Präsenz und Abwesenheit
Tiere nehmen in der Geschichte und in der menschlichen Gegenwart eine bedeutende Rolle ein. Gäbe es keine Tiere mehr, müssten Wirtschaft und Alltag grundlegend umorganisiert werden. Betroffen wären Industrie, Handel und Haushalte, das Gesundheitssystem und ein großer Teil der Freizeitkultur. Mit ihrer Arbeitskraft und ihren Produkten lieferten Tiere die Grundlage für den Aufbau der Industriegesellschaften und sind auch heute in den post-industriellen Gesellschaften omnipräsent. Neben Haustieren oder offensichtlichen Tierprodukten, wie Fleisch, Milch, Eier, Leder, Daunen, Wachs und Honig, sind in Nahrungsmitteln, Kleidung, Kosmetik, Medikamenten und Putzmitteln Tieranteile enthalten. Farbstoffe werden zwar heute weitgehend synthetisch hergestellt,1 Walöl ist durch andere Öle ersetzt worden und Plastik ist an die Stelle von Fischbein, Elfenbein und Horn getreten. Doch auch an anderen Stellen finden sich Bestandteile von Tieren. Rotwein wird etwa mit Eiweiß, Hausenblase oder Gelatine geklärt, und viele Zusatzstoffe in der Lebensmittelindustrie, wie Emulgatoren, Mehlbehandlungs- und Konservierungsstoffe, bestehen zum Teil aus tierischen Fetten.
Zum einen sind wir, oft ohne es zu wissen, von vielen toten Tieren umgeben, zum anderen sind tote wie lebendige Tiere in doppelter Weise unsichtbar. So sieht man die in Mast- und Schlachtbetrieben verarbeiteten Tiere kaum, da die Verwertungsanlagen gegen Einblicke geschützt und räumlich an den Rand von Städten und Wohnsiedlungen ausgelagert sind. Zudem wurde die Arbeitskraft von Pferden, Eseln, Maultieren, Rindern und Hunden in den urbanen Gebieten und auf dem Land im Verlaufe des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Maschinen ersetzt. Die geliebten Haustiere hingegen besitzen gerade im städtischen Kontext häufig den Status von Familienmitgliedern und sind daher, dies ist der zweite Aspekt des Verschwindens, kaum noch als Tiere mit spezifischen Bedürfnissen und Verhaltensweisen zu erkennen. Während in den modernen Industriegesellschaften des 21. Jahrhunderts besonders in den Städten also viele Tiere aus dem menschlichen Bereich verschwunden sind, teilen die Haustiere als companion animals den Alltag und Komfort der menschlichen Familienmitglieder.2 So entsteht ein Verhältnis von Nähe und Ferne, sowohl räumlich als auch emotional, in dem sich Liebe zum companion animal und Erbarmungslosigkeit gegenüber Industrie- und Labortieren gegenüberstehen.
Genealogien und Grenzüberschreitungen
Um im deutschsprachigen Raum die Relevanz der Tiere für die Geschichte zu verdeutlichen, wird oft auf Reinhart Koselleck (1923–2006) verwiesen, der in einem 2003 erschienen Aufsatz von einer "hippologische[n] Wende" mit "welthistorischen Folgen" sprach.3 Aus der Perspektive des Sozialhistorikers schreibt Koselleck den Pferden eine so zentrale historische Wirkungsmacht zu, dass er vorschlägt, von einem "Vorpferdezeitalter", einem "Pferdezeitalter" und einem "Nachpferdezeitalter" zu sprechen. Das Nachpferdezeitalter, in dem wir heute leben, beginnt nach Koselleck zeitgleich mit der Moderne im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Erst dann ziehe sich das Pferd in die Bereiche Kunst, Sport und Freizeit zurück, und der Geruch von Pferdeschweiß und Pferdeäpfeln verschwinde aus den Städten. Das Pferdezeitalter, welches mit der ersten Zähmung von Pferden – rund 4.000 v.Chr. – begann, ist in dieser Epocheneinteilung das