Einleitung: Die Damaskus-Affäre 1840
Im Februar 1840 verschwanden ein italienischer Mönch und sein muslimischer Diener in Damaskus. Gerüchte kamen in Umlauf, wonach der Mönch und sein Diener zuletzt im jüdischen Viertel gesehen worden waren, und bald entstand der Vorwurf, Juden hätten beide zu rituellen Zwecken ermordet. Zahlreiche Juden vor Ort wurden verhaftet und unter Folter zu Geständnissen gezwungen. Die Presseberichterstattung in Europa und die politischen Interessen der europäischen Großmächte in der Region machten schließlich aus den Ereignissen eine Affäre von europäischer Tragweite.1
Gegen die Ritualmordbeschuldigungen, die grausame Behandlung der Gefangenen, gar den Tod von vier Inhaftierten, und das religiös motivierte, negative Bild von Juden und Judentum in der Presse wandten sich jüdische Notabeln, Gelehrte und die noch junge jüdische Presse aus dem westlichen Europa. Schon bald nach Bekanntwerden der Affäre war der Pariser Anwalt und Politiker Adolphe Crémieux (1796–1880) bemüht, den Berichten über die vermeintliche Schuld der Damaszenser Juden an der Ermordung des Mönches in der französischen Presse entgegenzutreten. Heinrich Heine (1797–1856) berichtete aus Paris für die Augsburger Allgemeine Zeitung und stellte sich gleichfalls auf die Seite der Beschuldigten.2 Ebenso aus Paris schaltete sich Baron James de Rothschild (1792–1868) ein, zuerst durch einen Brief des Amsterdamer Kaufmanns Hirsch Lehren (1784–1853) auf das Geschehen aufmerksam gemacht, dann durch den österreichischen Generalkonsul in Alexandria, Anton von Laurin, zu Rate gezogen. Von Fürst Metternich (1773–1859) wurde Salomon Mayer von Rothschild (1774–1855), der Wiener Repräsentant des Rothschildschen Bankunternehmens, zur Affäre befragt und avancierte zu einem "selbsternannten shtadlan",3 einem Fürsprecher für die Juden. Das Board of Deputies of British Jews, die Vertretung der britischen Juden, organisierte ein Treffen, um weitere Handlungsschritte abzustimmen und Appelle an die englische, französische und österreichische Regierung zu formulieren. In Deutschland berichteten bald der Magdeburger Rabbiner Ludwig Philippson (1811–1889) in der von ihm herausgegebenen Allgemeinen Zeitung des Judenthums und der Leipziger Orientalist Julius Fürst (1805–1873) in seiner Wochenschrift Der Orient von den Anschuldigungen und der Behandlung der Gefangenen. Schließlich wurde im Sommer 1840 Adolphe Crémieux vom Zentralkonsistorium der Juden in Frankreich beauftragt, zusammen mit dem prominenten Vertreter der englischen jüdischen Gemeinschaft Sir Moses Montefiore (1784–1885) als inoffizielle diplomatische Mission nach Damaskus zu reisen, um dort auf die regionalen Herrscher und die diplomatischen Vertreter der europäischen Länder einzuwirken.4 Die Freilassung der Gefangenen und die Zurücknahme des Ritualmordvorwurfs durch Erklärungen der ortsansässigen Machthaber machte die Mission von Crémieux und Montefiore schließlich zu einem Erfolg und beide zu gefeierten quasi-messianischen Helden der Juden Europas und des Orients.5
Auf dem Weg zum glücklichen Ausgang hatte die Damaskus-Affäre die transnationale Verbundenheit der Juden und ein reges Kommunikationsnetz sichtbar gemacht. Ein Netzwerk der Hilfeleistung war aktiviert worden, in dem die englischen und französischen Juden und das Haus Rothschild durch Tatkraft hervortraten und gewissermaßen die Knotenpunkte des Netzwerks bildeten.6 Man wollte einerseits die Glaubensgenossen in Damaskus aus der Gefangenschaft befreien und andererseits den aufgekommenen vorurteilsbehafteten Bildern von Juden und Judentum in der Presse und damit in der europäischen Öffentlichkeit entgegenwirken. Denn rasch hatten sich auch in Europa Generalanschuldigungen gegen das Judentum ausgebreitet, fast vergessene Ritualmordlegenden lebten auf, "wissenschaftliche" Diskussionen über Menschenopfer in der jüdischen Religion wurden geführt ebenso wie theologische Disputationen über den Talmud. Um dem entgegen zu wirken, wurden verschiedenste Kommunikationskanäle genutzt: Gemeindevertretungen wie die in Paris und London mit einflussreichen Persönlichkeiten wie Crémieux und Montefiore sowie den europäischen Regierungen verbundene politische Ratgeber wie die Bankiersfamilie Rothschild handelten gemeinsam in der Tradition der jüdischen Fürsprache (Shtadlanut), während sich insbesondere jüdische Zeitungen in Deutschland sowie Rabbiner und Gelehrte den antijüdischen Vorurteilen entgegenstellten und sie öffentlich zu entkräften suchten.7 Die Damaskus-Affäre sollte schließlich auch ein Schlüsselereignis für die Gründung der Alliance Israélite Universelle (AIU) werden. 1860 in Paris entstanden, wurde die Alliance der größte Zusammenschluss von Juden weltweit. Sie entsprang dem gemeinsamen Interesse der Verbindung untereinander, koordinierte Hilfeleistungen und Solidaritätsaktionen, war eine informelle diplomatische Vertretung der Juden und förderte, vermehrt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, die Verbreitung westlicher Bildung unter den Glaubensbrüdern in Regionen wie Osteuropa, Nordafrika und dem Mittleren Osten.8 Damit lehnte sich die Alliance an aufklärerische, französisch-liberale und -republikanische Ideale an9 ebenso wie sie sich an den traditionellen jüdischen Wissens- und Erfahrungsbeständen orientierte.10
Das jüdische Netzwerk, das sich auf Grund der Damaskus-Affäre entfaltet hatte, zeigte indes noch vor der Gründung der Alliance, dass sich Juden und Judenheiten über die Grenzen von Herrschaften und Staaten hinweg verbunden fühlten und sich solidarisierten. Dabei prägte die Verstreutheit der Juden den weiten Kommunikationsraum des Netzwerks, der vom Orient bis nach Europa reichte. Über die jüdischen Gemeinden konnten Nachrichten rasch transportiert und ausgetauscht werden, und die hochgradige Mobilität führte die Akteure bis an den Ort des Geschehens, an den ägyptischen und osmanischen Hof sowie an die europäischen Kanzleien und Höfe.
