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Bevölkerung in Zahlen: Demographische Entwicklungen in Europa von der Frühen Neuzeit bis in die Nachkriegszeit
Um die historische Entwicklung der Bevölkerungen in Europa darzustellen, bedarf es einiger Vorüberlegungen. Zum einen soll bestimmt werden, welche Regionen und dazugehörige Bevölkerungen zu "Europa" zählen. Hier lassen sich je nach Epoche, politischer Situation und kultureller Deutung unterschiedliche Grenzen ziehen, so dass der Begrifnf einer "europäischen Bevölkerung" mit großer Vorsicht behandelt werden muss. Das vielleicht größte Hindernis für eine genuin europäische Perspektive auf "Bevölkerung" ist allerdings, dass Bevölkerungszahlen erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit systematisch und auf nationaler Ebene erhoben werden. Dieser "methodische Nationalismus" prägt die Demographie und die historische Bevölkerungsforschung, indem er den Nationalstaat als eine Art "Container" konzipiert, dessen Inhalt – die Bevölkerung – sich vermeintlich eindeutig vom Inhalt anderer "Container" oder Kategorien abgrenzen lässt.1 Da Bevölkerung kein statischer, immobiler Gegenstand ist und nationalstaatliche Organisationsformen keine überzeitliche Ordnung, sondern ein historisches Produkt darstellen, ist entsprechend zu überlegen, anhand welcher Kriterien und mit welchen Methoden die Bevölkerungsentwicklung betrachtet werden soll: Geht es erstens um absolute Bevölkerungszahlen, um die relative Bevölkerungsdichte oder um die sich wandelnde Bevölkerungsverteilung? Sollen zweitens die historischen oder die gegenwärtigen politischen Einheiten als Grundlage der Betrachtung verwendet werden? Drittens gilt es zu berücksichtigen, dass die existierenden Zahlen häufig auf Schätzungen beruhen. Deshalb sollen nur einige generelle demographische Trends in der europäischen Geschichte genannt und einige Wendepunkte angedeutet werden.
Betrachtet man den Zeitraum zwischen 1450 und der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts, beeindruckt auf den ersten Blick das rapide Bevölkerungswachstum: Lebten um 1450 ungefähr 55 Millionen Menschen, waren es um 1960 mehr als zehnmal so viele, nämlich ca. 604 Millionen, die in den Ländern der heutigen EU lebten.2 Doch das Wachstum verlief keineswegs linear. So lag der Bevölkerungsstand von 1450, bedingt durch die erste große Pestwelle, merklich unter jenem von 1300, als ungefähr 73 Millionen Menschen in Europa gelebt hatten. Auch waren nicht alle Regionen gleichermaßen von solchen Bevölkerungsdynamiken betroffen.3 Innerhalb einzelner Regionen konnte die Bevölkerungszahl über Jahrhunderte hinweg stagnieren – so etwa in der Gegend um Rouen, wo die Bevölkerung zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert fast gleich blieb.4
Mit dem in der Frühen Neuzeit zu beobachtenden Bevölkerungsanstieg gingen zahlreiche soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen einher: "Landstriche wurden neu besiedelt und intensiv genutzt; die Siedlungsbewegung Richtung Osten setzte wieder ein; als Amerika zu einem Auswanderungsort wurde, exportierte Europa erstmals Bevölkerung; und die städtischen Strukturen wurden gefestigt."5
Der Dreißigjährige Krieg, die erneute Pestepidemie und die daraus resultierende Krise der Versorgung mit Nahrungsmitteln beendeten diese Phase des demographischen Wachstums. Bis die Einbrüche überwunden waren dauerte es lange Zeit, und durch die ungleichgewichtigen Dynamiken verschoben sich die Bevölkerungsproportionen in einigen europäischen Regionen nachhaltig. Die agrarische Revolution, die einsetzende Industrialisierung und die Fortschritte auf dem Gebiet der Hygiene und Medizin trugen dazu bei, dass die Bevölkerungskurve im 19. Jahrhundert deutlich anstieg. Während sich in der Zeit zwischen 1400 und 1700 die Bevölkerung nicht einmal verdoppelt hatte, wuchs sie zwischen 1700 und 2000 um das Sechsfache.6 Im Zusammenhang mit der rapiden Industrialisierung und Urbanisierung sorgte die Binnenmigration dafür, dass sich die Bevölkerungsdichte innerhalb einer Nation oder Region in kurzer Zeit veränderte. Zur selben Zeit nahm die Auswanderung nach Übersee rasant zu und wurde zu einem Massenphänomen.7
Im Zuge des Bevölkerungswachstums fanden im 17. und insbesondere im 18. Jahrhundert die ersten Bevölkerungszählungen statt. Als "erste moderne Volkszählung" gilt jene, die 1665 im französischen Kanada durchgeführt wurde – wobei nur die europäischen Siedler erfasst wurden.8 Zuvor hatten auf dem europäischen Kontinent bereits Zählungen in kleinerem Umfang stattgefunden. Berühmt ist der Fall Florenz, wo aus steuerpolitischen Gründen bereits 1427 die Einwohner im sogenannten Catasto erfasst wurden.9 Unter dem Eindruck der Reformation gab es auch Bemühungen, die konfessionelle Zugehörigkeit der Bevölkerung einer Region zu registrieren, so etwa das "Untertanen-Verzeichnis nach dem Glauben" von 1651 für die böhmischen Länder.10 Ab dem 18. Jahrhundert wurden in vielen Teilen Europas Volkszählungen durchgeführt, so etwa in den Niederlanden ab 1795,11 in Norwegen – welches damals noch Schweden unterstand – seit 186512 und in Irland 1901,13 um nur einige Beispiele zu nennen.14 1749 wurde in Schweden ein erstes statistisches Amt gegründet, dem in den nächsten hundert Jahren in fast allen europäischen Nationen weitere nachfolgten.15 Hierdurch wurde die statistische Erfassung der Bevölkerung auch dauerhaft institutionell verankert.