längste und somit kulturell prägendste Zeitalter. Auch wenn die Pferde im Nachpferdezeitalter als Fortbewegungsmittel sowie als Zug- und Arbeitstiere verschwunden sind, dienen sie doch wie in früheren Zeiten als Statussymbole und bleiben Sport- und Freizeitgefährten. Das Ende des Pferdezeitalters geht insofern mit dem Ende eines allgemeinen Tierzeitalters einher, als dass im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert Tiere als Arbeitsgefährten und als Nutztiere für den individuellen Verbrauch (z.B. Hühner, Kaninchen und Schweine) langsam aus dem Alltag der meisten europäischen Menschen verschwunden sind. Noch bis in die 1970er Jahre waren Grubenpferde im Bergbau tätig, Kanarienvögel dienten als "Gasmelder", doch die Zughunde, die bis um die Jahrhundertwende zu hunderttausenden in den Städten Waren transportierten, die sie zugleich bewachten, wurden von motorisierten Fahrzeugen ersetzt. Die privaten Hinterhofschlachtereien in den Städten wichen bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts den öffentlichen Großschlachthöfen, die man meist außerhalb der Stadtgrenze ansiedelte. Wurde den einen, den "essbaren" Tieren, Abstand zu den Menschen zugewiesen, kamen die anderen, individualisierten und nicht für das Essen bestimmten Tiere ihnen immer näher. Dass sich Menschen nicht nur in menschlicher, sondern auch in tierischer Gesellschaft bewegen, ist eine Selbstverständlichkeit.4 Paul Münch (geb. 1941) plädierte zwar schon 1999 dafür, "die Teilhabe der Tiere an der Lebenswelt des Menschen" in historische Forschungsagenden aufzunehmen und die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Tier und Mensch nicht länger als "exotisches Randthema" zu sehen,5 doch seinem Aufruf folgten zunächst nur wenige Historikerinnen und Historiker. In den letzten Jahren jedoch lässt sich eine bemerkenswert rasch wachsende Zahl von Forschungsprojekten und Publikationen zum Tierthema beobachten.6
In den letzten Jahren lag der Fokus der Tiergeschichte auf den Haustieren, während die Beschäftigung mit Nutztieren und Wildtieren erst in den Anfängen steht, und zu Insekten noch kaum geforscht wird. Ein deutlicher Trend zeigt sich in der zunehmenden Forschung zu Tieren als historischen Akteuren und zu deren Wirkungs- und Handlungsmacht, nachdem Fragen zur Repräsentation und Imagination zunächst auch im deutschsprachigen Raum Priorität hatten.7 So sind empirische, archivbasierte Studien immer noch selten, und die Diskussionen auf Fachtagungen kreisen um theoretische Reflexionen und methodische Debatten, wobei vor allem die Theorien und Konzepte von Bruno Latour (1947–2022), Donna Haraway (geb. 1944) sowie von Gilles Deleuze (1925–1995) und Felix Guattari (1930–1992), Jacques Derrida (1930–2004), Elias Canetti (1905–1994)8 oder Giorgio Agamben (geb. 1942)9 verhandelt werden. Wie immer, wenn Forschungsfelder etabliert werden, entstehen neue Traditionslinien und wissenschaftliche Genealogien werden neu geordnet. So erscheinen Haraway, Agamben und Derrida, Latour, Deleuze und Canetti geradezu als Begründerinnen und Begründer der Human-Animal Studies, und in der Auseinandersetzung mit ihren theoretischen Zugängen entstehen weitere, grundsätzliche Forschungsfragen nach dem Status von Tieren. Zunehmend möchte man wissen, welche Tiere was genau taten, ob und wie sie historische Ereignisse beeinflusst haben, und welche Rolle einzelnen Tieren, Tierkollektiven und Gattungen in der Geschichte zukam.
