Lesen Sie auch die Beiträge "L’essor de la traduction au XVIIIe siècle" und "Translating: the art of interpreting ancient texts" in der EHNE.
Einleitung
Eine angemessene Geschichte des Übersetzens schreiben zu wollen, wäre – auch als zeitlich begrenzter Überblick innerhalb des europäischen Rahmens – ein utopisches Unterfangen. Vom Übersetzen sind alle Epochen und Lebensbereiche betroffen, wobei sich die übersetzerische Tätigkeit und ihre Bedeutung je nach den politischen Konstellationen, den verschiedenen Sprachgemeinschaften und deren Entwicklungen stets im Wandel befindet. Sie hängt ab von den jeweiligen Machtverhältnissen, dem zugrundeliegenden Übersetzungsbegriff,1 der sich auf das sprachliche und inhaltliche Abbildungsverhältnis von Ausgangs- und Zieltext auswirkt,2 und von oft unvorhersehbaren wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen. Sie kann daher nicht chronologisch als gleichmäßiges Kontinuum dargestellt oder vollständig aufgelistet werden, sondern nur schwerpunktmäßig aus der Perspektive des jeweiligen Auftrags erfasst werden. Im Folgenden wird ein Überblick über die wichtigsten Strömungen der Übersetzung, die Höhepunkte und Blütezeiten und ihre herausragenden Persönlichkeiten zwischen 1450 und 1950 aus der heutigen Sicht der "Interdisziplin" Translationswissenschaft3 vermittelt, vor allem im Hinblick auf ihre Relevanz für die Geschichte Europas und dessen kulturelle und geistige Entwicklung.
Prolog: Die klassische Antike und die "Schule von Toledo"
Das Übersetzen gehört zu den ältesten Tätigkeiten der Menschheit und reicht bis zur Erfindung der Schrift – und somit der schriftlichen Kommunikation über sprachliche Barrieren hinweg – zurück.4 Einen frühen Höhepunkt des Übersetzens aus europäischer Sicht finden wir in der klassischen Antike, in der die Pionierarbeit von einem ehemaligen griechischen Sklaven namens Livius Andronicus (ca. 285–204 v. Chr.) geleistet wurde, der um 250 v. Chr. eine lateinische Version von Homers (ca. 8. Jh. v. Chr.) Odyssee verfasste.5 Somit erhielten die Römer einen Zugang zur griechischen Literatur, und im römischen Reich entstand eine rege Übersetzungstätigkeit, wobei die Übersetzer zum Teil selbst Dichter – wie etwa Horaz (65–8 v. Chr.) und Vergil (70–19 v. Chr.) – oder sonstige herausragende Persönlichkeiten waren, allen voran Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.). Ihm verdanken wir auch die ersten Ansätze einer Übersetzungstheorie: Aus seiner Abhandlung De optimo genere oratorum stammt die berühmte Maxime, man solle nicht wörtlich, sondern frei (also sinngemäß, vom Wortlaut gelöst) übersetzen ("Non ut interpres […] sed ut orator"),6 welche die Theorie des Übersetzens fast zweitausend Jahre beherrschen sollte. Diese Haltung wird besonders deutlich in der Arbeit von Eusebius Sophronius Hieronymus (345–420)[], dem Schutzpatron der Übersetzer und Verfasser der Vulgata. In einem Brief (Nr. 57) an den römischen Senator Pammachius bekannte er sich offen dazu, "non verbum de verbo sed sensum exprimere de sensu", also "nicht ein Wort durch das andere, sondern einen Sinn durch den anderen" auszudrücken, allerdings "abgesehen von den Heiligen Schriften, wo auch die Wortfolge ein Mysterium ist".7 Diese Einstellung vor allem gegenüber der Bibelübersetzung sollte manchen europäischen Übersetzern zum Verhängnis werden.
Eine ganz andere Konstellation entstand im 9. und 10. Jahrhundert in Bagdad unter dem christlich-arabischen Arzt und Gelehrten Hunayn ibn Ishaq (809–873), bekannt als Johannitius:8 Hier übersetzten verschiedene Gelehrte gemeinsam die wissenschaftlichen Werke der griechischen Antike ins Arabische. Diese wurden dann im 12. Jahrhundert von Gelehrten im spanischen Toledo ins Lateinische übertragen, wobei die philosophischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der griechischen und arabischen Welt, insbesondere in den Bereichen Medizin, Mathematik, Astronomie und Astrologie im Zentrum des Interesses standen.9 Im 13. Jahrhundert entstanden zudem Übersetzungen aus dem Arabischen in die spanische Verkehrssprache. Nicht zuletzt der ständige Austausch von Ideen und Erfahrungen verhalf diesen Übersetzern zu einer Leistung, von der die abendländische Kultur über Sprachbarrieren hinweg wesentlich beeinflusst wurde. Die "Schule von Toledo" steht für eine Blütezeit der Übersetzung in Spanien und für den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch im Europa des 12. und 13. Jahrhunderts.10
Nach 1450: Renaissance, Reformation und das "heilige Wort"
Den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit prägte ein einschneidendes Ereignis, das auch die Übersetzung revolutionieren sollte: die Erfindung des Buchdrucks mit metallenen Einzellettern Mitte des 15. Jahrhunderts durch den Mainzer Drucker Johannes Gutenberg (ca. 1397–1468). Im Mittelalter war es den Gelehrten vorbehalten gewesen, die Ergebnisse ihres Wissens schriftlich festzuhalten und auszutauschen, doch im Zeitalter der Renaissance mit ihren neuen Ideen und Entdeckungen und der Rückbesinnung auf die Antike wurde solches Wissen all denjenigen zugänglich, die lesen konnten. Nicht nur das Lateinische als lingua franca der Elite, sondern auch die Volkssprachen wurden immer häufiger verwendet. Somit begann eine Blütezeit des Übersetzens, die auf dem europäischen Kontinent von Italien ausging.11
Nicht selten betätigten sich die Buchdrucker auch als Übersetzer bzw. die Übersetzer sich als Buchdrucker, beispielsweise der unglückliche Étienne Dolet (1509–1546)[], der mit einem Privileg des französischen Königs Franz I. (1494–1547) in Lyon eine Druckerei einrichtete (siehe unten). Das erste 1476 in Brügge in englischer Sprache gedruckte Buch Recuyell of the Historyes of Troy ist eine Übersetzung aus dem Französischen von William Caxton (1422–1491), der 1476 in Westminster die erste Druckerei in England eröffnete. 74 von Caxtons 90 gedruckten Büchern sind in englischer Sprache erschienen, 20 davon hat er selbst übersetzt.12 Im deutschen Sprachraum machten sich die Frühhumanisten Heinrich Steinhöwel (ca. 1412–1480), Niklas von Wyle (1410–1478) und Albrecht von Eyb (1420–1475)[] den Buchdruck zunutze und bemühten sich darum, das humanistische Gedankengut Italiens zu vermitteln.