Nachdenken über Bevölkerung: Historische Perspektiven
Grundsätzlich stehen zwei Möglichkeiten zur Verfügung, um Bevölkerungszahlen zu erfassen: Die kollektive Zählung zu einem definierten Zeitpunkt und die Registrierung jedes Individuums an einem bestimmten Punkt seines Lebens.16 Damit sind bereits die beiden Werkzeuge umschrieben, die das Wissen um "Bevölkerung" prägen: Erstens die bereits erwähnte Volkszählung.17 Zweitens die Tauf- und Sterberegister, die von Kirchengemeinden jeweils für ihr Territorium geführt wurden und deren Prinzip sich in der staatlichen Vitalstatistik weiter fortsetzte. Beide Erfassungssysteme beeinflussten die Art und Weise, wie das "Objekt Bevölkerung" wissenschaftlich konstruiert wurde.
Eine systematische Beschäftigung mit diesem Objekt setzte in Europa mit der Aufklärung ein.18 Das staatlich gesteuerte Wirtschaftssystem des Kameralismus hatte zum Ziel, möglichst präzise Daten über die Infrastruktur und die Bevölkerungssituation eines Staates zu erfassen, um auf dieser Grundlage dessen Wirtschaftsleistung erhöhen zu können. Unter dem Begriff der "Bevölkerung" verstand man im Kontext der Siedlungspolitik des 17. und 18. Jahrhunderts die aktive Peuplierungspolitik in un- oder unterbesiedelten Gegenden. Dieser Populationismus setzte ein gewisses Maß an quantitativen Kenntnissen oder doch zumindest fest formulierten Annahmen über die Anzahl von Menschen in einem Gebiet voraus. Doch mutet die Spannbreite in Bezug auf die real vermuteten Bevölkerungszahlen für den heutigen Leser verblüffend groß an. Anfang des 18. Jahrhunderts schrieb der französische Philosoph Montesquieu (1689–1755)[] etwa in seinen Lettres Persanes, dass die Gesamtzahl der Menschen auf der Erde auf ein Fünfzigstel der Bevölkerung zu Zeiten Julius Caesars (100–44 v. Chr) gesunken sei.19 In Großbritannien sorgte die Debatte um die prinzipielle Entwicklung der Weltbevölkerung für eine langwierige Auseinandersetzung zwischen David Hume (1711–1776) und Robert Wallace (1697–1771). Während Hume die Auffassung einer tendenziell steigenden Bevölkerung vertrat, war Wallace davon überzeugt, dass die Weltbevölkerung seit der Antike signifikant gesunken sei.20
Diese weitgehende Entkopplung zwischen den demographischen Zielvorstellungen und dem zur Verfügung stehenden Zahlenmaterial bis weit ins 18. Jahrhundert21 bedeutete jedoch nicht, dass der Bevölkerungsdiskurs ein rein ideengeschichtliches Phänomen gewesen wäre. Vielmehr wurden durch diesen Diskurs gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr konkrete politische Maßnahmen angestoßen, wie etwa ein rigides Eherecht, das in der frühneuzeitlichen ständischen Gesellschaft stets auch die soziale Differenzierung bevölkerungspolitischer Interessen widerspiegelte.22 Als historisch zu simplifizierend hingegen hat die aktuelle Forschung eine rein strukturelle Begründung der Konjunkturen solcher Bevölkerungsdiskurse zurückgewiesen. Die frühen Konzeptionen einer expliziten Bevölkerungspolitik waren nicht nur auf zentrale demographische Einschnitte wie etwa Hungersnöte, Seuchen oder den Dreißigjährigen Krieg ausgerichtet. Die bevölkerungspolitischen Maßnahmen hingen auch eng mit der sozialen Vernetzung der beteiligten Akteure, mit politischen Kontexten und institutionellen Abhängigkeiten zusammen. So war es durchaus von Bedeutung, ob frühe bevölkerungswissenschaftliche Denker von ihrem Landesherren angestellt waren, wie Johann Heinrich Justi (ca. 1717–1771), oder von der Kirche, wie Johann Peter Süßmilch (1707–1767).23 Diese Rahmenbedingungen bestimmten nicht nur die Verbreitungswege ihrer Arbeiten, sondern beeinflussten auch ihren Zugang zu entsprechendem Datenmaterial und dessen spätere Interpretationen. Betrachtet man den Bevölkerungsbegriff für das 17. und 18. Jahrhundert, wird deutlich, dass "Bevölkerung" ein wissenschaftliches Konstrukt war, über das die demographischen Verschiebungen auf dem europäischen Kontinent verhandelt wurden. Auch vor der Industrialisierung wechselten sich Diskurse von Unter- und Überbevölkerung ab, wenn sich diese auch sehr differenziert auf einen bestimmten Raum oder einen sozialen Stand bezogen.
Der britische Ökonom Thomas Robert Malthus (1766–1834) gilt als eine der prägendsten Stimmen im öffentlichen und politischen Diskurs über "Bevölkerung". Gegen die aufklärerische Idee von der Fähigkeit der Menschen, sich zu vervollkommnen, argumentierte Malthus in seinem Essay on the Principle of Population (1798), dass Boden und Nahrungsmittel endlich seien und ein ungebremstes Bevölkerungswachstum unweigerlich zu Konflikten um Ressourcen führe. Trotz der schon zu seinen Lebzeiten heftigen Kritik etablierte sich in weiten Teilen Europas ein Denken über den Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Rohstoffen, auf das sich die Vorstellung der drohenden "Überbevölkerung" stützte.24 Die Wahrnehmung, dass der eigene Nationalstaat oder gar ganz Europa für die stetig wachsende Bevölkerung zu klein sei, beförderte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in etlichen europäischen Nationen den Ruf nach territorialer Expansion.
