmentierungsprozesses zugleich intern wieder homogenisiert hat.15
Damit amalgamierte sich der moderne Antisemitismus nicht nur mit einem völkischen Nationalismus und einem im englischen, französischen und deutschen Sprachraum entwickelten sozialdarwinistischen Rassismus, sondern auch generell mit modernefeindlichen und antiaufklärerischen Bewegungen. Dies zeigten etwa die national-antisemitischen Agitationen der Studentenverbindungen im deutschen Kaiserreich und in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, der wachsende Einfluss von Antisemitenparteien vor allem in Mitteleuropa sowie die Affäre um Alfred Dreyfus (1859–1935) in Frankreich, die antisemitischen Anklänge in den antikapitalistischen Schriften des Frühsozialismus und Anarchismus, aber auch die Verknüpfung von nationaler Identität und Antisemitismus im Denken der romantisch-idealistischen Philosophie oder die Verfolgungen und Pogrome im spätzaristischen Russland. Die antisemitischen Weltbilder umfassten dabei sowohl nach wie vor religiöse Metaphern und Mythen als auch völkisch-rassistische Zuschreibungen, in denen eine identitäre Zuschreibung von Eigenschaften vorgenommen wurde, für die das individuelle Verhalten von Juden zunehmend irrelevant wurde.16 Die völkischen und antisemitischen Referenzsysteme wurden dabei transnational enger und die ideologische Formierung des Antisemitismus dichter, sodass zunehmend von einer antisemitischen Weltanschauung gesprochen werden kann, die gerade durch die Widersprüchlichkeiten ihrer Vorstellungen charakterisiert ist;17 denn hierbei werden in der antisemitischen Phantasie Juden zum Symbol für das Abstrakte als solches, was den höchst widersprüchlichen Gehalt antisemitischer Ressentiments begreifbar macht: Den Juden wurde die Abstraktheit und damit die Moderne zum Vorwurf gemacht, was Sozialismus wie Liberalismus, Kapitalismus wie Aufklärung, Urbanität, Mobilität oder auch Intellektualität gleichermaßen umfasste.18
Einzig das Konkrete und im Politischen das Völkische wurden nicht von der antisemitischen Phantasie erfasst, da sie den Gegenpol zu der – zuerst von Sartre beschriebenen – Differenzierung zwischen allgemeiner und konkreter Denk- und Warenform und der daraus im antisemitischen Weltbild resultierenden Dichotomie von Weltgewandtheit und Bodenverbundenheit bildeten.19 So ist davon auszugehen, dass die Wertform der modernen Gesellschaft und die aus ihr resultierende Ausdifferenzierung von Gebrauchs- und Tauschwert auf der einen sowie die Warenfetischisierung auf der anderen Seite ursächlich waren für eine im Antisemitismus vollzogene Verknüpfung dieser ökonomischen Sphären mit einem konkretistischen Weltbild, in dem Abstraktes in dichotomer Weise mit dem Judentum assoziiert wurde.20
Im Rahmen der völkischen und rassistischen Aufladung des Antisemitismus in Europa entwickelte sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend eine nationale Grenzen negierende und als politische Bewegung auch Grenzen überschreitende antisemitische Gemeinschaft als soziale Bewegung, die in ihren Aktivtäten gegen den Nationalstaat und gegen die bürgerlich-republikanische Ordnung opponierte21 und die Phantasie eines homogenen Volkstums bzw. einer "reinen Rasse" in Einklang mit politischen Grenzverläufen Europas bringen wollte.22 In diesem Prozess homogenisierten sich auch die sozialen Ausdrucksformen des Antisemitismus in der Alltagspraxis in Europa, sodass von einem ersten transnationalen Ansatz des europäischen Antisemitismus gesprochen werden kann.