Kommunikation in der jüdischen Diaspora
Diese Verbindungen und die netzwerkförmige Kommunikation zwischen Juden und Judenheiten entstanden jedoch nicht erst im 19. Jahrhundert oder aus Anlass der Damaskus-Affäre, vielmehr besaßen sie eine lange Tradition. Jüdische Netzwerke hatten sich bereits seit der Antike mit der Zerstreuung jüdischer Lebenswelten über weite Räume ausgebildet und ein weitreichendes Geflecht transterritorialer und transkultureller kommunikativer Kanäle zwischen verschiedenen Juden und Judenheiten geformt. Die diasporische Lebensweise bedingte und charakterisierte denn auch die jüdischen Netzwerke in ihrer Spezifität: die gemeinsame Religion und Religionspraxis, die damit verbundene hohe Lese- und Schreibfähigkeit unter Juden, die gemeinsame sakrale Sprache und gleichzeitig die Mehrsprachigkeit der Juden, Gemeinde- und Handelsverbindungen, ein hoher Grad an Mobilität sowie die Ausgrenzung der Juden in zahlreichen Gesellschaften.11
Die gemeinsame religiöse Praxis und Kultur, die liturgische Sprache und der stete Bezug auf das biblische Land verbanden die Juden an allen Orten. Die einem jeden Juden auferlegte Pflicht des täglichen Bibelstudiums bewirkte, dass Juden als Teil der religiösen Praxis schon in jungen Jahren schreiben und lesen lernten – Fähigkeiten, die mit ihnen im christlichen Europa allenfalls klerikale oder adelige Bildungseliten teilten. Die diasporische Lebensweise der Juden bewirkte einen hohen Grad an Mobilität sowohl zwischen den jüdischen Gemeinden als auch individuellen Reisenden und festigte Gemeinde-, Handels- und Familienverbindungen über weite Distanzen hinweg. Auf Grund der Mobilität und des hohen Grades der Lese- und Schreibfähigkeit unter Juden konnten die Netzwerkverbindungen sowohl mündlich – auf Reisen, durch persönliche Begegnungen oder Handelskontakte – als auch in schriftlicher Form eingerichtet und aufrechterhalten werden. Ebenso führte dies zur Beherrschung nicht nur der heiligen jüdischen Sprache, des Hebräischen, sondern auch zahlreicher Landessprachen. Die daraus entwickelten Mischsprachen wie Jiddisch oder Ladino ermöglichten darüber hinaus die Kommunikation mit Nichtjuden. Dies erleichterte vor allem jüdischen Händlern, Gelehrten und anderen Reisenden die Verständigung vor Ort. Doch auch die umgekehrte Wahrnehmung, das heißt die gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden auf Grund ihrer Religion und die von außen herangetragenen, meist vorurteilsbehafteten Zuschreibungen des Jüdischen waren gleichfalls Bedingung für den Zusammenhalt der Juden und die Einrichtung und Verstetigung der jüdischen Netzwerke. Daher war die Kommunikation in der jüdischen Diaspora, zumal im christlichen Europa von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Vernichtung des europäischen Judentums durch den Nationalsozialismus, von einer steten "Dialektik der Assimilation" (Funkenstein) geprägt, durch einen genuin dialektischen Prozess zwischen Akkulturation und Selbstbehauptung, zwischen Isolation und Offenheit in der jüdischen Geschichte.12 Hiermit verbunden sind nicht nur Problemzusammenhänge bezüglich der materiellen Lebenswelten der Juden und deren Umgebungskulturen, Fragen der relationalen Geschichte, der Transferprozesse, Übertragungs- und Übersetzungsphänomene, sondern gleichfalls Fragestellungen zu Gesetzen und Forderungen an die Juden wie berufliche Beschränkungen, sozialgesellschaftliche Vorbehalte, aber auch ambivalente, meist judenfeindliche und antisemitische Wahrnehmungen und Zuschreibungen. Diese Zuschreibungen, die schon früh die spezifisch jüdischen Formen und Strukturen der Kommunikation als bedrohlich auffassten, fanden seit dem 19. Jahrhundert vor allem in Verschwörungstheorien,13 in Varianten der Kapitalismuskritik14 oder, oft eng damit verknüpft, in Form von Kritik an einer vermeintlich genuin jüdischen Land-, Staats- und Bodenlosigkeit ihren Ausdruck.15
Die jüdischen netzwerkförmigen Verbindungen und der hohe Grad der Mobilität erwuchsen somit sowohl aus der diasporischen Lebensweise als auch aus der konkreten historischen Erfahrung der jüdischen Diaspora.16 Dieser Teil der jüdischen historischen Erfahrung speiste sich vor allem aus der gegen die Juden gerichteten Gewalt, den Drangsalen der antijüdischen obrigkeitlichen Bestimmungen, den Ausweisungen oder gewaltsamen Vertreibungen, der weit verbreiteten antijüdischen oder antisemitischen Agitation sowie rechtlichen und Strafkonflikten.17 In ihrer Summe als "Erfahrungsbestände" charakterisierbar, wurden diese Ereignisse und Umstände zumeist von den Juden selbst als Krise der gesamten jüdischen Gemeinschaft, durchaus nicht nur auf Europa beschränkt, wahrgenommen und prägten folglich das Handeln der Juden.
