Europa und Nation als Rahmen von Historiographie
Im 18. Jahrhundert wurde Europa erstmals als Kultur im Singular definiert.1 Dabei wurde die Vorstellung von Europa als einer Entität nicht mehr aus der Gleichung "Europa = Christenheit" gewonnen, sondern mithilfe der Positionierung Europas als historisch-kulturelle Einheit, die eine spezifische Rolle in der Menschheitsgeschichte ausfüllte. Im Wesentlichen betrachtete man Europa als Vorkämpferin des Fortschritts. Die Definition Europas war damit immer noch essentialistisch und wurde nicht zuletzt von einer weiterhin essentialistischen geographischen Definition des Kontinents getragen, aus dessen Grenzen auch die Grenzen seiner Kultur und seiner Geschichte abgeleitet wurden.
Der geographische Essentialismus ermöglichte es, trotz der Annahme einer Entität staatliche, sprachliche, religiöse und zivilisatorisch-nationale Vielfalt zu integrieren. Die Entität Europa war von gedachten und oft kartographisch visualisierten linearen Grenzen durchzogen, die staatliche, nationalkulturelle, sprachliche oder konfessionelle bzw. religiöse Subentitäten bezeichneten. Die gedachte Gemeinsamkeit im menschheitsgeschichtlichen Fortschritt wurde dadurch nicht infrage gestellt.
Nach und nach schlichen sich jedoch asymmetrische Vorstellungen in dieses glückliche Selbstbild ein. Die langsamere Modernisierung in Ostmittel-, Südost- und allgemein Osteuropa ließ in West- und Mitteleuropa (= dem "Westen") ein Überlegenheitsgefühl aufkommen. Der "Westen" industrialisierte und transformierte sich insgesamt im Zuge der Auswirkungen der Französischen Revolution und der napoleonischen Epoche, die Form des Nationalstaats begann sich durchzusetzen und wurde durch den Konstitutionalismus geprägt, der zur Stabilisierung der neuen Staatsform beitrug. Die Gesellschaft verwandelte sich im ganzen Westen von einer vorrevolutionären feudalen in eine postrevolutionäre bürgerliche.
Im "Osten" hingegen blieb die Figuration der adlig-grundherrschaftlichen Gesellschaft viel länger und grundlegender erhalten; die Industrialisierung spielte dort insgesamt nur eine rudimentäre Rolle. Beherrschend waren nach den Teilungen Polens drei Imperien: Das russische, das österreichische und das osmanische, in denen vorläufig weder die Staatsform des Nationalstaats noch der Konstitutionalismus Fuß fassen konnten. Auch weitere Indikatoren von Modernisierung wie die Alphabetisierung, die Ausdifferenzierung des Schul- und Bildungswesens (in Primar- und Sekundarstufe sowie den tertiären Bereich mit klar voneinander unterschiedenen Bildungszielen und Inhalten, die nach Allgemein- und Berufsbildung getrennt werden), die Verringerung des Stadt-Land-Gefälles, die schnelle und durchgreifende Technisierung der Lebenswelt, der Ausbau und die Verdichtung jeglicher Infrastruktur und andere unterlagen einem West-Ost-Gefälle. Das Gefälle flachte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab, aber da war der asymmetrische Blick von West nach Ost längst zum Habitus geworden. Der zunehmende Rassismus erniedrigte die Slawen und verstärkte die gedachten Hierarchien.
Der Zerfall zweier dieser Großmächte – Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich – sowie die Transformierung des russischen Imperiums zur Sowjetunion, die Instabilität der mit den Friedensverträgen von 1918/1919 neu gegründeten Nationalstaaten und die allenthalben gewalttätig ausgetragenen politischen und ideologischen Gegensätze hinderten zwar nicht daran, an der eingangs beschriebenen Idee von Europa als Kultur im Singular festzuhalten, doch dem entsprach kaum eine materielle Wirklichkeit.