Dreh- und Angelpunkt war dabei das Deutsche Reich und der Nationalsozialismus als völkisch-antisemitische Bewegung, dessen primäres politisches Ziel in der Diskriminierung, Verfolgung und letztlich Vernichtung der europäischen Juden bestand. Insbesondere die deutschen Minderheiten in den Nachbarstaaten des Deutschen Reiches beteiligten sich umfangreich an antisemitischer Agitation und völkischer Destabilisierungspolitik, wobei die Kollaboration anderer Nationen und ihre aktive Beteiligung an der Shoah auch zeigte, dass die antisemitische Vernichtungspolitik eine wenngleich barbarische, so doch integrative Funktion für die Europäisierung des Antisemitismus hatte. Der europäische Gehalt des Antisemitismus in den 1930er und 1940er Jahren wurde dabei deutlich durch die massiven Verschärfungen der antisemitischen Politik in West- wie Osteuropa flankiert, etwa in Frankreich, Ungarn, der Slowakei, Rumänien und Kroatien, wo es neben Alltagsdiskriminierungen auch zu Verschärfungen der antisemitischen Maßnahmen auf politischer und rechtlicher Ebene kam.23
Dabei wurde der Antisemitismus im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und vor allem im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem sozialen Massenereignis, das seinen Ausdruck in Form von Demonstrationen, Aufmärschen und anderen kollektiven Ritualen fand, sodass die antisemitische Weltanschauung zunehmend von breiteren Bevölkerungsschichten übernommen wurde, wobei die Mobilisierungswirkung antisemitischer Massenansammlungen auch zu einer zunehmenden Dynamisierung des Antisemitismus als Weltbild beigetragen hat.24 Denn nun konnten die Antisemit(inn)en praktisch das Ausmaß und die Verbreitung ihrer Weltanschauung erfahren und erleben, sodass der Prozess der antisemitischen Massenvergemeinschaftung auch bei der Stabilisierung des cultural code geholfen hat.
Sekundär-schuldabwehrender Antisemitismus
Der Antisemitismus wurde durch die expansive und kriegerische Politik des Nationalsozialismus faktisch zu einer transnationalen Bewegung in Europa, in der nur wenige Schutzräume für Jüdinnen und Juden verblieben. Mit der militärischen Niederschlagung des Nationalsozialismus durch die Alliierten wurde dieses Weltbild fundamental in Frage gestellt – allerdings, so zeigen zeitgenössische empirische Studien, nicht wirklich im Selbstbild der Träger dieser Einstellung, die diese Entwicklung als aufgezwungen wahrgenommen haben: Der Antisemitismus wandelte sich vom gesellschaftlichen common sense zu einer in der Öffentlichkeit als tabuisiert wahrgenommenen Einstellung.25 Ein kommunikativer Umweg, auf dem antisemitische Ressentiments teilweise weiter kommuniziert werden konnten, waren vor allem in den 1950er und 1960er Jahren bestimmte Spielarten des westeuropäischen Antikommunismus, der sich vielfältig dem antisemitischen Mythenhaushalt entlehnter Bilder bediente und nun Bolschewisten personalisiert als hinterhältig, kriminell, verschwörend, verschlagen oder raffgierig darstellte.26
Zugleich wandelte sich die dominante Artikulationsform des Antisemitismus in den ersten Nachkriegsjahrzehnten hin zum Motiv des sekundären, schuldabwehrenden Antisemitismus, der zunächst vor allem auf Deutschland und Österreich beschränkt war. Entstanden aus dem Wunsch nach Entlastung von der nationalsozialistischen Vergangenheit, konstituierte sich der sekundäre bzw. schuldabwehrende Antisemitismus "nicht trotz, sondern wegen Auschwitz",27 also als Element der Erinnerungspolitik, das die Juden für die Folgen der Shoah verantwortlich macht und den Holocaust als negative Störung der nationalen Erinnerung bestimmt. Das Bedürfnis nach nationaler Identität und einer einen Schlussstrich ziehenden Normalität verortet die Verantwortung für eine durch die Holocausterinnerung gestörte Identitätsfindung nicht in der Massenvernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, sondern bei den NS-Opfern, die sich mit ihrem – so verstandenen – Schicksal nicht abfänden.
Und weil der Antisemitismus wegen des deutschen Massenmordes an den europäischen Juden in Rechtfertigungszwang geraten war, wurden die Juden zur gesellschaftlichen Selbstentlastung eben in der (zugeschriebenen) Rolle des Täters gebraucht und nicht in der des Opfers. An dieser Variante des Antisemitismus ist bedeutsam, dass die Artikulationsform zwar sekundär, der Gehalt aber nach wie vor antisemitisch geblieben war. Denn auch wenn die auf Schuldabwehr zielenden Zuschreibungen, die "die Juden" als mächtig, einflussreich und geldgierig phantasieren, zwar nicht wie der Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung das Ziel haben, diese zu vernichten, so teilen sie mit diesem doch die völkischen Segregationswünsche ebenso wie den projektiven Wahn.
