Einleitung
Vertriebenen- und Flüchtlingstrecks gehören zu den prägenden nationalen und transnationalen "Erinnerungsorten" einer Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Flucht und Vertreibung hatte es auch in früheren Jahrhunderten gegeben,1 doch im 20. Jahrhundert nahmen sie gigantische Ausmaße an. 50 bis 80 Millionen Europäer sollen unfreiwillig ihre Heimatorte verlassen haben. Diese Schätzungen sind schwer nachprüfbar. Nicht nur, weil die statistische Erfassung der menschlichen Tragödien voller Lücken, Widersprüche und eventueller Doppelzählungen steckt, sondern auch, weil die zur Quantifizierung herangezogenen Begriffe von Land zu Land sowie innerhalb nationaler Diskurse unterschiedlich definiert werden und das Ringen um die "politisch korrekte" Wortwahl sowie um die Ausgestaltung der nationalen und transnationalen "Erinnerungskulturen" noch im vollen Gange ist.2 Seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme 1989, der Öffnung bis dahin unzugänglicher Archivbestände und der historischen Aufarbeitung vormaliger Tabuthemen hat eine intensive Debatte über Zwangsmigrationen eingesetzt, die sehr kontrovers geführt wird, aber zunehmend auch bemerkenswerte Annäherungen über nationale Grenzen hinweg erkennen lässt. Im Folgenden geht es ausschließlich um die 1. durch Anordnung (Zwang), 2. Gewalt, 3. Androhung von Gewalt oder 4. Furcht vor Gewalt (Vergeltung) erzwungenen Migrationen (mit jeweils fließenden Übergängen), sofern sie ethnisch bzw. national motiviert waren. Die Flucht aus sozioökonomischen oder politischen Motiven, die Evakuierung oder Flucht von Bevölkerungsteilen aufgrund von Kriegshandlungen oder die Verschleppung von Kriegsgefangenen fallen heraus, wenn die ethnische/nationale Zuordnung der Betroffenen keine oder keine eindeutig verursachende Rolle spielte (was im Detail nicht immer zweifelsfrei entschieden werden kann). Auch die Deportation und Ermordung der Juden werden an dieser Stelle nicht behandelt, weil der Holocaust ein eigenes Thema darstellt. Zwangsmigrationen im hier gemeinten Sinn stellen den Kern dessen dar, was seit Beginn des Kriegs in Bosnien 1992 unter dem Begriff "ethnische Säuberung" zusammengefasst wird.3 Ethnische Säuberung ist keine verharmlosende Bezeichnung für Völkermord, sondern umfasst ein breites Spektrum von Maßnahmen, von denen einige – wie Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen oder Völkermord – strafbar, andere dagegen – z.B. ein zwischenstaatlich vereinbarter obligatorischer Bevölkerungsaustausch – nicht strafbar sind. Ethnische Säuberungen sind die von einem modernen Staat oder Para-Staat und seinen Akteuren initiierten und ausgeführten, ermunterten oder geduldeten Maßnahmen, die darauf abzielen, eine aufgrund ihrer Ethnizität als "bedrohlich", "illoyal", "fremd", oft auch als "minderwertig" stigmatisierte Bevölkerung von einem bestimmten Territorium zu entfernen. Diese Maßnahmen erfolgen gezielt (intentional) und systematisch, können aber auch begleitet sein von ungeregelten Handlungen ("wilde" Vertreibungen), die das Resultat eines Konfliktverlaufs sind (prozessuale oder "funktionale" Formen ethnischer Säuberungen). Auch Evakuierung und Flucht in Antizipation ethnischer Säuberungen gehören in diesen Kontext. Ziel der ethnischen Säuberung ist nicht primär der Völkermord, sondern die räumliche Entfernung der ethnisch "fremden" und "feindseligen" Bevölkerungsgruppe(n), um auf diese Weise Staatsterritorium, Staatsvolk und "Volkstumsboden" in Übereinstimmung zu bringen. Motor dieser Art von Zwangsmigrationen sind stets die ausufernden nationalen bzw. ethnischen Feindbilder. Betroffen sind in der Regel nationale oder ethnische Minderheiten in Staaten, die nach ethno-nationaler Homogenität streben.4 Zu Zwangsmigrationen kommt es vor allem dort, wo die Wir-Gruppe der Akteure als Abstammungsgemeinschaft verstanden wird und Teile ihres tatsächlichen oder beanspruchten Territoriums von Bevölkerungsgruppen bewohnt werden, die nicht der eigenen Wir-Gruppe oder Titularnation angehören. Sicherheitsargumente (Verhinderung von separatistischen Bewegungen oder Abwehr irredentistischer Bestrebungen eines Nachbarstaates) spielen dabei ebenso eine Rolle wie Vergeltung für erlittenes Unrecht oder die Umverteilung von Vermögenswerten, gesellschaftlichen Ressourcen und Chancen.