In der Praxis hatte sich zumindest eines europäisiert: die Form des Nationalstaats, die sich mit der Fiktion der Einheit von Staatsvolk (Nation), Staatsgebiet und nationaler Kultur verband. Nicht zuletzt machten auch ethnische Säuberungen, Vertreibungen[] und der Holocaust aus dieser anfänglichen Fiktion bis 1945 eine düstere Realität. Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist durch Zuwanderung und andere Faktoren aus der vermeintlichen Realität homogener Nationalstaaten von 1945 teilweise wieder eine eindeutige Fiktion geworden, an der jedoch weiterhin festgehalten wird, wenn auch in abgeschwächter und meist weniger aggressiver Form als früher.
In der Historiographie hat daher nicht ohne Grund der Rahmen des Nationalen eine hohe Verbindlichkeit beansprucht. Der Blick auf Europa war und ist durch das Konglomerat von Nationalstaaten, das in Europa immer noch vorrangig ist, geprägt. Gleichwohl werden seit drei Jahrzehnten verschiedene methodische Ansätze erprobt, die von einer grundsätzlichen Hinterfragbarkeit des Nationalen ausgehen, ohne dessen wirkmächtige Existenz einfach zu übersehen. In diesem Kontext wurde der Ansatz der Kulturtransferforschung entwickelt.
Kulturtransferforschung: Ansatz und Grundlagen
Zu den Urtexten der Kulturtransferforschung gehören einige Aufsätze, die Michel Espagne (geb. 1952) und Michael Werner (geb. 1946) Mitte der 1980er Jahre publizierten.2 Beide Autoren verwiesen auf den Zusammenhang der Kulturtransferforschung mit der Erforschung kolonialer Kulturen, was wenige Jahre vor dem fünfhundertjährigen Jubiläum der Landung von Christopher Kolumbus (ca. 1451–1506) in Amerika auch ohne besondere Betonung politisch war. Politisch war aber auch der Ansatz, Transfers zwischen national-kulturellen Räumen bzw. regional-kulturellen Räumen zu erforschen. Dabei wurde nicht behauptet, dass solche kulturellen Räume objektive unumstößliche Gegebenheiten seien. Statt dessen wurde und wird diese weit verbreitete Annahme unumstößlicher Gegebenheiten, die zum Kern der nationalen Mythen in Europa zählt, mittels der Kulturtransferforschung aufgelockert, wenn nicht aufgelöst.
Insoweit hat der Ansatz der Kulturtransferforschung einen konzeptionell-emanzipatorischen und – in gewissen Grenzen – einen politischen Charakter. Für diesen Ansatz spielt im Grunde alles, was mit der Entgrenzung von Kategorien zu tun hat, eine entscheidende Rolle, so etwa Verflechtungen und Netzwerkbildungen. Die radikalste Formel hierfür lieferte Zygmunt Bauman (1925–2017) mit seinem Buch Liquid Modernity, in dem er "Verflüssigungsprozesse" in der Geschichte der Moderne und der Gegenwart beschreibt.3 Ohne den Ansatz der "Liquid Modernity" zu einem Kind der Kulturtransferforschung zu machen, setzt er einen Grundgedanken fort, den diese Forschung in einer Zeit zu implementieren versucht hat, in der in den historischen Kulturwissenschaften nationale Rahmengebungen noch sehr stark verbreitet und universitär-institutionell abgesichert waren, Damals wie heute geht es um das Nichtnationale am Nationalen, um den genuin interkulturellen oder métissage-Charakter einer jeden Kultur, der jedoch aus nationalpolitischen Gründen nach wie vor systematisch geleugnet oder ausgeschlossen wird. Damit wurde auch der traditionelle Parameter des "fremdkulturellen Einflusses" verschoben: Der Transfer kultureller Referenzen oder, materiell gesprochen, von Kulturemen oder Strukturemen4 unterschiedlichen Ausmaßes, wird zu einer Grundtechnik aller europäischen Kulturen, die insoweit, also auch entgegen regionalen, nationalen oder kontinentalen (Selbst-)Identifizierungen, immer interkulturell oder métissage-artig sind. Die oftmals stark ideologisch geführte Debatte um sogenannte Fremdeinflüsse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging hingegen von festen kulturellen Identitäten aus, für die diese Einflüsse, je nach ideologischem Standpunkt, eine Gefahr oder eine Bereicherung bedeuteten. Diese Haltung ist auch gegenwärtig noch verbreitet, und für Illusionen im Hinblick auf eine grundsätzlich positive Haltung zum sogenannten "Fremden" in der Kultur gibt es keinen Platz.