Der Schuldabwehrantisemitismus war (und ist) in allen politischen Spektren anzutreffen, artikuliert sich aber jeweils unterschiedlich: Während im neonazistischen und rechtsextremen Spektrum eine geschichtsrevisionistische Lesart dominiert, in der die Shoah geleugnet, bagatellisiert oder relativiert und die Barbarei des Nationalsozialismus verherrlicht, beschönigt oder nivelliert wird, wandte sich das linksextreme Spektrum im Kontext der Studenten- und der Friedensbewegung der 1960er und 1970er Jahre völkischen Bewegungen zu, die als marginalisiert und unterdrückt verstanden wurden, allen voran den Palästinensern.28 Die antisemitische Schuldabwehr der politischen Mitte artikulierte sich dabei vor allem mit Blick auf die Ablehnung der moralischen und politischen Verantwortung für Nationalsozialismus und Shoah, aber auch mit Blick auf finanzielle Zahlungen an den Staat Israel. Neben Deutschland und Österreich hat die antisemitische Schuldabwehr auch in anderen europäischen Staaten Bedeutung erlangt und entwickelt gerade unter dem Signet der gegenwärtigen Aufarbeitung des Nationalsozialismus unter Kollaborationsgesichtspunkten eine neue Dynamik, die sich unter anderem an der polnischen Jedwabne-Debatte und damit der polnischen Beteiligung an der Shoah zeigte.29
Antizionistisch-antiisraelischer Antisemitismus
Dass eine Verknüpfung von antisemitischer Schuldabwehr, antizionistisch-antiisraelischem Antisemitismus und arabisch-islamischem Antisemitismus bereits in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in Europa angelegt war, macht vor allem die propalästinensisch-antisemitische Ausrichtung der antiimperialistischen Bewegungen in Europa deutlich, deren Höhepunkt der Linksterrorismus der 1970er Jahre war. Die Rhetorik der antiimperialistischen Bewegungen in Europa war länderübergreifend antisemitisch geprägt, und die praktische Zusammenarbeit durch die paramilitärische Ausbildung westeuropäischer Terroristen im arabischen Raum oder andere Formen der politischen und logistischen Kooperation der Palestine Liberation Organization/Popular Front for the Liberation of Palestine (PLO/PFLP) und den Terroristen von Roter Armee Fraktion/RAF und Revolutionären Zellen/RZ (Deutschland), Euskadi Ta Askatasuna/ETA (Spanien), Irish Republican Army/IRA (Großbritannien) und Brigate Rosse/BR (Italien) zeigen den Brückenschlag zwischen den Spektren, deren gewalttätigen Höhepunkt die Attentate auf die israelische Olympiamannschaft in München 1972 und die Flugzeugentführungen von Entebbe 1976 und Mogadishu 1977 bildeten.
Damit hat der vielfach konstatierte "neue", globale Antisemitismus seine Ursprünge in der europäischen, propalästinensischen Allianz der linksextremen Spektren und datiert in seiner Vorgeschichte auf die 1970er Jahre.30 Die Entwicklung der antisemitischen Schuldabwehr im Kontext einer israelfeindlichen Grundintention des antiimperialistischen und anarchistischen Spektrums zeigt überdies auch, dass in den 1970er Jahren eine weitere Variante des Versuchs der grenzübergreifenden Organisierung eines europaweiten Antisemitismus erstrebt wurde, die – nach dem nationalsozialistischen Versuch – diesmal jedoch vom linksextremen Spektrum ausging.
Neben der Hinwendung zu einer antizionistischen bzw. antiisraelischen Variante des Antisemitismus im Spektrum der radikalen und terroristischen Linken Westeuropas spielte der antizionistisch-antiisraelische Antisemitismus für Osteuropa eine zentrale Rolle. Die osteuropäische Entwicklungslinie des Antisemitismus zeigt dabei einige von Westeuropa divergente Komponenten.