So sollen Tiere auf der Grundlage empirischer Studien in die Konzeption geschichtlichen Wandels einbezogen und eine Lesart der Quellen eingeführt werden, die von Tieren als zentralen historischen Akteuren ausgeht. Hier ist das Lesen "gegen den Strich" zu nennen, das in anderen Bereichen der Geschichtswissenschaften, etwa der Frauen- und Arbeitergeschichte, der Geschichte von Kindern, Marginalisierten und anderen Akteuren, die keine oder wenige eigene schriftliche Quellen hinterlassen haben, schon längst eingeübt ist. Das zum geflügelten Wort gewordene Postulat, die Geschichte sei "gegen den Strich zu bürsten", geht auf die siebte These aus Walter Benjamins (1892–1940) posthum veröffentlichtem Aufsatz Über den Begriff der Geschichte zurück.10 Für die Tiergeschichte kann das bedeuten, die Quellen einer Lektüre zu unterziehen, welche nicht die Sicht der menschlichen Verfasser verdoppelt, sondern zwischen den Zeilen auch die Wirkungsmacht der Tiere herausfiltert, wenn Tiere agieren, sich wehren, sich in Beziehung setzen und mit ihrem Dasein und ihrem Handeln Menschen beeinflussen. Zwar findet sich eine Beschäftigung mit Tieren schon in älteren Forschungen der Wirtschafts-, Technik-, Umwelt-, Militär-, Verkehrs- oder Medizingeschichte, aber diese Beschäftigung mit dem Tier, zum Beispiel im Tierversuch verband sich in der Regel nicht mit neuen theoretischen Ansprüchen, sondern wollte lediglich die wichtige Rolle von Tieren in der Menschheitsgeschichte zeigen und deuten. Zum Tierversuch, insbesondere zu den Debatten der Vivisektion, bzw. Anti-Vivisektion, welche im 19. Jahrhundert eifrig gefochten wurden, wurde bereits geforscht.11
Das Nachdenken über Tiere als historische Akteure steht heute auch in einem interdisziplinären Zusammenhang,12 wobei hier den Forschungen im angelsächsischen Raum eine Pionierrolle zukommt.13 Gerade im Feld der evolutionary history näherten sich Kultur- und Naturwissenschaftler/innen im Laufe der letzten Jahre einander an, unter anderem mit dem Plädoyer, Geschichtswissenschaft und Biologie enger zu verbinden, um historische Prozesse von extrem langer Dauer und die Rolle der Evolution in der menschlichen Geschichte besser zu verstehen.14
Am Beispiel der ältesten Mensch-Tier-Beziehung, namentlich der Mensch-Hund-Beziehung orientiert sich die amerikanische Biologin und Wissenschaftsforscherin Donna Haraway. Sie hat eine Evolutionsgeschichte konzipiert, die den Menschen seiner privilegierten Stellung, seiner Singularität und seiner ausschließlich ihm zugesprochenen Handlungsfähigkeit enthebt. Mensch und Hund entwickelten sich in einem Jahrtausende währenden Prozess der Koevolution, dessen Anfang in der Eiszeit liegt.15 Während dieser Periode begann der Grauwolf (Canis lupus), das vorherrschende Raubtier in Europa, mit den Huftierherden mitzuziehen und begegnete so auch Menschen. Im Verlauf der letzten Eiszeit taten sich dann die den Rentierherden folgenden Wölfe und die Menschen zusammen. Zunächst nahmen vermutlich einige Menschen die wölfische Lebensweise an und folgten ebenfalls den Rentierherden. Schon die ersten Kontakte zwischen Wölfen und Menschen besaßen wahrscheinlich einen wechselseitigen Charakter. Die ältesten Funde von Hunden, das heißt von Caniden, die sich deutlich von Wölfen unterscheiden, sind etwa 100.000 Jahre alt und damit älter als alle Funde von Ziegen, Schafen oder Rindern. Dennoch ist es schwierig, schon hier von der Domestizierung der Hunde zu sprechen bzw. von Hunden als Haustieren, zumal die Menschen, mit denen die Hunde am Anfang lebten, nicht in festen Häusern wohnten, und die Caniden bereits vor den Menschen Schlafhöhlen nutzten. Gegenseitig passten Menschen und Hunde ihre Verhaltensformen einander an und wurden gemeinsam sesshaft. In diesem Prozess drangen die Hunde auch in den menschlichen Nahraum ein und wurden spätestens dann, als die Menschen ihre Feuerstelle und Schlafstätten mit ihnen teilten, zu Haustieren.