Kulturtransferforschung kann folglich eine aufklärerische Seite besitzen, die unverändert sinnvoll und zweckgemäß ist. Das heißt, dass alle Überlegungen dazu, was heute Schwerpunkte der Kulturtransferforschung sein sollten und wohin sich diese orientieren kann und soll, diese aufklärerische Absicht im Blick behalten müssen. Keine der Wissenschaften ist gesellschaftlich und politisch neutral, alle sind vielmehr kontextbezogen und -verflochten. Zudem kann eine empirisch arbeitende Kulturtransferforschung nachweisen, dass es keine Kultur gibt, die nicht interkulturell bzw. die nicht métissage ist.
Sinn und Zweck von Kulturtransferforschung ist es außerdem, Antworten auf die Frage, was Kultur ist, zu geben. Der jeweilige Kulturbegriff hängt auch von den unterschiedlichen Erkenntnisinteressen bzw. den politischen Zielen und Zusammenhängen ab. Im Rahmen der Kulturtransferforschung hat sich die Debatte auf eine Einordnung von Kultur als eine "Verfahrens- oder Vorgangsweise" festgelegt. Der Wiener Soziologe Lutz Musner versteht Kulturtransferforschung daher als die Erforschung von Austauschprozessen:
Die Kulturtransferforschung hat das wissenschaftliche Interesse seit den 1980er Jahren jenen Austauschprozessen zugewendet, die zwischen Kulturräumen und kulturellen Systemen ablaufen. Bei diesen Austauschprozessen handelt es sich um Vorgänge der interkulturellen Übertragung und Vermittlung von Texten, Diskursen, Medien und kulturellen Praktiken, die durch je spezifische Muster der Selektion, Mediation und Rezeption gesteuert werden.5
Musner verweist auf das Interesse der Erforschung von
eigensinnige[n], subversiv und ambivalent verlaufende[n] Austausch- und Aneignungsprozesse[n] zwischen den Kulturen, [die] unter den Stichworten 'Kreolisierung', 'Hybridisierung' und 'cultural flows' verhandelt [werden]. … Diese Begriffe … indizieren einen Übergang von einem lokalen zu einem mobilen Paradigma des Kulturbegriffs, da … Metaphern 'einer Welt in Bewegung' entworfen werden, die den globalen Austausch von Ideen und Ideologien, Menschen und Waren, Bildern und medialen Botschaften, Software und Hardware umschreiben.6
Dies abstrahiert er so, dass Kultur als "Transfervorgang" beschreibbar sei.7 Er warnt jedoch vor allzu einseitigen Auslegungen des Kulturbegriffs, indem er an das Diktum von Jacques Derrida (1930–2004), es gebe nichts außerhalb des Textes,8 anknüpft:
Konzentrieren wir unsere Forschung jedoch zu sehr auf das Imaginäre, so verlieren wir allzu leicht die materiellen Rahmungen menschlicher Vorstellungswelten aus dem Blick und richten wir unsere Aufmerksamkeit zu sehr auf das, was als hybrid, diasporisch, translokal und transitorisch erscheint, so übersehen wir schnell das, was gleich, starr und träge bleibt.9
Somit hat es Kulturtransferforschung sowohl mit dem Trägen als auch mit dem Flüssigen sowie mit dem Aufeinandertreffen beider zu tun. Behält man diese Kurzformel im Auge, erscheinen kulturelle Transfers z. B. durch Familiennetzwerke ebenso relevant wie kulturelle Transfers zwischen nationalkulturellen Räumen.