Dabei erlangte der gegen Israel gerichtete und zugleich die historische Schuld relativierende oder negierende Antisemitismus insbesondere im sozialistischen und anarchistischen Spektrum West- und Osteuropas eine integrierende Bedeutung. Die Entwicklungsdynamiken in Osteuropa beinhalten dabei auch ganz spezifische Aspekte, die mit Blick auf die transnationale Entwicklung des Antisemitismus in Europa von Bedeutung sind.31
Denn die antijüdische Vorgeschichte des modernen Antisemitismus hat in Osteuropa eine stark ausgeprägte Bedeutung, was seine Ursachen in der gesellschaftlichen wie politischen Dominanz des Christentums in den osteuropäischen Staaten hat. Charakteristisch für die osteuropäische Entwicklung ist dabei – im Unterschied zu Westeuropa –, dass die Formierung der antisemitischen Stereotypen in ihrem Übergang vom christlichen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus in starkem Maß von dem Bild, das sich Antisemiten von den traditionellen sogenannten Ostjuden machten, geprägt war.32 Dieses antijüdische Klischee wurde in der antisemitischen Rhetorik auch mit denjenigen jüdischen Lebensformen amalgamiert, die ihm explizit nicht entsprachen, vor allem den assimilierten Juden. Die für das gesamte Osteuropa charakteristischen sozialen und ökonomischen Krisenerfahrungen im Kontext der Industrialisierung, insbesondere aber die agrarische und ländliche Struktur weiter Teile Osteuropas, sind dabei zugleich Indikator für die Verwebung antijüdischer Ressentiments mit antisemitischen Stereotypen ökonomischen Zuschnitts, die dem Bild einer jüdischen Dominanz in der Weltpolitik das Wort redeten. Während in Westeuropa die Nationalisierungsprozesse – mit wenigen Ausnahmen – bereits abgeschlossen waren, fallen die sozioökonomischen Krisen in Osteuropa zugleich mit der Nationalisierung von Gesellschaft und der Homogenisierung staatlicher Identität zusammen. Dies führte – außer in der Tschechoslowakei, die aufgrund ihrer demokratischen Konstituierung und deren Verankerungen in ihrer politischen Kultur weit weniger Akzeptanz für Antisemitismus aufwies – zu erheblichen Potenzialen von Ethnisierung, zugleich aber auch zu dichotomen Zuschreibungen im Fall krisenhafter Eruptionen, die sich aufgrund der bereits gefestigten christlich-antijüdischen Stereotype in einen modernen Antisemitismus kanalisierten.
Die Russische Revolution und die nationalen Kämpfe gegen eine Zunahme des sozialistischen Einflusses in Osteuropa in der Zwischenkriegszeit legten dabei den Grund für die Amalgamierung eines antibolschewistischen mit einem antisemitischen Stereotyp, das in dem bereits in der Zwischenkriegszeit entstandenen, polnischen Schimpfwort von der "Judäo-Kommune" gipfelte.33 So wurde der Grundstein für die Integration des antikommunistischen Moments gelegt, das sich zugleich mit dem antikapitalistischen in Osteuropa verband: Juden wurden nicht nur in antikapitalistischer Stoßrichtung für soziale Not und ökonomische Krisen verantwortlich gemacht, sondern auch mit antisozialistischer Intention für sozialistischen Egalitarismus – und damit für den Versuch der Einflussnahme der Sowjetunion auf die anderen Nationen Osteuropas, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs auch praktische Relevanz entfaltete. Insofern rebellierte das antisemitische Ressentiment in Osteuropa in doppelter Hinsicht regressiv gegen die Moderne: sowohl gegen den Liberalismus als auch gegen den Sozialismus, also sowohl gegen das Versprechen der Freiheit wie gegen das der Gleichheit.
In die nationalen Identitäten zahlreicher osteuropäischer Staaten wurde damit durch den antisemitischen Zuschnitt von Antikommunismus und Antikapitalismus der Antisemitismus in gegensätzlicher Weise in die nationalen Gründungsmythologien eingeschrieben. Diese Funktion des Antisemitismus im Kontext nationaler Identitätskonstruktion verweist dabei auf eine prinzipielle Schwierigkeit im Umgang mit dem Antisemitismus in Osteuropa: Dieser ist nicht nur in hohem Maß Bestandteil der politischen Kulturen, sondern eben auch der nationalismustheoretischen Legitimationsvorstellungen und insofern in das nationale Selbstbild eingeschrieben, am deutlichsten wohl in Ungarn und in Polen.34
Während der Sowjetära verbarg sich der osteuropäische Antisemitismus unter dem Deckmantel von Antizionismus und Antikosmopolitismus. Die sowjetische Innen- und Außenpolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte erhebliche negative Konsequenzen für die Juden in Osteuropa. Hierfür waren der sozialistische Antizionismus und die damit verbundene Israelfeindlichkeit entscheidend:
Shortly after the war, the traditional and modern components of antisemitism were reinforced, and partially displaced, by new ideological-political strains. These evolved through the perversion of the two central factors in contemporary Jewish history, which were expected – naively in retrospect – to sound the death knell of antisemitism: the Holocaust and the subsequent establishing of the State of Israel. The perversion was first orchestrated by loosely organized extremist forces of the Right and then adopted – and exploited at various levels of intensity – by extremist forces of the Left, including the current and former communist states. Although guided by different ideological perspectives and conflicting political interests, these extremist forces embraced the new strains in contemporary antisemitism – anti-Zionism and its corollary opposition to Israel, and the distortion, denigration, or outright denial of the Holocaust – with equal zeal. While the drive to distort and actually deny the Holocaust was begun by the Right, the campaign against Zionism and Israel was initiated by the Left during the late 1940s. In the course of time, the two strains were fused with the more traditional religious and racial forms of antisemitism and used in various combinations by both extremes in accordance with their particular ideological and political needs.35
Nachdem die Sowjetunion die israelische Staatsgründung zunächst kurzweilig unterstützt hatte, änderten sich die sowjetischen Optionen infolge des britischen Rückzugs aus dem Mittleren Osten. Zur Realisierung des langfristigen Ziels der Hoheit über die Region und der Verdrängung westlicher Staaten aus dem Mittleren Osten unterstützte die Sowjetunion die arabischen Staaten, wobei die sowjetische Hinwendung zum antizionistischen Antisemitismus im Kontext des sowjetischen Antikosmopolitismus stand, der sich zunächst gegen Jugoslawien richtete.