In den 1920er und 1930er Jahren wuchs in vielen europäischen Ländern das wissenschaftliche, insbesondere das historische Interesse an der Zusammensetzung und Entwicklung der Bevölkerung.25 Die aus der Ukraine stammenden Brüder Eugene Kulischer (1881–1956) und Aleksandr Kulischer (1890–1942) beschäftigten sich in der Zeit zwischen den Weltkriegen mit dem Zusammenhang zwischen militärischen und ethnischen Konflikten und (Zwangs-)Migration. Ihre Forschung war wesentlich von der Erfahrung der zahlreichen Bürgerkriege und ethnischen Konflikte geprägt, die zu dieser Zeit in ganz Europa zu beobachten waren.26 Dass die Brüder aufgrund ihrer jüdischen Herkunft selbst zu Verfolgten wurden (Aleksandr starb in einem Konzentrationslager, Eugene floh in die Vereinigten Staaten), verleiht ihrer Forschung doppelte historische Bedeutung.27 Weiterhin prägend für die Zwischenkriegszeit war das Bemühen vieler europäischer Regierungen, die durch Krieg und Wirtschaftskrise geschwächte Bevölkerung mit Hilfe pronatalistischer Maßnahmen zu stärken und so die Position der eigenen Nation zu behaupten.28 Für Demographen bedeutete dieses politische Interesse an Bevölkerungsstatistiken, dass ihre Expertise öffentliche Relevanz gewann und sie als Experten gehört wurden.29
Dass die Theoriebildung über Bevölkerungsentwicklungen und Reproduktionsraten in der Zwischenkriegszeit einen merklichen Aufschwung erlebte, hing auch mit den neuen technischen Erfassungssystemen30 und den technischen Veränderungen in der Datenverarbeitung zusammen.31 Hinzu kamen geopolitische Interessen an Bevölkerungsfragen, die mit der Auflösung der multiethnischen Reiche sowie den Grenzverschiebungen im Zuge des Versailler Vertrages verbunden waren. So bemühten sich etwa deutsche und polnische Bevölkerungswissenschaftler nachzuweisen, dass die in den Grenzregionen zwischen Deutschland und Polen wohnhaften Menschen deutsche beziehungsweise polnische Wurzeln besäßen und die Regionen deshalb der einen oder anderen Nation "gehörten".32 Mit dem Aufkommen faschistischer Bewegungen und Parteien in vielen Ländern Mitteleuropas gewann das Wissen über die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung eine neue, häufig bedrohliche Bedeutung.33 Befördert wurde diese Tendenz durch die Radikalisierung der Eugenik.34 Eugenische Ideen waren bereits seit dem späten 19. Jahrhundert in vielen europäischen Ländern und in ganz unterschiedlichen politischen Kreisen verbreitet. Im Kontext des Faschismus fiel der Eugenik allerdings eine neue, staatstragende Rolle zu. Das "deutsche Volk", das die Nationalsozialisten imaginierten, sollte "rassisch rein" und frei von ideologisch missliebigen Abweichungen sein. Entsprechend wichtig waren demographische Informationen über die Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung. Die nationalsozialistische Aussonderungs- und Vernichtungspolitik, insbesondere in Osteuropa, stellte den brutalen Höhepunkt der (Selbst-)Funktionalisierung der Bevölkerungsforschung dar.35
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die völkisch beziehungsweise nationalistisch aufgeladene Forschung zur Bevölkerungsgeschichte einen wesentlichen Teil ihrer Legitimation eingebüßt.36 Unter dem Eindruck der massenhaften Vertreibungen und Bevölkerungswanderungen während des Zweiten Weltkriegs,37 aber auch im Zuge der europäischen Neuordnung und den sich wandelnden ökonomischen Bedingungen, gewannen hingegen migrationshistorische Bevölkerungsstudien an Relevanz.38 Insbesondere durch den Einfluss der empirischen Sozialforschung, entstanden in den 1950er und 1960er Jahren in vielen westeuropäischen Ländern neue Forschungsansätze.39 Dazu trug auch bei, dass die Durchsetzung und der Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Strukturen in ganz Europa (wenn auch unter unterschiedlichen politischen Voraussetzungen in Ost und West) zunehmend auf demographischen Analysen und Prognosen beruhte.40
In der deutschen Historiographie wurde die historische Demographie in den 1950er und 1960er Jahren als systematisches Forschungsgebiet wichtig.41 In anderen Ländern sind diese Forschungstraditionen älter. So etablierte sich in Frankreich eine stärker auf demographische Probleme ausgerichtete Geschichtsschreibung mit der Annales-Schule, die bis heute besteht.42 In Großbritannien entwickelten E. A. Wrigley (1931–2022) und Peter Laslett (1915–2001) wichtige Ansätze. Die Gründung des "Institut National d'Etudes Démographiques" in Paris und der "Cambridge Group for the History of Population and Social Structure" zeugen zudem von der Institutionalisierung, die die demographische Forschung erfuhr. An ostdeutschen Universitäten, die zum Teil eine in die Zeit vor der Teilung zurückreichende Tradition der Bevölkerungsforschung besaßen, entstanden in den 1970er und 1980er Jahren innovative Arbeiten zur Demographiegeschichte.43
In den 1970er und 1980er Jahren trieben das wachsende Interesse an alltags- und mikrogeschichtlichen Fragestellungen sowie das Entstehen der Historischen Anthropologie die bevölkerungshistorische Forschung an.44 In den 1990er und 2000er Jahren hat die demographiehistorische Forschung in Westeuropa nicht zuletzt unter dem Eindruck der Debatten um den "Bevölkerungsschwund", den demographischen Wandel und die damit verbundene Frage nach der zukünftigen Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme neue Aufmerksamkeit erhalten.45
Grundsätzlich legt die Zahl der in den vergangenen Jahren erschienenen Überblicksdarstellungen zur Bevölkerungsgeschichte und historischen Demographie nahe, dass die Skepsis, die lange Zeit in der Geschichtswissenschaft gegenüber quantitativen Ansätzen vorherrschte, abgenommen hat.46 Neuere historische Studien widmen sich den öffentlichen Debatten über Bevölkerungsentwicklungen und nehmen dabei meist eine kultur- und wissensgeschichtliche Perspektive ein.
Bevölkerung als Konstrukt
Wie dieser kurze Überblick gezeigt hat, war "Bevölkerung" nie ein feststehender Gegenstand, der sich objektiv erfassen ließ, sondern stets ein Konstrukt gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Ideale, Annahmen und Ansätze. Im Folgenden soll dieser konstruierte Charakter auf drei Ebenen untersucht werden: Erstens bezüglich der Instrumente der Bevölkerungserfassung, zweitens mit Blick auf die Prozesse der Identifikation von Raum und Bevölkerung, und drittens soll der Frage nachgegangen werden, ob und auf welche Weise eine dezidiert europäische Vorstellung von Bevölkerung denkbar ist.