Die "Modernität" ethnisch bedingter Zwangsmigrationen
Die dramatische Zunahme von ethnischen Zwangsmigrationen im Europa des 20. Jahrhunderts bzw. ihre Modernität hat vier Ursachen:
1. In früheren Jahrhunderten hatte die ethnische Zuordnung von Personen für die Masse der Bevölkerung (ebenso wie für die Herrscher) nur eine untergeordnete und oft gar keine Rolle gespielt, zumal die Kriterien für die Zuordnung zu einer Großgruppe (Sprache, Religion, Siedlungsgebiet, gemeinsame Vergangenheit, Abstammung bzw. eine Kombination mehrerer Kriterien) oft unklar oder widersprüchlich waren. Viele Herrscher und Besitzer großer Ländereien vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert hinein haben in den seit jeher dünner besiedelten Räumen des östlichen Europas gezielt Fremde zur Erschließung ihrer Gebiete angeworben und diese oft mit Privilegien ausgestattet. Erst im Verlauf der Nations- und Nationalstaatsbildungsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts, der sie begleitenden Inklusions- und Exklusionsverfahren sowie des Strebens nach "Eindeutigkeit" erlangte die Ethnizität jene herausragende Bedeutung, die ihr spätestens im 20. Jahrhundert beigemessen wurde. Menschen, die nicht eindeutig ethnisch/national zugeordnet werden konnten oder ihre Selbstzuschreibung änderten – in früheren Jahrhunderten der Normalfall –, wurden nun zum Problem. Die modernen Wissenschaften (insbesondere Biologie, physische Anthropologie, Genetik, Ethnographie/Volkstumskunde) und die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts verbreitende Rassenlehre haben die Klassifizierung der Menschen nach Ethnien, Nationen und Rassen sowie das "ethnic engineering" weiter vorangetrieben.5 Zwar waren mitunter auch in der Vormoderne ganze Bevölkerungsgruppen von Vertreibung, Zwangsumsiedlung oder Flucht betroffen, aber in der Regel nicht aufgrund ihrer (ohnehin schwer bestimmbaren) Ethnizität, sondern aus religiösen Gründen (z.B. Juden, Morisken, Hutterer, Hugenotten) oder aufgrund tatsächlicher bzw. vermuteter Illoyalität gegenüber dem Herrscher oder aus siedlungspolitischen Motiven.
2. Krise und Zerfall der großen multiethnischen Imperien in Europa (Osmanisches Reich, Habsburger Monarchie, Zarenreich und Deutsches Kaiserreich) lösten eine Reihe von Staatsbildungen aus: Die politische Landkarte großer Teile Europas wurde unter Rekurs auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach "nationalstaatlichen" und ethnographischen Kriterien neu geordnet. Trägt man alle Grenzveränderungen des 20. Jahrhundert auf einer Karte ein, so fällt sofort ein Raum in der Mitte Europas – zwischen Westeuropa und dem kompakten russischen Siedlungsraum – auf, der mehr als alle anderen Teile des Kontinents von gewaltigen Grenzverschiebungen gekennzeichnet ist. In Gebieten mit ethnisch gemischter Bevölkerung oder mit einer Bevölkerung, die (noch) kein ethnisches, geschweige denn ein nationales Bewusstsein entwickelt hatte und sich z.B. nach Religion/Konfession oder Region definierte, entfaltete das Selbstbestimmungsrecht seine "dunkle" – oft wenig beachtete – Seite. Denn es veranlasste Politiker und ihre wissenschaftlichen "Gehilfen" (Ethnographen, Linguisten, Historiker) dazu, die Existenz einer ethnisch anderen oder unentschiedenen Bevölkerung auf einem bestimmten Territorium zu "verstecken" oder "verschwinden" zu lassen. Ethnische Vereinnahmung (gegen den Willen der Betroffenen), Vertreibung, Animation zu Flucht und Massenmord entwickelten sich zu wichtigen Instrumenten bei der Durchsetzung national homogener Territorien.
3. Die Europa prägenden Kriege des 20. Jahrhunderts waren Massenvernichtungskriege. Das Konzept des "gehegten Staatenkrieges", das nach dem Dreißigjährigen Krieg entwickelt worden war, brach im 20. Jahrhundert zusammen, obwohl noch die Haager Landkriegskonvention von 1907 die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung völkerrechtlich verankert hatte. Das bereits seit der Französischen Revolution im Vormarsch befindliche Konzept des "Volkskrieges" bzw. der "levée en masse", die Ethnisierung der Kriege und schließlich die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen leisteten der Transformation des "klassischen" Kriegs Vorschub. Die Ethnisierung des "Volkskrieges" hatte zur Folge, dass nicht nur die gegnerische Armee, sondern die gesamte "fremde" Bevölkerung als kriegführende Partei verstanden wurde.