Unter den Vorzeichen des Stalinismus war hiermit ein genereller Wandel in der osteuropäischen Erinnerungspolitik verbunden, insbesondere was den Umgang mit der Massenvernichtung der europäischen Juden anging. Die Shoah wurde tabuisiert und versank "in the Orwellian memory hole of history".36 Während die sozialistischen Staaten die Massenvernichtung zwar keineswegs leugneten und sie auch politisch instrumentalisierten, wurde die antisemitische Zielrichtung der NS-Politik weitgehend ausgeblendet. Der Nationalsozialismus mutierte zum "Faschismus", der antisemitische Vernichtungskrieg galt als imperialistischer Eroberungskrieg und als zentrale Opfer des Nationalsozialismus wurden nicht die Juden, sondern die Sozialisten angesehen. Diese im osteuropäischen Einflussbereich flächendeckende Lesart der Geschichte führte zu einer weitgehenden politischen und moralischen Entkoppelung der eigenen antiisraelischen Politik, die zu politischen Zwecken von der geschichtspolitischen Instrumentalisierung des Zweiten Weltkriegs losgelöst betrachtet wurde. Anders formuliert: Man konnte gegenüber Israel und auch den Juden in Osteuropa antisemitisch argumentieren, ohne sich dabei selbst in einer Kontinuität zum Nationalsozialismus sehen zu müssen, schlicht weil der Antisemitismus als genuines Kernelement des Nationalsozialismus ausgeblendet wurde. Dies wurde am deutlichsten sichtbar in den zahlreichen antisemitischen Agitationen und Aktionen des Stalin-Regimes, im tschechoslowakischen Slánský-Prozess von 1952 und im Merker-Prozess von 1955 in der DDR sowie in der antisemitischen Pressekampagne in Polen im Kontext der Studentenbewegung 1967/1968.
Auf diese Weise konnte der antikapitalistische Kampf des 19. Jahrhunderts, der in weiten Teilen Osteuropas bereits als antijüdischer Kampf geführt worden war, in der Sowjetära ohne ideologische Reibungsverluste fortgeführt werden. Im Fadenkreuz standen nach wie vor "Moderne" und "Kapitalismus" – beides wurde aber im 19. wie im 20. Jahrhundert in den meisten osteuropäischen Staaten antisemitisch ausbuchstabiert. Die auf der ökonomischen, vor allem aber politischen und damit soziokulturellen Basis des Absolutismus fußenden sozialistischen Bestrebungen haben von vornherein auf dasjenige Moment des Politischen verzichtet, das die bürgerliche Gesellschaft in Westeuropa zunächst mühsam dem Absolutismus abgetrotzt hatte: die Freiheit des Individuums. Die politischen Kulturen Osteuropas waren aber – ohne eine Chance des Menschen, in Freiheit über sich selbst bestimmen zu können – folgerichtig nicht in der Lage, eine Emanzipation vom Mythos zu ermöglichen. Stattdessen wurden Volksglauben und Nationalmythen kultiviert, der religiöse durch einen säkularen Glauben (an den Sozialismus) ersetzt, die Unfreiheit des Absolutismus unmittelbar in die Unfreiheit des Sozialismus überführt und der religiös imprägnierte Antijudaismus zum emotionalen Kitt der politischen Kulturen, auf dem die scheinbar moralisch integre Form des modernen Antisemitismus aufsetzte, die den Hass gegen die Juden in ihrer kollektivierten Form richtete: gegen Israel.