Makro- und Mikrogeschichte kultureller Transfers
In der Frühen Neuzeit waren es zunächst nicht-staatliche Netzwerke aller Art (Familien, humanistische und ökonomische Korrespondenten, Künstler, Musiker, Handwerker etc.), die kulturelle Transfers in Gang setzten. Ein Großteil dieser Transfers hing mit der italienischen Renaissance zusammen, die ein allumfassendes Kulturmodell entwickelte. Die im späteren 17. Jahrhundert, spätestens seit Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715)[] einsetzende Hochkonjunktur französischer kultureller Transfers nicht zuletzt in verschiedene dem Alten Reich zugehörige Regionen funktionierte anders: Unter diesem König inszenierte Frankreich als erstes europäisches Land Kultur bewusst und mit dem Ziel kultureller Transfers als nationale Kultur, kodierte französische Transfers also zugleich als nationale Transfers in andere nationale Kontexte. Dies war schon im 16. Jahrhundert angelegt, denn der relative Widerstand gegen italienische Kulturtransfers, der in jenem Jahrhundert in Frankreich geleistet wurde, ist nicht zu verkennen, wenngleich im Rückblick von einer "France italienne" gesprochen wird.10
Zusätzlich zu diesem Makrorahmen von Kulturtransfer in Renaissance und Früher Neuzeit haben wir es in Europa auch mit unzähligen kleinteiligeren kulturellen Transfers vom 15. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution zu tun, unter die sich weitere Modelle mittlerer Größenordnung und Reichweite mischen (Spanischer Hof, Niederländische Kunst, Englisches Verfassungsrecht etc.). Wie in anderen Forschungs- und Wissensfeldern lässt sich auch innerhalb der Kulturtransferforschung die Existenz einer Makrogeschichte erkennen, die mit vielen Mikrogeschichten des Kulturtransfers verflochten ist. Das Verhältnis von Makro- und Mikrogeschichte war und ist Gegenstand einer kontroversen Debatte, die unter verschiedenen Namen immer wieder auflebt, z.B. im Zusammenhang mit "Eigensinn" als Forschungskategorie, auf den Musner bereits angespielt hatte.11 Es handelt sich jedoch nicht um sich gegenseitig ausschließende Deutungsmittel, sondern eines ist das auf das andere angewiesen.
Wenn Fernand Braudels (1902–1985) Sammelbegriff vom "Modell Italien" von 1400 bis 1600 beibehalten wird,12 so ist zu fragen, warum mit der italienischen Renaissance erstmals ein Kulturmodell entstand, das während rund zweier Jahrhunderte so massive kulturelle Transfers auslöste, dass von einem umfassenden kulturellen Europäisierungsprozess gesprochen werden kann. Zwar wird schon längst auch in Bezug auf das Mittelalter von Kulturtransfer gesprochen,13 aber es existierte damals keine vergleichbare Modellkultur. Die Gründe dafür, dass die italienische Renaissance das erste umfassende europäische Kulturmodell wurde, sind sowohl in Italien selber als auch in seinem Mittelmeerkontext zu suchen, nicht zuletzt aber auch in der Formierung einer europäischen Gesellschaft, die nach und nach ein europäisches Bewusstsein, wenn nicht sogar eine europäische Identität entwickelte.
Versetzen wir uns kurz zurück in das Moskau des Jahres 1474: Damals warb der russische Gesandte Semion Tolbusin in Venedig im Auftrag des Großfürsten Iwan III. (1440–1505) den aus Bologna stammenden Architekten Aristotele Fioravanti (1415–1485) an, um die sich seit 1472 in Bau befindliche und 1474 eingestürzte Mariä-Entschlafens-Kathedrale (Uspenskij Sobor) noch einmal neu aufzubauen. Als Vorbild der 1472 von Moskauer Baumeistern begonnenen Kathedrale war "der gleichnamige Sakralbau in Vladimir aus dem 12. Jahrhundert" gewählt worden, "der von byzantinischen Baumeistern gebaut worden war und eine besondere sakrale und symbolische Bedeutung als Stütze des Christentums gegen die Tataren besaß. Die Übernahme dieser Form sollte … fortan Moskau und nicht Vladimir als Zentrum des sich konstituierenden Staates inszenieren."14
Auch wenn in der Frühen Neuzeit aus katholischer und später protestantischer Sicht der russisch-orthodoxen Kirche gerne, aber nicht einstimmig, der Charakter einer christlichen Kirche abgesprochen wurde, lässt sich an diesem Beispiel der Zusammenhang kultureller Transfers mit Alteritätsdiskursen, Grenzziehungen und der Selbstdefinition Europas als einen kulturelle Identität besitzenden Raum gut nachvollziehen. Im späten 15. Jahrhundert war die historische Furcht vor den Tataren und Sarazenen, die Inbegriffe machtvoll agierender Heiden, durch das Feindbild der Türken und die dazu gehörigen Alteritätsdiskurse verdrängt worden, nachdem das Osmanische Reich sich ausgeweitet und Konstantinopel erobert hatte. Unter verschiedenen Leitbegriffen begannen das östliche und das südöstliche Europa (Polen, Moskau, Donaufürstentümer, Kroatien etc.) sich als antemurale christianitatis, also als Bollwerk des Christentums zu verstehen. In Mittel- und Westeuropa gesellten sich affirmative Identitätsdiskurse hinzu, in denen Europa als Haus, als Körper oder mit Hilfe anderer Metaphern als Einheit charakterisiert wurde. Die kirchlichen bzw. konfessionellen Gegensätze und Konflikte hatten hierauf keinen hinderlichen Einfluss. Auch wenn Russland die Zugehörigkeit zu dieser Einheit immer wieder abgesprochen wurde, gehörte dieses Land schon vor dem diesbezüglich aufgeschlosseneren 18. Jahrhundert zu diesem Verständnis einer Entität namens Europa, innerhalb derer sich kulturelle Transfers aus Italien entfalteten.