4. Die großen Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts – der Nationalsozialismus und der Stalinismus – haben ethnische Konzepte skrupellos zur Durchsetzung ihrer Gewaltherrschaft missbraucht und viele Nachahmer gefunden. Der dazu erforderliche Machtapparat war ebenfalls ein Produkt der Moderne.
Die bisherigen Ausführungen sollen nicht nur Gründe für die Häufung ethnisch motivierter Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert benennen, sondern liefern auch erste Hinweise auf diejenigen Teile Europas, die davon besonders betroffen waren. Obwohl es ethnische Zwangsmigrationen vereinzelt auch in anderen Teilen des Kontinents gegeben hat (z.B. in dem von Deutschland und Frankreich umkämpften Elsass nach dem Ersten Weltkrieg, während der NS-Besatzungszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg), fanden die meisten ethnischen Säuberungen im östlichen Mitteleuropa, in Südosteuropa und Osteuropa (einschließlich der asiatischen Teile Russlands und der Sowjetunion) statt, das heißt auf dem Boden der früheren multiethnischen Imperien.6 In diesen Gebieten war es zu einer spezifischen Form der Nations- und Nationalstaatsbildung gekommen. Während sich z.B. in Frankreich die Nationsbildung im Rahmen eines etablierten Staats vollzog und der existierende Staat bzw. die politische Gemeinschaft ein wichtiger Bezugspunkt kollektiver Identitätsbildung darstellte (state into nation), mussten sich die Nationsbildner ohne eigenen oder mit einem noch jungen, fragilen Staat auf andere Gemeinschaft stiftende Kriterien berufen (nation into state). Größter Beliebtheit erfreute sich das "Volkstum", das Konzept einer imaginierten Gemeinschaft auf der Grundlage gemeinsamer Abstammung und "Kultur".7 Die Ethnizität wurde damit zum konstitutiven Element der Nationalstaatsbildung im mittleren und östlichen Teil des Kontinents. "Das Volk wurde als ethnische Gemeinschaft begriffen. Auch der Begriff der 'Staatsangehörigkeit', der an sich ohne jede ethnische Dimension ist, erhielt eine Einfärbung in Richtung auf die 'Volkszugehörigkeit'."8 Diese Neuausrichtung sollte überaus folgenreich sein. Schon 1855 hatte ein lautstarker Vertreter des deutschen Nationalismus, Paul Anton de Lagarde (eigentlich Bötticher, 1827–1891), erklärt:
Es ist zweifellos nicht statthaft, dass in irgendeiner Nation eine andere Nation bestehe; es ist zweifellos geboten, diejenigen welche ... jene Dekomposition befördert haben, zu beseitigen: Es ist das Recht jedes Volkes, selbst Herr auf seinem Gebiet zu sein, für sich zu leben, nicht für Fremde.9
Die deutsche Nation war ein denkwürdiges Produkt derartiger Konstruktionen. Sie setzte sich nach der Reichsgründung aus zwei Teilen zusammen: den "Reichsdeutschen" innerhalb und den "Auslandsdeutschen" außerhalb des Reichs. In der Zwischenkriegszeit bürgerte sich für die im Ausland lebenden Deutschen die Bezeichnung "Volksdeutsche" ein. Gemeint waren jene Personen(gruppen), die aufgrund von "Blut" und Abstammung dem "Deutschtum" zugerechnet wurden, auch wenn sich ihr deutsches Nationalbewusstsein noch in statu nascendi befand.10 "Volkstumsforschung" und "Volksgeschichten" erlebten folglich in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern einen ungeahnten Aufstieg.11 Abstammung ist ein extrem rigides Inklusions- und Exklusionskriterium, da die Abstammung (im Unterschied zu Sprache, Religion oder Identifikation mit einer politischen Gemeinschaft) weder wählbar noch veränderbar ist. Jemand gehört per Abstammung zu "uns" oder er gehört nicht zu "uns"; tertium non datur. In die Abstammungsgemeinschaft kann man weder eintreten noch kann man aus ihr austreten. Da jedoch die vermeintlich gemeinsame, weit in die Vergangenheit zurückprojizierte Abstammung von Großgruppen weder beweisbar noch widerlegbar ist (auch der "Ariernachweis" der Nationalsozialisten war lediglich Stückwerk), wurden der Manipulation in zweierlei Form Tür und Tor geöffnet: 1. Zur Abstammungsgemeinschaft konnten demnach auch Personengruppen gehören, die nach Ausweis ihrer Sprache, Religion oder Kultur nicht dazu gehörten. Die vermutete Abstammung machte es möglich: Angeblich hatten die jeweiligen Vorfahren ihre "eigentliche" Sprache oder ihre "ursprüngliche" Kultur "verloren".12 Da dies als Verstoß gegen die "natürliche Ordnung" galt, mussten die betreffenden Gruppen zu ihrem "eigentlichen Volkstum", z.B. durch "Umerziehung", forcierten Glaubenswechsel, Sprachwechsel und/oder Namensänderung, "zurückgeführt" werden.13 Erwiesen sie sich als "resistent", waren sie "Verräter" und wurden auch so behandelt.14 2. Es konnten in einem Staat auch Bevölkerungsgruppen leben, die aus der ethnisch definierten Titularnation ausgeschlossen wurden (vor allem Juden oder Balkan-Muslime)15 oder sich von dieser nicht vereinnahmen ("assimilieren") ließen und die deshalb als "Fremdkörper" und "Bedrohung" empfunden wurden. Das Ergebnis waren "Volkstumskämpfe" ohne Ende,16 einschließlich ihrer Begleiterscheinungen: forcierter Assimilation, ethnisch motivierter Zwangsumsiedlungen, Vertreibungen und Flüchtlingsströme.
Zwangsmigrationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Insgesamt lassen sich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) vier große zeitlich-räumliche Komplexe von ethnisch bedingten Zwangsmigrationen im Europa des 20. Jahrhunderts unterscheiden, die mit einigen Einschränkungen alle im Zusammenhang mit Kriegen realisiert wurden: 1. der Balkanraum und Kleinasien vom Beginn der Balkankriege 1912/1913 bis zum Abschluss der griechisch-türkischen Konvention von Lausanne 1923; 2. die Sowjetunion in den 1930er und 1940er Jahren; 3. der Raum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer während und nach Ende des Zweiten Weltkriegs (1939 bis etwa 1950) und 4. Jugoslawien bzw. seine Nachfolgestaaten 1991 bis 1999. Zu den Zwangsmigrationen kamen weitere Wanderbewegungen, die zwar formal (mehr oder minder) freiwillig waren (Optionsrecht, Auswanderung), aber ebenfalls dem ethno-nationalen Imperativ gehorchten.17 Da es im Rahmen eines Überblicks schier unmöglich ist, alle Zwangsmigrationen zu behandeln, beschränkt sich der Artikel auf eine Auswahl.
Den Auftakt zu den Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert lieferten die Balkankriege von 1912/1913, in deren Verlauf es zu ethnischen Säuberungen großen Stils (Zwangsumtaufen, erzwungene Namensänderungen, Vertreibungen und Massaker) kam, die von einer internationalen Beobachterkommission der Carnegie-Stiftung fragmentarisch dokumentiert wurden.18 Es folgten die ersten international sanktionierten Abkommen über den sogenannten Bevölkerungsaustausch. Sogenannter Bevölkerungsaustausch daher, weil das quantitativ bedeutendste Abkommen dieser Jahre – das zwischen Griechenland und der Türkei vom Januar 1923 – nicht nur eine neue Umsiedlungswelle einleitete, sondern auch die bereits vollzogenen Flucht- und Vertreibungsströme nachträglich "legalisierte".19 Von einer geregelten Umsiedlung konnte keine Rede sein. Der Plan, die ethnische Gemengelage umstrittener Regionen durch einen Minderheitentausch zu "entmischen", war bereits ein Jahrzehnt vor dem Lausanner Abkommen in einem Zusatzprotokoll zum Friedensvertrag zwischen dem Osmanischen Reich und Bulgarien vom 29. September 1913 aufgetaucht. Es war der erste zwischenstaatliche Vertrag in der modernen Geschichte Europas, der einen Bevölkerungstransfer zwischen zwei Staaten (allerdings auf formal freiwilliger Basis und beschränkt auf die Bewohner von Grenzgebieten) vorsah und damit über das in früheren Verträgen verankerte Optionsrecht weit hinausging. Der griechisch-türkische Vertrag von 1923 hatte dagegen Zwangscharakter und erstreckte sich auf den jeweiligen Gesamtstaat – mit wenigen, genau definierten Ausnahmen: für orthodoxe Christen in Istanbul und Muslime in Westthrakien.20 Sofern die Betroffenen nicht bereits 1922 während der Endphase des griechisch-türkischen Krieges geflohen waren (wie die Mehrheit der kleinasiatischen Griechen), wurden sie zwangsweise umgesiedelt. Die unter den Auspizien des neu gegründeten Völkerbunds ausgehandelte Lausanner Konvention war ein weiteres völkerrechtliches Novum, das von der internationalen Gemeinschaft (obwohl mit schlechtem Gewissen) als ultima ratio zur "Lösung" zwischenstaatlicher Konflikte akzeptiert wurde und nachfolgenden Akteuren, Adolf Hitler (1889–1945) ebenso wie Winston Churchill (1874–1965), als Präzedenzfall und Muster diente.21 Rund 1,3 Millionen Orthodoxe ("Griechen"), von denen einige die griechische Sprache nicht beherrschten, sowie annähernd 400.000 Muslime (mit unterschiedlichen Sprachen und unterschiedlicher ethnischer Zuordnung) verloren ihre Heimat und ihre bisherige Staatsbürgerschaft. "Ever since the expulsion from Eden", schrieb ein britischer Geograph 1925, "man has been trekking, and folk wanderings are the roots of his history; but with 1922 began what may fairly be called history's greatest, most spectacular trek: the compulsory intermigration of two million Christians and Moslems across the Aegean Sea."22 Insgesamt summierten sich die Opfer der Flucht- und Vertreibungswellen von 1912 bis 1923 auf zwei bis drei Millionen Menschen (vor allem Griechen, Türken, Bulgaren und Makedonier).