Die Instrumente der Bevölkerungserfassung
Die Registrierung
Die Demographie unterscheidet prinzipiell zwischen zwei Formaten zur Datenerhebung. Zum einen kann Datenmaterial durch die Zählung zu einem bestimmten Tag erhoben werden. Diese Bestandszahlen erlauben insbesondere diachrone Vergleiche. Zum anderen können Bevölkerungsdaten als Bewegungsdaten erfasst werden, also durch die vitalstatistische Registrierung einschneidender Lebensereignisse wie Geburt und Tod, aber auch Taufe, Eheschließung, Geburt der Kinder etc.
Aus heutiger Perspektive nehmen wir diese Form der Registrierung schnell als staatlich hoheitliche Funktion wahr, die etwa in engem Zusammenhang mit Fragen von Nationalität und Staatsbürgerschaft verstanden und betrachtet wird.47 Ohne jeden Zweifel sind die staatliche Administration und ihre Entscheidungsspielräume für die Registrierung des Individuums über das 19. und das 20. Jahrhundert immer wichtiger geworden. 48 Dies gilt umso mehr in Fragen der Migration.49 Je weiter man jedoch in die Frühe Neuzeit zurückschaut, desto schwächer wird diese Verbindung zwischen Registrierung und staatlicher Herrschaft. Die Erhebung von Vital- und Wohndaten der Bevölkerung wurde häufig von Kirchengemeinden oder lokalen und regionalen Grundherren vollzogen. Somit entstand nur punktuell und in Hinblick auf wenige Aspekte das Bild einer "Bevölkerung". Bis heute bestimmen dieses Zahlenmaterial und vor allem die methodischen Schwierigkeiten seiner Rekonstruktion wesentlich die historische Sicht auf die Bevölkerung. Für weite Teile der Frühen Neuzeit sind Kirchenbücher, Steuerlisten, Stadtbücher oder Huldigungsrollen die einzigen Materialien, aus denen die reale Menge der Bewohner eines Gebietes mühsam extrapoliert werden kann.50
Wann und wo Individuen registriert werden, sagt viel aus über Anspruch und Realität der Herrschaft. Der Begriff der Bevölkerung kann und muss hier in einem Foucault'schen Sinne auch als Machtinstrument verstanden werden.51 Die Tatsache, dass etwa in Großbritannien der Bereich der vital statistics weit prägender gewesen ist als in vielen anderen europäischen Nationen, spiegelt auch einen anderen Anspruch des Staates gegenüber seinem Bürger wider.52
Die Volkszählung
Die Möglichkeit, die Menge von Individuen auf einem bestimmten Territorium zählend zu erfassen, ist konstitutiv für unser Verständnis staatlich-souveräner Herrschaftsausübung. Benedict Anderson (1936–2015) betrachtet die Volkszählung neben der Kartographie und dem Museum als Charakteristikum staatlicher Gewalt im kolonialen Staatswesen. Für entscheidend hält er dabei die einheitliche und vor allem eindeutige Identifikation von Individuen. Die grundlegende Neuerung in diesem Prinzip staatlicher Herrschaft allerdings bestand Anderson zufolge weniger in der Formulierung von Kategorien biologischer oder sozialer Differenz, die in Europa durchaus auf eine lange Tradition zurückblicken konnten, sondern vielmehr in der eindeutigen Zuordnung jedes Einzelnen. Soviel Freiheit ein demokratisches Staatswesen auch dem Individuum und seinen Bedürfnissen entgegenbringen könne, ginge es am Ende doch um einheitliche Identifikation. Anders gesagt: Die Bevölkerung kann nur in homogenen Kategorien gezählt werden. Es ist in dieser Logik undenkbar, ein Individuum als Bewohner zweier Orte, als Angehörigen zweier Geschlechter oder als Teil verschiedener Ethnien zu erfassen. Die Komplexität realer Situationen wird damit zugunsten der Eindeutigkeiten verkürzt.53
Das historiographische Narrativ geht davon aus, dass die Verwaltungen der Vormoderne einen funktionalen Zugang zur Zählung der Bevölkerung besaßen; als Zweck früherer Zählungen gilt oft die Erfassung der Steuerpflichtigen und der Wehrpflichtigen.54 Auch wenn frühe kameralistische Vordenker der Statistik, wie etwa Johann Peter Süßmilch, die großen Zahlen als Ausdruck nationaler Stärke verstanden,55 sollte die Verbindung der gezählten Bevölkerung mit dem Nationsbildungsprozess mit Vorsicht betrachtet werden. Die Institutionen von Wehr- und Steuerpflicht entwickelten sich selbst als Teile des modernen europäischen Nationalstaatswesens, das erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts durchgesetzt wurde. Die Definition nationaler Stärke kann schon deswegen nicht als Hauptauslöser für die Zählung der Bevölkerung verstanden werden, da es bis weit in das 19. Jahrhundert hinein in vielen europäischen Ländern keine allgemeine Wehrpflicht gab.56 Auch die Forschung zur Frühen Neuzeit zeigt, dass die Größe der Armee meist Ausdruck fiskalpolitischer Leistung, nicht aber der Bevölkerungsgröße war.57 Die direkte Korrelation von Bevölkerungs- zu Armeegröße gehörte eher ins 20. Jahrhundert als in die Zeit entstehender "nationaler Bevölkerungen" bis ins frühe 19. Jahrhundert.58 Zu vermuten ist also ein sehr viel komplexerer Zusammenhang zwischen dem Begriff der Bevölkerung und dem Konzept moderner Staatlichkeit, in dem sich die verschiedenen Institutionen eines modernen europäischen Staatswesens gegenseitig bedingten. Die Idee wehr- oder steuerpflichtige Bevölkerungen vollständig zu erfassen, kann man auch als Folge, nicht nur als Auslöser des Zensus verstehen. Grundsätzlich war die Entstehung der demographischen Forschung eng mit der Entwicklung der statistischen Möglichkeiten verbunden, die wiederum als treibende Kraft wie auch als Ausdruck moderner Staatsbildungsprozesse aufgefasst werden können.59 Der achte internationale Statistische Kongress von St. Petersburg im Jahr 1872, sorgte dafür, dass die Bevölkerungszählung professionell betrieben wurde. Die Teilnehmer des Kongresses formulierten eine Liste von Fragen, die in jedem Zensus enthalten sein sollten (Vor- und Zunamen, Geschlecht, Alter, Familienzugehörigkeit, Zivilstand, Beruf oder Beschäftigung, Religion, Sprache, Lese- und Schreibfähigkeit, Herkunft, Geburtsort und Staatsangehörigkeit, Wohnort und Art des Aufenthalts am Zählungstag, Krankheiten). Weiterhin empfahlen die Mitglieder des Petersburger Kongresses den Nationalstaaten, Bevölkerungszählungen im Abstand von zehn Jahren durchzuführen.60 Häufig dienten solche festen Strukturen als Auslöser für darauf aufbauende staatliche Interventionen. Hierdurch werden auch überkommene Chronologien und zeitliche Ordnungen in Frage gestellt. In Russland bzw. der Sowjetunion folgte die Erfassung der Bevölkerung auch über 1917 hinaus dem kontinuierlichen Ablauf; die Interventionskulturen des neuen Regimes passten sich nur langsam an.61 Die historische Forschung muss also nicht nur die Wirkung von Zählung und Kategorisierung der Bevölkerung,62 sondern auch deren Funktion im Spektrum politischer Handlungen berücksichtigen.
