Einleitung
Seit langem herrscht in der Anthropologie und in anderen wissenschaftlichen Disziplinen Einigkeit darüber, dass Essen und Trinken wesentliche Elemente menschlicher Identität sind. Gerade am Essen lässt sich demnach deutlich machen, wie eng verwoben Natur und Kultur sind.1 Kulinarische Systeme enthalten Kriterien zur Unterscheidung, Ordnung und Klassifizierung der Lebenswelt wie zur Bestimmung des Platzes, den der Einzelne in der Welt einnimmt. Aus ihnen werden Regeln abgeleitet, die die Angehörigen einer bestimmten Kultur für die Produktion, Zubereitung und den Verzehr von Nahrungsmitteln nutzen. Claude Lévi-Strauss (1908–2009) bezeichnete die Küche einer Gesellschaft daher als die Sprache, mit deren Hilfe die gesellschaftlichen Strukturen übersetzt und abgebildet werden.2 Anthropologen wie er und Mary Douglas (1921–2007) haben sich daher bevorzugt der Analyse von Ernährungsgewohnheiten bedient, um diese Strukturen aufzudecken und das Set von Regeln, das diese bestimmt, zu beschreiben.3
Was aber bedeutet es, wenn der derzeit wohl bekannteste englische Koch, Jamie Oliver (*1975), sich erklärtermaßen vor allem an der mediterranen, italienischen Küche orientiert und diese mit missionarischem Eifer zu verbreiten sucht,4 wenn ein Heft mit den besten Rezepten schottischer Pubs und Teahouses eine Anleitung für "Tagliatelle with Sun Dried Tomatoes, Leeks and White Wine" enthält5 und wenn ein amerikanisches Kochbuch der europäischen Leserschaft "Maccaroni and Cheese" als klassisch-amerikanisches Gericht zu verkaufen sucht?6 Dieses auch in Deutschland, in der Schweiz, in Belgien und den Niederlanden zu beobachtende Phänomen der Italienisierung ist höchst bemerkenswert und daher in den letzten Jahren auf reges Forschungsinteresse gestoßen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Erforschung des Nationalstaats, der Migration sowie der Globalisierung.7 Die vorgelegten Arbeiten zu den verschiedenen Nationalküchen haben dabei immer wieder betont, welch zentrale Rolle Stereotype für die Konstruktion der eigenen wie für die Wahrnehmung der fremden Küchen spielen.8 Daneben ist ein neues Interesse für die mediterrane und insbesondere die italienische Küche erwacht, das sich aus gesundheitlichen Motiven speist und die italienische Küche als Inbegriff der fleischarmen, fisch-, obst- und gemüsereichen Ernährung ohne hohen Anteil von tierischen Fetten versteht. Wir haben es hier nicht einfach mit einer Verschiebung des "Geschmacks" oder den Folgen der Globalisierung zu tun, sondern mit einem Phänomen, das auf ein ganzes Bündel an Faktoren zurückgeht, die vielfach miteinander verwoben sind. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Karriere der italienischen Küche in Europa in Grundzügen nachzuvollziehen und nach den Gründen für ihren großen Erfolg zu fragen. Es wird zu zeigen sein, dass die Rezeptionsmuster bei allen Unterschieden in den zeitlichen Abläufen durchaus ähnlich waren.
Tatsächlich wurde festgestellt, dass die Verbrauchsgewohnheiten in Europa sich immer stärker angleichen.9 Faktisch finden sich italienische Restaurants heute überall.10 Verbrauchszahlen sind allerdings in der Regel nur Durchschnittswerte; sie sagen noch nichts darüber aus, was aus den gekauften Nahrungsmitteln zubereitet wird. Zudem verdecken sie Differenzierungen und damit auch die Ernährungsweisen von Migranten, die länger an ihren Ernährungsgewohnheiten als an anderen Elementen ihrer Lebensweise festhalten. Doch werden italienische Restaurants längst nicht mehr nur von Italienern betrieben, sondern auch von anderen Migranten, mag von einem Edelitaliener auch erwartet werden, dass der Padrone italienischer Herkunft ist.
In den letzten Jahren hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Globalisierung kein unilinearer Prozess ist, sondern ein Wandern von Kulturgütern in alle Richtungen bedeutet und nicht nur durch übermächtige wirtschaftliche Kräfte bewirkt wird.11 Es kommt darauf an, ob und wie globale Entwicklungen lokal und/oder regional von Produzenten und Konsumenten aufgenommen und umgesetzt werden.12 Diese Dialektik von Globalisierung und Lokalisierung gilt gerade für die Ausbreitung der italienischen Küche. Sie geht mit der Aufwertung regionaler Produkte und Küchen einher, die bereits in den 1930er Jahren mit den Bemühungen zur Förderung des Tourismus begann und heute vor allem von Organisationen wie Slow Food und Arche vorangetrieben wird.13 Immer waren dabei auch handfeste ökonomische Interessen im Spiel. Zugleich lässt sich beobachten, dass der lokale Geschmack für kleine, aber doch wichtige lokale Differenzen in der Zubereitung sorgt, gerade wenn bestimmte national konnotierte Speisen andernorts aufgegriffen werden. Dies zeigt das Beispiel der Pizza, die in unzähligen, auch national und regional bedingten Variationen hergestellt wird.14 So wird in Südfrankreich zur Pizza aus dünnem Teig stets Kräuteröl gereicht, während Pizzadienste in Deutschland auch Pizza mit Spargel und Sauce hollandaise im Angebot haben. In den Benelux-Ländern und in Großbritannien wird Pizza als Fast Food angesehen, in Deutschland dagegen gibt es nach wie vor die Pizzeria, die als einfaches, unkompliziertes und relativ günstiges Lokal auch von Familien gern aufgesucht wird.
Tatsächlich lässt sich die Karriere der italienischen Küche nur als Transferprozess begreifen, in dem die Esser keineswegs passiv waren, sondern ihre Ernährungsweise aktiv neu konfigurierten. Entscheidend war dabei zunächst, wie sie die italienische Küche insgesamt wahrnahmen, was sie als "typisch" italienisch bewerteten, welche Elemente und Speisen sie in ihr Repertoire übernahmen und wie sich diese Elemente auch national unterschieden. Daraus ergibt sich die Forderung, die Karriere der italienischen Küche als Folge einer Zirkulation von Menschen, Informationen und Waren zu betrachten, die die Küchen verschiedener europäischer Länder grundlegend veränderte.