Die Zwangsmigrationen in der Sowjetunion der 1930er und 1940er Jahre standen zunächst im Zusammenhang mit dem bolschewistischen "nation-building" und der forcierten Umgestaltung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur.23 In Transkaukasien, im Nordkaukasus und in Zentralasien stieß das gigantische "Modernisierungskonzept" der Bolschewiki auf massiven Widerstand der einheimischen Bevölkerung, der von Jossif Stalin (1879–1953) und seinen Genossen als Widerstand der von ihnen konzipierten Nationalitäten wahrgenommen und mit Massendeportationen geahndet wurde. Auch ethnische Minderheiten in grenznahen Gebieten oder solche, die jenseits der Grenzen ein "Mutterland" besaßen, gerieten bald ins Fadenkreuz der Massenverfolgungen und wurden "prophylaktisch" nach Sibirien oder ins Landesinnere zwangsumgesiedelt. Aus den Territorien, die sich die Sowjetunion nach dem Ribbentrop-Molotov-Pakt (1939) einverleibt hatte (Baltikum, Ostpolen, Bessarabien, nördliche Bukowina), wurden zwischen Dezember 1939 und Juni 1941 Angehörige der jeweiligen nationalen Eliten sowie wohlhabende Bauern nach Osten abtransportiert. Nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion eskalierte diese Politik und mündete in die Deportation ganzer Völker und die Auflösung ihrer Autonomen Republiken und Gebiete. Im Sommer und Herbst 1941 deportierte die sowjetische Führung die deutsche Bevölkerung aus dem europäischen Teil der Sowjetunion und dem Kaukasus nach Mittelasien und Sibirien, um einer befürchteten Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht vorzubeugen. Nach den von dem Geographen und Historiker Pavel Polian gesammelten Daten betrug die Gesamtzahl der 1941/1942 "präventiv" Deportierten ca. 1,2 Millionen, davon über 900.000 Deutsche (unter ihnen 440.000 Wolgadeutsche). Männer und kinderlose Frauen wurden zur sogenannten Arbeitsarmee eingezogen, die restliche Bevölkerung wurde in "Sondersiedlungen" eingesperrt und ihrer Bürgerrechte für verlustig erklärt.24 In den Jahren 1943–1944 folgten ca. eine Millionen Angehörige weiterer als "unzuverlässig" eingestufter kaukasischer und turksprachiger Ethnien, darunter 412.500 Tschetschenen, mehr als 190.000 Krimtataren, rund 100.000 Kalmücken, sodass die Zahl der ethnisch klassifizierten Deportierten auf ca. 2,3 Millionen anstieg. Etwa ein Drittel kam während des Transports und der ersten Jahre in den Ankunftsgebieten ums Leben. Mit dem Vormarsch der Roten Armee nahm der Kreis der Betroffenen noch einmal zu: Neben politischen Gegnern (Mitgliedern der antikommunistischen Widerstandsbewegung) und "Klassenfeinden" (etwa in der Ukraine, im Baltikum und Bessarabien) fielen vor allem Deutsche in den eroberten oder sowjetisch kontrollierten Gebieten (z.B. in Ostpreußen oder Schlesien, aber auch in Rumänien oder Ungarn) den Verfolgungsmaßnahmen, die aus Deportation zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion und/oder Zwangsumsiedlung bestanden, zum Opfer, sofern sie nicht rechtzeitig geflohen waren. Nach Lausanner "Vorbild" vereinbarte die Sowjetunion schließlich 1945 mit Polen einen Bevölkerungsaustausch: 1,5 Millionen Polen aus der Sowjetunion bzw. den ehemals polnischen Ostgebieten wurden gegen rund 520.000 Ukrainer, Weißrussen und Litauer "ausgetauscht". Im Jahr darauf wurde ein ähnliches (quantitativ weniger folgenreiches) Abkommen mit der Tschechoslowakei geschlossen.