Prozesse der Identifikation von Raum und Bevölkerung
Um das Konzept "Bevölkerung" historisch zu untersuchen, ist es wichtig, die unterschiedlichen Erfassungsmethoden und ihre historischen Dimension zu beachten. Sie verdeutlichen nicht nur den konstruierten Charakter des Wissensobjektes "Bevölkerung", sondern geben auch Einblick in den Produktionsprozess dieses Objekts. Libby Schweber (geb. 1958) hat darauf hingewiesen, dass es über lange Zeit im 19. Jahrhundert kein einheitliches Bild der "Demographie" gab.63 Stattdessen verhandelten und stritten ganz verschiedene Gruppen, die häufig nicht aus einem universitären oder akademischen Kontext kamen, über das Konzept.
Bevölkerung lässt sich nicht nur auf eine Nation beziehen. Zwar erscheint uns die Gleichsetzung von Bevölkerung und Nation heute selbstverständlich, doch finden sich in der Geschichte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Bevölkerungsfragen auch Alternativen und Bruchstellen, die erkennen lassen, wie es zur Gleichsetzung von nationalem Raum und Bevölkerung kam. Drei dieser Punkte sollen hier kurz skizziert werden:
Bevölkerung und Region
Die wissenschaftliche Durchdringung des Bevölkerungsbegriffs in Europa ist eng mit der Institutionalisierung von Bevölkerungsstatistiken und der Gründungsbewegung der statistischen Ämter verwoben.64 Diese Geschichte ist keine reine Nationalgeschichte – auch wenn im Verlauf des 20. Jahrhunderts nationale statistische Ämter zu den wichtigsten Orten und Strukturelementen im Wirrwarr statistischer Werte wurden.65 Die Gründung statistischer Institutionen wurde zunächst stark von den napoleonischen Reformen in den verschiedenen Ländern Europas geprägt.66 Ian Hacking (1936–2023) hat gezeigt, wie sehr die Vision vieler Statistiker am Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem darauf ausgerichtet war, lokale und regionale Wissensstrukturen zu schaffen. So formulierte noch Mitte des 19. Jahrhunderts der Leiter des Königlich Preußischen Statischen Bureaus, Ernst Engel (1821–1896), das Ziel, dass jede Stadt und jede Region über ein solches Amt verfügen und Bevölkerung somit als lokale Entität definiert werden solle.67
In Italien beförderten gerade diese regionalen Institutionen die Nation avant la lettre schon Jahrzehnte vor der Vereinigung des italienischen Königreichs.68 Indem man die Kategorie der "Italiener" formulierte, unterschiedliche Regionen verglich, die man für zugehörig zu einer künftigen italienischen Nation hielt, aber auch den personellen Austausch ermöglichte, entstanden Netzwerke und epistemische Strukturen. Der Enthusiasmus für die demographischen Zahlen nahm allerdings nach der Gründung der italienischen Nation stark ab, denn die internationale Vergleichbarkeit der künftig auch offiziell erhobenen Daten zeigte in vielen Bereichen – etwa der Schulbildung und Alphabetisierung – die relative "Rückständigkeit" der "nationalen" Bevölkerung.69 Die Divergenz zwischen dem industrialisierten Norden und dem armen Süden brach gerade mit Blick auf die Statistik wieder auf.