Wyle strebte in seinen Übersetzungen (sein Hauptwerk von 1478 trug den Titel Translatzen oder Tütschungen) danach, die lateinischen Stilzüge möglichst genau nachzubilden, und folgte damit dem humanistischen Ideal der "Liebe zur Hübschheit und Süßigkeit der Wörter".13 Seine Übersetzungen konnten daher nur "die am Lateinischen geschulten, gebildeten Leser" verstehen.14 Steinhöwel hingegen ging es in erster Linie um die sinngemäße Wiedergabe des Inhalts für ein breites deutschsprachiges Lesepublikum, wobei er sich nicht scheute, die Vorlagen durch Einflechten von Sprichwörtern, Reimen, volkstümlichen Redensarten oder Anspielungen auf aktuelle Ereignisse "anzureichern".15 Seine erfolgreichsten Übersetzungen waren die Novelle Griseldis aus dem Decamerone Giovanni Boccaccios (1313–1375) in der lateinischen Bearbeitung Francesco Petrarcas (1304–1374) – eine "Schlüssel-Publikation des süddeutschen Frühhumanismus"16 – und seine deutsch-lateinische Äsop-Ausgabe.17 Auch Eyb konzentrierte sich mehr auf den Inhalt als auf die Form. In der Vorrede zu seinem Spiegel der Sitten bekennt er sich zur Übersetzungsstrategie des Hieronymus, wenn er schreibt:
baide Comedien vnd gedicht / hab ich auß latein in teütsch gebracht nach meinem vermügen / nit als gar von worten zu worten / wann das gar vnuerstentlich ware / sunder nach dem synn vnd mainung der materien als sy am verstendlichsten vnd besten lauten mügen.18
Als literarische Übersetzerinnen betätigten sich zwei Frauen des Hochadels, ohne deren Leistung der deutsche Prosaroman des 15. Jahrhunderts nicht vorstellbar wäre.19 Auf Eleonore von Österreich (1433–1480) geht eine deutsche Übersetzung des um 1400 in Frankreich entstandenen Prosaromans Pontus und Sidonia zurück.20 Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (1394–1456) übersetzte 1437 den französischen Chanson de geste Huge Scheppel in den deutschen Prosaroman Hug Schappler, der in einer Bearbeitung von Konrad Heindörffer 1500 in Straßburg durch Johannes Grüninger (1455–1532) gedruckt wurde.21
Schon früh versuchten die Machthabenden, die Gefährdung des kirchlichen Wissensmonopols durch den Buchdruck und Übersetzungen mittels Zensur zu kontrollieren. Eines der ersten Zensuredikte stammt von dem Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg (1441–1504), der darin am 22. März 1485 zu Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen ins Deutsche Stellung nahm:
Denn wir mußten sehen, daß Bücher, die die Ordnung der Heiligen Messe enthalten, und außerdem solche, die über göttliche Dinge und die Hauptfragen unserer Religion verfaßt worden sind, aus der lateinischen in die deutsche Sprache übersetzt wurden und nicht ohne Schande für die Religion durch die Hand des Volkes wandern. … Und so befehlen wir, daß man keine Werke, welcher Art sie seien, welche Wissenschaft, Kunst und Erkenntnis sie auch immer betreffen, aus der griechischen, lateinischen oder einer anderen Sprache in die deutsche Volkssprache übersetze oder übersetzte Werke, öffentlich oder heimlich, unmittelbar oder mittelbar jeweils vor dem Druck, die gedruckten vor dem Vertrieb, durch eigens dazu bestellte Doktoren und Magister der Universität in unserer Stadt Mainz beziehungsweise solche in unserer Stadt Erfurt durchsehen und mit einem Sichtvermerk zum Druck oder zum Vertrieb freigeben lassen muß.22
In Frankreich war es Jacques Amyot (1513–1593), der vor allem mit seinen Vies des hommes illustres, einer idiomatischen und akribisch annotierten französischen Fassung der Biografien prominenter antiker Persönlichkeiten von Plutarch (ca. 45–120), auf die Entwicklung der französischen Nationalsprache besonderen Einfluss hatte.23 Auch in England unter Königin Elisabeth I. (1533–1603) – die selbst mit Vorliebe übersetzte, z. B. Werke von Boethius (480–524), Horaz und Euripides (480–406 v. Chr.) – blühte das Übersetzerwesen.24 Übertragen wurden insbesondere nichtliterarische, pragmatische Texte, etwa zu Themen wie Gesundheit, Bildung und Kriegsführung.25 Das Übersetzen wurde einerseits als Mittel zur Belehrung der aufstrebenden Mittelstände benutzt26 und andererseits, um die damals als rückständig angesehene englische Sprache zu bereichern: Es wird sogar behauptet, dass das Übersetzen erheblich zur Bildung einer nationalen Identität beitrug.27 Als klassisches Beispiel gilt auch hier das Werk Plutarch's Lives von Thomas North (1535–1601), das auf Amyots französische Fassung zurückging und ebenfalls einer breiten Leserschaft die politischen, sozialen und kulturellen Eigentümlichkeiten der damals hoch verehrten antiken Gesellschaft nahe bringen sollte.28 Unter anderem dienten die Lives als Grundlage für William Shakespeares (1564–1616)[] römische Dramen. Das ist nur ein Beispiel für den sprachlichen und kulturellen Austausch dieses Zeitalters, den man wie folgt zusammenfassen kann:
At a time of explosive innovation, and amid a real threat of surfeit and disorder, translation absorbed, shaped, oriented the necessary raw material. It was, in a full sense of the term, the matière première of the imagination. Moreover, it established a logic of relation between past and present, and between different tongues and traditions which were splitting apart under stress of nationalism and religious conflict.29
Das 16. Jahrhundert wurde bekanntlich von zwei wichtigen Strömungen geprägt: dem Humanismus,30 mit dem vor allem der große Kosmopolit und überaus produktive Übersetzer Desiderius Erasmus von Rotterdam (1467–1536) verbunden ist,31 und der Reformation.
