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Jugend um 1900: Symbol und Erfahrung
Im neuzeitlichen Europa nahmen zwar zahlreiche Bewegungen die Bezeichnung "jung" für sich in Anspruch; bei dem "jungen Italien" oder "jungen Deutschland" etwa handelte es sich um literarische oder politische Kreise und Gruppierungen, die mit dem Attribut "jung" ihren wie auch immer im Einzelnen zu bestimmenden reformerischen Impetus zum Ausdruck brachten. "Jugend" als eigenständige Lebensphase mit spezifischen Bedrohungen, Konflikten und Chancen indes ist eine Erscheinung der modernen Industriegesellschaft. Als "Jugendbewegung" im engeren Sinn wird bis heute eine deutsche Reaktion auf die Umbrucherfahrungen infolge von Industrialisierung und Urbanisierung verstanden, und zwar der – von Anregern und Förderern unterstützte – Versuch der Befreiung vorwiegend bürgerlicher Jugendlicher von väterlicher Autorität und den rigorosen Anforderungen der höheren Schule mit ihrem Drill und ihrer Gehorsamserziehung. Aus den ersten Wanderfahrten von Gymnasiasten, die ihren Ausgang 1896 in Berlin-Steglitz nahmen und bald in Deutschland, Österreich und der Schweiz Verbreitung fanden, gingen Gruppen hervor, in denen um 1900 bereits die Bezeichnung "Wandervogel" auftauchte, die der Bewegung mit ihren in der Folge hochgradig unübersichtlichen Abspaltungen und Wiedervereinigungen ihren Namen gab und auch unter Studierenden in ausdrücklicher Abgrenzung von den studentischen Verbindungen große Resonanz fand.1
Die auch als "Wandervogelzeit" bezeichnete erste Phase der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg fügte sich in ein breites Feld lebensreformerischer und reformpädagogischer Ideen und Initiativen ein,2 die auch jugendpflegerische Impulse umfassten. Ihre Protagonisten hatten insgesamt gesehen keineswegs nur die bürgerliche Jugend, sondern auch die Gefahrenpotentiale im Blick, denen die Arbeiterjugend ausgesetzt war,3 deren Geschichte im weiten Feld der sozialen Bewegungen einen eigenen Platz einnimmt. Nicht selten standen jugendpflegerische Bemühungen und ein auf Autonomie und Selbstbestimmung ausgerichtetes jugendbewegtes Selbstverständnis in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander, beispielsweise in parteipolitisch gebundenen oder kirchlich-konfessionellen Jugendgruppen sowie auch bei den Pfadfindern.4
Vor allem fanden die vielfältigen Aufbruchs- und Reformfacetten, in deren Zusammenhang die Anfänge der Jugendbewegung zu sehen sind, vor dem Hintergrund breiter "Jugend"-Diskurse statt, die sich in dem fiktiven Reisebericht5 eines Afrikaners namens Lukanga Mukara "ins innerste Deutschland", der kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschien, etwa in der Beobachtung aus dem Blickwinkel eines Fremden widerspiegelten, die deutsche Bevölkerung sei in zwei Gruppen gespalten: in Alte und Junge.6 Diese Wahrnehmung war keineswegs unbegründet: Der Kulturkritiker Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925) plädierte beispielsweise 1904 für "eine Empörung der Söhne gegen die Väter, die Ersetzung des Alters durch die Jugend".7 Er reihte sich damit in eine breite Phalanx von Denkern und Reformern ein, die einerseits pessimistisch und angstvoll Untergangsvisionen heraufbeschworen, andererseits jedoch auch intensive Hoffnungen auf grundlegende gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen hegten und – damit einhergehend – einem ausgeprägten Jugendkult huldigten. "Jugendlichkeit" entwickelte sich gleichsam zu einem "Zauberwort",8 zum Inbegriff von Dynamik und Zukunftsorientiertheit, Gesundheit und Stärke gegenüber Alter, Dekadenz und Verfall. Detlev Peukert (1950–1990) hat treffend von "Krisenjahren der klassischen Moderne" gesprochen und deren Janusgesichtigkeit, d.h. die unauflösbaren Widersprüche und Spannungen der Jahrzehnte zwischen 1880 und 1930 betont.9 Bezeichnenderweise findet sich ein solcher Januskopf auf der Titelseite der Januarausgabe der Zeitschrift Jugend des Jahres 1900.