Die diasporische Kommunikation und Mobilität, die vielseitige Kommunikationsformen ausgeprägt hatten, sollen im Folgenden entlang der drei Hauptbahnen der Kommunikation in der jüdischen Diaspora dargestellt werden: zuerst anhand der Verbindungen beziehungsweise den Verbundformen der jüdischen Gemeinden, zweitens anhand des gelehrten Austauschs und der Religionspraxis und schließlich, drittens, mit Blick auf Handel und Reisen. Diese Kommunikationswege konnten unterschiedlich stark miteinander interagieren und können einzelne Netzwerkverbindungen beispielhaft illustrieren.18 Abschließend soll die kulturgeschichtliche Perspektive der jüdischen Netzwerke auf ihre Bedeutung für Europa und eine europäische Geschichte hin befragt werden.
Jüdische Autonomie und übergemeindliche Organisationen
Die diasporischen Lebenswelten der Juden reichen zurück bis zur Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer 70 n.d.Z. (nach der Zeitenwende).19 Seit dem Mittelalter hatte sich in Europa die Lebensweise in einer Kehilla (hebr. "Gemeinde") als Lebens- und Erfahrungswelt der Juden etabliert.20 Der Zusammenhalt wurde, ohne eine jüdische Staatlichkeit, nicht durch politische, sondern durch religiöse und sozioökonomische Institutionen erreicht, wodurch die Kommunikationsentwicklung unter Juden und jüdischen Gemeinden gefördert wurde. Dabei bildeten sich Form und Organisation jüdischer Gemeinden auch in einem Wechselspiel mit den Umgebungskulturen heraus: Während die jüdische Gemeinschaft bestrebt war, religiöse, straf- und zivilrechtliche Entscheidungen auf Grund eigener Vorstellungen zu treffen und durchzusetzen, gestanden die Obrigkeiten bis in die Neuzeit hinein den jüdischen Gemeinden innerhalb des ständisch beziehungsweise später imperial verfassten Gemeinwesens ein gewisses Maß an Eigenverwaltung und Autonomie zu oder förderten dieses gar, um so Steuerabgaben zu sichern.
Im Mittelalter begünstigte im islamischen Raum die Anerkennung einer einzigen Autorität zusammen mit einer religiösen Lehrautorität über mehrere Gemeinden die Entwicklung dauerhafter Verbindungen zwischen den einzelnen Gemeinden. Bis in das 13. Jahrhundert hinein galten die Exilarchen (aram. resh galuta, "Haupt der Diaspora") als höchste säkulare jüdische Autorität, die bis zum 11. Jahrhundert mit den Leitern der einflussreichsten babylonischen Talmudakademien in Sura und Pumbedita eng verbunden war. Zusammen standen sie im Zentrum des religionsrechtlich organisierten Kommunikationsnetzes. Innerhalb dieses Rahmens konnten mit stetem Bezug auf die jüdische Religion und sakrale Texte religiöse sowie straf- und zivilrechtliche Entscheidungen getroffen und durchgesetzt werden. Im Osmanischen Reich setzte sich dieses System innerjüdischer Autorität durch die äußere Anerkennung fort: Der Hacham Bashi (hebr./türk. "Oberrabbiner") von Konstantinopel wurde nicht nur von den Gemeinden und Rabbinern der Provinzen, sondern auch von den osmanischen Herrschern als höchste jüdische Autorität anerkannt.