Eine Symbolfigur der humanistischen Übersetzer war der Franzose Étienne Dolet, der nicht nur die Termini traduction und traducteur in die französische Sprache einführte, sondern als Erster eine kurze (vierseitige) Abhandlung zur Übersetzungstheorie vorlegte: La manière de bien traduire d'une langue en l'autre, die er 1540 selbst druckte und veröffentlichte und in der er dem wörtlichen Übersetzen eine Absage erteilte.32 Dolet, der in Paris und Padua studiert hatte, wo er auch als Sekretär bei dem Bischof von Limoges, dem Gesandten Frankreichs in Venedig, tätig war, wurde vor allem für seine Übersetzungen aus der klassischen Antike bekannt. Hier sollte ihn seine Absage an das wörtliche Übersetzen das Leben kosten: Wegen eines Zusatzes in seiner französischen Übertragung eines Platon-Dialogs wurde er von der Theologischen Fakultät der Sorbonne zum Tode verurteilt. Durch die Wörter "rien du tout" ("überhaupt nichts") in Bezug auf das menschliche Dasein nach dem Tod, die nicht im Original erkennbar seien, so meinten seine Richter, stelle er die Unsterblichkeit der Seele in Frage und sei somit ein Ketzer. Er wurde gefoltert und am 3. August 1546 am Place Maubert in Paris öffentlich verbrannt – auf dem Scheiterhaufen verbrannten auch seine Übersetzungen und Editionen.33
Mit seinem Schicksal war Étienne Dolet in jenen Zeiten aber keineswegs ein Einzelfall:
The translation battle raged throughout Dolet's age. The Reformation, after all, was primarily a dispute between translators. Translation became an affair of State and a matter of Religion. The Sorbonne and the king were equally concerned with it. Poets and prose writers debated the matter, Joachim du Bellay's Défense et illustration de la Langue française34 is organized around problems relating to translation.35
Das galt auch für andere Länder Europas, und aus Sicht vieler Historiker trugen Übersetzungen zur Entfaltung und Wirkung der Reformation entscheidend bei.36 Im Mittelpunkt standen hier die Übersetzung der Bibel und die Treue zum "heiligen Wort" Gottes. Besonders tragisch war in diesem Zusammenhang das Schicksal des englischen Bibelübersetzers William Tyndale (1494–1536): Nach dem Verbot seiner Übersetzungen in England musste er als Verfolgter auf dem europäischen Festland leben (seine englische Fassung des Neuen Testaments konnte er in Köln und Worms veröffentlichen). Schließlich wurde er in Antwerpen festgenommen, gefoltert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.37 Erst viel später wurde die Bedeutung seiner Person und seiner Werke erkannt, und er gilt inzwischen nicht nur als "father of the English Bible",38 sondern sogar als "Patriarch der englischen Sprache und Literatur".39 Auch er übersetzte nicht in die Schriftsprache der Gelehrten, sondern in die gesprochene Sprache des Volkes und trug damit wesentlich zur Entwicklung und Bereicherung der englischen Sprache bei. Sogar in der King James Bible von 1611, auch "Authorized Version" genannt,40 ist sein Einfluss erkennbar: Bis zu achtzig Prozent dieses monumentalen Werks, das für seine hervorragende dichterische Sprache gerühmt wurde und vierhundert Jahre lang als die englische Bibel schlechthin gelten sollte, gehen auf die Arbeit von Tyndale zurück.
Als Begründer und Hauptfigur der Reformation gilt Martin Luther (1483–1546), der die Schwierigkeiten seiner zeitgenössischen Übersetzer teilte. Sein Lebensweg, seine Tätigkeit als Bibelübersetzer (sein Septembertestament war die erste direkte Übersetzung aus den Originalsprachen Griechisch und Hebräisch in eine moderne Sprache41) und seine Bedeutung für die Entwicklung einer deutschen Standardsprache sind so bekannt, dass es sich hier erübrigt, sie im Detail auszuführen. Die Parallelen zu Tyndale sind in dieser Hinsicht jedoch so auffällig, dass es nötig ist, auf seine Schriften und seine Worte hinzuweisen, mit denen er der damaligen altgläubigen Geistlichkeit gegenüber seine Übersetzungsstrategien verteidigte, um die Anschuldigungen, er hätte die Heilige Schrift verfälscht, zu entkräften. An erster Stelle steht sein Sendbrief vom Dolmetschen (1530) mit der berühmten Maxime:
Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen, und denselbigen auf das Maul schauen, wie sie reden und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.42
Mit seiner übersetzerischen Tätigkeit sollte Luther ein Vorbild für die Übertragungen der Bibel auch in andere Volkssprachen werden, wie etwa Niederländisch, Dänisch, Slowenisch und Finnisch43 sowie die schwedische Vasa-Bibel.44 Wie keinem anderen Übersetzer in der Geschichte Europas gebührt Martin Luther das Verdienst, die Entwicklung einer Nationalsprache durch seine Übersetzerarbeit geprägt zu haben, wie Wissenschaftler auch außerhalb des deutschen Sprachraums lobend hervorheben:
Through his translation of the Bible, Luther helped bring about the enrichment and standardization of the German lexicon, the development of a balanced syntax using formal means such as verb positions and conjunctions, as well as the capitalization of nouns. His main contribution, however, is in the field of stylistics. Clarity, general understandability, simplicity and vividness were the most important stylistic features of his translation of the Bible, which even today serves as a model for good writing.45
Van den Vondel, die "belles infidèles" und Shakespeare in Frankreich
Nicht nur die Entwicklung von Volks- und Standardsprachen wurde vom Übersetzen beeinflusst, das Gleiche gilt für die Entwicklung von Nationalliteraturen. Ein herausragendes Beispiel dafür lieferte im 17. Jahrhundert der niederländische Dichter, Dramatiker und Übersetzer Joost van den Vondel (1587–1679), der als typischer Verfechter der Volkssprachen in der Spätrenaissance gelten kann: Aus den klassischen Modellen und Sprachen entwickelte er Werke und Texte einer neuen literarischen Hochkultur. Sein übersetzerisches Œuvre war wie auch sein eigenes literarisches Schaffen immens, und entsprechend beeindruckend waren seine Kenntnisse verschiedener Sprachen und Kulturen. Er übersetzte aus dem Lateinischen und Griechischen, aber auch aus dem Französischen und Italienischen. Zudem schrieb er z. B. verschiedene Nachdichtungen von Vergil in Prosa (1646) und Versform (1660) und löste damit einen Trend aus: Zwischen 1650 und 1670 erschienen etliche niederländische Fassungen der Äneis von anderen Übersetzern.46