Neuere Ansätze der Tiergeschichte
Indem biologische Erkenntnisse einbezogen werden, macht es die Tiergeschichte möglich, die Auflösung des Natur/Kultur Dualismus – Haraway spricht von "naturecultures"16 – und eine Perspektive extremer longue durée fortzuschreiben.17 Tiergeschichte wird mit zahlreichen bereits etablierten Ansätzen der Kultur- und Sozialgeschichte verknüpft, wobei den meisten dieser Ansätze gemein ist, dass sie Tiere inzwischen als aktiv mitgestaltende Akteure von Geschichte begreifen.18
Agency
Zweifellos beeinflussen Tiere durch ihr Handeln und durch ihre An- oder Abwesenheit menschliches Tun. Der Transfer von Tieren hat Landschaften und Menschen, die Ökologie und Ökonomie ganzer Kontinente verändert. Dabei ist es heute, so schreibt Mieke Roscher (geb. 1973), "der Zugriff auf das Tier als historischen Akteur, der einen Perspektivwechsel einläutet und von dem man sich neue Ergebnisse für die historische Forschung verspricht". So wirkten Tiere an der Eroberung und kolonialen Besiedlung Amerikas mit, etwa als Pferde eingeführt wurden.19 Der eigentliche Anfang der von Tieren mitgetragenen Besiedlung liegt jedoch im Walfang an der Ostküste. Als Höhepunkt kann schließlich die Expansion der Rinderherden auf Kosten der Büffel gelten. Auch die Geschichte des Imperialismus in Indien und Afrika wurde durch Tiere beeinflusst.20 Koloniale Herrschaft brachte dort die Vernichtung und Beschränkung von Haustieren und wilden Tieren mit sich. In Australien übten die Kaninchen- und Kamelplagen starken Einfluss auf die Gesellschaft aus, und die Industrialisierung Europas ist eng mit der Arbeitskraft von Tieren und der Verwertung von Tierprodukten verknüpft.
Die Frage der Konzeption dieser Agency, also der historischen Handlungsmacht von Tieren, ist jedoch eines der Hauptprobleme der Tiergeschichte. Dabei ist es bemerkenswert, dass es sich in erster Linie nicht um ein methodisches oder methodologisches Problem handelt. Eine große Quellenvielfalt aus allen Epochen und zu praktisch allen relevanten kulturgeschichtlichen Themen steht der Forschung zur Verfügung und kann mit den erprobten, quellenkritischen Methoden ausgewertet werden. Etwas überspitzt ließe sich sagen, dass kaum historisches Material existiert, in dem nicht in der einen oder anderen Weise Tiere vorkommen. Diesem Quellenreichtum steht aber das Problem gegenüber, wie tierliche Agency als historische Wirkungsmacht theoretisch zu konzipieren ist. Natürlich lässt sich beschreiben, wie sich Tiere wehrten, doch ist dies bereits als eine Sonderform des Arbeitskampfes aufzufassen?21 Ein Grund für diese zentrale Stellung des Agency-Konzeptes in einer Tiergeschichtsschreibung, die als konventionelle Umwelt- oder Militärgeschichte auch ohne dieses Postulat ausgekommen ist, liegt vermutlich in einem neuen Bedürfnis nach einer symmetrischen Anthropologie begründet. Diese geht davon aus, "dass an der Konstitution von Erfahrungsräumen nicht nur die in Symbolsystemen agierenden Menschen, sondern eine Vielzahl heterogener Elemente beteiligt sind".22 Zu betonen ist, dass der hier zugrunde gelegte Begriff von Agency, der sich an der "Akteur-Netzwerk-Theorie" (ANT) orientiert, ohne jeden Begriff von Intentionalität auskommt, wenn die Verknüpfungen von Technik, Mensch und Tier ("Assemblagen") beschrieben werden. Auch wenn es Bruno Latour und anderen Theoretikern der ANT nicht zentral um die Frage nach Tieren und dem Verhältnis von Mensch und Tier ging, können Tiere ebenso wie Dinge und Menschen demnach als Aktanten verstanden werden.