Allerdings ist die Rede von der italienischen Küche eine unzulässige Vereinfachung, war doch Italien bis ins 19. Jahrhundert hinein politisch und kulturell stark zersplittert. Zwar dominierte an den europäischen Fürstenhöfen noch im 16. Jahrhundert die italienische Küche. Sie wurde erst seit dem 17. Jahrhundert durch eine sich unter starkem französischem Einfluss ausbildende internationale Küche verdrängt.15 In Italien selbst gab es erhebliche regionale Unterschiede, die auf unterschiedliche agrarische und industrielle Strukturen zurückzuführen sind. Daher wäre die Rede von der Nationalküche unangebracht,16 ganz abgesehen davon, dass die Nationalstaaten erst spät entstanden und ihre Grenzen nicht zwangsläufig deckungsgleich mit den kulturellen Grenzen waren und sind. So ähnelte sich die Kost in den Regionen Südfrankreichs und Süditaliens schon wegen der Ähnlichkeit des Klimas und der dadurch bedingten landwirtschaftlichen Anbaustrukturen, sodass die gleichen Produkte zur Verfügung standen. Fraglich ist außerdem, wonach man die sogenannten Nationalküchen unterscheiden will – nach Nahrungsmitteln, Gewürzen oder Zubereitungsweisen bzw. Gerichten? Die italienische Pizza ist auch in Frankreich bekannt, hier in Varianten wie der Pissaladière. In der Türkei isst man die strukturell ähnliche Lahmacun, im Elsass Flammkuchen, in Deutschland Zwiebelkuchen.17 Nudeln kennt man auch in Deutschland, risottoähnliche Gerichte (Paella) auch in Spanien. Die Pistou, mit der etwa die Bouillabaisse in Marseille gewürzt wird, unterscheidet sich kaum vom Genoveser Pesto. Ebenso haben die spanischen Tapas viel Ähnlichkeit mit den italienischen Vorspeisen. Die Unterschiede sind fein; sie werden erst im Zuge der Professionalisierung der Köche, deren zunehmender internationaler Wanderung und mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden Flut gastronomischer Literatur realisiert.18 Dabei bildete die professionelle Gastronomie in Frankreich schon seit dem 18. Jahrhundert einen Kanon klassischer Gerichte heraus, während sich die Italiener gegen vereinheitlichende Einflüsse der französischen Küche sträubten.19 Ein Pendant zu bürgerlich-nationalen Kochbüchern, wie sie in Europa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen, gab es in Italien erst mit Pellegrino Artusis (1820–1911) La Scienza in cucina e l'arte di mangiar bene aus dem Jahr 1891.20 Wenn also im Folgenden von der italienischen Küche und ihrem Einfluss die Rede ist, dann im vollen Bewusstsein dessen, dass es sich hierbei um eine im Grunde unzulässige Vereinfachung handelt, die durch einen genaueren Blick auf einzelne Produkte bzw. Speisen zu präzisieren und durch eine kritische Rekonstruktion des Bildes, das sich die anderen Europäer von der italienischen Ernährung machten, zu ergänzen ist. Bei der Analyse gilt es, besonderes Augenmerk auf die Träger und Mittler dieser kulturellen Transferprozesse zu richten, mit denen das Wissen um italienische Ernährungsweisen und -gebräuche in andere Länder gelangte, ob im geistigen Gepäck der Italienreisenden oder Migranten, ob durch die gastronomische Literatur oder durch konkrete Angebote des Handels.
Die Bedeutung von Grand Tour und Tourismus
Wanderungs- und Reisebewegungen sind generell ein wichtiger Faktor für den Transfer neuer Nahrungsmittel und die Etablierung von Austauschbeziehungen zwischen Ländern oder Kontinenten, wie die Beispiele von Kartoffel, Kaffee und Zucker zeigen, die im Zuge der Kolonialisierung Eingang nach Europa fanden.21 Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Amerika als dem melting pot; hier wird die Vielfalt der Küche zum Symbol für die ethnische Vielfalt der Nation. Es ist daher von besonderer Bedeutung, dass Italien seit dem 18. Jahrhundert das bevorzugte Reiseziel von Bildungsbeflissenen war und dass die Grand Tour für jeden jungen Mann von Stand zum Abschluss seiner Ausbildung gehörte.22 In diesem Zusammenhang wurden überaus viele Reiseberichte verfasst und publiziert. Sie waren – dem Reisezweck entsprechend – vor allem auf Kunst und Kultur ausgerichtet, hatten aber zunehmend auch ein Auge auf Politik, Wirtschaft und das alltägliche Leben. Das Bild, das sie von Italien zeichneten, war von politischer Zersplitterung, Unwissenheit, Armut, Gesetzlosigkeit und Trägheit bestimmt. Die populäre Kultur mit ihrem Schönheits- und Geselligkeitssinn sollte als moralische Kraft die vorherrschende politische Zersplitterung des Landes überwinden helfen. Zur Schönheit des Landes zählte auch der Reichtum an Früchten und Gemüsen, der Italien im Zusammenhang mit dem angenehmen Klima als irdisches Paradies erscheinen ließ. Die paradiesische Umgebung, so Johann Wolfgang Goethe (1749–1832)[] in seiner Italienischen Reise (1786–1788), präge das Gemüt und sorge für ausgelassene Fröhlichkeit der Italiener, die arbeiteten, um zu leben. Die dadurch bedingte Passivität machte er für Italiens technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Rückständigkeit verantwortlich,23 in der er den vorrangigen Grund für die einfache, unverbildete und ursprüngliche Küche sah. Wie Goethe befand sich die Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts insgesamt auf der Suche nach dieser authentischen Küche und Reisende berichteten von ihrem Seltenheitswert gegenüber der sich ausbreitenden, auf einen breiteren Geschmack abgestimmten, internationalen Hotelküche. Offenkundig wurde das Wissen über fremde Ernährungsbräuche als Bildungsbestandteil vom Reisenden erwartet, allerdings nicht zwangsläufig auch deren Übernahme.24
Bei der Suche nach authentischen Reiseerfahrungen stand dem Reisenden seit dem 18. Jahrhundert eine wachsende Fülle von Handbüchern mit praktischen Informationen bei der Vorbereitung und Durchführung seiner Reisen zur Verfügung. Kaufleute, Pilger und Kavaliere hatten seit jeher gedruckte Reiseanleitungen benutzt. Doch mit dem Handbook for Travellers on the Continent (1829), das der Engländer John Murray (1808–1892) herausgab, entstand der moderne Typus des kommerziellen Reiseführers, der Karten und Stadtpläne, aber eben auch Angaben zu Hotels und Gaststätten, örtlichen Festen und Gebräuchen enthielt.25 Dieses Modell wurde vielfach kopiert, in Deutschland vor allem von Karl Baedeker (1801–1859), dessen Reiseführer den Markt derart beherrschten, dass sein Name zum Synonym für die ganze Literaturgattung wurde. Schon die Ausgabe des ersten Baedeker über Italien aus dem Jahr 1866 bot einleitend einige knappe Informationen über die italienische Gastronomie und ihre Klassifizierung in Osterias, Trattorias, Ristorantes, Cafés und Bars sowie eine grobe Beschreibung des italienischen Essens, zudem von Fall zu Fall auch Hinweise auf empfehlenswerte Restaurants und besondere regionale Spezialitäten.26 Bezeichnenderweise nahmen diese Hinweise in späteren Auflagen immer breiteren Raum ein,27 bis um die Wende zum 20. Jahrhundert ein neuer Typ von Reiseführern entstand, der sich vorrangig auf das Essen und Trinken konzentrierte. So etwa das von Hans Barth (1862–1928) publizierte Handbuch Osteria: Ein Führer durch Italiens Schenken von Verona bis Capri (1908), das durch eingestreute Zitate versuchte, auch dem bildungsbürgerlichen Anspruch gerecht zu werden.28 Einen neuerlichen Entwicklungsschub verursachte die Verbreitung des Automobils. Die nun erscheinenden Autoreiseführer, wie etwa der Guida gastronomica d'Italia, waren allerdings keine genuin italienische Erfindung. Sie gingen auf ein französisches Vorbild zurück, das schon 1914 vom französischen Touring Club publiziert wurde.29 Diese Führer stellten die italienische Küche nicht als Einheit vor; vielmehr setzten sie auf die als typisch angesehenen regionalen Unterschiede, die das Reisen erst reizvoll machten. Daraus entwickelten sich schließlich die großen, international bekannten und bis heute wichtigen Gastronomieführer wie der Guide Michelin, der seit 1923 neben Streckenhinweisen auch Hotel- und Restauranttipps enthielt, der in Deutschland seit 1957 erscheinende VARTA-Führer und der Gault-Millau, der erstmals 1969 in den Handel kam. Auch im Großbritannien der 1950er Jahre entstanden Gastroführer wie The Good Food Guide, in dem Restaurants vorgestellt und bewertet wurden.30