Tonangebend in der europäischen Politik, Wissenschaft und Kunst des 17. Jahrhunderts war jedoch Frankreich, und dies galt auch für den Bereich des Übersetzens. Mit dem Selbstverständnis einer Führungsmacht dachte man dort, Übersetzungen sollten den Regeln, Konventionen und sogar der Moral der eigenen Literatur entsprechen. So entstanden die freien (infidèles oder "untreuen"), leserfreundlichen (belles oder "schönen"), also zieltextorientierten Übersetzungen, die unter der Bezeichnung "les belles infidèles" bekannt und in Frankreich bis ins 18. Jahrhundert maßgebend waren. Der wichtigste Vertreter dieser Richtung war Nicolas Perrot d'Ablancourt (1606–1664), der hauptsächlich historische Texte übersetzte, unter anderem Werke von Cornelius Tacitus (ca. 55–116) und Cicero, die er nach eigenem Gutdünken bzw. Moralempfinden "verbesserte". Dabei hatte die sprachliche Eleganz und Schönheit des französischen Zieltextes nach zeitgenössischem Geschmack oberste Priorität. Diese Neigung zur "Bearbeitung" herrschte bis ins 18. Jahrhundert vor.47
Einen Höhepunkt in der Geschichte des Übersetzens bildet die Übertragung der Dramen von Shakespeare. Dieses wahrlich europäische Phänomen spannt einen Bogen von der Antike über die elisabethanische Renaissance bis zur deutschen Romantik, wobei durch die Übersetzung die mit der Übertragung in verschiedene Nationalsprachen verbundenen sprachlichen, literarischen und kulturellen Probleme aufgezeigt werden.48 Wie oben erwähnt, gehörte Shakespeare wohl zu der Leserschaft von Thomas Norths Plutarch's Lives, denn diesen verdankte er den Stoff für seine Dramen Julius Caesar, Antony and Cleopatra und Coriolanus. Bemerkenswert ist zudem, dass ausgerechnet Frankreich eine Schlüsselrolle in der Rezeption von Shakespeares Dramen auf dem europäischen Kontinent spielte. Dort wurde im 18. Jahrhundert das Drama als literarische und als transkulturelle theatralische Kunstform wiederentdeckt, und von dort aus wurde das Interesse weiter verbreitet:
Despite strong resistance at first, French translators assumed the role of initiators within their own country. In fact, the history of the translation of Shakespeare can be written as a history of the international dissemination of French versions of Shakespeare, which was later followed by resistance to French models, when the same fate befell translations as original compositions.49
Zu den bekanntesten dieser Personen gehörte Voltaire (François-Marie Arouet, 1694–1778)[], der Hamlet sowohl übersetzte als auch verriss und sich insgesamt für die Verbreitung englischer Philosophie und Literatur in Frankreich einsetzte. Diese dauerte bis zur Begeisterung für den englischen Gothic novel an.50
Ebenfalls in Frankreich entstand eine lebhafte Debatte zwischen zwei Schulen: Einerseits diejenigen, die in Shakespeare das Neuartige bewunderten, das sie in der französischen Literatur vermissten, und andererseits die Verfechter der französischen Klassik, die ihn für "barbarisch" hielten. In diesem Zusammenhang sind zwei Übersetzer von Bedeutung: Pierre-Antoine de la Place (1707–1793), der zwischen 1746 und 1749 ein achtbändiges Werk Le Théâtre anglais mit freien, aber unumstrittenen Übersetzungen vorlegte, und vor allem Pierre Le Tourneur (1736–1788), der das gesamte Werk Shakespeares übersetzte:
The first volume of his twenty-volume Shakespeare, published between 1776 and 1783, contained a highly polemical preface in defence of Shakespeare, whose natural greatness, he claimed, had been obscured by previous "travesties". His translation was copiously annotated, and sought to "educate" rather than "please" the reader. Acknowledging the foreignness of the source text, to some extent at least, Le Tourneur also drew attention to the relativity of taste. In holding Shakespeare up as an alternative to French neoclassical literature, he inaugurated a critical tradition of which one of the famous examples is Stendhal's Racine et Shakespeare (1823).51
Le Tourneur genoss erheblichen Einfluss am Hof des Königs Ludwig XVI. (1754–1793), und seine Übersetzungen hatten in Frankreich fast fünfzig Jahre lang großen Erfolg.52 International übernahmen französische Übersetzungen eine Relaisfunktion53 und wurden als Ausgangstexte vor allem in Deutschland, Polen und den Niederlanden verwendet.54 Die Vorrangstellung französischer Kultur in der Zeit der Aufklärung begünstigte solche neoklassischen "Zwischentexte" sogar, so dass die Rezeption der englischen Originaltexte nur langsam voranging und in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich ausfiel – bis sich der Schwerpunkt im Bereich des Übersetzens von Frankreich nach Deutschland verlagerte.
Die "Lust am Übersetzen" und die deutsche Romantik
Die Vertreter großer Übersetzertraditionen können in vier Gruppen eingeteilt werden: Vorläufer, Pioniere, Meister und Jünger.55 Als großer Vorläufer der deutschen Tradition der Übersetzungstheorie kann beispielsweise Martin Luther gelten. Pioniere der deutschsprachigen Tradition lebten und wirkten im 18. Jahrhundert, vor allem im Geist der Aufklärung: der Leipziger Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched (1700–1765)[], seine Schweizer Antagonisten Johann Jacob Bodmer (1698–1783) und Johann Jacob Breitinger (1701–1776), der Dramatiker Gottfried Ephraim Lessing (1729–1781) und der Kritiker und Sprachphilosoph Johann Gottfried Herder (1744–1803)[]. Die Meister, die vor allem im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert im Bereich des Übersetzens tätig waren, waren Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)[], Friedrich Schleiermacher (1768–1834)[], Wilhelm von Humboldt (1767–1835) sowie der frühe Romantiker Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772–1801) und der Shakespeare-Übersetzer August Wilhelm Schlegel (1767–1845). Zu den führenden "Jüngern" zählten Walter Benjamin (1892–1940) und Franz Rosenzweig (1886–1929).