In der europäischen Geschichte gibt es verschiedene Beispiele, an denen das Spannungsverhältnis von regionalen und nationalen Bevölkerungsdefinitionen erkennbar wird. Je nach historisch-politischem Kontext konnten sich die beiden Perspektiven gegenseitig bestärken oder auch miteinander konkurrieren. Die Bevölkerungsstatistik bot dabei gerade auch urbanen bürgerlichen Eliten ein Identifikationspotential, denn die statistischen Kategorien lieferten häufig erst das semantische Raster, in dem Fortschrittlichkeit und Moderne ausgedrückt werden konnten. Zugleich bot genau dieser Umstand Konfliktpotential, denn diese Kategorien konnten regionale Identitätsbildungen rasch verstärken. So diente ab den 1920er Jahren der Versuch, die baskische Sprache durch ein eigenes Institut statistisch zu erfassen und zu untersuchen, auch für die National- und Unabhängigkeitsbewegung im Baskenland als Stütze.70
Doch nicht in allen Fällen gelang es Vertretern von Minderheiten, mit Hilfe statistischer Erhebungen ihre Belange so effektiv zu vertreten. Die europäische Geschichte enthält zahlreiche Beispiele, in denen ethnische, konfessionelle oder andere Minderheiten in den Statistiken "übersehen" oder offensiv ausgeschlossen wurden. So tauchten etwa in den ersten schwedischen Bevölkerungsstatistiken aus dem 17. Jahrhundert die Sami, die nomadische Bevölkerung Schwedens, nicht als eigene Gruppe auf, wurden aber als "Lappen" mitgezählt. Damit verbunden war das staatliche Interesse an der Christianisierung der Region Lappland. Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die Sami als eigene demographische Gruppe aufgeführt, weil sich Schweden zusätzliche Steuereinnahmen von der samischen Bevölkerung erhoffte und aus kameralistischen Gründen Interesse an einer möglichst großen Bevölkerungszahl hatte. Allerdings lässt sich das Interesse der schwedischen Regierung nicht allein ökonomisch interpretieren: In der statistischen Tabelle wurden die Sami in einer Reihe mit "Gefangenen" und "Armen" geführt – ein Hinweis darauf, dass sie nicht als gleichwertige Bewohner des Territoriums galten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die Sami mit "Juden" und "Zigeunern" gleichgesetzt.71 Ethnizität prägte hier in einer "kolonialen" Logik den qualitativen Blick auf die eigene Bevölkerung und damit auch die Konstruktion dessen, was "Bevölkerung" zu verschiedenen Zeiten bedeutete.72
(Post-)Koloniale Perspektiven
Besonders in der Zeit des Kolonialismus wurden ethnische Kategorien in der Wahrnehmung bzw. zur Darstellung von "Bevölkerung" verwendet. Die koloniale Dimension demographischen Denkens bildet zugleich ein Schlüsselthema und einen Sonderfall. Benedict Anderson sieht in der Volkszählung in den europäischen Kolonien und ihrem Prinzip, das Individuum auf diskriminierende Weise zu kategorisieren, den Ursprung der kollektiven nationalen Identitätsfindung.73 Koloniale Wissenspraktiken beeinflussten zudem die Wissensordnungen in den europäischen Ländern und die Definition von Andersartigkeit.74
Jenseits dieser postkolonialen Perspektive auf eine koloniale Machtsituation fällt es der historischen Forschung bis heute schwer, die Kolonien in die Geschichte europäischer Bevölkerungskonzeptionen adäquat zu integrieren.75 Einen wesentlichen Grund dafür stellt die Tatsache dar, dass "koloniale" Bevölkerungsfragen meist nicht in den gleichen institutionellen Strukturen diskutiert wurden wie jene der europäischen Ursprungsländer. Koloniales Zahlenmaterial wurde etwa im Deutschen Reich nicht von den statischen Büros, sondern entsprechend der jeweiligen Verwaltungspraktiken in den Kolonien erhoben. So wurden Statistiken vom Reichskolonialamt, von den Kolonialgesellschaften und vom Militär geführt. Hinzu kommt, dass entsprechende Zahlen aus den Kolonien bis nach dem Ersten Weltkrieg wenn überhaupt nur sehr lückenhaft vorlagen und sich zudem meist nur auf Siedlergruppen aus Europa bezogen.76 Allerdings konnten gerade diese mangelnden Kenntnisse über die Verhältnisse vor Ort und die schwache Institutionalisierung dazu führen, dass die Kolonialverwaltungen zusammenarbeiteten. So benutzten Mediziner etwa regelmäßig Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken aus anderen Ländern, wenn entsprechendes Material aus den Kolonien ihres Landes nicht zur Verfügung stand.
Die koloniale Perspektive auf die Bevölkerung in Übersee war, nach Partha Chatterjee (geb. 1947), von "the rule of colonial difference" geprägt: Grundsätzlich erkannte man Entwicklungsmöglichkeiten an, die jedoch auf die weite Zukunft projiziert wurden. Daneben betonte man die reale Differenz, die als einflussreiches Dispositiv kolonialer Macht gerade durch anthropologische und demographische Diskurse immer wieder reproduziert wurde.77 Obwohl koloniale Bevölkerungen nicht im heutigen Sinne Gegenstand demographischer Forschung und statistischer Erfassung waren, wurden sie nicht ganz ausgespart. Als Alfred Leber (1881–1954) und Ludwig Külz (1875–1938) 1913/1914 eine "Medicinisch-Demographische Expedition" nach Deutsch-Neuguinea vornahmen, um die Gründe überdurchschnittlicher Sterblichkeit zu erforschen und diese zu bekämpfen, kam diese Ambiguität von Differenz und Nähe zu einem europäischen Bevölkerungsdiskurs deutlich zum Ausdruck. Kurze Zeit zuvor hatte der Reeder Eduard Woermann (1863–1920) ein Preisausschreiben mit folgender Aufgabe lanciert:
Durch welche praktischen Maßnahmen ist in unseren Kolonien eine Steigerung der Geburtenhäufigkeit und Herabsetzung der Kindersterblichkeit bei der eingeborenen Bevölkerung – dem wirtschaftlich wertvollsten Aktivum unserer Kolonien – zu erreichen.78
Bei derartigen Unternehmungen ging es darum, den kolonialen Bevölkerungsteilen die Fortschritte eines modernen öffentlichen Gesundheitswesens zugänglich zu machen. Doch zugleich verstärkten solche Ansätze die Wahrnehmung einer grundlegenden Differenz zwischen einer europäischen und einer kolonialen Bevölkerung. So war es der Tropenmediziner und Kolonialarzt Külz, der in der deutschen Kolonie Togo einige Jahre zuvor die strikte Trennung von "schwarzer" und "weißer" Bevölkerung im Namen einer verbesserten Gesundheitsfürsorge durchgesetzt hatte.79 Solche diskriminierenden Praktiken wirkten nachhaltig und wurden häufig im Prozess der Dekolonisierung von lokalen Eliten aufgegriffen.80