Die Entwicklung der Reiseliteratur spricht insgesamt für eine wachsende Rolle des Essens für den Italienreisenden. Daraus lässt sich schließen, dass es als bedeutendes Element der Reiseerfahrung regelrecht gesucht wurde. Dies erkannte auch die einheimische italienische Tourismusbranche. Nach 1945 nahm die italienische Vereinigung zur Förderung des Tourismus (E.N.I.T.; Ente Nationale Italiano per il Turismo) gezielt eine anspruchsvolle und zahlungskräftige Klientel ins Visier, die Zeit zur Entdeckung des Landes hatte. Diese Klientel wurde aufgefordert, aktiv am kulinarischen Leben teilzunehmen. Ihr wurden die Unterschiede im kulturellen Code der italienischen Küche vorgeführt. Diese Küche mochte einfach sein, doch die Güte der Zutaten, die Sorgfalt der Zubereitung und die Vielfalt der regionalen Unterschiede glichen dies mit Leichtigkeit aus. Diese feinen Unterschiede zu kennen, war ein kulturelles Kapital, das der sozialen Distinktion diente. In den Zeiten des beginnenden Massentourismus tat eine solche Verfeinerung dringend Not, um die soziale Differenzierung überhaupt noch aufrechtzuerhalten. Denn nun trat neben die Bildungs- und die Gourmetreisenden der Massentourist. Für ihn, der sein Geld zusammenhalten musste, der in preiswerten Hotels und Pensionen oder auf dem Campingplatz nächtigte, wurde ein neuer Typ Reiseführer auf den Markt gebracht, der vor allem praktische Hinweise enthielt, über billige Restaurants und Gerichte informierte und dadurch der Stereotypisierung der italienischen Küche und ihrer Reduktion auf wenige Gerichte entgegenkam.31 Diese Publikationen empfahlen frank und frei, in der Pizzeria zu essen, den Restaurants der weniger Wohlhabenden, in denen der Gast eine Mahlzeit für 68 Pfennig bekommen könne. Im gleichen Atemzug versicherten sie ihren Lesern, dass sogar die Florentiner, die für ihren erlesenen Geschmack berühmt seien, von Zeit zu Zeit eine Pizza äßen, statt eine ausgedehnte, zeitraubende Mahlzeit zu genießen. In der Konsequenz nahm die Zahl der Stehrestaurants, denen heute der Verfall der italienischen Küche zugeschrieben wird, erheblich zu.32
Dennoch: Die Touristen suchten die "echte" italienische bzw. regionale Küche. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts warben italienische Restaurants mit der authentischen, "echt römischen" oder "klassisch italienischen" Küche, was wiederum von einer geschickten ökonomischen Nutzung von Stereotypen zeugt. Mit Pizza, den neapolitanischen Spaghetti, der Fonduta und dem Bagna Cauda aus dem Piemont, Tagliatelle, Tortellini und Lasagne tauchten hier bereits die Speisen auf, die bis heute als typisch italienisch angesehen werden.33 Bezeichnend sind außerdem die Zeichnungen und später die Fotos von italienischen Straßenszenen, die oft als Postkarten verkauft wurden, welche man den Daheimgebliebenen schicken konnte: Neben Landschaftsdarstellungen sind vor allem die pittoresken Aufnahmen bemerkenswert, in denen gezeigt wird, wie Nudeln in den Straßen Neapels trocknen bzw. wie Männer und Jungen an ambulanten Imbissen Nudeln essen.34
Man sollte den faktischen Einfluss des Tourismus aber nicht überschätzen. Tourismuswerbung und -kritik waren der Realität in den 1950er und 1960er Jahren weit voraus und die finanziellen Möglichkeiten der europäischen Bevölkerung waren in dieser Zeit noch sehr beschränkt;35 auch deckt sich die Übernahme italienischer Speisen keineswegs mit der Richtung der Reiseströme. 1961 machten nur 4 Prozent der Engländer überhaupt Urlaub im Ausland und von diesen fuhren 1966 nur 17 Prozent nach Italien. Bis 1975 – also zu einer Zeit, in der die italienische Küche in Literatur und Gastronomie Hochkonjunktur hatte – waren dies nur noch 7 Prozent, während ein Drittel der Reisenden Spanien ansteuerte, das jedoch in der britischen wie deutschen Ernährungskultur kaum Spuren hinterlassen hat.36 Dies behinderte die Verbreitung der italienischen Küche aber keineswegs. Vielmehr wurden die Italienbilder emotional aufgeladen. Über die Ubiquität Italiens in Zeitschriften, in zahlreichen Hollywoodfilmen, die in Italien spielten,37 über italienische Schlager und die dazugehörigen Interpreten,38 über die italienische Mode und das italienische Design der 1950er und 1960er Jahre setzte sich ein Italienbild in den Köpfen fest, das auf den Vorstellungen des 18. Jahrhunderts aufsattelte und beliebig zitiert werden konnte. Dabei wurde Italien nicht nur direkt beworben, es fungierte auch als Referenz, wie in der Werbung für alle möglichen Produkte, z.B. die Vespa. Hier diente das Land nur noch als Kulisse, die die Sehnsucht nach dem schönen Leben wachrief.
Italienische Migration
Mindestens ebenso wichtig wie die Ströme von Reisenden nach Italien waren die Ströme von italienischen Migranten. Schon seit dem 18. Jahrhundert gab es eine bedeutende Arbeitsmigration, die vor allem armutsbedingt war. In der Frühen Neuzeit waren es vor allem Künstler, Stukkateure, Steinmetze und Terrazzoleger, also ausgebildete und hochbezahlte Fachhandwerker, die sich höherer Löhne wegen in die Fremde aufmachten. Ähnlich wie früher die Marketender den Heeren folgten, verließen vor Beginn des 20. Jahrhunderts Künstler, Händler und Eisverkäufer die italienische Heimat, um mit ihrem Angebot bestehend aus italienischem Wein, Südfrüchten und Käse ihre Landsleute zu versorgen, die großen Wert auf die heimische Küche legten. Italienischer Wein, Zitronen, Sardellen und Parmesankäse, aber auch Makkaroni waren in München, Paris und London schon im 19. Jahrhundert leicht zu haben. In Städten mit großen italienischen Gemeinden, wie zum Beispiel in Hamburg, fanden sich um die Wende zum 20. Jahrhundert auch bereits italienische Gemüseläden.39 Aus diesen Verkaufsstätten entwickelten sich häufig Weinstuben und später dann Restaurants.40 Zunächst für die eigenen Landsleute gedacht, wurden diese Lokale nach und nach auch von Deutschen entdeckt und aufgesucht. Nicht zu vergessen sind auch die italienischen Köche, die zumindest an den süddeutschen Höfen eine wichtige Rolle spielten. Sie brachten ihr Ernährungswissen und zum Teil auch ihre Produkte mit. Ein Sonderfall sind die italienischen Eisdielen: Von den 37 Dörfern der Täler von Zoldo und Caldore in den norditalienischen Dolomiten schwärmten seit dem 19. Jahrhundert italienische Eismacher über ganz Europa aus, um im Sommer ihr Eis zu verkaufen. Bis heute kehren sie im Winter in ihre Heimat zurück.41 Darin unterschieden sie sich deutlich von den Betreibern jener Herbergen und Cafés im Londoner Soho oder im Westend, die sich dort im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts etabliert hatten, um die Gemeinschaften italienischer Immigranten zu versorgen. Sie bestanden meist aus politischen Flüchtlingen oder jungen Männern, die dem Militärdienst entkommen wollten. Diese Lokale wurden vor allem von den Angehörigen der Bohème besucht, die zwar wenig Geld hatten, aber großen Appetit verbunden mit Neugier auf neue Speisen. Viele dieser Lokale lagen in den Theaterdistrikten. In den 1860er und 1870er Jahren gab es hier einen regelrechten Gründungsboom. Wichtiges Attribut dieser Restaurants war das möglichst "italienische", pittoreske Dekor.42 Dieses Dekor allein bot vielfach bereits Anziehungskraft genug: So eröffnete Josef Deutelmoser in München schon 1890 die Osteria Bavaria, die zwar in italienischer Manier mit Fresken ausgemalt war und italienische Weine anbot, jedoch deutsches Essen servierte.43 In Berlin dagegen gab es um 1900 zwei italienische Gaststätten, die aus Weinlokalen hervorgegangen waren und von den ansässigen 2.000 Italienern als Treffpunkt genutzt, aber auch von Deutschen besucht wurden.