Man mag hier einwenden, dass dieser Beitrag die Geschichte der Übersetzung zum Gegenstand hat und nicht die Geschichte der Übersetzungstheorie.56 Allerdings waren alle oben genannten Persönlichkeiten auch selbst Übersetzer, und ihre theoretischen Ansätze waren sozusagen die Früchte der eigenen Tätigkeit oder der Beschäftigung mit der Übersetzungsarbeit ihrer Kollegen. Im Kontext der deutschen Übersetzungsgeschichte ist es kaum möglich, Theorie und Praxis säuberlich zu trennen. Aber die Thematik ist so komplex, dass die übersetzungstheoretische Debatte im Zeitalter der Aufklärung hier nicht zur Sprache kommen kann.
Aus diesem Jahrhundert, in dem in Deutschland so emsig und mit so viel Lust an der Sache übersetzt wurde, können nur einige wenige Bereiche herausgegriffen werden.57 Für die Auswahl ist nicht nur die Thematik ausschlaggebend, die wir für typisch oder wesentlich halten: Bemerkenswert ist, dass im Gegensatz zu den früheren Übersetzern der Renaissancezeit, deren Namen meist kaum noch bekannt sind,58 die meisten Werke von heute noch berühmten literarischen Persönlichkeiten stammen, die nicht zuletzt aus diesem Grund hier zitiert werden.
Ein Wegbereiter für die neue Hinwendung zur Übersetzung in der Romantik war zweifellos Herder, dessen Begeisterung für die Vielfalt der Sprachen und Kulturen vor allem in seiner Epoche machenden Sammlung Volkslieder (1778–1779) zum Ausdruck kam. Folgerichtig sah er im Übersetzen nicht mehr den Zwang, etwas inhaltlich Gegebenes nach bestimmten Regeln wiederzugeben, sondern die Möglichkeit, etwas Neues, Anderes entstehen zu lassen. Herder verstand sich als "Ohrenmensch", und vor allem bei der Lyrik wurde ihm der "Ton" zum zentralen Begriff, mit dem er ein Gedicht als rhythmische Ausdrucksbewegung zu fassen suchte. Lyrikübersetzung hieß fortan, den "Hauptton" nachzuempfinden und zu treffen.59 Diese Ansicht erläuterte er selbst in der Einleitung zum zweiten Teil der Volkslieder:
Auch beim Übersetzen ist das schwerste, diesen Ton, den Gesangton einer fremden Sprache zu übertragen, wie hundert gescheiterte Lieder und lyrische Fahrzeuge am Ufer unsrer und fremden Sprachen zeigen. … Alles Schwanken aber zwischen zwo Sprachen und Singarten, des Verfassers und Übersetzers, ist unausstehlich; das Ohr vernimmts gleich und hasst den hinkenden Boten, der weder zu sagen noch zu schweigen wuste.60
Herders lyrische Übersetzungskunst wurde auch zu seinen Lebzeiten gewürdigt, wie A. W. Schlegel in einem Brief vom 22. Mai 1797 an Herder schrieb:
Sie haben die Kunst, die verschiedensten Arten der Natur- und Volkspoesie jede in ihrem Ton und ihrer Weise nachzubilden auf eine vorher nie erreichte Höhe gebracht: ich würde stolz darauf seyn, wenn das aufmerksamste, häufig wiederholte Studium alles dessen, was Sie der Welt in diesem Fache geschenkt, mir Ansprüche auf den Namen Ihres Schülers geben könnte.61
Auch wenn die Begeisterung für Lyrikübersetzung mit diesen wenigen Zeilen deutlich zum Ausdruck kommt, fällt auf, dass in diesem Zeitalter die verschiedensten (allerdings meist literarischen) Gattungen aus diversen Epochen übersetzt wurden – angefangen natürlich mit der klassischen Antike. Bemerkenswert in diesem Kontext ist Johann Heinrich Voß (1751–1826), auch wenn er sich eher an der strengen Schule der Aufklärung orientierte als an den neueren Ideen der jüngeren Romantiker. Insbesondere für seine Homer-Übersetzungen wurde er bekannt, die Odyssee bzw. Odüßee (1781)62 und die Ilias (1793),63 er übersetzte aber auch Vergil (1789), Ovid (1798) und Horaz (1806) sowie einige Dramen von Shakespeare. Allerdings ging die Vielfalt der Übersetzungen dieser Zeit weit über den Kanon der damals altbekannten Klassiker hinaus.64 Auch Zeitgenossen wurden gerne übersetzt, allen voran aus Frankreich: z. B. Voltaires Zaire (1740, neu übersetzt 1776 von Johann Joachim Eschenburg (1743–1820), Kandide (1778) und seine "sämmtliche[n] Schriften".65 Von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) erschien 1761 die Nouvelle Héloïse in deutscher Fassung,66 und die autobiografischen Confessions wurden als J. J. Rousseau's Bekenntnisse (1. und 2. Teil) 1782 veröffentlicht.67
"Nicht nur geographisch nimmt Spanien in Europa eine exzentrische Position ein",68 gerade der am Anfang dieses Beitrags gewürdigte arabische Einfluss wurde mit Misstrauen betrachtet. Aber auch "wegen des brutalen Aufbaus seines Imperiums durch eine als unbesiegbar geltende Armee" sowie wegen der Inquisition und anderer Faktoren entstand in anderen Ländern die "schwarze Legende" (leyenda negra) einer unaufgeklärten und unfreien spanischen Nation.69 Erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zeichnete sich eine Wende ab, wobei im Bereich der Übersetzung und durch seine Volksliedersammlung wieder einmal Herder eine führende Rolle spielte. Übersetzt wurde vor allem Miguel de Cervantes Saavedra (1547–1616), insbesondere sein Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote von la Mancha (in sechs Bänden 1780 in Leipzig in der Fassung von Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) veröffentlicht). Die Dramen von Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) übersetzte u. a. der Dichter Joseph von Eichendorff (1788–1857), aber auch A. W. Schlegel (Spanisches Theater, 1803–1809, insbesondere Der standhafte Prinz, 1809),70 der seine Blumensträusse italiänischer, spanischer und portugiesischer Poesie (1804)71 auch aus anderen romanischen Sprachen übersetzte – womit wir uns mitten im Geist der deutschen Romantik befinden.