Der visionäre Blick in ein Zeitalter des "neuen Menschen"10 fand seinen symbolischen Ausdruck in folgenden Worten, die Friedrich Nietzsche (1844–1900) dem Propheten Zarathustra in den Mund legte:
Eurer Kinder Land sollt ihr lieben: Diese Liebe sei euer neuer Adel – das unentdeckte im fernsten Meere! Nach ihm heiße ich eure Segel suchen und suchen! An euren Kindern sollt ihr gut machen, dass ihr euer Väter Kind seid: Alles Vergangene sollt ihr so erlösen.11
Diese Sätze wiederum stellte – und damit sei noch einmal ausdrücklich die europäische Dimension von Kulturkritik und Jugendsymbolik unterstrichen – die schwedische Reformpädagogin Ellen Key (1849–1926) ihrem bekannten Buch Das Jahrhundert des Kindes12 aus dem Jahre 1900 voran, aus dem dann ja ein "Jahrhundert der Jugend"13 werden sollte. Die in diesem Nietzsche-Zitat sowie auch in anderen zeittypischen visionären Texten deutlich werdenden Erlösungssehnsüchte entfalteten indes in Deutschland eine besondere Anziehungs- und sogar Verführungskraft.14 Thomas Mann (1875–1955) sprach in seinem zwischen 1913 und 1924 entstandenen Roman Der Zauberberg treffend von einem Kampf um "die Bildsamkeit der lichtsuchenden Jugend",15 die in der jugendlichen "Lichtgestalt" Hugo Höppeners, genannt Fidus (1868–1948), seinen hochsymbolischen bildlichen Ausdruck fand. Das in vielen Varianten überlieferte "Lichtgebet"16 erfuhr als Postkarte bei einem Ereignis weite Verbreitung, das – neben anderen Gründungsmythen – als (ge)denkwürdig in die Geschichte der Jugendbewegung eingegangen ist: beim Freideutschen Jugendtag im Jahre 1913 auf dem Meißner, einem 600 Meter über dem Werratal gelegenen Bergrücken in Nordhessen.17 Veranstalter und Teilnehmer sahen sich in der Tradition der Feste der deutschen Nationalbewegung des frühen 19. Jahrhunderts, bei denen – anders als bei den Nationalfesten des deutschen Kaiserreichs – "Freiheit" noch für wichtiger erachtet wurde als die nationale "Einheit", und setzten damit einen deutlichen Akzent gegen die zeitgleich stattfindenden, zumeist aggressiv nationalistisch aufgeladenen Erinnerungsfeste an die "Völkerschlacht" in der Nähe Leipzigs im Jahre 1813. Zu den Akteuren des Freideutschen Jugendtags gehörten u.a. der Pädagoge Gustav Wyneken (1875–1964), der Arzt und Gründer der Volkshochschule Klappholttal auf Sylt, Knud Ahlborn (1888–1977), der Unternehmer Alfred Carl Toepfer (1894–1993) und der Lebensreformer Hans Paasche (1881–1920).18 Dem Meißner-Ereignis des Jahres 1913 ist die Bezeichnung des Ortes als "Hoher" Meißner und nicht zuletzt die "Meißnerformel" zu verdanken, die im Selbstverständnis der Jugendbewegung eine nachhaltige Bedeutung erlangte.19
Es wäre auf jeden Fall irreführend, die Jugendbewegung über Programmatisches erfassen zu wollen. Das hier nur anzudeutende, in zahlreichen Ego-Dokumenten20 überlieferte jugendbewegte "Lebensgefühl" manifestierte sich weniger in programmatischen Reden als vielmehr – zum Beispiel – in Liedern wie Wir wollen zu Land ausfahren (1912/1913)21 und Aus grauer Städte Mauern (1921).22 Die vorwiegend bürgerlichen Jugendlichen, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in ihren Bann ziehen ließen, wünschten sich, dem engmaschigen Netz elterlicher und schulischer Einflussnahme sowie den Zwängen gesellschaftlicher Konvention zu entfliehen. Sie sehnten sich nach Freiräumen, in denen sie sich entfalten und anderen Jugendlichen begegnen konnten. Als attraktiv erwiesen sich bislang ungekannte Möglichkeiten adoleszenter "Selbstfindung, Selbsterprobung und Identitätsgewinnung"23 beim Wandern, auf Fahrt und am Feuer. Von diesen profitierten Mädchen und junge Frauen nicht in dem Maß wie männliche Jugendliche, wenngleich auch sie sich in jugendbewegten Mädchengruppen zusammenfanden und diese Erfahrung als "befreiend" beschrieben.24