In Europa förderte hingegen die Uneinheitlichkeit der christlichen Herrschaft im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit die Eigenständigkeit der einzelnen Gemeinden. Die religiöse, zivil- und strafrechtlich gewährte Autonomie passte sich strukturell und hierarchisch in das Stände- und Feudalsystem ein und prägte die "Dialektik der Assimilation" und damit das Verhältnis zwischen Autarkie und Isolation. Vor Ort standen Gemeindevorsitzende und Rabbiner, oft herausragende talmudische Gelehrte, den meist in abgeschlossenen Vierteln gelegenen und durch Berufs- und Gesetzesbeschränkungen ökonomisch recht homogenen Gemeinden vor. Vorstand und Rabbiner fungierten als lokale Kommunikationsexperten zwischen den Gemeinden und gegenüber den christlichen Herrschaften.21 Weil die jüdische Gemeinschaft Fragen und Streitigkeiten auf Grundlage eigener Rechtsvorstellungen und Zivilgerichtsbarkeit regelte und es vermied, auf obrigkeitliche Institutionen zurückzugreifen, bildeten sich bereits im Mittelalter auf Grundlage immer engerer Kontakte zwischen den Gemeinden korporative Modelle heraus, die aus mehreren Gemeinden einen Kommunikationszusammenhang und einen festeren Rahmen für die jüdische Autonomie schufen.22
Mit Beginn der Frühen Neuzeit blieb die Rechtssicherheit der Juden eng an die Duldung und Interessen eines jeden Landesherrn gebunden, zunehmend mit der erstarkenden Territorialherrschaft. So wie das Alte Reich nicht zentralistisch organisiert war, bestand auch seit dem 17. Jahrhundert kein Zusammenschluss der Juden oder jüdischen Gemeinden mehr. Hingegen zentralisierte sich in Mittel- und Osteuropa das bevölkerungsreiche polnische und litauische Judentum. Von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden "übergemeindlich" strukturierte Organisationen, so genannte medinot (hebr. "Staaten"), die mittels engerer, meist regionaler Verbindungen zwischen den Gemeinden behördliche Aufgaben wahrnahmen.23 So bildete die "Vierländersynode" der polnischen und litauischen Gemeinden (hebr. Vaad arba Arzot), die ursprünglich eingerichtet worden war, um die Steuerabgaben der polnischen und litauischen Gemeinden zu koordinieren und religionsrechtliche Regelungen wirksamer durchzusetzen, bald eine Form der weitgehend unabhängigen Selbstverwaltung der Juden, die zudem von der polnischen Krone aus Gründen der Besteuerung und demographischen Kontrolle anerkannt und gefördert wurde.24 Wenn solche interkommunalen Verbundformen auch den religiösen, zivil- oder strafrechtlichen Entscheidungen der Rabbinergerichte Rechnung trugen, prägten sie doch das Bewusstsein gegenseitiger Solidarität, Verbundenheit und den Gemeinwohlgedanken unter den Juden. Darüber hinaus schufen sie auch die Möglichkeit einer Vertretung gemeinsamer Interessen gegenüber der Obrigkeit.25
Die jüdische Autonomie und die übergemeindlichen Organisationen spiegeln die "Dialektik der Assimilation" in besonderem Maße, indem sie einerseits Teil des Stände- beziehungsweise Staatswesens, andererseits aber auch zu einem Kommunikationsraum für die größeren jüdischen Gemeindeorganisationen wurden. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bzw. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert blieben die jüdischen Gemeinden und ihre Organisation in dieser interdependenten Form erhalten und bestimmten nachhaltig den innerjüdischen Kommunikationsrahmen. Mit der oft nur schrittweise erfolgten rechtlichen Gleichstellung der Juden als Individuen, nicht aber als Gemeinschaft, wurde im 19. Jahrhundert jede Form jüdischer Selbstverwaltung von allen Herrschaften und Regierungen Europas aufgelöst. Gleichwohl blieben in der Moderne die jüdischen Gemeinden, zumal in den großen Städten, einflussreich und als Knotenpunkte der innerjüdischen Kommunikation bestehen.
Jüdische Gelehrsamkeit und Frömmigkeit
Die Selbstbehauptung und Offenheit gegenüber den Umgebungskulturen in der "Dialektik der Assimilation" prägte wie die Lebensweise in den zerstreuten Gemeinden die Überlieferung der jüdischen Wissens- und Erfahrungsbestände und ihre Kommunikation in der jüdischen Diaspora mit. In der jüdischen Religion ist das Lesen und Erklären der sakralen Texte eine einem jeden Juden auferlegte Pflicht und die Synagoge zugleich ein Haus des Lernens. Über die Jahrhunderte entstanden so der Talmud und die Halakhah, das "Religionsgesetz". Die religiösen Gesetze und die Religionspraxis sind gewissermaßen eine Wissensform, ein Wissensweg, der in seiner Konsequenz das Handeln von Juden prägt. Bis zur jüdischen Aufklärung (Haskalah) war die Halakhah eine wesentliche Form für Juden, ihr Wissen zu strukturieren. In sakralen Textformen wie Talmudkommentaren oder Kodices überliefert, enthielten diese Texte nicht allein jüdisches Wissen, sondern gleichermaßen nichtjüdisches wie historisches Wissen. Sie dienten als Erinnerungs- und Gedächtnismodus des jüdischen Volkes und bewahrten Wissens- und Erfahrungsbestände in diesen Textformen.26
Die Befolgung der Halakhah und ihre kontinuierliche Auslegung bildeten daher einen Hauptauslöser für das Aufkommen der netzwerkförmigen Verbindungen unter Juden und zwischen den jüdischen Gemeinden.27 Juden waren auf Grund ihrer Verstreutheit gezwungen, ihr Wissen beständig über Distanzen und Zeiten hinweg zu kommunizieren. Dies erfolgte mittels der halakhischen Formen.28 Bereits die Aneignung der sakralen Texte erforderte (und erfordert bis heute) einen eng gehaltenen Kommunikationsprozess, in dem die Lese- und Schreibfähigkeit, der persönliche Kontakt unter den Gelehrten, der Austausch und das Einbringen des individuellen Wissens die Vorbedingungen bildeten. Wie in den Gemeinde- und Handelsverbindungen entstanden individuelle Kontakte im gelehrten Austausch auf der lokalen Ebene durch Rabbiner, Gelehrte oder das ortsansässige Rabbinatsgericht, während sich Verbindungen über weite Distanzen hinweg zwischen Talmudakademien, den großen Gerichten oder herausragenden rabbinischen Gelehrten entsponnen.29 Bereits im Mittelalter überschnitt sich die Mobilität der jüdischen Gelehrten mit jener von Händlern und Kaufleuten. Oftmals waren jüdische Kaufleute zugleich Gelehrte.30 Reisen von Rabbinern, ihren Schülern oder jüdischen Kaufleuten und damit der Transport und Austausch von Manuskripten, Schriftrollen und Briefen waren Kennzeichen des mehrbahnigen Wissensaustauschs.31 Da die traditionellen Lehrautoritäten bis in die Neuzeit hinein auch die zivil- und strafrechtlichen Entscheidungen trafen, war die schriftliche Kommunikation in sogenannten Responsen (rabbinischen Gutachten) maßgebliches Mittel zur sozialen Disziplinierung der Gemeinden.32 Durch die übergemeindlichen Organisationen bestand schließlich bis zur Auflösung der jüdischen Autonomie im 19. Jahrhundert in Osteuropa ein solcher Kommunikations- und Disziplinierungszusammenhang.