Auf der anderen Seite – auch geographisch gesprochen – schufen die Seereisen längs der afrikanischen Westküste im 15. Jahrhundert sowie etwas später die sogenannte Entdeckung Amerikas die Voraussetzung für weitere Alteritätsdiskurse, die zur Selbstdefinition Europas und der Europäer beitrugen. Zugleich nahm eine soziale Figuration Gestalt an, die sich als Europäische Gesellschaft charakterisieren lässt: Die europäischen Herrscher- und Fürstendynastien waren untereinander verheiratet und durch vielfache Verwandtschaften miteinander verwoben. Verknüpft mit diesem Netz waren wiederum die Hofgesellschaften, das Klientel, Amtsträger, religiöse Orden, die Kirchen, Künstler und Gelehrte. Dieses Netzwerk bündelte alles, was mit Macht verbunden war, also mit politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller und spiritueller bzw. kirchlicher Macht. Mit dieser Europäischen Gesellschaft sind die massenhaften italienischen kulturellen Transfers verbunden.
Das Verhältnis von Europa als definierter Einheit und Identität, von Europäischer Gesellschaft und von Kulturtransfer ist spätestens ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als reziprok, als einander gegenseitig bedingend und unterstützend anzusehen. Werfen wir einen Blick auf ein weiteres Beispiel, nämlich die Italiener am polnischen Hof im frühen 16. Jahrhundert.15 Sigismund I. (1467–1548) heiratete 1518 Bona Sforza (1494–1557), in deren Begleitung 287 Italiener nach Polen kamen – im Übrigen ein sehr gutes Beispiel für die zentrale Bedeutung von Frauen für kulturelle Transfers.16 Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts lebte eine relativ hohe Zahl von Italienern am polnischen Hof:
"Sie nahmen feste Plätze in der höfischen Hierarchie ein. Als Schreiber der Kanzlei und Sekretäre sowie Erzieher der Kinder … spielten sie eine bedeutende Rolle in der höfischen Gesellschaft. ... Zahlreich waren auch Stallmeister vertreten und, ebenso bedeutend, Apotheker, Ärzte und Küchenmeister, die auch andere Funktionen übernahmen wie etwa die Beschaffung von Luxusgütern."17
Letzteres verweist auf eine in der frühen Neuzeit gängige Transfersituation. Bona Sforza und die von ihr mitgebrachten italienischen kulturellen Mittler etablierten zudem Musik und Tanz, und ihr Sohn Sigismund II. August (1520–1572) behielt diese Neuerungen bei. Italienische Musiker gelangten außerdem an den Hof des Krakauer Bischofs. Weitere Italiener wurden im Lauf der Zeit angeworben, etwa Giovanni Giacomo Caraglio (1500–1565) als "Kupferstecher, Medailleur und Juwelier", der sich erfolgreich "um die Anerkennung seines Adelstitels" bemühte, was es ihm wiederum erlaubte, in Polen eine kirchliche Pfründe zu erwerben.18
Von vielen dieser Italiener, auch in der nachfolgenden Generation, ist das weitere Schicksal bekannt. Kennzeichen sind etwa eine gewisse Mobilität zwischen Polen und Italien, der Erwerb angesehener Ämter, z.B. eines Zunftmeisters, wie mehrfach in Krakau geschehen, Verheiratung mit einer Polin, gelegentlich Nobilitierung etc. Dessen ungeachtet integrierten sich die Italiener in Polen, speziell in Krakau, nicht so vollständig in die einheimische Gesellschaft, dass sie mit dieser verschmolzen wären. Letzteres scheint also keine Vorausbedingung für Kulturtransfer und sein Gelingen zu sein.