Zahlreiche junge Menschen, die im deutschen Kaiserreich aufwuchsen, fühlten sich auf eine sehr allgemeine und unbestimmte, keinesfalls aber im engeren Sinn politische Weise "aufbruchsbereit"; das Verführungspotential der Zauberworte "Jugend" und "Jugendlichkeit" in den zeitnahen kulturkritischen Diskursen konnten sie allerdings kaum erahnen. Die Intensität, mit der sie sich umworben fühlten, bestärkte wohl in erster Linie ihre Erwartungshaltung, als Generation eine bedeutsame, wie auch immer im Einzelnen zu bestimmende Aufgabe zu haben.25 Käthe Kollwitz (1867–1945), deren Söhne Hans (1892–1971) und Peter (1896–1914) die Jugendbewegung als "sehr bedeutsam" einschätzten, schrieb im Frühjahr 1914 in ihr Tagebuch, es entstehe offenbar "aus der Jugend selbst eine Bewegung", die mit starkem Pathos daherkommend, eine "Neugeburt der deutschen Jugend" anstrebe. Hans sei so eingenommen von jugendbewegten Ideen, dass er Lehrer werden und in einem Landerziehungsheim arbeiten wolle.26 Kollwitz beobachtete in der Altersgruppe ihrer Kinder ausgeprägte idealistische Neigungen, einen Hang hin zum Visionär-Prophetischem und eine ausgesprochene Empfänglichkeit für gefühlvoll-pathetische Aufbruchsformeln.27 Damit gab sie eine einfühlsame Charakteristik der Zeitatmosphäre, die treffend mit dem Stichwort "vagierende Religiosität" umrissen werden kann, als eine im weitesten Sinn religiös motivierte Suche nach Sinnangeboten.28
Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass sich hier eine Altersgruppe junger Menschen gegen den gesellschaftlichen Mainstream, einen säbelrasselnden Nationalismus, abzusetzen versuchte, aber eben doch in ihrer Zeit "gefangen" dachte und handelte. Peter Kollwitz, der im Alter von siebzehn Jahren am Freideutschen Jugendtag 1913 teilnahm und noch kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf einer Norwegenfahrt freundlich Franzosen und Engländern begegnete, meldete sich im Oktober 1914 wie zahlreiche andere junge Männer begeistert freiwillig als Soldat – mit dem zweiten Teil von Goethes (1749–1832) Faust, einem Geschenk seiner Mutter, im Gepäck. In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1914 fiel Peter Kollwitz in Belgien. Ein siebzehnjähriger Regimentskamerad schrieb – wie viele junge Männer aus der Kriegsgeneration des Ersten Weltkriegs, die auch als "verlorene Generation" oder "Generation of 1914"29 bezeichnet wird, – ernüchtert: "Das Gefühl ist allgemein: Welch sinnloses, fürchterliches Ding der Krieg ist! Wie ihn keiner gewollt, nicht der Belgier, der auf mich zielt, nicht der Engländer, auf den ich anlege."30
Die Jugendbewegung in der deutschen Geschichte
Eine dem deutschen Wandervogel vergleichbare, auf Autonomie und Selbsterziehung abzielende "Jugendbewegung" habe es in Großbritannien nicht gegeben, sondern vorwiegend "von Erwachsenen geleitete Jugendorganisationen", auch wenn in ihnen vergleichbare Formen gemeinsamen Handelns nachzuweisen seien.31 Das Zelten und Wandern in freier Natur etwa boten englischen Jugendlichen zweifellos ähnlich wie in Deutschland, Österreich oder der Schweiz Freiräume und Experimentierfelder. Ausdrücklich gilt das für eine 1920 von John Hargrave (1894–1982) gegründete, sich von den Pfadfindern abspaltende Gruppe mit dem Namen "Kibbo Kift Kindred".32 Die spezifisch deutsche Klangfarbe der Bezeichnung "Wandervogel" als Inbegriff der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg ist allgemein unbestritten,33 wobei die jüdische Jugendbewegung, zu deren führenden Mitgliedern beispielsweise der spätere Soziologe Norbert Elias (1897–1990) gehörte, ausdrücklich dazugerechnet werden muss.34 Ihre Geschichte des Erfahrungs- und Erinnerungsbruchs ist sogar in besonderer Weise mit der deutschen Geschichte verbunden. Viele Mitglieder der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland retteten sich vor dem Nationalsozialismus, indem sie emigrierten und in den Kibbuzim eine neue Existenz aufbauten. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft warf und wirft die Erfahrung des Terrors tiefe Schatten auf die Erinnerung an gewaltsam unterbrochene Lebens- und Traditionslinien.35
In der deutschen Gedächtniskultur ist die "Jugendbewegung" mit einer Fülle von Erinnerungsorten präsent, in denen sich das "Deutsche" ebenfalls widerzuspiegeln scheint:36 Der bereits erwähnte Meißner, Burgen wie der Ludwigstein, Rothenfels am Main oder Altena gehören dazu, zudem Erinnerungslandschaften wie z.B. das gleichsam jugendbewegt "besetzte" Sauerland, ferner Bücher wie Walter Flex' (1887–1917) Wanderer zwischen zwei Welten oder der von Hans Breuer (1883–1918) herausgegebene Zupfgeigenhansl,37 eines der maßgeblichen Liederbücher der Jugendbewegung. Mit der Frage nach dem "typisch Deutschen"38 in der Jugendbewegungsgeschichte ist allerdings auch die Gefahr verbunden, deutsche Klischees zu bedienen, beispielsweise das Wandern (im Wald und/oder bevorzugt zu Burgen und Schlössern), Mädchen mit Zöpfen, Jungen in Lederhosen, eine "Heimat" besingend, in der die deutsche Vergangenheit romantisierend verklärt wird, Gruppen mit Fahnen, Wimpeln und – je nach Zeitraum, der zu betrachten ist – auch mit Bildern marschierender Jugend in Reih und Glied.
Der Erste Weltkrieg bedeutete zweifellos eine generationell traumatische Erfahrung, sowohl für die jungen Kriegsteilnehmer als auch für diejenigen, die zu jung waren, um teilzunehmen, die aber durch die Abwesenheit und nicht selten den Verlust ihrer Väter39 in der Zwischenkriegszeit in Jugendgruppen unterschiedlichster Ausrichtung, bei den Pfadfindern ebenso wie in der "bündischen" Jugendbewegung, Halt und Orientierung fanden und die sich, sofern sie über die Grenzen blickten, einem neuerlich – nicht nur in Deutschland – erstarkenden Nationalismus bzw. nationaler Blickverengung gegenübersahen. Die Geschichte der Jugendbewegung der Zwischenkriegszeit, zunächst bis zum Jahre 1933, wird zumeist als "bündische Phase" bezeichnet,40 die sich mit Blick auf Leitbilder, Symbole und Rituale stark von den Anfangsjahren vor 1914 unterschied. Die Betonung des "Männlichen" und "Männerbündischen" ist eines ihrer entscheidenden Kennzeichen. Kosaken und Samurai, die ritterliche Ordensgemeinschaft, soldatisch heroische Tugenden, das Auftreten in "Kluft", mit Fahnen u.a. mehr machen den Stilwandel deutlich. Ohne hier auf einzelne Gruppen eingehen zu können, sei doch auf eine exemplarisch verwiesen, die von Eberhard Koebel (1907–1955), genannt "tusk", 1929 gegründete" dj.1.11" ("deutsche jungenschaft vom 1.11.").41
Die Annahme, dass die Jugendbewegung den Nationalsozialismus vorbereitet habe, war lange verbreitet und wurde in der Regel mit dem Verweis darauf begründet, dass die Hitlerjugend sich jugendbewegter Formtraditionen der bündischen Zeit bediente. Zu Recht heißt es zwar, das Dritte Reich sei nicht nur erkämpft, sondern auch "ersungen" worden, womit die Übernahme zahlreicher Melodien und (teilweise inhaltlich leicht veränderter) Texte aus den Jahren vor 1933 in Liederbücher der Hitlerjugend gemeint ist. Die unmittelbare Vorreiterrolle der Jugendbewegung für die Hitlerjugend ist jedoch eine inzwischen klar widerlegte These.42 Das Spektrum jugendbewegter Biographien zwischen 1933 und 1945 ist ausgesprochen breit: So gab es "bündische Umtriebe", nonkonformes Verhalten, Widerständigkeit im engeren Sinne und andererseits unauffällige Anpassung sowie schließlich auch – zumindest zeitweise – überzeugtes aktives "Mitmachen" im Dienst des Regimes.43