Bereits mit dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 hatte die Phase der umfangreichsten ethnischen Zwangsmigrationen begonnen, die es je in der Geschichte Europas gegeben hat. In seiner Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939 forderte Adolf Hitler, umgehend eine "Neuordnung der ethnographischen Verhältnisse" im besetzten Polen durch Umsiedlungen herbeizuführen. Die schon 1875 vom bereits zitierten Paul de Lagarde propagierte "Germanisierung Polens" konnte nun konkrete Gestalt annehmen. In der Folgezeit – und parallel zur Ausweitung des Krieges – entstand unter Federführung des Agrarwissenschaftlers Konrad Meyer (1901–1973) []von der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität eine Reihe mehrfach überarbeiteter Pläne und Skizzen zur "Germanisierung" und Kolonisierung von Teilen Ostmittel- und Osteuropas, die unter dem Oberbegriff "Generalplan Ost" zusammengefasst wurden.25 Zuständig für die Umsetzung war der SS-Führer und "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" Heinrich Himmler (1900–1945) []. Zwar konnte das monströse Programm, das gemäß verschiedener Versionen die Entfernung von 25 bis 31 Millionen "fremdvölkischer" und "fremdrassischer" Menschen aus ihrer Heimat und die Neuansiedlung von 5,6 bis 12,2 Millionen Deutscher, "Volksdeutscher" und "Eingedeutschter" vorsah, nie in Gänze realisiert werden. Doch schon Ende 1939 wurden erste Maßnahmen zur "Eindeutschung" der eroberten Gebiete eingeleitet. Aus den "eingegliederten Ostgebieten" in Polen wurden zunächst etwa 800.000 Juden und Polen deportiert, um Platz zu schaffen für die "deutschen Ostsiedler". Bei diesen handelte es sich vor allem um Angehörige "volksdeutscher Splittergruppen", die aufgrund bilateraler Verträge aus Estland, Lettland, Galizien, Wolhynien, Rumänien, der Nord-Bukowina und Bessarabien sowie schließlich aus Litauen (zwangs-)ausgesiedelt worden waren.26 [] Die "Volksdeutschen" waren damit zur bloßen Manipulationsmasse geworden, die man beliebig hin und her schieben konnte. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 und der zunehmenden Radikalisierung des Kriegs wurden die "Germanisierung" und die Eroberung neuen "Lebensraums" im Osten im großen Stil fortgesetzt. Der Ostfeldzug war als ideologischer Weltanschauungs- und rassebiologischer Vernichtungskrieg konzipiert. Im Vordergrund stand zunächst die wirtschaftliche Ausbeutung der eroberten Gebiete und der dort lebenden Menschen durch Zwangsarbeit. Etwa 2,5 Millionen Sowjetbürger wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verbracht. Die jüdische Bevölkerung (etwa 2,1 Millionen) und die sowjetische Führungsschicht wurden systematisch ermordet. Millionen von Juden, Polen, Russen und andere Bevölkerungsgruppen in Ostmittel- und Osteuropa wurden Opfer der nationalsozialistischen Siedlungs- und Vernichtungspolitik. Auch in den von Deutschland besetzten oder mit ihm verbündeten Staaten Südosteuropas wurden viele Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Ethnizität zwangsumgesiedelt, vertrieben oder in die Flucht geschlagen.27
Mit der Niederlage Deutschlands kehrte sich die Richtung der großen Zwangsmigrationen um. Flucht, Vertreibung und Umsiedlung vollzogen sich nun von Osten nach Westen: z.B. aus den von der Sowjetunion eroberten Teilen Polens nach Polen und von Polen in die Besatzungszonen Deutschlands. Schon während des Kriegs hatte sich der britische Premierminister Churchill für eine "Westverschiebung" Polens und eine "Entwirrung" national gemischter Territorien ausgesprochen. Mehrmals hatte er sich dabei auf das "erfolgreiche" Lausanner Modell von 1923 berufen.28 Auf der Potsdamer Konferenz gaben die "großen Drei" (Churchill, Stalin und Truman) in ihrem Abschlussprotokoll vom 2. August 1945 bekannt, dass sie "anerkennen, dass die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muss". Die Umsiedlung solle in "ordnungsgemäßer und humaner Weise" erfolgen. Die Regierungen Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns wurden aufgefordert, weitere Ausweisungen ("wilde" Vertreibungen) solange einzustellen, bis sich der Alliierte Kontrollrat für Deutschland über eine gerechte Verteilung und das Tempo der Ausweisungen geeinigt habe. Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung aus den drei genannten Ländern sowie aus Jugoslawien verlor gegen oder nach Kriegsende ihre Heimat. Ein Teil war geflohen oder evakuiert worden, andere fielen den "wilden" Vertreibungen und Vergeltungsakten zum Opfer, der Rest wurde zwangsumgesiedelt (mitunter zum wiederholten Mal). [] Betroffen waren 12 bis 14 Millionen Menschen, von denen viele die Strapazen nicht überlebten.29 Zu Recht sind sie als "Hitlers letzte Opfer" bezeichnet worden.30 Allein auf dem Territorium Polens (in den Grenzen vor dem Zweiten Weltkrieg) sollen mehr als 20 Millionen Menschen unterschiedlicher Nationalität (vor allem Deutsche und Polen) in das Räderwerk ethnisch motivierter Zwangsmigrationen geraten sein.