Die zentrale Frage nach der historischen Wirkungsmacht von Tieren bzw. die Frage nach Tieren als historischen Subjekten bleibt allerdings ungelöst: Machen Tiere aus eigenem Antrieb Geschichte? Hierbei, das sei noch einmal betont, ist es für die Geschichtswissenschaft zwar hinderlich, aber nicht entscheidend, dass Tiere nicht schreiben und sprechen. Indirekt haben einzelne Tiere, Tierkollektive und die unterschiedlichen Arten, Gattungen und Spezies eine unübersehbare Menge an Spuren und Fährten auch in den Archiven hinterlassen. Als Beispiel dienen die vielen Verordnungen und Gesetze zum Umgang mit und zur Beschränkung von Tieren in der Stadt. Sie enthalten viele Informationen über die urbanen Mensch-Tier-Beziehungen in historischer Perspektive. Als Quellen bilden sie das Handeln von Tieren in vielfältiger Weise ab, denn Tiere kooperierten mit Menschen, arbeiteten und lebten auf engem Raum mit ihnen zusammen. Sie wehrten sich und beeinflussten Menschen in ihrer Praxis und in ihrem Denken. Das Agency-Konzept stößt jedoch an Grenzen und tierliche muss von menschlicher Agency unterschieden werden. Zwar handeln auch Menschen nicht immer intentional, wenn sie "Geschichte machen", und Tiere verfügen als fühlende, denkende und handelnde Wesen möglicherweise über Vorstellungen von der Zukunft, aber sie haben kein Geschichtsbewusstsein.23
Die Agency einzelner, individueller Tiere zeigt sich jedoch anhand der direkten Beziehungen zwischen Tieren und Menschen. Dazu zählen etwa Besitzerinnen, Pfleger oder in anderer Weise Zuständige, die über einen längeren Zeitraum ihr Leben mit einem Tier teilten. Ende des 19. Jahrhundert stellte etwa das Genre der Tierbiographie analog zur Biographie großer Männer die Lebensgeschichte populärer Tiere in den Mittelpunkt und gab somit über das Handeln der Tiere Auskunft.24 Im Fall des afrikanischen Elefanten Jumbo, der im Londoner Zoo zur Attraktion und Werbeikone wurde, verband sein Tierpfleger Matthew Scott die Lebensgeschichte Jumbos allerdings mit seiner eigenen Autobiographie.25 Biographien widmeten sich aber auch "unbekannten", nicht prominenten Tieren, etwa des Grizzlybären,26 um die exemplarische Bedeutung des beschriebenen Tieres zu betonen. In literarischen Tierbiographien erzählt das Tier seine eigene Geschichte. Wie in dem Roman Black Beauty: The Autobiography of a Horse der englischen Autorin Anna Sewell (1820–1878) wurden diese Werke oft als moralische Lehrstücke konzipiert.27 Das Tier konnte aber auch an die Stelle des Menschen treten und aus seiner Sicht als fiktiver Autor über ein historisches Ereignis28 oder eine historische Epoche berichten, wie beispielsweise in den Kinderbüchern Jock of the Bushveld (1907) des Südafrikaners James Percy FitzPatrick (1862–1931) oder Michael Morpurgos (geb. 1943) War Horse (1982).29
In historischen Tierbiographien wird das Tier dagegen zum Akteur in einer bestimmten Epoche, so wie das Rhinozeros Clara, das im 18. Jahrhundert einen großen Teil Europas bereiste. Anhand seiner Biographie lässt sich die koloniale Verflechtungsgeschichte verdeutlichen.30 Am 22. Juli 1741 kam Clara auf dem Schiff Knabenhoe unter Kapitän Douwe Mout van der Meer im Hafen von Rotterdam an. Der Kapitän hatte Clara von Jan Albert Sichterman (1692–1764), dem Direktor der Holländischen Ostindischen Kompanie in Assam gekauft und wollte durch die Präsentation des Tiers in Europa ein Geschäft machen. Clara hatte als Handaufzucht in den Salons der kolonialen Residenz gelebt und war zu groß geworden, um als Haustier gehalten zu werden. Siebzehn Jahre lang reisten der Kapitän und das Nashorn in einem eigens konstruierten Wagen durch die europäischen Metropolen, bis Clara in London im Alter von zwanzig Jahren starb. Das Rhinozeros war eine solche Attraktion – es wurden sogar Uhren und Porzellan mit seinem Konterfei verkauft –, weil seit der Antike in Europa keine Nashörner mehr zu sehen gewesen waren. Die Kenntnisse der römischen Tierhändler waren in Vergessenheit geraten, und es gab sogar, wie Claras Biographin schreibt, Zweifel an der Existenz dieser wundersamen Kreatur. Der Anblick Claras, die vielfach gemalt und gezeichnet wurde, prägte ein neues Bild vom Rhinozeros, das ältere europäische Bilder und Vorstellungen überlagerte. Dazu gehörte zum Beispiel die Geschichte von der besonderen Feindschaft zwischen Nashorn und Elefant, die durch den Text zu Albrecht Dürers (1471–1528) berühmten Holzschnitt überliefert worden war.31