Jugendbewegt beeinflusste Lebensläufe ermöglichen – im Kontext generationeller Prägungen, nicht zuletzt durch die Zäsuren des 20. Jahrhunderts – einen durchaus exemplarischen Blick auf die Geschichte eines Landes "großer Widersprüche, attraktiv und alarmierend", in dem "Träume vom Frieden" mit den "Verlockungen der Macht" kollidierten.44 Biographische Porträts könnten die Befindlichkeiten der "verlorenen" Generation des Ersten Weltkriegs verdeutlichen sowie der nach 1902 geborenen Nachkriegsgeneration, die von den Krisenerscheinungen der Weimarer Republik ebenso nachhaltig geprägt wurde wie vom Ersten Weltkrieg, die häufig in Familien ohne Vater aufwuchsen, sich nach Führung sehnte und dabei dann auch teilweise zu Verführten wurde. Nach 1945 hat sich im "Freideutschen Kreis" eine bemerkenswerte Gruppe Jugendbewegter zusammengefunden, um sich der Frage nach ihrer Verantwortung gegenüber der Geschichte zu stellen. Es war vor allem eine Auseinandersetzung mit dem Scheitern, der Schuld und dem Versagen angesichts der deutschen Geschichte, die ihre eigene war.45
Begegnungen und Verflechtungen
Mitglieder und Förderer der Jugendbewegung haben im regen Austausch mit Gleichgesinnten und ähnlich "Gestimmten", d.h. gesellschaftskritischen und sozial- sowie kulturreformerisch tätigen Menschen und Gruppen gestanden. Trotz der allgemeinen nationalen Blickverengung nach 1918 ließen sie sich – besonders nach lebensgeschichtlich gesehen zutiefst erschütternden Erfahrungen im Ersten Weltkrieg – von europäischen Begegnungen inspirieren. Sie waren in grenzübergreifende Freundeskreise und Netzwerke eingebunden, die an einigen wenigen Beispielen angedeutet seien. Ein geschichtlich nachhaltig wirksames Beispiel dürfte Summerhill sein, die von Alexander Sutherland Neill (1883–1973) gegründete Internatsschule, die ohne dessen reformpädagogische Erfahrungen in der Gartenstadt Dresden-Hellerau nicht denkbar ist und deren pädagogisches Credo um 1970 neue Popularität im Zusammenhang mit der "antiautoritären Erziehung" erlangte.46 Nennenswert ist vor allem eine Reihe von Versuchen, grenzüberschreitende "Brücken" zu bauen. Ein nachweislich reger, teilweise sogar freundschaftlicher Austausch von Förderern und Mentoren jugendbewegter Initiativen fand zwischen Großbritannien und Deutschland statt. Rolf Gardiner (1902–1971) zählt zu ihren wichtigsten Vertretern. Gardiner, der als Student in Cambridge eine Parallele zwischen deutschen und britischen Entwicklungen zu erkennen glaubte und u.a. deutsche Volkslied- und Volkstanz-Initiativen im Umkreis der deutschen Jugendbewegung fasziniert beobachtete,47 pflegte etwa Kontakte zu Ernst Buske (1894–1930), dem Bundesführer der Deutschen Freischar, dem der Jugendmusikbewegung48 verbundenen Musikpädagogen Georg Götsch (1895–1956) und dem Pädagogen und 1944 hingerichteten Mitglied des bürgerlichen deutschen Widerstands, Adolf Reichwein (1898–1944). Letzterer wurde nachdrücklich von dem Bildungs- und Hochschulpolitiker sowie zeitweiligen preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker (1876–1933) unterstützt, der wiederum eng mit Gardiner befreundet war. Das "Boberhaus" in Schlesien, eine Volkshochschule, die sich besonders der Musikerziehung und dem Austausch mit dem Ausland widmete, oder das "Musikheim Frankfurt/Oder" waren Begegnungsstätten, die in diesem