Rabbinische Responsen und die Weitergabe von Lehrmethoden und Wissen durch die Gelehrtenreisen waren die tragenden Bahnen der gelehrten Kommunikation. Die jeweiligen lokalen Wissenskulturen, mehr oder minder festgelegte kulturelle oder soziale Praktiken der umgebenden Kulturen, beeinflussten dabei die Übermittlung der jüdischen Wissens- und Erfahrungsbestände ebenfalls.33 So beschleunigte und erweiterte die Erfindung des Buchdrucks seit dem 16. Jahrhundert die Kommunikations- und Wissensvernetzung auch in der jüdischen Diaspora. Druckschriften und Nachrichten gelangten über die etablierten Kommunikations- und Transportwege rasch in die entlegendsten Regionen. Im 17. Jahrhundert hatten sich auf diese Weise spezielle mystisch-kabbalistische Lehrinhalte ausgebreitet und die messianischen Erwartungen der Juden bestärkt. Die jüdisch-messianische Hoffnung, nach der ein Messias das jüdische Volk aus der Diaspora sammeln und in das biblische Land Israel zurückführen sollte, erlebte im 17. Jahrhundert, das vor allem für die europäischen Juden zahlreiche Krisenerlebnisse mit sich brachte, eine neue Popularität. Im Jahr 1648, zur Zeit der Kosaken-Aufstände, der Vertreibungen und Massaker an zahlreichen Juden in Polen-Litauen, hatte der zunächst unbekannte Shabtai Zvi (1626–1676)[] in Smyrna religionsrechtliche Übertretungen begangen und war von dem Rabbinergericht vor Ort exkommuniziert worden. Shabtai Zvi flüchtete schließlich in das Heilige Land, in die Stadt Safed im Norden. Dort traf Shabtai Zvi auf Nathan von Gaza (1643–1680), einen jungen Gelehrten aus Jerusalem. Mit Hilfe kabbalistischer Deutung seiner Religionsübertretungen rief Nathan von Gaza Shabtai Zvi schon nach den ersten Begegnungen zum Messias und Sohn Davids aus. Mittels des engen Netzes der Gemeindekontakte, der gelehrten Kommunikation von Rabbinern und ihren Schülern sowie mit Hilfe jüdischer Handelsreisender und durch die rasche Verbreitung von Nathans und Shabtai Zvis Schriften in Form von Flugblättern und Aufrufen wurden der vermeintliche Messias Shabtai Zvi und sein Prophet Nathan von Gaza innerhalb kürzester Zeit (1665–1666) in beinahe der gesamten jüdischen Diaspora bekannt. Die gleiche Religions- und Lehrpraxis in weiten Teilen der jüdischen Diaspora, die gemeinsame Kommunikation über das Hebräische und damit die Lese- und Schreibfähigkeit der Juden allgemein sowie die Mobilität des Wissens und der Gelehrten verschafften dem vermeintlichen Messias eine breite Akzeptanz. Ähnlich wie die Wittenberger Reformation durch den Buchdruck zu einer "Medienrevolution"34 geworden war, ermöglichte die rasche Verbreitung der Schriften Nathans von Gaza, die Shabtai Zvi zum Messias erklärten, die Flugblätter, massenhaft vervielfältigte Abbildungen des Messias und seines Propheten Nathan von Gaza, die weitreichende Entfaltung der Wirkungskraft Shabtai Zvis in der jüdischen Diaspora.35
Anlässlich des Messianismus und des Personenkults um Shabtai Zvi waren Formen jüdisch-gelehrter Netzwerke sichtbar geworden, die aus der religiösen Praxis, der Lese- und Schreibfähigkeit und der gemeinsamen hebräischen Sprache über politische und kulturelle Grenzen hinweg schöpften, und die schließlich auch moderne Techniken wie die Presse nutzten und bis zur Vernichtung des europäischen Judentums durch den Nationalsozialismus erhalten blieben. Zwar veränderten sich die gelehrten Netzwerke im Zuge der Haskalah, der jüdischen Aufklärung, durch die Emanzipation und die Verbürgerlichung der Juden sowie die Verbesserung und Technisierung der Kommunikationswege in ihrer Intention. Sie integrierten neue Formen der Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, jedoch basierten sie weiterhin auch auf den traditionellen jüdischen Kommunikationsformen.