Das polnische Beispiel belegt zudem die zu erwartende Mittlerfunktion verschiedenster Höfe, etwa der Familien Sforza und d'Este. Man könnte von einem Transfernetzwerk sprechen, das über und durch die Höfe organisiert wird. Auch ohne weitere Details können so die Europäische Gesellschaft und ihren Zusammenhangs mit Kulturtransfers anschaulich gemacht werden. Dabei zeigen etwa Konflikte mit Baumeistern und anderen Fachkräften vor Ort, dass sich kulturelle Transfers auf Innovationsbereiche konzentrieren, wie überhaupt Innovation ohne Kulturtransfer nicht denkbar gewesen wäre.
War dies alles von Dauer? Das war weder im polnischen noch in anderen Fällen garantiert. In Polen machten sich mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts immer stärker nationale Abgrenzungsbemühungen bemerkbar, die wir im Allgemeinen unter dem Schlagwort des Sarmatismus zusammenfassen und die kulturelle Transfers minimierten. Eine ähnliche Entwicklung machte Russland im 16. und 17. Jahrhundert durch, so dass erst wieder mit Peter dem Großen (1672–1725)[] umfassende kulturelle Transfers ermöglicht wurden. In Mitteleuropa, das man in etwa mit dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation identifizieren kann, sowie in Westeuropa wirkten kulturelle Transfers zumeist viel nachhaltiger. "Bis ins 17. Jahrhundert bestätigen dabei die in der Forschung vorhandenen Kartographierungen der erhobenen Daten, dass die größte infrastrukturelle und Vernetzungsdichte im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches und seiner direkten Nachbarn erreicht wurde. Man kann ungefähr eine Außenlinie ziehen, die von Stockholm über London nach Lissabon, von Lissabon durch Spanien nach Rom und Neapel, von dort zu den Adriatischen Küstenstädten, über Venedig und Triest nach Buda und Ofen, von dort nach Krakau und wieder in den Norden in den Raum Danzig-Marienburg-Königsberg führt. Dies ergibt ein ausgedehntes Zentrum, um das herum sich eine breite Peripherie zog, die keineswegs vom Geschehen abgekoppelt war. In dem darin liegenden Raum waren Infrastruktur, Handel und Kommunikation am dichtesten, hier fand sich die Mehrzahl der Druckereien, der Höfe, der Universitäten, in diesem Raum spielte sich der Grand Tour ab, verbreitete sich die Gewohnheit des Kaffeetrinkens, befand sich der größte Teil sämtlicher architektonischer Zeugnisse der Renaissance und auch noch des Barock, um nur einiges aufzuzählen."19 Hier wurde durch die Europäische Gesellschaft mittels einer Vielzahl kultureller Transfers ein Europäisierungsprozess in Gang gesetzt, der in Metaphern der Einheit für Europa zusammengefasst wurde.
Inhaltlich gesehen erstreckten sich kulturelle Transfers auf beinahe alles Erdenkliche. "Kunst" – der Kunstbegriff erstreckt sich dabei auf sehr viel mehr als nur die bildenden Künste – führte die oben aufgezählten Sozialgruppen, die die Europäische Gesellschaft im Wesentlichen ausmachten, zusammen. Oder anders ausgedrückt: die Europäische Gesellschaft wird als solche durch "die Kunst" sichtbar, sie macht sich dadurch sichtbar. Dieses Sichtbarwerden sowie sich Sichtbarmachen muss als Grundlage des Aufbaus von Macht, deren Erhalt und Erweiterung und natürlich deren Repräsentation gesehen werden. Kulturtransfer ist daher, sehr viel umfassender als in der bisherigen Forschung geschehen, mit der Geschichte von Macht und der Ausbildung raumübergreifender Gesellschaften zu verbinden.