kommunikativen Transferzusammenhang – und zwar über 1933 hinaus – eine herausragende Rolle spielten.49 In besonderer Weise handlungsleitend war der Gedanke transnationaler Begegnung im Leben des Soziologen und Historikers Arnold Bergsträsser (1896–1964): Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs und u.a. führend im "Feldwandervogel", 1925 als Mitgründer des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und darüber hinaus zeitlebens "grenzüberschreitend" tätig. Viel beachtet wurde zum Beispiel in der Jugendbewegung seine Schrift Sinn und Grenzen der Verständigung zwischen Nationen aus dem Jahre 1930.50
Mit dem Gedanken, grenzüberschreitende Begegnungsstätten zu schaffen, ist auch die Geschichte des Jugendherbergswerks verbunden, dessen Gründer Richard Schirrmann (1874–1961), dem Wandervogel nahestehend und engagierter, reformorientierter Lehrer, der zunächst in erster Linie Volksschülern das Wandern in freier Natur ermöglichen wollte und seinen Herbergsgedanken dann unter dem Eindruck der verheerenden Folgen des Ersten Weltkriegs zunehmend intensiv mit dem Appell verband: "Wie wäre es, wenn die denkreiche Jugend aller Staaten für das Sichkennenlernen geeignete Begegnungsstätten fände! Toleranz wächst nicht gleich wilden Brombeeren wie von selber am Wege, sie muss gelehrt und geübt werden."51 Die Umsetzung und Verbreitung des "Wanderns von Volk zu Volk" war nicht ohne das idealistische Engagement weiterer Förderer möglich. Einer von ihnen war der französische Pazifist Marc Sangnier (1873–1950), der in den 1920er Jahren Jugendbegegnungen organisierte und 1926 Pfadfinder, u.a. aus England und Frankreich, Angehörige konfessioneller Jugendorganisationen und der sozialistischen Jugend aus verschiedenen europäischen Ländern zur Teilnahme an einer legendären "Jugendwallfahrt" nach Bierville in der Nähe von Paris einlud und schließlich wenige Jahre später die erste Jugendherberge in Frankreich gründete. 52
Mitglieder der deutschen Jugendbewegung unternahmen insgesamt bemerkenswert zahlreiche Fahrten nach Skandinavien oder auch nach Süd- und Südosteuropa. Manche Gruppen haben ausdrücklich "Grenzlandfahrten" veranstaltet, die eindeutig nationalem, wenn nicht nationalistischem oder genauer "völkischem" Denken entsprachen, das in der Weimarer Republik weit verbreitet war und auch bei Nordlandreisen eine Rolle gespielt haben mag. Allerdings überwog oft, so zumindest der Eindruck angesichts der überlieferten oder in Chroniken und Alben dokumentierten Fotos, der unpolitisch gesellige Fahrtencharakter.53
Die Anknüpfung von Beziehungen zwischen deutschen und französischen Jugendlichen erwies sich in den Jahren zwischen 1918 und 1933 trotz einiger ermutigender Beispiele als besonders schwierig.54 Nationale Befangenheit schien unüberbrückbar zu sein, wie 1930 ein Begegnungstreffen zeigte, aus dem der "Sohlbergkreis" hervorging, der eine maßgebliche Rolle in den deutsch-französischen Annäherungsbemühungen spielte.55 Die Deutschen glaubten zunächst, so ein Zeuge, das "Naturgefühl gepachtet zu haben". Sie hätten dann aber überrascht feststellen müssen, "wie stark und spontan unsere französischen Kameraden die Schönheit dieser Landschaft empfanden".56 Otto Abetz (1903–1958), Mitglied der Freideutschen Jugend, an deutsch-französischen Jugendbegegnungen beteiligt und während des Zweiten Weltkriegs deutscher Botschafter in Paris, schrieb rückblickend in seinen Erinnerungen, er sei in der deutschen Jugendbewegung groß geworden, deren "Lebensgefühl – um ein Modewort von damals zu gebrauchen – 'gotisch' war … Und die Gotik war mir als Ausdruck des Deutschtums schlechthin erschienen."57 Durch die Kunstwissenschaft sei er eines Besseren belehrt worden, "dass es neben dem Deutschland der Dome und Burgen ein nicht minder hinreißendes Frankreich der Kathedralen und Schlösser gab; dass die himmelstrebende Gotik dem einen wie dem anderen Volke eigen war, ja sogar von Frankreich ihren Ausgang genommen … Da spannte sich mir ein Bogen zwischen dem Mont St.