Handel und Reisen
Handel und Reisen bildeten neben den Gemeinden und übergemeindlichen Organisationen einen weiteren tragenden Kommunikationskanal in der jüdischen Diaspora. Bereits in der Antike gehörten Juden zu den diasporischen Gemeinschaften, die im Handel eine herausragende Rolle einnahmen. Auch unter jüdischen Reisenden bildeten Fernhändler und Kaufleute bis in die Neuzeit hinein die größte Gruppe.36 Im mittelalterlichen, christlichen Europa von Landwirtschaft und Handwerk ausgeschlossen, mit Niederlassungsverboten belegt und unter ständiger Bedrohung, vertrieben zu werden, waren Juden dazu gezwungen, "nichtproduktiver" Beschäftigung im Handel oder in der Geldleihe nachzugehen.37 Diese Berufsbeschränkungen sowie die Entfremdung und Feindseligkeit der christlichen und muslimischen Welt hatten sich jedoch schon im Mittelalter als Vorteil erwiesen und jüdische Händler zu Mittlern zwischen Christenheit und islamischer Welt werden lassen.38 Waren, welche die jüdischen Händler in den islamischen Ländern oder in Indien erworben hatten, vor allem Luxusgüter wie Färbemittel, Gewürze, Arzneimittel und auch Sklaven, gelangten so überhaupt erst nach Europa.39
Die Religionspolitik europäischer Herrschaftshäuser und die gesellschaftliche Ausgrenzung hatten die Festigung und Ausweitung dieser jüdischen Gemeinde- und Handelsnetzwerke bis in die Neuzeit zur Folge. So war Mitte des 15. Jahrhunderts durch die Vertreibung der Juden aus Spanien (1492) und Portugal (1497) das Handelsnetz der westlichen sephardischen Diaspora entstanden.40 Bis in das späte 18. Jahrhundert hinein etablierten sich sephardische Juden, das heißt Juden mit spanischem oder portugiesischen Hintergrund, und Krypto-Juden41 erfolgreich im Handel von Juwelen und Edelmetallen aus der Neuen Welt. Auch wenn sie spanischen Boden nicht mehr betreten durften, standen sie weiterhin in Kontakt mit den Händlern der Iberischen Halbinsel und führten diese Handelsbeziehungen neben den sich neu formierenden Handelsbeziehungen etwa nach Amerika fort.42 Durch die Vertreibung waren jüdische Händler zunächst gezwungen, neue Handelszentren in England, den Niederlanden, Italien und Frankreich aufzubauen, und sich neben dem Spanischen, Portugiesischen und dem Ladino (Judenspanisch) zusätzliche Sprachen anzueignen. Über die jüdischen Gemeinden sowie durch Familienverbindungen fanden jüdische Händler vor Ort Unterstützung und Aufnahme und konnten so feste Kommunikationszentren einrichten. Die gemeinsame Sprache und Kultur der verstreuten Judenheiten, ebenso ihre Mehrsprachigkeit, erleichterten den jüdischen Händlern die lokale Kommunikation. Für die eigenen Gemeinden fungierten jüdische Händler und Reisende zugleich als Briefkuriere und Informationsvermittler.43
In der gleichen Zeit begann innerhalb Europas die allmähliche Etablierung der Hoffaktoren oder "Hofjuden" an den Herrschaftshöfen.44 Insbesondere in den Territorien des Alten Reiches war Landesherren zunehmend daran gelegen, Juden zu dulden, solange sie politisch und wirtschaftlich nützlich sein konnten – und einige waren es, insofern sie den Unterhalt eines fürstlichen Hofes oder den Staatshaushalt durch ihre Bankiers-, Lieferanten- oder Beratungstätigkeit sicherten. Vor allem waren ihre Kontakte für die Herrscher im Subsidiengeschäft von Nutzen, da Hofjuden hier auf die weitreichenden Handelsnetze im In- und Ausland zurückgreifen konnten. Zwar hatte es bereits zuvor einzelne Juden gegeben, die den Herrschaftshäusern durch Handel und Finanzierung nahe standen, doch die Hofjuden der Neuzeit waren nicht nur zahlreicher, sie waren auch mit den jüdischen Gemeinden ausdrücklich verbunden. Nicht selten wurden städtische jüdische Gemeinden nach den mittelalterlichen Vertreibungen erst aus der Familie oder aus dem Betrieb eines Hofjuden neu gegründet. Als Repräsentanten kommunizierten Hofjuden die jüdischen Interessen gegenüber den Herrschaften und handelten als shtadlanim (hebr. "Fürsprecher") für einzelne Juden oder ganze Gemeinden.45
Die Fürsprache privilegierter Hofjuden und jüdischer Händler und die intensive Kommunikation zwischen den jüdischen Gemeinden Europas, traten immer dann deutlich hervor, wenn Glaubensgenossen in Bedrängnis gerieten – so auch im Jahr 1744/1745, als Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) im Zuge ihrer Politik gegen die Nichtkatholiken in den habsburgischen Ländern die Ausweisung der Juden Prags verfügte und diese Ausweisungsbestimmung wenig später auch auf Böhmen und Mähren ausweitete.46 Die Juden aus Prag und Wien informierten daraufhin die großen jüdischen Gemeinden in England, Italien, Dänemark und selbst die Gemeinden des Osmanischen Reiches über das Vertreibungsdekret. Der aus einer portugiesisch-jüdischen konvertierten Familie stammende Diego d'Aguilar (1699–1759) und der Sohn des Wiener Hofjuden Samson Wertheimer (1658–1724), Wolf Wertheimer (1681–1765), koordinierten den Widerstand gegen die Vertreibung von Wien aus. Proteste gegen die Ausweisungsbestimmung sollten der Kaiserin von möglichst vielen einflussreichen Herrschaftshöfen und von hochgestellten Persönlichkeiten vorgebracht werden. Der Schwiegersohn Samson Wertheimers, der Oberrabbiner von Hessen-Darmstadt und Leiter der Talmudschule in Frankfurt am Main Moses Kann (gest. 1762), erwirkte ein persönliches Schreiben des Erzbischofs von Mainz an die Kaiserin, und bald darauf traten mehrere europäische Höfe gegen die Vertreibung der Juden ein. Die italienischen Gemeinden erreichten sogar einen Einspruch des Papstes. Auch der Sultan des Osmanischen Reiches schickte Boten mit Schreiben an Maria Theresia. Wenn auch hier das Ende des Zweiten Schlesischen Krieges (1744–1745) die Entscheidung gewiss beeinflusste, so hatten es die Gemeinden und Hofjuden durch ihre Interventionen im Mai 1745 erreichen können, dass zumindest die böhmischen und mährischen Juden in ihre Wohnorte zurückkehren konnten, während dies den Prager Juden erst 1748 gestattet wurde.