Die Palette der in dieser Zeit erstellten Übersetzungen ist unglaublich breit – sie reicht etwa von der Naturforschung und Kategorisierung des Schweden Carl von Linné (1707–1778)72 über das frühfeministische Manifest Mary Wollstonecrafts (1759–1797) Rettung der Rechte des Weibes73 bis zu den oben erwähnten Biographien des Plutarchs (übersetzt von Gottlob Benedict von Schirach (1743–1804), erschienen 1777 in Berlin und Leipzig74). Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass ein wichtiger Schwerpunkt dort liegt, wo wir den vorigen Abschnitt abgeschlossen haben: bei der Übersetzung der Dramen von William Shakespeare.
Die kühnsten Feinde Shakespears haben ihn – unter wie vielfachen Gestalten! – beschuldigt und verspottet, dass er, wenn auch ein großer Dichter, doch kein guter Schauspieldichter, und wenn auch dies, doch wahrlich kein so klassischer Trauerspieler sey, als Sophokles, Euripides, Korneille und Voltaire, die alles Höchste und Ganze dieser Kunst erschöpft. – Und die kühnsten Freunde Shakespears haben sich meistens nur begnügt, ihn hierüber zu entschuldigen, zu retten: seine Schönheiten nur immer mit Anstoß gegen die Regeln zu wägen, zu kompensieren; ihm als Angeklagten das absolvo zu reden, und denn sein Großes desto mehr zu vergöttern, je mehr sie über Fehler die Achsel ziehen musten.
So stand es 1773 in Herders Flugblättern Von deutscher Art und Kunst,75 und es mag heutige Leser überraschen, dass fünfzig Jahre zuvor die Dramen Shakespeares in Deutschland noch unbekannt waren. Nach beißenden Kritiken von Gottsched und durch Zeitgenossen wie John Dryden (1631–1700), Alexander Pope (1688–1744) und Voltaire hatte er damals als "Naturdichter", "ohne Kenntnis der Regeln, ohne Gelehrsamkeit, ohne Ordnung"76 einen eher schlechten Ruf, bevor die Shakespeare-Übersetzung gleichsam Kultstatus erhielt: Auch hier war Herder selbst mit seiner Übersetzung von Was ihr wollt maßgebend.
Als große Namen in der frühen Shakespeare-Übersetzung in Deutschland gelten Johann Joachim Eschenburg und Christoph Martin Wieland (1733–1813), der zwischen 1762 und 1766 zweiundzwanzig Dramen in Prosa übersetzte. Die mit Abstand bekanntesten Shakespeare-Übersetzungen sind aber diejenigen von A. W. Schlegel, der mit Ludwig Tieck (1773–1853), dessen Tochter Dorothea (1799–1841) und Wolf Heinrich von Baudissin (1789–1878) alle 36 Dramen ins Deutsche übertrug: Insgesamt galt die "Schlegel-Tieck"-Übersetzung lange Zeit als der "deutsche Shakespeare" schlechthin. Schlegel selbst übersetzte ab 1797 siebzehn Stücke, die verbleibenden neunzehn wurden 1825–1833 unter Mitarbeit von Ludwig Tieck, der bis 1842 als Dramaturg am Theater in Dresden tätig war, Dorothea Tieck77 und Baudissin, der sich 1827 in Dresden niederließ, fertig gestellt.
Mit der regen Übersetzertätigkeit dieser Zeit entbrannte auch eine lebhafte kritische Debatte, insbesondere zwischen der Haltung des oben erwähnten Voß, der die Bewahrung der Form klassischer Hexameter streng verteidigte, und derjenigen der jüngeren Romantiker. Goethe, der selbst passionierter Übersetzer war (seine Übersetzungen aus dem Französischen, Englischen, Spanischen und Italienischen, darunter die Autobiografie von Benvenuto Cellini (1500–1571),78 füllen einen ganzen Band seiner Gesammelten Werke) fasste die Meinungen 1813 bei seiner Grabrede für Wieland wie folgt zusammen:
Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, dass der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, dass wir ihn als den unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, dass wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen. Die Vorzüge von beiden sind durch musterhafte Beispiele allen gebildeten Menschen genügsam bekannt. Unser Freund, der auch hier den Mittelweg suchte, war beide zu verhindern bemüht, doch zog er als Mann von Gefühl und Geschmack in zweifelhaften Fällen die erste Maxime vor.79
Im gleichen Jahr, am 24. Juni 1813, hielt der Theologe und Platon-Übersetzer Friedrich Schleiermacher eine berühmte Rede "Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens" vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin, in der er fast wortgleich die zwei "Wege", die dem Übersetzer zur Verfügung stünden, so beschrieb:
Entweder der Übersezer lässt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er lässt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.80
Im Gegensatz zu Wieland sah er jedoch keinen Mittelweg und machte deutlich, dass er selbst seinen ersten "Weg" des verfremdenden Übersetzens vorzog.