Von Lausanne nach Dayton: Internationaler Paradigmenwechsel
Nach dem Ende der dritten Welle von Zwangsmigrationen schienen Krieg, Massenmord und Vertreibung endgültig der Vergangenheit anzugehören, zumindest in Europa. Umso schockierter reagierte die internationale Öffentlichkeit auf die ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien (1991–1999). Der serbisch-kroatische Krieg in Kroatien, der mit Unterbrechungen von 1991 bis 1995 währte, der serbisch-muslimisch-kroatische Krieg in Bosnien (1992–1995) und die ethnischen Säuberungen in Kosovo (in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre) entwickelten sich zu ethnischen Kriegen par excellence. Nicht im Sinn der Kriegsverursachung, denn nicht der "atavistische Hass" zwischen den Völkern Jugoslawiens, sondern das Schüren nationaler Bedrohungsszenarien, die Wiederbelebung alter Feindbilder aus dem Zweiten Weltkrieg und die ungezügelte nationale Hetze bereiteten den Boden für die Kriege. Doch sobald die Gewalt einmal initiiert worden war (in der Regel von para-militärischen Banden und "Sondereinheiten"), schuf sie eine neue Ordnung und spaltete die Bevölkerung in ethnonationale Konfliktparteien auf. Etwa 150.000 bis 180.000 Menschen wurden Opfer der Gewaltorgien und 3 bis 4 Millionen Menschen wurden vertrieben oder flohen. Allein in Bosnien-Herzegowina verloren 2,3 bis 2,5 der ursprünglich 4,4 Millionen Einwohner ihre Heimat durch Flucht, Vertreibung oder Massenmord (in erster Linie bosnische Muslime/Bosnier, aber auch bosnische Serben und Kroaten). Der Völkermord an rund 8.000 Bosniern in der Umgebung von Srebrenica im Juli 1995 markierte den Höhepunkt ethnischer Säuberungen.
Die unter amerikanischem Druck erfolgte Verständigung zwischen Kroaten und Bosniern, die Erfolge der kroatischen Offensive gegen die "Serbische Republik Krajina" in Kroatien und die nach langem Zögern aufgenommenen Luftangriffe der NATO zwangen die anfangs militärisch überlegenen Serben in Bosnien, die zeitweilig fast 70 Prozent des bosnisch-herzegowinischen Territoriums kontrolliert hatten, zum Einlenken. Am 1. November 1995 trafen der Präsident Bosnien-Herzegowinas, Alija Izetbegović (1925–2003), der Präsident Kroatiens, Franjo Tudjman (1922–1999), und Serbiens Präsident, Slobodan Milošević (1941–2006), auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Wright Patterson in Dayton/Ohio zusammen, um aufgrund bereits vorliegender Pläne und unter starkem Druck des amerikanischen Unterhändlers Richard Holbrooke (1941–2010) ein endgültiges Friedensabkommen für Bosnien-Herzegowina zu vereinbaren. Am 21. November waren die Verhandlungen abgeschlossen; offiziell unterzeichnet wurde das Dayton-Abkommen am 14. Dezember 1995 in Paris. Im Anhang 7 des Rahmenabkommens verpflichteten sich die vertragschließenden Parteien, die durchgeführten ethnischen Säuberungen soweit wie möglich rückgängig zu machen bzw. den Flüchtlingen und Vertriebenen die Rückkehr in ihre Heimatgemeinden zu ermöglichen, die früheren Eigentumsrechte wiederherzustellen bzw., wo dies aus dringlichen Gründen nicht möglich ist, entsprechend zu entschädigen.31