Die italienischen Migranten galten als arbeitswillig, fleißig und bedürfnislos. Bei Arbeitgebern erfreuten sie sich wegen ihrer Mäßigkeit großer Beliebtheit. Bekannt war allerdings, dass sie das deutsche Essen rundweg ablehnten und sich in Squadras zusammenschlossen, um eigene Köche zu beschäftigen.44 Diese verarbeiteten nur die eigens von den Fabrikbesitzern aus Italien importierten Nahrungsmittel. Wo dies nicht dauerhaft gelang, kam es zu Protesten oder Rückwanderungen.45 Hier bestätigte sich das von Reise- und gastronomischer Literatur bestätigte Festhalten an lange tradierten Bräuchen. Die ebenso oft beschworene Einfachheit der Kost wurde freilich vor allem von Medizinern und Ernährungsphysiologen durchaus kritisch zur Kenntnis genommen, insbesondere im Hinblick auf den geringen Fleischverzehr der Italiener.46 Die Ernährungsphysiologie interessierte sich im 19. Jahrhundert vor allem für eine kosten- und nutzenorientierte Gestaltung der Arbeiterkost. Ihre Erhebungen wiesen den im Vergleich zu anderen Europäern geringeren Verzehr der Italiener an Fleisch, Käse und Eiern – überhaupt an tierischen Fetten – sowie den höheren Verbrauch von Brot, Gemüse und Wein ebenso wie die erheblichen regionalen Unterschiede innerhalb Italiens nach. Da die Menge an tierischem Protein allgemein als Maßstab für die Qualität der Ernährung galt,47 waren die Wissenschaftler gegenüber der italienischen Kost durchaus skeptisch gestimmt, zumal die durch Niacinmangel entstehende Pellagra der traditionellen Maisanbaugebiete als endemisch bekannt war. Oft wurde die Nahrung daher auch als weichlich betrachtet, wurden Parallelen zur kleinen Statur der Italiener gezogen.48 Wie spätere Erhebungen an Arbeitern des Ruhrgebietes aus den 1940er Jahren bestätigten aber schon die Untersuchungen des 19. Jahrhunderts ausdrücklich, dass diese Ernährung für die Aufrechterhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit ausreichte. Mit der Entdeckung der Vitamine seit 1913 und der Einsicht in die Förderung der sogenannten Zivilisationskrankheiten durch eine fleisch- und fettreiche Kost veränderte sich auch die Wahrnehmung, wurde der frühere Nachteil der italienischen Küche zu ihrer großen Tugend. Der veränderte Blick auf die obst-, gemüse- und vitaminreiche Kost der Italiener harmonierte nicht nur mit der neuen Ernährungslehre, diese Nahrungsform passte überhaupt besser in die wirtschaftliche Situation der 1920er und 1930er Jahre wie zur faschistischen Politik Benito Mussolinis (1883–1945), in der sie einen identitätsstiftenden Zweck erfüllte.49 Somit diente das Wissen um die Ernährung der anderen nicht nur dazu, sich der eigenen kulinarischen Identität zu versichern, sondern auch dazu, die Reform der Ernährung durch Übernahme von traditionellen Elementen zu legitimieren. Zunehmend galt die italienische Küche daher als ein gutes Beispiel für eine gesunde und politisch korrekte Ernährung.50
Gastronomische Literatur
Diese Entwicklungen wurden seit den 1950er Jahren von einem stetig anwachsenden Strom gastronomischer Literatur aufgenommen. Wie das Beispiel des schon erwähnten Kochbuchs von Pellegrino Artusi zeigt, das gemeinhin als das erste italienische Nationalkochbuch gilt, wurde die gastronomische Literatur Italiens im restlichen Europa eher schleppend rezipiert: Einzig in Spanien erschien Artusis Werk schon 1917 in einer Übersetzung, hier folgten 1922, 1933 und 1948 weitere Neuauflagen. Zumindest nach Auskunft der einschlägigen nationalen Bibliothekskataloge sind dagegen weder in Frankreich noch in Schweden, Norwegen, Polen, Finnland oder der Tschechoslowakei jemals Übersetzungen dieses Klassikers erschienen. In Deutschland kam erst im Jahr 1986 eine Übersetzung heraus, in den Niederlanden 2001 und in Großbritannien 2003, also in jener Rezeptionsphase, die man mit Alan Warde (*1949) als die Phase der Suche nach der Authentizität ethnischer Küchen bezeichnen kann. Offenbar wies einzig Spanien mit gewissen Ähnlichkeiten des kulinarischen Systems sowie einer eher ländlichen, einfachen Küche schon früh die Bedingungen für eine erfolgreiche Vermarktung und Rezeption eines authentischen Textes auf, während die gastronomische Literatur der anderen genannten Länder zunächst noch Übersetzungsarbeit zu leisten hatte. Italienische Rezepte fanden sich hier in den verschiedenen nationalen Kochbüchern. So ist schon in der Erstauflage des klassischen bürgerlichen Kochbuchs von Henriette Davidis (1801–1876)[] aus dem Jahr 1845 ein Rezept für "Macroni, oder Nudeln mit Parmisankäse [sic!]" enthalten.51 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen dann Sammlungen von Rezepten aus verschiedenen Ländern, wie etwa Julius Menschls Buch Eine kulinarische Weltreise aus dem Jahr 1913.52 Seit den 1920er Jahren tauchten als "italienisch" titulierte Rezepte dann auch in Frauenmagazinen oder gastronomischen Fachzeitschriften auf. Spezialkochbücher zur italienischen Küche wurden etwa um die gleiche Zeit publiziert, zuerst in der Schweiz und Österreich – also in Ländern, die direkten Kontakt mit Italien hatten und in denen Kulturaustausch zwischen den benachbarten Völkern mit dem Bedürfnis der Vergewisserung der kulturellen Unterschiede einherging. Schon der Untertitel von Vittorio Agnettis Buch Nicht nur Makkaroni aus dem Jahr 1916 zeigt, dass dabei zunächst Stereotype vorherrschend waren. Laut Vorwort ging es ihr als Italienerin vor allem darum, mit ihrem Werk den kulinarischen Horizont der Leser zu erweitern, etwas "wirklich Neues und Originelles auf dem gastronomischen Gebiet zu bringen". Cosi si mangia in Italia von Maria Leoni aus dem Jahr 1914 und Die gute italienische Küche von Maria Gaeta-Hahne von 1928 stellten den Reichtum der italienischen Küche dem allgemeinen Bild von der Arme-Leute-Küche entgegen. Sie nahmen für sich in Anspruch, dass die italienische Küche sogar die berühmte französische Küche an Geschmack und Reichhaltigkeit übertreffe.53
Auch andere Publikationen vor dem Zweiten Weltkrieg arbeiteten sich vor allem an dem Mythos ab, die Ernährung der Italiener sei ärmlich und bestehe meist aus Polenta, Pasta und Tomatensoße. 54 In dem Maß, wie die Ergebnisse der Vitaminforschung Allgemeingut wurden, wie sich die Menüs der Restaurants zunächst nach dem Ersten und dann erneut nach dem Zweiten Weltkrieg vereinfachten, wurden gerade die Einfachheit der Zubereitung, die Frische, Güte und Reinheit der Grundstoffe positiv bewertete Eigenschaften der italienischen Kost.55 Doch dieses Wissen um eine vermeintlich ursprüngliche und unverfälschte Küche wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg Bestandteil auch des kulturellen Kapitals und Zeichen sozialer Distinktion: In dem Maß, in dem finanzielle Aspekte für die Nahrungswahl an Bedeutung verloren, entschieden nicht mehr allein Quantität und Prestige der einzelnen Nahrungsmittel, sondern auch ihre Fremdartigkeit, ihre Qualität, Authentizität und ihre gekonnte Zubereitung. In Zeitschriften, die zuvor nur ab und zu über andere nationale Küchen berichtet hatten, machte sich nach 1950 ein verstärktes Interesse an "exotischen" Speisen bemerkbar. Dabei hat Faustine Régnier zeigen können, dass die Bedeutungen von "exotisch" und "ausländisch" in Deutschland und Frankreich sehr unterschiedlich besetzt waren und dass die Rezeptauswahl unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen folgte: In Deutschland lag der Akzent auf der mediterranen Küche, in Frankreich auf der arabischen, afrikanischen und asiatischen.56 Insgesamt mussten die abgedruckten Rezepte mit einem noch durchaus beschränkten Repertoire an italienischen Zutaten zurechtkommen, zugleich aber auch auf den noch begrenzten kulinarischen Erfahrungshorizont der Adressaten und deren noch sehr beschränkte finanziellen Mittel Rücksicht nehmen, sodass ihre Authentizität begrenzt blieb. Insofern spiegeln die ausgewerteten Frauenmagazine lange eher Sehnsüchte als reale Praxen.57