Sowohl die alten als auch die neuen, sowohl die literarischen als auch die historischen Tierbiographien gehen davon aus, dass Tiere eine Biographie "besitzen", d.h. dass sich ihr Leben als Biographie von der Geburt bis zum Tod (oder ihrem Nachleben in den unterschiedlichsten Medien) darstellt und sich daher auch in dieser Weise sinnvoll erzählen lässt. Hier stellt sich die Frage, ob Tierbiographie als historisches Genre und als analytischer Zugang eher analog zur "cultural biography of things"32 konzipiert wird, oder ob ein aufgeladenes und voraussetzungsreiches Konzept von Biographie dahintersteht, das ein individuelles Leben, ebenso wie die Geschichte insgesamt, als zielgerichtete Abfolge von Ereignissen versteht. Letzteres entspräche einem Konzept von historischer und biographischer Identität, welches – wie bereits erwähnt – wahrscheinlich gar nicht mit einer möglichen Selbstwahrnehmung des Tieres übereinstimmt.33
Raum
Der Sichtweise, dass Tiere als aktive Entitäten an Gesellschaft teilhaben, wird ein lediglich historisch kategorialer Zugriff über Zeit jedoch nicht gerecht. Bezieht man die Kategorie des Raums mit ein, wird die partizipative Rolle der Tiere an historischen Prozessen weitaus deutlicher.34 Die Verknüpfung von Tier- und Raumgeschichte geht meist auf die Geographen Chris Philo (geb. 1960) und Chris Wilbert (geb. 1962) zurück. In ihrem Sammelband Animal Spaces, Beastly Places betonen sie, dass der Blick allein auf die Repräsentation von Tieren in der Stadt nicht genüge, da Tiere so als bloße Einschreibeflächen erschienen und nicht als selbständig Agierende. Wichtiger sei es, auf die Praktiken zu schauen, welche die repräsentative Funktion erst konstituieren. Vor allem aber gehe es darum zu begreifen, wie die Tiere selbst in diesen Praktiken zu Tage treten.35 Durch ihre nachweisbare, historisch wandelbare Anwesenheit oder Abwesenheit in Räumen werden Tiere zur sozialen Größe. Einer Geschichte, die Tiere vernachlässigt, begegnen Susan J. Pearson und Mary Weismantel, mit einer Neufassung der Begriffe des Sozialen und des Raumes. Sie wollen die materielle Präsenz der Tiere im sozialen Leben verstärkt berücksichtigt wissen36 und fordern hierfür, die räumlichen Dimensionen der Mensch-Tier-Beziehungen genauer zu bestimmen und eine "räumliche Kartierung der Mensch-Tier-Beziehungen" zu unternehmen. Durch ihr Konzept von Raum als "Instantisierung des Sozialen" wollen sie dem methodologischen Problem der Abwesenheit der tierischen Stimme begegnen, denn Tiere können auf diese Weise als zwar "stumme", aber eben als soziale Akteure verstanden werden, ohne dass die Frage nach Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung beantwortet werden muss.37 Zur Analyse der (räumlichen) Präsenz der Tiere in der vormodernen Stadt bietet sich ebenfalls das von Rudolf Schlögl (geb. 1955) entwickelte Konzept der "Anwesenheitsgesellschaft" oder "Vergesellschaftung unter Anwesenden" an.38 Die vormoderne Stadt erscheint hier als verdichteter sozialer Raum, in dem sozialrelevant und strukturbildend war, was in Interaktion, in konkreter Kommunikation unter Anwesenden geschah. Das Prinzip der Präsenz zur Erlangung von Handlungsmacht macht folglich auch Tiere zu Mitgliedern der Gesellschaft.
In der Frühen Neuzeit gehörten besonders Hunde zu den beliebtesten Haustieren. Sie bewegten sich nicht nur im geographischen Raum der Stadt, sondern auch in deren zahlreichen sozialen Räumen in jeweils unterschiedlichen performativen Zusammenhängen. Einerseits müssen sie als Statussymbole, Repräsentationsobjekte, Kommunikationsmedien und als Träger von Symbolisierungen, sozusagen als erweiterter Körper ihres Besitzers, mitgedacht werden. Andererseits können sie als Agenten mit eigenen Körpern aufgefasst werden, die die Räume mitgestalteten. Anhand von Verordnungen wird deutlich, wie versucht wurde, Handlungsräume der Hunde festzulegen. Neben den bürgerlichen Wohnzimmern, bevölkerten Hunde zahlreiche Orte im Stadtraum. Die vielen als companion animals gehaltenen Hunde waren zeitgenössischen Regierungen oft ein solches Ärgernis, dass sie mit zahlreichen Verordnungen Hunden das Betreten gewisser Räume, insbesondere der Kirchenräume, verboten.