Damit vollzog die internationale Gemeinschaft fast 73 Jahre nach Lausanne einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Die "Logik" von Lausanne hatte auf der Annahme beruht, dass die ethnisch/religiös heterogene Siedlungsstruktur in Teilen Anatoliens und die daran geknüpften nationalen Irredentismen ursächlich für den griechisch-türkischen Krieg gewesen seien. Durch "Entmischung" der Gemengelagen sollte auch die Kriegsursache beseitigt werden. In der Tat wurde die griechische Megali idea (die "Große Idee"), das heißt die Vision von einem "Griechenland der zwei Kontinente und fünf Meere" bzw. die Idee von der Wiederherstellung des Byzantinischen Imperiums, in Lausanne endgültig zu Grabe getragen, sodass sich das griechisch-türkische Verhältnis im Verlauf der 1930er Jahre entspannte. Den Preis hatten die traumatisierten Flüchtlinge und Zwangsumgesiedelten zu zahlen. Aber warum wurde die Lausanner "Logik", die bis über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus von vielen, sehr unterschiedlichen politischen Akteuren geteilt worden war, im Dayton-Abkommen aufgegeben? Ausschlaggebend waren die wiederholte internationale Ächtung von Vertreibungen seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen,32 die Berichte über die ethnischen Säuberungen und die weltweit verbreiteten Schreckensbilder aus dem ehemaligen Jugoslawien, die in großen Teilen der Öffentlichkeit Europas, der USA und anderer Staaten die Entschlossenheit stärkten, die durch ethnische Säuberungen geschaffenen Fakten nicht länger hinzunehmen (zumindest in Europa nicht). Ungeachtet der Tatsache, dass die Kriege in Ex-Jugoslawien von vielen Beobachtern als Ausdruck "atavistischer" Feindschaft zwischen den Völkern gedeutet wurden, setzte sich die "humanitäre Logik" durch, dass "Entmischungen" nicht als Mittel zur Lösung ethnonational konnotierter Konflikte hingenommen werden können. Über den Erfolg des Paradigmenwechsels lässt sich bis jetzt nur spekulieren.33
Motive und Realisierungsformen ethnisch bedingter Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert waren in allen Fällen ähnlich. Was wechselte, waren die nationalen oder ethnischen Vorzeichen der Betroffenen und Akteure. Mal waren es Griechen und Türken, mal Deutsche, Polen und Russen, mal Ungarn, Slowaken und Tschechen, mal Kroaten, Serben, Albaner, Bosnier usw. In Mittel-, Südost- und Osteuropa gibt es kaum eine Nation oder ethnische Gruppe, deren Angehörige nicht in der einen oder anderen Form sowie zu einem mehr oder minder großen Teil zum Verlassen ihrer Heimat im Verlauf des 20. Jahrhunderts gezwungen worden wären. Sie wurden zwangsumgesiedelt, vertrieben oder flohen, weil sie einer bestimmten Nation bzw. Nationalität angehörten oder ihr zugerechnet wurden, unabhängig davon, ob sie als Individuen schuldig geworden waren oder nicht. Ursache war jeweils die Verabsolutierung der Nation sowie die damit verbundenen Auto- und Fremdstereotypen, die insbesondere in Krisen- und Kriegssituationen die wechselseitigen Wahrnehmungsmuster und Feindbilder bis zur Unkenntnis verdunkelten. Die von Intellektuellen und Politikern geschürten Bedrohungsszenarien sorgten für Abgrenzung nach außen und Solidarisierung nach innen. Sie erzeugten ein Gruppendenken, dem sich sowohl im Lager der Täter wie im Lager der Opfer nur wenige entziehen konnten oder wollten. Aus Tätern wurden mitunter Opfer und aus Opfern Täter. Dennoch ist es historisch falsch, die Täter, die zu Opfern, und die Opfer, die zu Tätern wurden, auf eine Stufe zu stellen, weil damit Ursache und Wirkung außer Kraft gesetzt würden. Gewalt gebiert Gewalt und stiftet nicht nur Chaos, sondern eine extrem polarisierte neue Ordnung, die es vorher in dieser Form nicht gab und die handlungsleitend wird. Historisch entscheidend ist daher stets die Frage, wer die Gewaltspirale in Gang gesetzt hat und in wessen Namen. Denn sobald sie einmal in Gang gesetzt ist, erzeugt sie eine Eigendynamik, die allen Betroffenen (Tätern wie Opfern) ihre zerstörerische Logik aufzwingt und auch diejenigen ins Verderben reißt, die nicht zu ihren Verursachern gehörten.