Der Erfolg der Spezialkochbücher spricht allerdings dafür, dass das Interesse seit den 1950er Jahren nachhaltig wuchs: Margrit Diethelms Buch Mit Tomaten und Parmesan war zwar schon 1939 erschienen, machte seine eigentliche Karriere aber erst jetzt. Graphisch ansprechend gestaltet, wurde das Buch bis 1955 44.000-mal verkauft; bis 1980 erlebte es 15 Neuauflagen. Ähnlich starke Resonanz fand das erstmals 1963 im Heyne-Verlag erschienene Taschenbuch Buon Appetito, das bis 1973 zehnmal neu aufgelegt wurde. Bezeichnend für die Entwicklung ist dabei die Verschiebung hin zur Feinschmeckerküche. So trug Diethelms Buch seit 1970 den Untertitel Die würzige italienische Küche und erschien in der Reihe Heimerans Kochbuch für Genießer. Bei gleichbleibendem Rezeptfundus verweist diese Veränderung in der Etikettierung auf weitreichende Verschiebungen in der Wahrnehmung der italienischen Küche, die nicht mehr nur als Küche der armen Leute und "Jedermänner" erschien. Dies zeigt sich auch beim Fernsehkoch Clemens Wilmenrod (1906–1967)[], der in den 1960er Jahren überaus populär war, u.a. in Italien recherchierte, neue Produkte auftrieb und die Deutschen mit eigenwilligen Kreationen auch scheinbar italienischer Provenienz beglückte,58 ebenso auch in der Verschiebung vom preiswerten Taschenbuch zum aufwendig gestalteten Fotoband, der heute den Buchmarkt dominiert.
Bezeichnenderweise verlief die Entwicklung in anderen europäischen Ländern ähnlich: In Großbritannien war schon 1950 das Buch Mediterranean Food der legendären Kochbuchautorin Elizabeth David (1913–1992) erschienen. 1954 folgte mit Italian Food59 eine Sammlung einfacher Gerichte und Zutaten, die ganz ohne Bilder auskam und bis heute großes Renommee genießt. In Frankreich wurde 1963 die französische Übersetzung eines italienischen Kochbuches von Romeo Salta unter dem Titel Les Plaisirs de la cuisine italienne veröffentlicht und in den Niederlanden 1967 ein schmaler Band De italiaanse Keuken aus der Feder von Toussie Salomonson-Keezer (†2005). Eine ganz besondere Rolle spielte der Band Cooking of Italy des in Paris lebenden amerikanischen Journalisten Waverley Root (1903–1982)60, der 1968 in einer noch heute weitverbreiteten Serie von Überblicken zu nationalen Küchen bei Time-Life International publiziert wurde. Wie die anderen Bücher aus der Serie war auch der Band zur italienischen Küche opulent ausgestattet. Die Rezepte waren hier eigentlich Zugaben bzw. Erläuterungen, welche die amüsant und gut geschriebenen Ausführungen über Land und Leute, über die regionalen Unterschiede der italienischen Küche und die (teils noch fremden) Zutaten ergänzten. Von 1969 bis 1970 erschienen dänische, schwedische und deutsche Übersetzungen. Letztere stieß offenbar auf besondere Resonanz, denn in Deutschland gab es bis 1983 fünf Neuauflagen mit insgesamt 45.000 Exemplaren. Root versuchte 1974, mit The best of Italian cooking an diesen Erfolg anzuknüpfen. Dies gelang ihm nicht, dennoch ist es höchst bemerkenswert, dass ausgerechnet ein US-Amerikaner so erfolgreich als Advokat der italienischen Küche auftrat. Gänzlich anderen Charakter trug das Kochbuch, das Sophia Loren (*1934) 1972 unter dem Titel In cucina con amore veröffentlichte. Es enthielt keine landeskundlichen Hinweise; es hob auch nicht auf die Besonderheiten von möglicherweise schwer zu beschaffenden Zutaten ab, sondern stellte die italienische Küche als unkomplizierte Familienküche vor. Kleine, persönlich wirkende Erzählungen und Bemerkungen der Diva koppelten diese Küche an die Glitzerwelt des Films. Die Loren nutzte das Kochbuch, um sich nach der Geburt ihres Sohnes in der für sie neuen Rolle als treu sorgende Ehefrau und Mutter, als moderne italienische Mamma, zu präsentieren.61 Entsprechend enthielt das Buch Fotos, die sie in ihrer häuslichen Küche bei der Zubereitung von Mahlzeiten, aber auch inmitten der farbenprächtigen Fülle italienischer Lebensmittel zeigten, womit sie bekannte Darstellungsmuster zitierte. Dies und die vielfachen Bezüge auf ganz alltägliche Themen verliehen dem Buch einen hohen Grad von Authentizität, die seinen Erfolg begründete. All diese Titel schlugen jedenfalls eine Richtung ein, die von immer mehr Autoren und Verlagshäusern und mit teils identischen Titeln beschritten wurden, wie etwa das französische Kochbuch Cuisine à l'italienne: 300 recettes aus dem Jahr 1974. Dennoch wird man festhalten müssen, dass die Neuerscheinungen bis in die 1980er Jahre hinein noch eher aus der Druckerpresse tröpfelten. Noch war der Markt für Bücher über die italienische Küche überschaubar, erst seit den 1980er Jahren setzte ein regelrechter Boom ein, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts in eine wahre Flutwelle von Kochbüchern zur Küche Italiens mündete. Bis in die 1970er Jahre hinein wurde die Diffusion italienischer Rezepte und authentischer Zutaten eher von Zeitschriften bzw. Anleitungen in den allgemeinen bürgerlichen oder in thematischen Kochbüchern vorangetrieben.62 Nach einem ersten Zwischenhoch in den 1950er Jahren nahm die Zahl der einschlägigen Rezepte nach 1970 auch in den bisher untersuchten Journalen dauerhaft zu.63 Sieht man sich ihre Graphiken genauer an, zeigt sich, dass die Anteile italienischer Rezepte in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich über denen in den französischen Blättern lagen. Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur. Zentral dürften die erwähnten Unterschiede in der Bedeutung von "Exotismus" in beiden Ländern sein. Für Franzosen war – bei allen regionalen Unterschieden– die italienische Küche schon aufgrund der räumlichen Nähe zu Italien und der Identität der Warenkörbe wohl insgesamt weniger exotisch als für die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, für die schon Knoblauch und die mediterranen Kräuter gewöhnungsbedürftige neue Elemente darstellten. Doch hier wie dort entwickelte sich in den ausgehenden 1950er Jahren die Aneignung von Wissen über das Essen anderer Kulturen zum Ausweis kultureller Kompetenz, spiegelte aber auch das Fernweh, das sich aus ökonomischen Gründen vielfach nicht durch Reisen befriedigen ließ. Authentizität sowie die permanente Erweiterung des kulinarischen Horizontes und die lebenslange Bildung des Gaumens stiegen nun jedenfalls zu Kulturgütern auf, die sich zur Demonstration von Lifestyle nutzen ließen. Parallel dazu wurden Köche zu Medienstars und das Essen zu einem Dauerthema massenmedialer Kommunikation. Nach 1945 wurde die Gastrokritik fester Bestandteil der Sonntagsausgaben englischer Zeitungen und so seriöser Blätter wie der deutschen Zeit und der französischen Le Monde, es wurde der Gastrokritiker geboren, und es vermehrte sich die Zahl der gastronomischen Zeitschriften und der Gastronomieführer.64