-Michel und der Marienburg, dem nordwestlichen und dem nordöstlichen Vorposten eines trotz vieler Bruderzwiste und lokaler Fehden im Lebensgefühl einigen Abendland."58 1958, kurz vor seinem Tod, hielt er noch einmal bei einem Treffen des Freideutschen Kreises eine Rede über sein Lebensthema Deutschland und Frankreich. 59
Nach 1945 waren deutsche Jugendliche zwar in der Regel nicht mehr mit den angedeuteten Hypotheken belastet, mussten aber neu lernen, Grenzen zu überschreiten. Mit Jugendlichen aus Frankreich und anderen europäischen Ländern traten sie erst allmählich wieder in Kontakt, wobei der Kalte Krieg Begegnungen mit der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in der DDR etwa erheblich erschwerte.60 Gleichwohl begannen Jugendbewegte auf ihren Großfahrten – zum Teil in Anknüpfung an Traditionen aus der Zwischenkriegszeit – ihren Horizont über die Grenzen hinweg zu erweitern, unsicher zunächst, weil Europa für sie noch kein selbstverständlicher Erfahrungsraum war. Wenn beispielsweise Gruppen von Jungenschaftern, in der Tradition der dj.1.11, ab 1946 wieder Großfahrten ins Ausland, etwa nach Stralsund, an der tschechischen Grenze entlang, bis nach Rom, später nach Schweden, Finnland, nach Griechenland, in die Türkei oder in den Mittleren Osten unternahmen, so waren sie nicht in erster Linie Jugendtouristen, auch nicht jugendliche Botschafter europäischer Aus- und Versöhnung, vielmehr in gewisser Weise in erster Linie auf einer "Fahrt zu sich selber": Im Mittelpunkt standen somit "Selbsterkundungen" und "Selbstbewährungen", neugierig, offen und bereit, Herausforderungen anzunehmen. Eine illegale Fahrt nach Italien im Sommer 1950 (d.h. ohne Visum) wurde sogar im Nachhinein medienwirksam genutzt, um im Rundfunk auf die Notwendigkeit der Grenzöffnung "für ein besseres Europa" hinzuweisen.61 Als nachhaltig "horizonterweiternd" erwiesen sich diese Fahrten vor allem im Leben der um 1940 Geborenen, die mit wenig Geld und unter heute geradezu abenteuerlich anmutenden Bedingungen ins Ausland aufbrachen.
Historisierungsversuche
Die Jugendbewegung entwickelte in Westdeutschland – ohne an den Mythos Jugend der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen – noch einmal eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft, z.B. für vaterlos aufwachsende Jungen aus der Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs.62 Gleichwohl hat sich mittlerweile das Schlagwort "Restgeschichte" für die Jugendbewegungsgeschichte nach 1945 eingeprägt.63 Dynamische gesellschaftliche Veränderungen, mit diesen verbundene Ausdifferenzierungen von Jugendszenen und medial beeinflusste Verwestlichungs- und dann auch Internationalisierungstrends führten zu jugendkulturellen Pluralisierungen, in denen den Gruppierungen der historischen Jugendbewegung eine zunehmend marginalere Rolle zukam.64 Mit der wachsenden Bedeutung ihrer "Geschichtlichkeit" entwickelten sich "Historisierung" und "Selbsthistorisierung" zu breiten Themen jugendbewegter Erlebnisgenerationen und Erinnerungsgemeinschaften, wobei die Frage, was jugendbewegte Prägung bedeute, noch keineswegs hinreichend und d.h. vor allem "abständig" untersucht wurde. Sie wurde bislang, wenn überhaupt, in erster Linie von "Insidern" zu eruieren versucht. Interessant erscheinen dabei