Ein gewichtiger Einwand könnte sein, dass in dem hier konstruierten Zusammenhang von Europäischer Gesellschaft, der Definition Europas als Einheit und Identität sowie von Kulturtransfer und Kunst die Masse der ländlichen und städtischen Bevölkerungsschichten herausfällt. Dieser Eindruck ist zum Teil schlicht auf mangelnde Forschung zurückzuführen, zum Teil auf fehlende Quellen. Die sozialen Verflechtungen der Europäischen Gesellschaft enden freilich nicht mit den konkretisierten Sozialgruppen. Wenn man beachtet, dass jeder Transfer nicht nur Infrastrukturen aller Art benötigt, sondern auch eine materielle Seite besitzt, also ohne eine Vielzahl von Zulieferern und Zuarbeitern gar nicht denkbar ist, so lässt sich der Aspekt sozialer Vernetzungen und Netzwerke, die hinter den kulturellen Transfers stecken, sehr weit ausdehnen. Unerheblich werden die Vernetzungen erst dann, wenn von einem Einfluss auf das Konstituieren, Erhalten, Ausbauen und Sichtbarmachen von Macht nicht mehr gesprochen werden kann.
Kulturtransferforschung im Kontext anderer kulturwissenschaftlicher Ansätze
Kulturtransferforschung kommt nicht umhin, mit der Annahme voneinander unterscheidbarer Einheiten, die zweckmäßigerweise als Kohärenzen20 zu bezeichnen sind, zu arbeiten. Voneinander unterscheidbar heißt jedoch nicht linear abgegrenzt, denn Kohärenzen sind in alle Richtungen miteinander verbunden. Beliebig viele Kohärenzen können Cluster oder Makrokohärenzen ausbilden, in denen Einheiten wie die "Nation", eine räumlich verwurzelte "Kultur" oder eben auch "Europa" als zeitgebundene Codierungen materieller, geschichtlicher Verhältnisse wiedererkannt werden können.
Neuere Ansätze wie histoire croisée21 oder entangled history22 lösen insoweit kein Problem, als sie die schwer definierbare operative Einheit "Kultur" in der Kulturtransferforschung, welche sowohl ein Kulturem als auch eine komplexe Kultur meinen kann, durch eine andere, ebenso schwer definierbare operative Einheit ersetzen, nämlich "Geschichte" oder im Plural "Geschichten". Gemeinsam ist allen Ansätzen das Ziel, möglichst "ent-grenzt" zu denken. Das bezieht sich nicht nur auf geographische, sondern genauso auf soziale, kulturelle und andere komplexe Räume wie den frühneuzeitlichen Hof, die Nation oder die historische Region. Dieser Bedarf an ent-grenztem Sehen und Verstehen ist eindeutig in unserer Gegenwart verwurzelt. Ohne ihn würde uns die Geschichte immer unverständlicher, da wir sie nicht mit den Kategorien des ent-grenzten Verstehens – als da sind das Fließende, das sich Vernetzende, Verflechtende und Kreuzende – in unsere gegenwärtige Wahrnehmungswelt übersetzen könnten.
Anstelle von Kulturtransfer werden seit einigen Jahren verstärkt die Begriffe des Austausches (cultural exchange) und der Übersetzung (translation) bemüht.23 Übersetzung kann sowohl im üblichen Wortsinn der sprachlichen Übersetzung als auch auch im Sinne kultureller Übersetzung verwendet werden. Kultureller Austausch betont die bi- oder pluridirektionelle Ausrichtung kultureller Transfers, gegebenenfalls auch deren Reziprozität. Kulturtransfer hingegen legt das Augenmerk auf den Prozess der konkreten Veränderung vor Ort. Dabei kann es sich um einen häuslichen, lokalen, regionalen, transregionalen, nationalen, imperialen oder noch größeren Kontext handeln.