Essen wurde zu einem Gegenstand, der nicht mehr nur Hausfrauengespräche dominierte, sondern zum prestigeträchtigen Gesprächsthema bei Partys und Geschäftstreffen avancierte.65 Symptomatisch ist ferner das Auftauchen von Fernsehköchen und ihre Entwicklung zu Medienstars: Das Muster dafür gaben wiederum die USA vor, die mit Marcel Boulestin (1878–1943) den ersten Fernsehkoch überhaupt hervorbrachten (im Programm 1937–1939). Zahlreiche weitere folgten,66 so Julia Child (1912–2004) in den USA und Clemens Wilmenrod in der Bundesrepublik der 1960er Jahre. Wie viele und welche der Rezepte nachgekocht wurden, wie viele Restaurantbesuche auf diese Empfehlungen zurückgingen, ist allerdings zweifelhaft. Eine Umfrage in Großbritannien führte 1966 zu dem Ergebnis, dass zwar 91 Prozent der Käuferinnen von Frauenmagazinen die dort abgedruckten Rezepte lasen, aber nur 9 Prozent von ihnen in den letzten 14 Tagen eines ausprobiert hatten.67 Mit anderen Worten: Die mediale Industrie war erheblich an der Schaffung und Unterhaltung des gastronomischen Diskurses, aber auch an seiner Demokratisierung beteiligt.68 Ihr Einfluss auf die tatsächliche Änderung von Lebensgewohnheiten war indes eher begrenzt bzw. entfaltete sich allenfalls über ein langwieriges trickle-down. Wirksam werden konnte dieser Einfluss ohnehin erst mit der Schaffung einer entsprechenden kulinarischen Infrastruktur, mit Läden, in denen auch die italienischen Nahrungsmittel sowie die benötigten Küchengeräte zu kaufen waren, oder, anders gesagt, mit der Globalisierung der Nahrungsindustrie, die etwa frischen Mozzarella ubiquitär machte.69 Hier spielten neben den Migranten auch die Verbindungen der TV-Köche zur Lebensmittelindustrie eine entscheidende Rolle. Wilmenrod etwa warb für Tomaten – nicht etwa wegen ihres italienischen Flairs, sondern weil die deutschen Absatzgenossenschaften auf Bergen von Tomaten saßen und ihn dafür bezahlten. Andere Prominente schufen sogar eigene Marken, die ihren Namen trugen.70 Es ist bezeichnend, dass dies mit der Propagierung fremder Küchen und neuer Produkte einherging, die letztlich eine Kommerzialisierung des Ethnischen bedeutete und zur Etablierung und Ausweitung von Produktions- und Handelsstrukturen beitrug.
Dies gilt besonders für die italienische Zutat schlechthin, die Tomate. Erst im 15. Jahrhundert von Lateinamerika nach Italien gekommen, gelangte sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts über Österreich nach Nordwesteuropa. Dort verbreitete sie sich nach dem Ersten Weltkrieg stark. Der Aufbau der italienischen Konservenindustrie begann am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Tomate. Allein zwischen 1897 und 1908 verzehnfachte sich ihre Verarbeitung.71 Gleichzeitig breitete sie sich auch im nördlicheren Europa aus: Die in Deutschland mit Tomaten bepflanzte Fläche etwa wuchs zwischen 1913 und 1927 von 24,7 auf 1.338 Hektar an.72 Hier verarbeitete sie die Industrie seit den 1920er Jahren vermehrt zu Tomatenmark bzw. zu Tomatenpüree, wobei das sogenannte italienische Tomatenmark durch die Beigabe von Dill, Basilikum, Salz oder Sellerie im Grunde schon eine fertige Grundsoße darstellte.73 In den 1940er Jahren tauchte dann bereits "eine stark eingedickte Tomatensoße in Verbindung mit Spaghetti" als ein neues Produkt der Konservenindustrie auf, das ganz offenkundig auf amerikanische Vorbilder zurückging.74 Nudel- und Spaghettigerichte mit Tomatensoße waren schon vor Ende des Zweiten Weltkrieges en vogue und galten als elegant: So zeigte das deutsche Blatt der Hausfrau im Jahr 1938 ein Paar, das in gediegenem Ambiente Spaghetti verzehrte,75 während das elegante Magazin Die Dame 1939 einen Koch in einem Restaurant in der Emilia Romagna beim Zubereiten von Spaghetti abbildete.76
Die Industrie nutzte die Marktchancen mit den erwähnten Tomatenprodukten und nach dem Zweiten Weltkrieg auch mit entsprechenden Fertiggerichten: Maggi etwa brachte 1957 Dosenravioli auf den deutschen Markt; 1961 folgte mit Miracoli ein Halbfertiggericht, das die italienischen Spaghetti á la napoletana nachahmte.77 In den Niederlanden kamen ähnliche Produkte dagegen erst zehn Jahre später auf den Markt.78 Andere Gerichte verbreiteten sich über Amerika im nördlicheren Europa. Dies gilt vor allem für die Pizza, die in den USA, ausgehend von den Little Italies, den italienischen Communities amerikanischer Großstädte, populär geworden war. Die dort ansässigen Pizzerien spielten eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Pizza. So waren es auch die USA, wo am 2. Februar 1950 die Tiefkühlpizza patentiert wurde, die sich international zum Verkaufsschlager entwickelte.79 In Deutschland wurde sie 1973 eingeführt. Ihr Absatz betrug zunächst 2.800 Tonnen, stieg bis 1980 auf 23.000 Tonnen und bis 2007 auf 253.000 Tonnen. Heute verzehrt jeder Bundesbürger wöchentlich im Durchschnitt zwei Tiefkühlpizzen.80
Das italienische Institut für Außenhandel (I.C.E.) förderte den Vertrieb italienischer Nahrungsmittel wie die Bekanntheit der italienischen Küche nachhaltig durch eine ausgedehnte Werbung mit Flugblättern und Broschüren. Diese Publikationen, die in enger Zusammenarbeit mit der italienischen Akademie für Gastronomie entstanden, erhoben den Anspruch, die "Morgenröte der Kochkunst, d.h. die Wissenschaft und Kunst des feinen Essens" sei mit der "Epoche der italienischen Renaissance" aufgetreten. Sie postulierten:
Die Freude an der guten Küche ist, wie jene der Kunst, tief auf der Halbinsel verwurzelt. Sie harmoniert außerdem in den verschiedenen Regionen mit der Milde des Klimas, der Schönheit der Orte, der Verschiedenheit der Geschmäcker und den Talenten der städtischen und ländlichen Bevölkerung: um es kurz zu sagen, mit der Vielfalt des italienischen Genusses.81
Hier klingen deutlich Motive des Italienbildes an, wie sie schon die Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts durchzogen. Damit boten sich gleichzeitig Anknüpfungspunkte für die Tourismuswerbung. Obwohl die Vielfalt der italienischen Küche in regionalen Porträts vorgestellt wurde, verengte sich gleichzeitig auch der Blick auf die "ausgedehnte und farbige Skala" der Gerichte, in deren Mittelpunkt immer stärker die Tomate rückte. Die Tomatensoße, für deren Zubereitung Artusis Kochbuch von 1891 nur ein einziges Rezept angegeben hatte, avancierte nach 1950 zum Mittelpunkt dessen, was als italienische Küche galt.