Bestrebungen zur Dekolonisation und die Internationalisierung des kolonialen Diskurses übten in der Zwischenkriegszeit auch Einfluss auf den Begriff der Bevölkerung aus. Einige europäische Demographen beschäftigten sich mit den demographischen Veränderungen in den Kolonien – auch im Rahmen neuentstehender internationaler Organisationen – und entwickelten damit ein wichtiges neues Betätigungsfeld.81
Transnationalismus
Seit die Geschichte des Denkens "in großen Zahlen" geschrieben wird,82 arbeitet sich die historische Literatur an der Gleichzeitigkeit scheinbarer Gegensätze ab: Der augenscheinlichen Bedeutung des Nationalen und der tief eingeflochtenen Transnationalität der statistischen Schulen. So führte schon Ian Hacking in seiner Untersuchung zum 19. Jahrhundert die grundlegenden methodischen Unterschiede etwa zwischen französischer und preußischer statistischer Tradition an, schloss daraus aber gleichzeitig auf die gemeinsame Zukunftsaussicht, die die Statistiker vieler europäischer Länder verband: "Eine internationale Vision der Statistik als höhere Bestimmung, einer reinen Wissenschaft, die mit numerischen Fakten über den Bürger arbeitete."83 Die Konzeptualisierung von "Bevölkerung" wird hier analysierbar in Abhängigkeit von den Praktiken der damit verbundenen Akteure, von den sprachlichen Vermittlungs- und Übersetzungsprozessen. Diese Verflechtung von statistischen Schulen beschränkte sich bei weitem nicht nur auf einen diffusen Raum geteilter Diskurse. Vielmehr basierte sie auf oftmals sehr konkreten Institutionalisierungsprozessen auf internationaler Ebene. Gerade vor dem Hintergrund einer eher schwachen akademischen Verankerung in den meisten europäischen Ländern war eine solche transnationale Vernetzung ein vitales Interesse vieler Wissenschaftler.84
In den einzelnen europäischen Ländern hatten demographische Wissenschaften über das 19. Jahrhundert einen sehr unterschiedlichen Status im akademischen und politischen Diskurs erlangt.85 In dieser Hinsicht spielte die Geschichte der Internationalen Kongresse für Statistik und später der Internationalen Kongresse für Demographie und Hygiene eine entscheidende Rolle. Auf den Kongressen wurde es möglich, mangelnde akademische Anerkennung im eigenen Land zu kompensieren und in methodischen Fragen Erfahrungen auszutauschen,86 auch wenn dies nicht notwendig zu einheitlichen Vorstellungen von Demographie führte.87
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde die transnationale Dimension für die Konzepte von Bevölkerung zunehmend wichtig. Einen besonderen Höhepunkt und gleichzeitig ihre wohl stärkste Politisierung erlangte die transnationale Ebene im Konzept der "Weltbevölkerung" in den 1960er und 1970er Jahren. Dieses Konzept geriet in den teils neomalthusianisch (also von der Angst einer nicht zu bändigenden Bevölkerungsexplosion) geprägten Debatten um Umweltzerstörung, Raubbau und rapides Bevölkerungswachstum zu einer Metapher politischen Handelns im Sinne der "Nachhaltigkeit". Es lässt sich zudem als Ergebnis einer Internationalisierung im Rahmen neuer überstaatlicher Organisationen begreifen.88 Der Begriff der Weltbevölkerung wurde stets mit interventionistischen Regulierungskonzepten verbunden. Die Forschung der letzten Jahre hat allerdings wesentlich dazu beigetragen, die Rede von einer "Weltbevölkerung" als das Ergebnis politischer und wissenschaftlicher Aushandlungsprozesse zu verdeutlichen, die von sozial klar zu bestimmenden personellen Netzwerken getragen werden.89 Die Tatsache, dass diese Netzwerke als transnational, also grenzüberschreitend, gelten können, heißt insofern keineswegs, dass ein Konzept wie das der "Weltbevölkerung" als international oder gar global zu verstehen wäre.
Verwobene Chronologien: Europäische "Bevölkerung" im Spannungsfeld zwischen historischer Analyse und normativer Festschreibung
Obwohl in den letzten Jahren in vielen europäischen Ländern das Thema "Bevölkerung" auf der politischen Agenda wieder weit nach oben gerückt ist, bedeutet dies nicht, dass die demographischen Entwicklungen oder gar die Ansätze zur Bevölkerungspolitik in Europa in eine einheitliche Richtung gingen. In dieser Hinsicht ist Europa also keinesfalls als Zielbegriff für konvergierende Entwicklungen zu verstehen. 90
Der Gegenstand der Bevölkerung kann – dies lässt sich aus dem bisher Gesagten zusammenfassen – ohne das Wissen über Bevölkerung nicht verstanden werden. Alltägliche Erfahrungen oder soziale Krisen formen die Wahrnehmung des "demographischen Wandels" oder die Bewertung der "Migrationsgesellschaft" und tragen damit wesentlich dazu bei, das Wissen über Bevölkerung zu konzeptualisieren. Anders gesagt: Die Kategorien, mit deren Hilfe die Demographie Bevölkerung erfasst, und die Diskurse und Erfahrungen, die die Produzenten dieser Wissenskategorien machen, beeinflussen sich gegenseitig.
Dies wird besonders anhand der Theorie des Demographischen Übergangs deutlich, die seit den späten 1920er Jahren entwickelt und Ende der 1940er Jahren vervollständigt wurde. Diese Theorie beschreibt – grob gesagt – ein einheitliches Muster, nach dem Gesellschaften auf dem Weg in "die Moderne" eine Phase hoher Geburtenraten bei niedriger Lebenserwartung durchlaufen, die zu einer Phase sinkender Sterblichkeit bei gleichbleibend hohen Geburtenraten führt und in einer Phase niedriger Geburtenraten bei hoher Lebenserwartung endet. In diesem Modell enthalten ist eine "transitorische" Phase hoher "Überbevölkerung" in der Phase der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen "Modernisierung". Die Geschichte des Konzepts ist eng mit der Modernisierungstheorie verwoben91 und bringt individuelle Reproduktionshandlungen mit der gesamtgesellschaftlichen sozioökonomischen Entwicklung in Zusammenhang.