Auf Grund ihrer diasporischen Lebensweise und der steten Rechtsunsicherheit waren Juden gezwungen, eigene Strukturen politischen Handelns zu entwickeln, wie die Fürsprache (Shtadlanut) in all ihren Formen. Die Bedingungen der "Dialektik der Assimilation" und insbesondere die Gesetzgebung der habsburgischen Kaiserin lagen dem Hilfsnetzwerk zur Rettung der bedrohten jüdischen Gemeinden zu Grunde. Der unsichere Rechtsstatus der Juden in Europa, der ihre Existenz zwischen Akkulturation und Selbstbehauptung, zwischen obrigkeitlicher und auch selbstgewählter Isolation bestimmte, verschärfte sich einmal mehr 1744 in der Religionspolitik der Kaiserin. Jedoch hatte die Vertreibung der Juden aus Prag, Böhmen und Mähren die Gemeinden in den großen Städten, die Hofjuden, ihre Familien und die einflussreichen Gelehrten aktiviert, die Netze jüdischer Kommunikation und Informationsübermittlung zu nutzen und sich gegen die Ausweisung einzusetzen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts verschwand mit den absolutistischen Staaten auch das Phänomen der Hofjuden, und es folgte sukzessive, wenn auch oft zögerlich, die Gewährung von Bürgerrechten an die Juden. Gleichwohl verlängerten sich – wie im kaufmännischen Handel allgemein47 – die frühneuzeitlichen Handelsnetze und die Tradition der Fürsprache durch jüdische Notabeln des Handels bis in das 19. Jahrhundert hinein und passten sich den neuen Herausforderungen an. So legte die Damaskus-Affäre 1840 eines der bekanntesten Geschäftsnetze im 19. Jahrhundert offen, das der Familie Rothschild, und zeigte dessen offensive Nutzung zum Wohle der Damaszenser Juden. Die Familie richtete ihre Energie nicht nur auf den Geldhandel, Kapitalinvestitionen oder auf das Eisenbahnnetz aus, sondern nutzte ihre Verbindungen ebenso zur Linderung der Not von einzelnen Juden und jüdischen Gemeinden. Sie handelte so wie die Hofjuden in den vorherigen Jahrhunderten in der Tradition der Shtadlanut. Das Stammhaus der Familie in Frankfurt am Main unterhielt mit den Filialen in Paris, London, Wien und Neapel und einem europaweiten Agentennetz weitreichende Geschäftsverbindungen und schuf damit in jeder Hinsicht die Grundlagen für einen effektiven Informationsaustausch.48 In der Moderne bestand der Kommunikationsweg über Handel und Reisen fort, wurde jedoch zunehmend durch neue und andere Handelsnetze ergänzt.
Zusammenfassung
Die Kommunikation in der jüdischen Diaspora war, zumal in Europa von der Mitte des 15. bis zum 20. Jahrhundert, von den diasporischen Lebenswelten der Juden geprägt. Durch die gemeinsame Religion, Kultur und Sprache vereint und durch den hohen Grad der Lese- und Schreibfähigkeit unter Juden sowie durch die außerordentliche Mobilität gestützt, konnten sich seit dem Mittelalter relativ stabile und weitreichende Kommunikationsnetze in Europa und darüber hinaus entwickeln und festigen.49 Zum Zwecke der religiösen Observanz, auf Grund der Gelehrten- und Handelskultur und der weitreichenden Mobilität verliefen die Hauptbahnen der Kommunikation in der jüdischen Diaspora entlang den jüdischen Gemeinden, den Wegen, die die Einhaltung und Auslegung der Religionspraxis gebahnt hatten, sowie entlang der Handelsnetze. Die Gewährung und Anerkennung einer jüdischen Autonomie innerhalb des europäischen Feudalsystems schuf für Juden eine relative Rechtssicherheit, wenn auch diese sie nicht grundsätzlich vor Vertreibungen schützte. Doch stärkte die Autonomie auch, insbesondere in Form der übergemeindlichen Organisationen, die Verbundenheit und gegenseitige Solidarität zwischen den jüdischen Gemeinden und lokalen Judenheiten. Die religiöse Praxis in Form der Halakhah und der damit verbundene gelehrte Austausch waren die Basis für die Zirkulation jüdischen Wissens. Über die spezifischen Formen gelehrter Kommunikation konnten Lehrmethoden und -inhalte über Zeit und Raum hinweg kommuniziert und verbreitet und so die Diskussionskultur zwischen den jüdischen Gelehrten in der Diaspora maßgeblich beeinflusst und befördert werden. Handel und Reisen offenbarten die außergewöhnliche Mobilität der Juden und darüber hinaus ihre Mehrsprachigkeit.