Das "Fremde", dominante Sprachen und die Macht
Goethes berühmteste Aussage zur Übersetzungstheorie findet sich in den 1819 entstandenen Anmerkungen zu seinem West-Östlichen Diwan. Er definiert "drei Epochen" der Übersetzung:
Die erste macht uns in unserm eigenen Sinne mit dem Ausland bekannt: eine schlicht-prosaische ist hiezu die beste. … Eine zweite Epoche folgt hierauf, wo man sich in die Zustände des Auslands zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. Solche Zeit möchte ich … die parodistische nennen… Weil … eine Umwandlung nach der andern immerhin erfolgen muss, so erlebten wir den dritten Zeitraum, welcher der höchste und letzte zu nennen ist, derjenige nämlich, wo man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so dass eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten soll.81
Als Beispiel für die erste, "prosaische" Epoche nennt er Luthers Bibelübersetzung, für die zweite, "parodistische" Epoche die Übersetzungen Wielands oder die französische Tradition, für die dritte – Schleiermachers Ideal der Verfremdung – nennt er die Homer-Übersetzungen von Voß. Zwar lösten Goethe und die deutschen Romantiker einen regen Austausch von Übersetzungen innerhalb Europas aus – der schottische Historiker Thomas Carlyle (1795–1881) übersetzte z. B. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1824) sowie Wilhelm Meisters Wanderjahre (1827) und schrieb (1823–1824) ein Leben Schillers,82 das 1830 mit einem Vorwort von Goethe auf Deutsch erschien;83 der Dichter Samuel Taylor Coleridge (1772–1843) übersetzte Schillers Wallenstein (1800), und umgekehrt wurden George Gordon Byron (1788–1824), Charles Dickens (1812–1870) und Walter Scott (1771–1832) ins Deutsche übersetzt. Doch mit dem West-Östlichen Diwan wurde eine weitere Komponente hinzugefügt: die Faszination des "Orients", die im Europa des 19. Jahrhunderts spürbar war. Ursprünglich hatte Goethes Werk den Titel "Versammlung deutscher Gedichte mit stetem Bezug auf den 'Diwan' (Liedersammlung) des persischen Sängers Mahomed Schemseddin Hafis": Als Vorlage diente wohl Der Diwan von Mohammed Schemseddin Hafis (ca. 1317/26–1389/90), der 1812 "aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt" durch den Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856) erschien.84 Das 19. Jahrhundert war allerdings auch die Zeit des Kolonialismus, und so war die Faszination des "Orients" und somit auch die Übersetzung in Europa mit wachsender Überheblichkeit gegenüber dem "Fremden" vermischt.
Es ist nicht verwunderlich, dass markante Beispiele für Übersetzungen solcher Art aus dem Mutterland des British Empire stammen. Bekannt ist vor allem der Engländer Edward Fitzgerald (1809–1883) für seine freie Übersetzung aus dem Persischen des Rubáiyat of Omar Khayyam (1859).85 Dazu machte er folgende Bemerkung:
It is an amusement to me to take what liberties I like with these Persians, who, (as I think) are not Poets enough to frighten one from such excursions, and who really do want a little Art to shape them.86
Durch Forschungsreisen und Übersetzungen ebenfalls bekannt ist der Orientalist Richard Francis Burton (1821–1890), zunächst für seine 16-bändige Ausgabe der Arabian Nights, aber vor allem für orientalische Erotika wie Kamasutra (1883), welche er im Selbstverlag herausgab, um strafrechtliche Verfolgung zu vermeiden.87
Ein Weltreich lebt jedoch nicht von der Literatur allein, und es ist bemerkenswert, dass nichtliterarische Übersetzungen durch Vertreter der Kolonialmächte kaum erforscht wurden. In diesem Bereich tätig war etwa der Orientalist und Jurist Sir William Jones (1746–1794), der ab 1783 in Indien das Übersetzen von Gesetzestexten instrumentalisierte: "to domesticate the Orient and thereby turn it into a province of European learning".88
Von näherem Interesse ist die übersetzerische Tätigkeit in einem europäischen Staatengebilde, das nicht aus Kolonien, sondern Kronländern bestand, nämlich in der multiethnischen, multilingualen Habsburgermonarchie. Dort existierte ein immenser Übersetzungsbetrieb, der aber erst vor kurzem von der Forschung entdeckt wurde.89 Dabei wurde seit Jahrhunderten auch der "Orient" einbezogen: Bereits 1754 gründete Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) eine "Orientalische Akademie",90 deren Absolventen Kenntnisse in Türkisch (allenfalls auch Arabisch und Persisch) für eine Tätigkeit als "orientalische Dolmetsche" bei der österreichischen "Internuntiatur" in Istanbul erwarben.91 In der Habsburgermonarchie des 19. Jahrhunderts waren Übersetzer vor allem für Lehrbücher, Gesetzeswerke und Rechtsvorschriften sowie in der Rechtsprechung und Verwaltung aktiv, "denn naturgemäß wurde im alten Österreich allenthalben Tag und Nacht übersetzt".92 Im Gegensatz zu den literarischen Übersetzern der deutschen Romantik sind diese Personen natürlich gänzlich unbekannt, sie trugen aber immerhin, sofern sie amtlich bestellt waren, den ehrenvollen Titel "Translator".93 Ebenfalls erst in letzter Zeit wurde eine ausführliche Monografie über die vielfältige translatorische Tätigkeit in der Habsburgermonarchie ab 1848 bis zu deren Ende 1918 erstellt.94 Einen Einblick in die Bürokratie, aber auch die sprachliche Vielfalt des "kaiserlich-königlichen" Reiches (kurz "k. und k." und scherzhaft "Kakanien" genannt) gibt eine kompakte Studie zum habsburgischen Translator im "Redaktionsbureau des Reichsgesetzblattes".95 Das Redaktionsbureau wurde 1849 mit einem kaiserlichen Patent errichtet, und das Gesetzblatt sollte "in zehn Ausgaben in den folgenden 'landesüblichen' Sprachen erscheinen …:
in deutscher Sprache,
in italienischer,
in magyarischer,
in böhmischer (zugleich mährischer und slovakischer Schriftsprache),
in polnischer,
in ruthenischer,
in slovenischer (zugleich windischer und krainerischer Schriftsprache),
in serbisch-illirischer Sprache mit serbischer Civil-Schrift,
in serbisch-illirischer (zugleich croatischer) Sprache mit lateinischen Lettern,
in romanischer (moldauisch-wallachischer) Sprache.96
Zunächst wurden die Texte in allen zehn verschiedenen Landessprachen als gleichberechtigt erklärt:97 Es entstand naturgemäß ein immenser Arbeitsaufwand für die Translatoren, mit entsprechenden Begleiterscheinungen wie Zeitdruck, Finanzproblemen und ständigem Personalwechsel. 1852 wurde dann der deutsche Text zum allein authentischen erklärt, so dass das Blatt nur mehr in deutscher Sprache erschien.98
Nicht nur im Habsburgerreich entstand ein Unbehagen wegen solcher "Germanisierung" zuungunsten vor allem der slawischen Sprachen.99 Besonders bedenklich war die Situation in Polen, da nach der Teilung 1795 nicht nur das Land bis 1918 von der Landkarte verschwand: Auch die polnische Sprache wurde von den preußischen, österreichischen und russischen Mächten unterdrückt und entwickelte sich zum Medium des Widerstands.100 Somit entstand ein Problem, das zu einer zentralen Frage in Europa (und mittlerweile in der ganzen Welt) werden sollte: diejenige dominanter und peripherer Sprachen bzw. deren Kulturen.
