Einleitung
Historiker haben das Breve Dominus ac Redemptor vom Juli 1773 zu Recht als bedeutendes kirchengeschichtliches Ereignis interpretiert. Die Leser der zeitgenössischen Presse dürfte der Erlass allerdings kaum überrascht haben. Die meisten hatten einen derartigen Beschluss schon lange erhofft oder befürchtet.1 Tatsächlich löste das päpstliche Breve in den zeitgenössischen Medien keine größere Kontroverse mehr aus. Besonders deutlich wird dies, wenn man die Reaktionen mit dem Medienspektakel vergleicht, das auf die ersten Nachrichten von der Vertreibung der Jesuiten aus Portugal fünfzehn Jahre zuvor gefolgt war. Die Ausweisung des Ordens hatte damals zu einer Fülle von Zeitungsartikeln, neuen Zeitschriften, satirischen Bildern, Druckschriften und Flugblättern, Dokumentensammlungen sowie umfangreichen Abhandlungen geführt. Als Portugals Minister Sebastião José de Carvalho e Melo (1699–1782), der spätere Marquês de Pombal, im Jahr 1759 seine Offensive gegen die damals wohl mächtigste christliche Ordensgemeinschaft begann, war das Echo in ganz Europa zu vernehmen, sowohl in den katholischen als auch in protestantischen Staaten. Das folgenschwere Ereignis inspirierte Journalisten, Autoren und Übersetzer, Grafiker, Anthologen und Redakteure zu Stellungnahmen und setzte so eine transnationale Debatte in Gang, die sich schnell zu einer erbitterten Auseinandersetzung um grundlegende Staats-, Gesellschafts- und Religionskonzepte entwickelte. Da sich die "neuesten Nachrichten" zum Thema an ein relativ breites, interessiertes Publikum richteten, zeugt diese Debatte von der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit, die über die sozialen Grenzen der Res publica litterarum und der Salons hinausreichte. Darüber hinaus zeigt die Debatte, wie ein bedeutendes Medienereignis im frühneuzeitlichen Europa als wichtiger Katalysator für den Ideen- und Diskurstransfer fungieren konnte.2 Die Polarisierung der Öffentlichkeit im Zeitalter der Aufklärung und der Schlagabtausch zwischen verfeindeten Gruppen wie den philosophes, den Jansenisten und den Jesuiten können daher auch als Ergebnis von Transferprozessen angesehen werden, die durch transnationale Medienereignisse ausgelöst wurden.
Ebenso wie die Zerschlagung selbst, war auch das Medienereignis durch verschiedene Phasen geprägt, die jeweils ihre eigene Charakteristik und transnationale Dynamik aufwiesen. Am Anfang stand eine Nachricht, die auf den ersten Blick nichts mit der Gesellschaft Jesu zu tun hatte. Im Januar 1759 gab der portugiesische Hof bekannt, dass im September 1758 ein Mordanschlag auf König Joseph I. (1714–1777) verübt worden war, eine von der portugiesischen Regierung über Monate hinweg verschwiegene Angelegenheit. Die europäische Öffentlichkeit reagierte geschockt auf den versuchten Königsmord, den zweiten innerhalb relativ kurzer Zeit nach einem ebenfalls gescheiterten Attentat auf den französischen König Ludwig XV. (1710–1774) im Januar 1757.3 Schon bald gab es jedoch Gerüchte, nach denen die Jesuiten in die Angelegenheit verwickelt gewesen seien. Der Konsens, der sich unmittelbar nach Bekanntgabe der Neuigkeit in der europäischen Presse herausgebildet hatte, verschwand daraufhin sofort. Die Nachricht vom Attentat auf den portugiesischen König verlor an Bedeutung und wurde nun durch eine Kontroverse ersetzt, in deren Mittelpunkt die Jesuiten standen. Im September 1759 verwiesen der portugiesische König und sein Minister Pombal die Jesuiten des