Der seit der osteuropäischen Transformation von 1989/1990 artikulierte Antisemitismus, der gegenwärtig politisch am einflussreichsten wohl in Russland, Ungarn und Polen zu vernehmen ist, fällt dabei auf den Boden von nichtdemokratischen politischen Kulturen, in denen gegenaufklärerische Mythen, antipartizipatorische Politikkonzepte und sozialdemagogische Desintegrationsvorstellungen abermals die politischen Agenden dominieren. Die maßgeblich von der Sowjetunion geprägten Ursprünge des antizionistisch-antiisraelischen Antisemitismus wirken bis in die Gegenwart fort. Wenngleich empirische Studien diese Spielart des Antisemitismus für fast alle europäischen Staaten als relevant nachweisen,37 so kommen wesentliche Impulse doch immer wieder aus dem linken Spektrum, was sowohl die federführend durch linke Akademiker-Vereinigungen Großbritanniens initiierten antiisraelischen Boykott-Kampagnen als auch die europaweit vor allem im linksextremen und linksalternativen Spektrum zu vernehmende instrumentelle Unterstützung für israelkritische Juden zeigen.
Ausblick: Arabisch-islamischer Antisemitismus
Dass der arabisch-islamische Antisemitismus in Europa als jüngste Artikulationsvariante des Antisemitismus gilt, verweist auf eine ungenaue Rezeption: Denn während die mediale, transnationale Wahrnehmung des arabisch-islamischen Antisemitismus im europäischen Kontext erst seit wenigen Jahren besteht, ist das Phänomen selbst deutlich älter. So kann in der Forschung von einem "Recycling alter Mythen"38 gesprochen werden, wenn der islamisch geprägten Antisemitismus in den Blick genommen wird. Nicht nur die ideologischen und politischen Kooperationen zwischen europäischen Linksextremisten und arabischen Islamisten in den 1960er und 1970er Jahren, sondern bereits die Allianzen von Nationalsozialismus und führenden islamischen Gruppierungen um den Großmufti von Jerusalem in den 1930er Jahren zeigen,39 dass die Integration eines islamischen Antisemitismus in Europa über Traditionsbestände verfügt, die weit vor die islamischen Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA und ihre Pendants in Madrid (2004) und London (2005) verweisen.40
Die Frage, ob es einen genuinen Zusammenhang zwischen islamischer Religion und antijüdischer bzw. antisemitischer Orientierung gibt, wird kontrovers diskutiert. Auf empirisch-vergleichender Ebene ist festzustellen, dass es einen rasanten Bedeutungszuwachs von antisemitischen Agitationen und Aktionen in Europa in den letzten Jahren gibt, die muslimische Hintergründe haben und von islamischen Trägergruppen ausgeübt werden.41 Der islamische Antisemitismus ist geprägt von dezentral organisierten und operierenden Gruppierungen, einer primär über das Internet erfolgenden Vernetzung und dabei vor allen Dingen ein Phänomen junger Männer. Für die Auseinandersetzung bedeutsam ist, dass der islamische Antisemitismus zugleich den Versuch der Selbstimprägnierung gegen jede Form von Kritik betreibt, vor allem durch den Verweis auf seine angebliche Legitimität aufgrund des Nahostkonfliktes, aber auch dadurch, dass Kritikern und Gegnern des radikalen Islam generalisierend "Islamophobie" unterstellt wird.42
Der islamische Antisemitismus in Europa, der im internationalen Kontext die gegenwärtig einflussreichste Form des Antisemitismus darstellt, integriert ebenso wie die beiden anderen Formen des transnationalen Antisemitismus in Europa ein gewalttätiges und auf die physische Tötung von Jüdinnen und Juden zielendes Potenzial: Denn nach dem Nationalsozialismus und dem Linksterrorismus ist der islamische Antisemitismus die dritte große Bewegung in Europa, deren Programmatik supranational ausgerichtet ist und die zugleich eine gegen Israel gerichtete antisemitische Vernichtungsdimension verfolgt.
Neben den großen islamischen Terroranschlägen von London und Madrid, deren Legitimationskontexte jeweils antisemitische Dimensionen inkorporiert haben, ist eine Reihe von muslimischen Gewalttaten gegen Jüdinnen und Juden in jüngster Vergangenheit in Europa zu verzeichnen.43