Im Laufe des 19. und erst recht im 20. Jahrhundert wurde aus der kolonialen bzw. imperialen Überheblichkeit dem Fremden gegenüber eine offene Fremdenfeindlichkeit, zudem nahm der Antisemitismus zu. Es wurde selbstverständlich in allen Bereichen weiterhin übersetzt, doch von einer Blütezeit konnte nicht mehr die Rede sein. Immerhin gab es einzelne übersetzerische Meilensteine, wie etwa die neue Bibelübersetzung durch Martin Buber (1878–1965) und Franz Rosenzweig oder die Übersetzung von Charles Baudelaires (1821–1867) Tableaux parisiens (1923) durch Walter Benjamin, dessen Vorwort "Die Aufgabe des Übersetzers" Goethes höchste Epoche der Übersetzung als Ideal übernimmt und noch heute weltweit in der Translationswissenschaft beachtet wird. Benjamin selbst wurde durch die Katastrophe der Nazidiktatur in den Tod getrieben.
Für die Übersetzung bedeutete der Faschismus zwangsläufig Zensur und Repression. Sie leistete aber auch Widerstand, wie etwa in Deutschland,101 Italien und der Sowjetunion.102 Einen Tiefpunkt der übersetzerischen und dolmetscherischen Branche schildert Paul Schmidt, Chefdolmetscher im deutschen Auswärtigen Amt während des Dritten Reiches, indem er den Sprachendienst in Berlin zu Beginn des Zweiten Weltkriegs mit einer "einsamen Insel mitten in der Großstadt" vergleicht:
Die Telefone waren abgestellt, die Zugänge zu den Stockwerken wurden bewacht, und unter den Fenstern sorgten unauffällig die wachsamen Augen der Kriminalpolizei dafür, dass die "Insel" eine Insel blieb.103
Epilog: Nach 1945 – Der Weg zur Translationswissenschaft
Die wirtschaftliche Rolle des Übersetzens ist im Index Translationum ablesbar, der seit 1932 bei der UNESCO geführt wird104 und eine internationale Bibliographie samt einer Reihe von Statistiken der Übersetzungen auf dem Buchmarkt der Mitgliedsstaaten umfasst. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Übersetzen einen beispiellosen Aufschwung. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Technologie. War die Erfindung des Buchdrucks während der Renaissance für die Übersetzung maßgebend, so waren es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Informationstechnologien (IT). Erste Versuche der Maschinenübersetzung (FAHQT: fully automatic high quality translation) in den USA105 wurden zwar 1966 durch den "ALPAC106 Report" als illusorisch bezeichnet, aber der spätere rasante Siegeszug der Computer- und Informationstechnologien sowie der Telekommunikation hat die Tätigkeit vor allem der Fachübersetzer durch terminologische Datenbanken und maschinenunterstützte Übersetzung (computer-aided translation: CAT) wohl für immer verändert. Durch die Entwicklung audiovisueller Medien wurden auch neue Formen und Techniken der Übersetzung gefördert, allen voran die Synchronisation und die Untertitelung in Film und Fernsehen. Mit der Entstehung und Erweiterung multilingualer internationaler Organisationen wie UNO und EU wurden gigantische Sprachendienste geschaffen, deren grundlegende Problematik durchaus an diejenige der Habsburgermonarchie erinnert. Allerdings ist nicht Deutsch, sondern Englisch (in seiner reduzierten Form als lingua franca einer globalisierten Welt) die dominante Sprache, auch in Europa.
Aber auch das literarische Übersetzen hat zumindest in der Quantität weltweit zugenommen, wobei wieder einmal das Englische (hier in verschiedenen – (post)kolonialen – Varietäten, aber vor allem das amerikanische Englisch) als Ausgangs- und Relaissprache dominiert. "Periphere" bzw. "kleinere" Sprachen wie etwa Slowenisch, Rumänisch, Tschechisch, Finnisch, Neugriechisch oder Polnisch fungieren zumeist als Zielsprachen und müssen sogar zum Teil durch Übersetzen ihre Identität und ihren Fortbestand sichern, so dass gerade in diesen Sprachgemeinschaften die Übersetzungskulturen besonders lebendig sind.
Bei diesem Ausmaß an übersetzerischer Tätigkeit ist es nur konsequent, dass auf nationaler und internationaler Ebene Berufsverbände entstanden, allen voran die Fédération Internationale des Traducteurs (FIT), die 1953 von Pierre-François Caillé (1907–1979) in Paris gegründet wurde. Die zunehmende Bedeutung der Fachübersetzung führte zur Gründung von universitären Ausbildungsinstituten für Übersetzer und Dolmetscher, zunächst vor allem im deutsch- und französischsprachigen Raum,107 aber auch in Belgien, Dänemark, Spanien, Italien, Großbritannien und – zunächst mit besonderem Erfolg – in Finnland. Die immer intensiver werdenden übersetzungskritischen und theoretischen Debatten führten insbesondere in den 1980er Jahren zur Entwicklung einer eigenständigen Disziplin des Übersetzens und Dolmetschens, der Translationswissenschaft, sowie zur Gründung der European Society of Translation Studies (EST) in Wien 1992.
Inzwischen ist die Translationswissenschaft – bzw. "Translation Studies" – weltweit anerkannt und aktiv, und die Tätigkeit des Übersetzens, obwohl nach wie vor unterschätzt, ist wichtiger denn je. Gerade heute könnten die berühmten Worte des Übersetzers Johann Wolfgang von Goethe aus einem Brief vom 20. Juli 1827 an Thomas Carlyle als Leitbild dienen:
Und so ist jeder Übersetzer anzusehen, dass er sich als Vermittler dieses allgemein geistigen Handels bemüht, und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn, was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltwesen.108