Zu den spezifisch räumlichen Kontexten der Mensch-Tier Begegnungen zählen Orte wie der Zoo,39 der Schlachthof40 und das Versuchslabor.41 Auch bei der Eroberung neuer Räume, im Krieg42 und im Zuge der Europäischen Expansion43 erscheinen Tiere dieser räumlichen Perspektive folgend als bedeutende Gesellschaftsmitglieder, wobei in Arbeiten zu diesen Räumen vor allem die jeweiligen Verwendungsweisen von Tieren im Vordergrund standen. Die in Amerika eingeführten europäischen Haustiere nahmen den Raum in besonderer Weise in Besitz, wie Alfred W. Crosby (1931–2018) schreibt: "insofern sich diese Tiere selbst reproduzieren, sind sie hinsichtlich Tempo und Wirkungsgrad der Umgestaltung ihrer Umwelt – selbst eines ganzen Kontinents – jeder bislang erfundenen Maschine überlegen".44 Die hier angesprochene Reproduktion fand sowohl durch Haltung und Vermehrung statt, etwa die Zucht auf Farmen, als auch unter weggelaufenen "Haustieren", wie zum Beispiel den Pferden der spanischen Konquistadors im 16. Jahrhundert, die große Wildpferdherden bildeten. Deren erneute Domestizierung änderte die Lebensweise der Bewohner der Great Plains grundlegend, die nun mit Pferden auf die Büffeljagd gingen. Auch die ersten Rinderherden in Nordamerika waren Nachkommen von spanischen Rindern, die Francisco Vázquez de Coronado (1510–1554) auf seinem Weg von Süden nach Norden zu den sagenumwobenen sieben goldenen Städten von Cibola ausgesetzt oder verloren hatte.
Neben Tiergruppen, die Räume prägten und mitgestalteten, erlangten immer wieder Tierindividuen Berühmtheit, die außergewöhnlich präsent und auf verschiedene Weise von Menschen verwendet wurden. Seit dem Mittelalter wurden in Europa Elefanten, Giraffen und Nashörner gezeigt. Im 20. Jahrhundert kam mit dem Weltraum ein weiterer Bereich hinzu, in dem Tiere eingesetzt wurden. Dazu zählte etwa die russische Mischlingshündin Laika. Sie verließ, als erstes Lebewesen überhaupt, in einer Weltraumkapsel die irdische Sphäre. Der "Schimponaut" Ham wurde 1961 von der NASA in die Erdumlaufbahn gebracht. Dieser Einsatz von Hunden und Affen in der Weltraumforschung und ihren Einsätzen als Astro- bzw. Schimponauten, ist nur ein Beispiel dafür, dass Tiere als Akteure den Raum mitgestalten.
Beziehungsgeschichte, Praxeologie
Das konkrete Tun der Tiere zu untersuchen, führt zunächst zu den Menschen, mit denen die Tiere in einer interaktiven und reziproken Beziehung stehen. So gestalten Hunden etwa kulturelle Entwicklungen mit, wie Donna Haraway untersucht hat. Ihr Handeln und Sein ist mit dem von Menschen auf eine vielschichtige Art und Weise verwoben, so dass weder Tier noch Mensch isoliert betrachtet werden können, sondern eine Beziehungsgeschichte geschrieben werden müsse. Indem man von der Beziehung zwischen Mensch und Tier als kleinster historischer Untersuchungseinheit ausgeht, wird keineswegs die aktive mitgestaltende Rolle der Tiere, die eng mit Menschen zusammenlebten, geleugnet. Vielmehr wird der Problematik Rechnung getragen, dass Tiere uns keine selbstgefertigten Artefakte als Quellen hinterlassen. In dieser interaktiven, reziproken Untersuchungseinheit Mensch-Tier sind immer nur Menschen Verfasser von Quellen oder Produzenten der historischen Überreste aller Art. Diesem Umstand kann mit praxeologischen Ansätzen begegnet werden. Wenn soziales Handeln nicht auf Intentionalität reduziert, sondern dessen performativer Charakter betont wird, bedeutet das eine Veränderung der Perspektive.45 Es kommen nicht nur die Körper der Handelnden, sondern auch neue Akteursgruppen, wie eben Tiere, ins Spiel. Mit dieser embodied agency, von der praxeologische Zugänge