Pizzeria und Osteria in Deutschland: Die Ausbreitung des italienischen Restaurants nach 1945
Abschließend bleibt zu fragen, wie sich die heute im Bild europäischer Großstädte so dominanten italienischen Restaurants entwickelten. Sie sind in der Mehrheit Kinder der Nachkriegszeit, auch wenn oben bereits auf die schon im 19. Jahrhundert zu findenden italienischen Lokale in London, Berlin und München verwiesen wurde. Diese Lokale boten zwar italienisches Flair, doch nicht zwingend auch "authentisches" italienisches Essen. Das sollte sich mit den Lokalen ändern, die sich seit den 1950er Jahren verbreiteten. Für Deutschland ist hier auf die erste Pizzeria in Heidelberg hinzuweisen, die 1953 eröffnet wurde, angeblich als Anlaufpunkt für die dort stationierten GIs, die diesen Lokaltyp schon aus den amerikanischen Little Italies kannten. 1958 folgte die erste Pizzeria auf schwedischem Boden. Derartige Lokale waren mit rauem Putz, mit karierten Tischdecken, Fischernetzen und Chiantiflaschen ausgestattet – jenen Elementen, von denen die Italiener glaubten, sie würden den Gästen für einen Abend lang die Illusion vermitteln, in Italien zu sein.82
Genauere Zahlen für die Ausbreitung italienischer Lokale liegen für Berlin und München sowie für Amsterdam vor: Sie zeigen beträchtliche Unterschiede zwischen Süd- und Westdeutschland wie zwischen Deutschland und den Niederlanden. Bemerkenswert ist daran, dass die Italiener so großen und zunehmenden Erfolg hatten, obwohl sie unter den Nationalitäten der Gastarbeiter die Führung bald an die Jugoslawen und Türken abgaben.83 Die Verbreitung der italienischen wie anderer ethnischer Lokale ist jedoch keinesfalls deckungsgleich mit der Bedeutung der Italiener in den Migrationsbewegungen nach 1945. So dominierten in der Nachkriegszeit vor allem die Chinesen unter den Betreibern der Spezialitätenrestaurants, obwohl diese in der Nachkriegsmigration nach Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden nur eine marginale Rolle spielten.84 In London etwa war schon 1901 ein Zehntel aller Restaurants italienischer Natur, doch bis 1914 dominierten die chinesischen Lokale die Szene.85 In Amsterdam überstieg die Zahl italienischer Restaurants die der asiatischen erst seit 2004. Hier spielte wegen der Einwanderer aus den früheren Kolonien die indonesische Küche eine zentrale Rolle,86 während sich in London der hohe Anteil indischer Immigranten aus dem Commonwealth bemerkbar machte und zur zentralen Bedeutung indischer Lokale beitrug.87
Quelle: Eigene Auszählungen nach Münchner Stadtadressbuch 1950ff.; Berliner Stadtadressbuch 1961ff. | |||||
Berlin |
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Italienische |
Chinesische |
Griechische |
Jugoslawische |
Andere (französisch, |
|
1961 |
6 |
6 |
– |
2 |
7 |
1970 |
44 |
16 |
5 |
35 |
59 |
1980 |
173 |
68 |
22 |
77 |
140 |
1990 |
467 |
252 |
102 |
89 |
287 |
München |
|||||
Italienische |
Chinesische |
Griechische |
Jugoslawische |
Andere (französisch, |
|
1950 |
5 |
1 |
– |
1 |
|
1960 |
5 |
3 |
3 |
2 |
8 |
1970 |
26 |
10 |
7 |
13 |
28 |
1980 |
54 |
22 |
41 |
17 |
37 |
1990 |
121 |
45 |
24 |
26 |
43 |
Mit anderen Worten: Entscheidend waren nicht die tatsächlichen Wanderungsströme und die reine Zahl der Emigranten, sondern die Stärke der von ihnen aufgebauten ethnischen Ökonomien und Netzwerke. Vor allem im 19. Jahrhundert ging die Gründung von "ethnischen" Lokalen auf Bemühungen zur Versorgung der eigenen Landsleute zurück, doch zunehmend sahen die Italiener darin auch eine Möglichkeit zur Gründung einer eigenen Existenz im fremden Land. So auch in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren, als durch die ökonomische Entwicklung viele der in den 1950er und 1960er Jahren angeworbenen "Gastarbeiter" ihre Stellen verloren. Viel küchentechnisches Wissen brauchte es nicht, um ein einfaches Lokal zu eröffnen, auch blieb der Kapitaleinsatz überschaubar und konnte mit Hilfe von Freunden oder Familien aufgebracht werden.88 Für die langfristige Entwicklung war dabei ausschlaggebend, ob und wie es einer ethnischen Küche gelang, ein bestimmtes Renommee und soziales Prestige für sich zu reklamieren. Generell hat die Migrantenküche einen geringeren sozialen Status, was sich u.a. in niedrigeren Preisen widerspiegelt.89 Doch im Gegensatz zu anderen Migrantenküchen ist der italienischen Küche der soziale Aufstieg geglückt: Heute sind italienische Restaurants auch in den besten und teuersten Lagen europäischer Städte und im Hochpreissegment zu finden, nicht jedoch die türkischen oder chinesischen. So prägen von Türken betriebene Lokale die lebendige Restaurantkultur der bundesdeutschen Hauptstadt kaum, obgleich die Türken die größte Migrantengruppe stellen. Ihre gastronomischen Betriebe sind vielmehr vor allem im Billigsegment der Fast-Food-Gastronomie und der Döner-Buden zu finden, hinter deren Fassade eine beachtliche Zulieferindustrie entstanden ist.90 Ganz offenkundig gibt es also auch eine Hierarchie der Migrantenküchen bzw. der verschiedenen nationalen Küchen. Diese Hierarchie fällt wiederum in den europäischen Ländern verschieden aus, und die einzelnen Gerichte der ethnischen Küchen haben in den europäischen Ländern einen durchaus unterschiedlichen Stellenwert. So wird die Pizza in den Niederlanden wie in Großbritannien einmütig als Fast-Food, ihre Verkaufsstätte als ein Imbiss betrachtet, hatte hier doch auch die zuerst in den USA etablierte Pizza-Hut-Kette großen Erfolg. Wohl wird Pizza auch in Deutschland zunehmend über Lieferdienste bezogen, doch daneben hat sich die Pizzeria als gemütlich eingerichtetes Lokal erhalten, das auch von Familien gern aufgesucht wird. Zudem haben sich im Zuge einer signifikanten Diversifizierung auch Nobelrestaurants und -pizzerien entwickelt, was letztlich auf die