mittlerweile weniger die Biographien jugendbewegter "Führer" wie etwa Eberhard Koebel, sondern die Antworten von Menschen, deren intellektuelle Lebensentwürfe Spuren und Wirkungen jugendbewegter Prägung erkennen lassen. Der Theologe Helmut Gollwitzer (1908–1993) formulierte etwa 1981 eine Antwort, indem er an eine Begegnung mit einem "Bündischen" 1937 im Gefängnis Moabit erinnerte, den die Gestapo verhaftet hatte: "Er hatte das richtige Gespür, dass zum jugendbewegten Lebensstil nicht nur Fahrtenkittel und Lagerfeuer gehörten, sondern unter anderem auch eine offene ... und den Andersdenkenden achtende Einstellung, die mit dem Nazismus unverträglich war."65 Gollwitzer fragte sich – offenbar als anregendes Gedankenspiel verstanden –, ob Rudi Dutschke (1940–1979), mit dem er eng befreundet war, sich der Jugendbewegung zugewandt hätte, wenn er in der Zwischenkriegszeit aufgewachsen wäre. Gollwitzers Antwort ließe sich unter dem Stichwort "jugendbewegte Prägung und jugendbewegte Menschenbilder" sicherlich diskutieren:
Seine [Dutschkes, B.S.] Sportlichkeit, seine geradezu asketische Bedürfnislosigkeit, seine Gutherzigkeit und bedingungslose Kameradschaftlichkeit, seine geistige Lebendigkeit, seine Integrationsfähigkeit, sein (im bürgerlichen Sinne des Begriffes) 'Idealismus' – das alles prädestinierte ihn zum idealen Gruppenführer ... Dabei waren ihm Befehlssituationen fremd; er lebte das ihm so teure Wort anti-autoritär. Man kann deshalb vermuten, dass er sich nie einer Richtung angeschlossen hätte, in der strenge Hierarchie und Disziplin herrschte, und nie einer Ideologie, die auf Unterdrückung und Bekämpfung anderer Menschengruppen aus war.66
Der Soziologe Arno Klönne (*1931) hat bei der Veranstaltung "Wandervogel heute" im November 2001 vor allem einen kritischen Blick auf Jugendbewegungs-Gedenkfeiern gerichtet:
Wandervogel – das Wort steht für einen Entwurf jugendlichen Gruppenlebens, in dem der Drang nach eigenen Erfahrungen bestimmend ist, in dem frei gewählte Freundschaft zusammenhält, in dem Offenheit herrscht für unbekannte Horizonte ... Mit dem Leben in den Gruppen und auf den Fahrten des Wandervogels haben vor hundert Jahren junge Menschen ihre eigenen Möglichkeiten entdeckt und ausprobiert. Das war die Substanz.67
Er spielt auf die Bedeutung an, die die Jugendbewegung für Heranwachsende hatte, und zwar im Sinne einer Übergangszeit zwischen Kindheit und Erwachsenenleben, die als liminaler Übergang68 umrissen wurde – einen Zustand des "betwixt and between",69 der dazu berechtigt, Grenzen und Regeln zu überschreiten und sich unkonventionell etwas "zu erlauben". Jugend lässt sich auch – bezogen auf den Lebenslauf – entwicklungspsychologisch als "Moratorium" deuten, das "eine Zeit zum Pferdestehlen oder der Suche nach einer Vision, eine Zeit der 'Wanderschaft' oder der Arbeit 'draußen im Westen' oder 'drüben am anderen Ende der Welt', eine Zeit der 'verlorenen Jugend' oder des akademischen Lebens, eine Zeit der Selbstaufopferung oder dummer Streiche" sein könne.70 In diese Zeit falle etwa auch "die Herausbildung eines persönlichen Systems von Werten,"71 die am Beispiel der Jugendbewegung noch stärker als bisher wissenschaftlich in den Blick zu nehmen wären. Die deutsche Jugendbewegung war gewissermaßen "ein Mikrokosmos des Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts".72 Das Thema "Grenzüberschreitung" bedeutet im Zusammenhang mit dem "Mikrokosmos" Jugendbewegung wie mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts: adoleszente Selbsterfahrung durch Horizonterweiterung im geographischen wie in einem generationen- und erfahrungsgeschichtlich übergreifenderen Sinn.