ausgehen, bekommen Tiere einen in den Quellen klar nachweisbaren Akteurstatus, denn sie treten in Interaktionen mit den Menschen und wirken damit auf deren Handlungen direkt ein. Bei der Beziehung von Mensch und Hund lässt sich, sozialwissenschaftlichen Theorien folgend, sogar von einem Akteursduo sprechen. Ein Beispiel stellt der Hundespaziergang dar. Die Kulturtechnik des Spaziergangs entstand zur selben Zeit, als das Halten von Hunden aus dem Leben des Bürgertums nicht mehr wegzudenken war. Zugleich setzte die Obrigkeit ausdifferenzierte Hygienevorstellungen durch, die das Herumstreunen von Hunden ohne Begleitung einschränken sollten. Indem Hunde in den Städten frei umherstreiften und sich zu temporären Rudeln zusammenschlossen, hatten sie sich bestimmte (nächtliche) Räume erobert. Diese Handlungsfähigkeit ging in doppelter Weise in die neue Kulturtechnik des Hundespaziergangs ein: sie diente als Ausgangspunkt bzw. Auslöser für die Regulierungsbestimmungen, zugleich stellte der Spaziergang ein Beispiel für die Kooperation von Hund und Mensch dar.
Das gemeinsame Unterwegsein von Mensch und Hund verdeutlicht, dass soziale Praktiken von Menschen und Tieren auf ein gemeinsam geteiltes praktisches Wissen und Können zurückgehen. Hunde begleiteten etwa ihre Halter meist ohne Leine beim Spaziergang, dennoch wussten beide, was zu tun war. Wichtig war, dass der Hund seinen Namen kannte, damit ihn sein Besitzer rufen konnte. Damit diese Kommunikation und das selbstverständliche Nebeneinander beim Flanieren funktionierten, mussten Hunde aber auch die Regeln kennen, auf denen die gemeinsame Praxis des Spaziergangs basierte. Auf diese Weise lässt sich den Hunden Handlungsmacht und Einfluss auf die Entwicklung dieser Kulturtechnik des Spaziergehens zuschreiben.46
Im Laufe des 18. Jahrhunderts gewann der Spaziergang als Alltagshandlung des städtischen Bürgertums zunehmend an Bedeutung. Parallel dazu verbreitete sich die Hundehaltung zum reinen Vergnügen.47 Das Spazieren und das Halten von Hunden – zwei Kulturpraktiken, die mit dem Genießen der Natur verbunden sind – wurden also zur gleichen Zeit im Bürgertum äußerst populär. Fasst man Hunde als interaktive Beziehungspartner auf, so scheint es plausibel, dass sich die Hundehaltung und der Spaziergang nicht zufällig gleichzeitig als städtisches Freizeitverhalten etablierten, sondern dass das Bedürfnis der Hunde, nach draußen zu gehen, Einfluss auf den Lebensrhythmus ihrer Halter genommen hatte.
Schluss
In dreierlei Hinsicht sind Tiere Teil einer gemeinsamen Geschichte. Tiere werden erstens durch die Geschichte verändert, sie sind Produkt historischer Prozesse, wie die longue durée von Ko-Evolution, Domestizierung und Zucht zeigt. Dabei passen sich Mensch und Tier einander an. So geht die Forschung etwa davon aus, dass es der Wolf war, der den Menschen zur Sesshaftigkeit brachte, da Wölfe in Höhlen lebten, als Menschen noch als Nomaden umherzogen. Zweitens verändern Tiere Geschichte durch ihre konkrete An- und Abwesenheit, sie sind Träger von Geschichte, denn ohne die Beteiligung etwa von Rindern und Pferden wären koloniale Eroberungen und Besiedlungen nicht oder nur völlig anders möglich gewesen. Auch die Industrialisierung wäre ohne die Arbeitskraft von Tieren in anderen Bahnen verlaufen. Drittens nehmen Tiere in der Geschichte und in den Quellen eine wichtige Rolle ein für das menschliche Selbstverständnis. Sie sind Teil historischer Überlieferung und Akteure in den historischen Epochen. Mit dem Menschen stehen sie in einer unauflöslichen Beziehungsgeschichte, deren kleinste Untersuchungseinheit die Mensch-Tier-Beziehung ist.