Veränderung wirtschaftlicher Rahmenfaktoren zurückgeht. Durch die wachsende Konkurrenz anderer ethnischer Küchen mit einem deutlich geringeren Preisniveau gerieten die italienischen Restaurants in den 1990er Jahren jedoch unter Druck. Im Rahmen des wachsenden Konkurrenzkampfes diversifizierten sich die Lokale, wobei ein neuer Typus von anspruchsvollen und teuren Restaurants entstanden ist, die mit den einfachen Lokalen der 1960er und 1970er Jahre nur noch wenig gemein haben und einen deutlich höheren Anspruch formulieren. Dabei ist der frühere ökonomische Zwang vielfach der Stilisierung der cucina povera gewichen, die durch den Einsatz regionaler Produkte höchster Qualität nicht billig ist, aber von den modernen asketischen Genießern als Lob der Einfachheit zelebriert wird.91 Dies hat auch mit dem Einfluss von Körper- und Ernährungspraktiken als Teil des Lebensstils zu tun, wie ihn der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) in seinem Buch "Die feinen Unterschiede" für die verschiedenen sozialen Schichten demonstriert hat. Demnach spielen gesundheitliche Aspekte und Schlankheit gerade für die finanzkräftigen, gehobenen sozialen Schichten eine zentrale Rolle. Fetttriefende Pizza will dazu nicht recht passen, wohl aber die in den Nobelrestaurants zelebrierte italienische Küche mit leichteren Zubereitungen und kleineren Portionen. Diese Aspekte sind nicht zuletzt von Ancel Keys (1904–2004) populär gemacht worden. In Kooperation mit etlichen europäischen Kollegen hat er in breit angelegten epidemiologischen Studien nachgewiesen, dass die in den mediterranen Ländern und vor allem in Italien zu findende Ernährungsweise, die an tierischen Fetten arm, aber an Gemüse, Olivenöl, Fisch reich ist, mit einem geringeren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen einhergeht.92 Zusammen mit seiner Frau Margaret veröffentlichte er 1959 das Kochbuch Eat and stay well, das umgehend in verschiedenen europäischen Bearbeitungen erschien, so 1959 in Finnland und Großbritannien sowie 1961 unter dem Titel Der gesunde Feinschmecker in Deutschland. Das Buch berief sich zwar auf die Ideale der italienischen Küche, faktisch hatten die enthaltenen Rezepte aber nur sehr wenig mit italienischer Küche und noch weniger mit Feinschmeckerei und Genuss zu tun.93 Hier ging es um striktes Kalorienzählen und die Beschränkung des Fett- und Fleischverzehrs um jeden Preis; zumindest die Rezepte in der deutschen Ausgabe lassen nur wenig italienischen Geschmack der Speisen erwarten. Dennoch war es sehr erfolgreich: Allein in Deutschland gab es bis 1968 drei Neuauflagen. Sein Grundtenor kam dem Zeitgeist mit seinem Bild vom kontrollierten und disziplinierten Esser entgegen. Die Zahl ähnlicher Kochbücher hat sich jedenfalls so vervielfacht, dass sie kaum mehr zu überblicken ist. Auch ist der von Keys geprägte Terminus "Mediterrane Küche" in der Ernährungsmedizin fest etabliert94 – allen Veränderungen zum Trotz, die auch im Mittelmeerraum zu einem wachsenden Konsum an tierischen Fetten und Fleisch führten. Der Aktualität des präsentierten Modells und seiner kommerziellen Verwertbarkeit schadet dies scheinbar nicht: Noch 2006 veröffentlichte das spanische Agrar- und Ernährungsministerium eine als amtlich titulierte Neuauflage.
Resümee
Wie gezeigt wurde, gab es schon weit vor dem Einsetzen der vermeintlichen italienischen Welle der 1950er Jahre ein differenziertes kulinarisches Wissen über Italien. Dieses Wissen wurde in der kulinarischen Hierarchie nach oben getragen und zu einer Angelegenheit des statusunterscheidenden Konsums gemacht, der sich in der Auseinandersetzung um die "echte" und "authentische" Küche niederschlug. Der Traditionalismus der italienischen Küche entstand als Co-Konstruktion von Außenhandels- und Tourismuswerbung, die in den 1960er Jahren auf eine kulturell ambitionierte, sich antibürgerlich gebende Schicht Intellektueller traf, die sich diese neue Form zu essen aneignete. Gleichzeitig fand in der Kettengastronomie wie der Ernährungsindustrie eine durchgreifende Kommerzialisierung italienischer Produkte und Speisen statt, deren Anfänge vielfach in den USA zu suchen sind. Sie übte eine starke vereinheitlichende Wirkung aus. Dennoch verlief die Rezeption der italienischen Küche und ihrer Speisen in den verschiedenen europäischen Ländern durchaus unterschiedlich. Im Ganzen gelang es der italienischen Küche, ihre Vielfalt deutlich zu machen und den Schutz von Kulturgütern, von Gesundheit und Umwelt als zwei wichtige Aspekte zu mobilisieren, um sozialen Mehrwert zu erzeugen und die eigene Stellung im Zuge einer Ausdifferenzierung der ethnischen Gastronomie zu sichern.
Heute ist die italienische Küche gewissermaßen der kleinste gemeinsame kulinarische Nenner einer europäischen Gesellschaft, deren Ernährungsgewohnheiten ansonsten hochgradig individualisiert und kommerzialisiert sind. Bei allen nationalen Unterschieden in der Rezeption der italienischen Küche bietet sie doch überall in Europa, wenn nicht der Welt, eine in ihrer Struktur wiedererkennbare und daher verlässlich scheinende Basis, eröffnet mit ihrer großen Bandbreite kulinarischer Möglichkeiten zugleich verschiedene Identifikationsmodelle. Die anspruchsvolle, die gesundheitsbewusste, die traditionelle, die deftige, aber auch die schnelle italienische Küche sind Varianten, deren gemeinsame Basis gesellschaftlich akzeptiert ist, auch wenn die tatsächliche Ernährung auf höchst verschiedenen sozialen und finanziellen Ebenen realisiert wird und dementsprechend eine enorme Vielfalt italienischer Produkte angeboten wird. Die Gemeinsamkeit all dieser Varianten ist noch am ehesten in dem Anspruch der italienischen Küche zu suchen, traditionell und damit rein, wahr und einfach zu sein, womit sie die Sehnsucht nach Heimat befriedigt.