Die Kommunikationsstrukturen in der jüdischen Diaspora und die darin wirksamen Netzwerke prägten die Bewahrung jüdischen Wissens, traditioneller Institutionen und Werte. Die Fortführung der vormodernen Kommunikations- und Wissenswege einerseits und die beständigen transterritorialen und transkulturellen Verbindungen der Juden andererseits führten, begleitet durch die Adaption moderner Kommunikationstechniken in der Neuzeit, zu einem steten Nebeneinander vormoderner und moderner Kommunikationselemente.50 Während die Kommunikation in den einzelnen jüdischen Gemeinden und Gemeinschaften der Vormoderne durchaus jener der traditionellen Umgebungsgesellschaften ähnelte – nämlich geographisch auf die örtliche Gemeinde beschränkt war, meist mündlich oder durch symbolische Handlungen zustande kam, hauptsächlich lokale und Familienkontakte betraf und auf persönlichen Begegnungen basierte –, glichen die Kommunikationsformen der Juden in den übergemeindlichen Organisationen, im Handel, auf Reisen und im Wissensaustausch modernen Formen. Diese Verbindungen waren grundsätzlich kontingenter und ähnelten hierin den kommunikativen Beziehungen der Moderne.51 Die demnach quasi-modernen Kommunikationskanäle und Netzwerkverbindungen hingen allerdings auch mit den Bedingungen mittelalterlicher, europäischer Wirtschaft und der religiös motivierten sozialen Ausgrenzung der Juden aus landwirtschaftlichen und handwerklichen Berufen zusammen. Deshalb waren die jüdischen Netzwerke, die sich seit dem Mittelalter entfaltet hatten, ungleich wichtiger für die vormoderne jüdische Gemeinschaft als Kommunikationsraum, sowohl in Bezug auf das Kollektiv als auch auf das Individuum.
Nach Auflösung der jüdischen Autonomie im Zuge der Haskalah und der rechtlichen Emanzipation hatten Juden in Europa ihre Hoffnungen zunehmend an die Länder geknüpft, in denen sie lebten. Zwar gab es mit der Erinnerung an das biblische Land Israel und der Zionssehnsucht weiterhin einen mehr oder minder festen geographischen Bezugspunkt, doch war dieser bis zur Staatsgründung Israels 1948 vor allem geistig-geistlich in Ritualen und Gebeten überliefert worden und erhielt seine konkrete, auf das Land ausgerichtete Orientierung erst mit der zionistischen Bewegung Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die religiösen Formen blieben weiter bestehen; doch zugleich ruhte die zu weiten Teilen säkularisierte Einheit der Juden in der Moderne für das aschkenasische, das heißt das im weitesten Sinn europäische Judentum auf den symbolischen Formen der gegenseitigen Verbundenheit und Solidarität beziehungsweise war mit der sogenannten "Judenfrage" auf transnationaler Ebene verbunden und führte auf diese Weise die vormoderne historische Erfahrung der jüdischen Diaspora fort. Noch in der Zwischenkriegszeit wurde diese historische Erfahrung durch den Historiker Simon Dubnow (1860–1941)[] in seinem Autonomie-Konzept in einen politischen Rahmen übertragen. Dubnow setze sich in einem säkularen jüdischen Diaspora-Nationalismus für eine transterritoriale und transnationale Autonomie der Juden ein, die eine rechtliche Gleichstellung der jüdischen Minderheit, ihre Selbstverwaltung und Unabhängigkeit in Sprache und Erziehung gewähren sollte.52 Im Gegensatz zum Zionismus, der die Diaspora ablehnte, und jenseits jüdisch-religiöser Hoffnungen, die sich auf eine messianische Rückkehr in das Heilige Land richteten und bis dahin die Diaspora als gottgegeben annahmen, hatte Dubnow damit die diasporische Lebensweise als geschichtliche Bedingung und Erfahrung der Juden positiv gedeutet. Für Dubnow bildete das jüdische Volk, das Teil der Geschichte beinahe aller Kontinente, Länder und Regionen war, denn auch das "geschichtlichste" aller Völker, denn die "Geschichte des jüdischen Volkes durchläuft, gleich einer Centralachse, die ganze Geschichte der Menschheit von deren einem Pol bis zum anderen".53
In diesem Sinne zeigen auch die jüdischen Netzwerke eben jene geschichtlichen Bedingungen und Erfahrungen der Juden in der "Dialektik der Assimilation" auf. Die hauptsächlichen Kommunikationswege über die autonomen Gemeinden, die Religions- und Lehrpraxis und über den Handel blieben die vergleichsweise schwachen, aber beständigen Verbindungen (weak ties) der jüdischen Diaspora.54 Sie bildeten einen Kommunikationsraum, der sich nicht nur über Europa und darüber hinaus erstreckte, sondern vielmehr Europa und die verschiedenen Umgebungskulturen einschloss und miteinander verband. Intensivierte jüdische Akteursnetzwerke, die sich bewusst auch an die nichtjüdische Umwelt wandten und dadurch besonders sichtbar waren, entwickelten sich aus den beständigen Kommunikationsbahnen heraus vor allem in Krisenzeiten oder aus Anlass von Ereignissen, welche die gesamte jüdische Diaspora betrafen.55 Solche von Juden als Krise empfundenen Ereignisse – Gewalt gegen Juden, Ausweisungen, Vertreibungen oder antisemitische Agitationen – führten auf ihre diasporischen Lebensbedingungen zurück und zeugten von dem steten Prozess der Assimilation und Selbstbehauptung der Juden an bzw. in ihren Umgebungskulturen.56 Wird Europa und europäische Geschichte als Ergebnis steter interkultureller Kommunikations- und Transferprozesse, das heißt als Kommunikationsraum, verstanden, kann die Geschichte der Juden und jüdischer Netzwerke Momente und Prozesse dieses Kommunikationszusammenhangs abbilden.57 Weil Juden überall in Europa lebten, nicht an Nationalstaaten gebunden waren, können sie durch ihre transnationale, multilinguale, mobile und vorwiegend urbane Lebensweise auch als moderne beziehungsweise postmoderne "Europäer avant la lettre" angesehen werden.58