Eine große Rolle für Kulturtransferforschungen spielt die Kontextualisierung. Die Einzelstudien sind allgemeinen Forschungsfragen und Erkenntnisbedürfnissen zuzuordnen: Das zitierte Buch von Marina Dmitrieva (geb. 1953), Italien in Sarmatien: Studien zum Kulturtransfer im östlichen Europa in der Zeit der Renaissance, ist ein gutes Beispiel dafür, wie Kulturtransferforschung für die Frage etwa nach der Europäisierung Ost- und Ostmitteleuropas fruchtbar gemacht werden kann, die ihrerseits in der aktuellen Debatte um die Rolle der ostmittel- und osteuropäischen Länder in und für Europa wichtig ist. Es geht dabei nicht um starre Parameter: Kulturelle Transfers sind wie Ebbe und Flut und daher selten von dauerhafter Wirkung.
Die Kontextualisierung von Kulturtransfer eröffnet ein weites Feld: Aus naheliegenden Gründen, nämlich aufgrund der Quellenlage und -zugänglichkeit, besteht ein Großteil der Transferforschung in einer "Geschichte von oben", während Kulturtransfer als "Geschichte von unten" nur schwach ausgebildet ist. Kulturelle Transfers sind zudem eng mit der Konsumgeschichte verwoben, doch obwohl dies mittlerweile als gesicherte Erkenntnis gelten kann, wird auf diesen Zusammenhang allzu wenig Rücksicht genommen.24 Es ist wichtig und ertragreich, den oben etwas ausführlicher skizzierten Kontext von Europäischer Gesellschaft, Europa, Macht, Kulturtransfer und Kunst in die Forschung einzubeziehen, denn er verändert sich im 18. und 19. sowie erneut im späten 19. und 20. Jahrhundert.25
In der Forschungslandschaft der historischen Kulturwissenschaften stellt Kulturtransferforschung eine Brücke zwischen Forschungsansätzen unterschiedlicher Herkunft her: Manchen gehen die erkenntnistheoretischen Ent-Grenzungen zu weit, weil die verantwortlichen und verantwortlich zu machenden historischen Akteure in den Begrifflichkeiten von Netzwerk, Vernetzung, Verflechtung, Hypertext der Geschichte usw. verloren zu gehen scheinen. Umgekehrt scheinen Forschungsstrategien, die mit abgrenzenden Einheiten wie Nation, Elitegesellschaft, Ethnien etc. arbeiten, nicht mehr ausreichend. Kulturtransferforschung ist wissenschaftsgeschichtlich in einem Zwischenraum angesiedelt, der sich mit den oben zitierten Begriffen wie Kohärenz(en), Makrokohärenzen (beispielsweise anstelle von "Nationalkultur") oder Clustern von Kohärenzen bzw. Makrokohärenzen (als Letzteres könnte man "Europa" klassifizieren) auf den Punkt bringen lässt.
Ausblick
Kulturelle Transfers sind in allen historischen Epochen zu finden, doch es lassen sich bestimmte Phasen unterscheiden. Als zwei aufeinander folgende Großepochen kultureller Transfers, die unterschiedlich funktionierten, wurden das Modell Italien und das Modell Frankreich genannt: Das zweite Modell löste das erste keineswegs vollständig ab, und keines der beiden war, wie skizziert, konkurrenzlos. Mit der Unabhängigkeit der nordamerikanischen Kolonien und ihrem Zusammenschluss zu den Vereinigten Staaten von Amerika entstand ein neues Modell, das lange Zeit vor allem als kulturelle Referenz für die Praktikabilität von Demokratie in einem großen Staat galt. Im 20. Jahrhundert, schwerpunktmäßig nach 1945, wurde daraus die sogenannte Amerikanisierung.
Mit der beschleunigten Modernisierung im 19. Jahrhundert multiplizierten sich die transferierten Struktureme, Kultureme und Referenzen. Im Zeitalter der Europäischen Union gibt es nun erneut ein kulturelles Großmodell, das in den EU-Verträgen und im EU-Recht festgeschrieben wurde und das, anders als in der bisherigen Geschichte, zwangsweise zu übernehmen ist, wenn ein Beitritt zur Union angestrebt wird. Diese Normen sind rechtsverbindlich, sie besitzen aber die Eigenschaften von Kulturemen und Strukturemen. Am Beispiel der Türkei lässt sich vergegenwärtigen, was das heißt: Der Transfer der europäischen Kultur, so wie die Union sie in Normen umgesetzt hat, käme dort einer neuerlichen kulturellen Revolution gleich, die jener des Kemal Atatürk (1881–1938) wohl kaum nachstünde.