Von einem vermeintlich europäischen Muster ausgehend diente die Transitionstheorie ab den 1950er Jahren dazu, die "Rückständigkeit" in anderen Teilen der Welt zu beschreiben und zu erklären. An dieser Stelle kann nicht auf die vielfältigen Kritikpunkte eingegangen werden, die dieser Begriff in der Zwischenzeit hervorgerufen hat. Festzuhalten ist jedoch, dass der Begriff und die damit zusammenhängende Modernisierungstheorie nicht nur politische Programme, sondern auch geistes- und sozialwissenschaftliche Heuristiken tief geprägt haben. Bis heute fällt es gerade der Sozialgeschichte schwer, den Begriff der Bevölkerung vollständig zu historisieren,92 weil er fester Teil des Instrumentariums zur historischen Beschreibung europäischer Gesellschaften ist. Hier lässt sich ein Nebeneinander einer beschreibenden und einer normativen Ebene ausmachen, die sich immer dann verzahnen, wenn sozial- und geisteswissenschaftliche Forschungen auf Zahlen- und Datenmaterial zurückgreifen oder wenn diese Forschungen mit Konzepten von "Moderne" operieren, die implizit auch auf dem Begriff der Bevölkerungsentwicklung aufbauen.93 Auch eine wissenshistorische Betrachtung der Konzepte von Bevölkerung kann diesen Widerspruch nicht ganz vermeiden.
Die Gleichzeitigkeit von analytischer und normativer Dimension, die dem Begriff der Bevölkerung innewohnt, bestimmt auch das besondere Spannungsverhältnis zwischen "Bevölkerung" und "europäischer Geschichte". Statistik und insbesondere Bevölkerungsstatistik sind konstitutiv für ein modernes Staatsverständnis. "Bevölkerung" ist damit nicht nur wesentlich auf die Kategorie der Nation bezogen, sondern bringt diese gleichzeitig hervor. Dies gilt bis heute. Es gibt weder eine genuin europäische demographische Entwicklung, noch gibt es ein konvergierendes europäisches Sozialmodell, das als Grundlage für gemeinsame bevölkerungspolitische Agenden dienen könnte. Verwendet man "Europa" aber als offenen, mehrdeutigen Begriff, der im Prozess konkurrierender Wissensordnungen entsteht,94 kann die Geschichte von Bevölkerung und Bevölkerungswissen zur Erweiterung dieses Begriffs beitragen. Bevölkerung bietet in diesem Sinne die Gelegenheit, auch Gegenbewegungen und Widerstände in das Narrativ der Europäisierung zu integrieren95 und die Dimensionen von Erfahrung und Erwartung produktiv einzubauen. Mangelnde soziale Konvergenz lässt somit nicht automatisch auf diskursive Divergenz rückschließen. Gerade gemeinsame Ängste vor Depopulation, vor kollabierenden Sozialsystemen, aber auch vor den Folgen steigender Zuwanderung bieten übergreifende Analyseperspektiven, in denen zumindest für die Formulierung gesellschaftlicher Krisenszenarien eine intensive transnationale Dimension erkennbar wird. Über Bevölkerung nachzudenken hat somit durchaus eine sehr spezifisch europäische Dimension, in der historische Verbindungen gerade dort sichtbar werden können, wo Entwicklungen nicht parallel verlaufen.
Schlussbemerkung
Bevölkerung ist in der europäischen Geschichte kein selbstverständlicher oder selbsterklärender Begriff. Wenn wir "Bevölkerung" als einen sozialwissenschaftlichen Schlüsselbegriff zur Beschreibung moderner Gesellschaften verwenden, verdeckt dies allzu leicht, dass der Begriff eine Geschichte hat, durch die sich verschiedene Bedeutungen und Erwartungen, Normen und Positionen mit dem Verständnis von "Bevölkerung" verbinden. In seiner Historizität kann der Begriff nur im Spannungsverhältnis zwischen sozialen Dynamiken und der wissenshistorischen Dimension erfasst werden. Entsprechend müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass der Begriff dessen, was "Bevölkerung" bedeutet und welche Notwendigkeiten und Möglichkeiten sich daraus ergeben, nicht statisch festgelegt ist, sondern je nach historischer Situation variiert.
Dieser Beitrag hat sich in erster Linie mit den "Produktionszusammenhängen" auseinandergesetzt, die die Bedeutung des Bevölkerungsbegriffs heute bestimmen. Im Verlauf der letzten fünfhundert Jahre hat sich deutlich abgezeichnet, dass demographische Konzepte nicht als bloße Reaktion auf demographische Verschiebungen verstanden werden können. Wissenschaftliche communities, die sich mit Bevölkerungsfragen beschäftigten, verfügten über Handlungs- und Interpretationsspielräume, aber auch der Zugang zu Ressourcen und Statistiken prägte ihr Vorgehen. Folglich können demographische Konzepte nur in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit von der entsprechenden Forschungsinfrastruktur gedacht werden. Hier bilden die Demographie und das Bevölkerungswissen keineswegs Ausnahmen in der Wissensgeschichte; die Tatsache allerdings, dass das verwendete Zahlenmaterial meist nicht durch die Eigenleistung eines einzelnen Forschers, eines Labors oder auch eines ganzen Forschungsinstituts erhoben werden konnte, sondern meist Ergebnis hoheitlicher Akte ist (individuelle Registrierung, Volkszählung), setzte die Wissenschaft in ein besonderes Verhältnis zu politischen Kontexten und Diskursen. In mehreren Bereichen lässt sich hier eine wechselseitige Bedingtheit erkennen, die die demographischen Heuristiken tief prägte.
Dieses spezifische Verhältnis sollte allerdings nicht bedeuten, dass der Begriff der Bevölkerung unauflöslich mit dem Begriff des Nationalstaats verbunden war. Konkurrierende Deutungsmuster zum dominanten Bevölkerungsverständnis existierten in großer Zahl auf regionaler und transnationaler Ebene. Koloniale Erfahrungen trugen dazu bei, dass die Kategorisierung des Individuums neu verhandelt wurde, eröffneten aber auch Schnittmengen mit anderen, insbesondere medizinischen Wissensbeständen. Dies prägte den Erfahrungshintergrund des demographischen Wissensdiskurses und eröffnete neben der Nation immer auch andere Deutungshorizonte. In diesem Sinne ist das starke Wechselverhältnis zwischen dem Begriff und der europäischen Geschichte zu verstehen. Zwar gibt es nicht den europäischen Bevölkerungsbegriff, doch ohne die wechselseitige Verflechtung wissenschaftlicher Begrifflichkeiten wäre die heutige Mehrdeutigkeit von "Bevölkerung", nicht zu verstehen.