Landes. Die Begründung lautete, die Jesuiten hätten den Anschlag auf das Leben des Königs theologisch gerechtfertigt und sogar selbst angezettelt, um von einem Aufstand in Südamerika abzulenken. Dort nämlich hätten sie Kronland in Besitz genommen und eine unabhängige "Jesuitenrepublik" errichtet.4 Diese erste Phase des Medienereignisses dauerte bis 1761, als eine Finanzaffäre in den karibischen Besitzungen Frankreichs, in deren Mittelpunkt der Jesuitenmissionar Pater Lavalette stand, den Blickpunkt des öffentlichen Interesses von Portugal nach Frankreich verlagerte. Die obersten Gerichtshöfe in Frankreich ließen sich vom Beispiel Portugals inspirieren und nutzten die Lavalette-Affäre für eine Kampagne gegen den französischen Zweig des Ordens. Die Lehren der Gesellschaft Jesu wurden als aufrührerisch bezeichnet, und 1761/1762 erklärten die Magistrate (sehr zum Missfallen des Königs), dass die Satzungen des Ordens den Gesetzen und Bräuchen des Königreichs widersprächen. Die Jesuitenschulen wurden geschlossen und die Patres gezwungen, sich entweder von ihren religiösen Gelübden loszusagen oder das Königreich zu verlassen. Ludwig XV. konnte die Entscheidungen der parlements nur aufschieben und musste das Verbot 1764 bestätigen.5 Damit hatte die Gesellschaft Jesu zwei ihrer bedeutendsten Ordenszweige verloren. Für Zeitungsleser war klar, dass sich die repressiven Akte gegen die Jesuiten häuften und womöglich einem Höhepunkt zustrebten. Die dritte und letzte Phase des Medienereignisses setzte 1766 mit der Ausweisung der Patres aus Spanien und den spanischen Kolonien ein.6 Daraufhin setzte sich allgemein die Ansicht durch, dass der Fortbestand der Gesellschaft Jesu an sich gefährdet sei, eine Vermutung, die durch die Verbannung der Jesuiten aus Neapel und Parma in den Jahren 1767 und 1768 weitere Nahrung erhielt und sich 1773 mit dem Erlass des Breve Dominus ac Redemptor durch Papst Clemens XIV. (1705–1774) bewahrheitete.
Die erste Phase: Pombals Kampagne und das antijesuitische Netzwerk
Die erste Phase des Medienereignisses war durch die bemerkenswerte publizistische Offensive des Marquês de Pombal geprägt. Um sein hartes Vorgehen gegen die Patres zu rechtfertigen, sorgte der Minister dafür, dass alle offiziellen Dokumente, die sich mit den Jesuiten befassten, an die Öffentlichkeit gelangten. Zu diesen Dokumenten gehörte auch das Urteil des zur Untersuchung des Attentatsversuchs gebildeten Sondertribunals. Obwohl dieses Urteil sich nicht direkt auf die Jesuiten bezog, wurden darin doch die Patres Malagrida, Matos und Alexander schwer belastet.7 Weitere wichtige Dokumente waren: eine Verordnung, in der die Lehre vom Tyrannenmord als unmoralisch und aufrührerisch verdammt und der Eindruck erweckt wurde, die Jesuiten hätten diese Lehre unter den Untertanen des Königs verbreitet;8 das königliche Edikt vom September 1759, das alle portugiesischen Jesuiten des kollektiven Hochverrats beschuldigte und ihre Ausweisung anordnete9 und schließlich das 1761 verkündete Urteil der portugiesischen Inquisition gegen den Jesuitenpater Gabriele Malagrida (1689–1761), in dem dieser der Ketzerei für schuldig befunden und zur Hinrichtung in einem Autodafé verurteilt wurde.10
Die Veröffentlichung dieser offiziellen Dokumente provozierte eine Flut von Nachdrucken, Übersetzungen, Bearbeitungen und Gegenschriften in ganz Europa.11 Zeitungsredakteure füllten Ausgabe um Ausgabe mit Berichten zum Stand der portugiesischen Affäre und veröffentlichten Auszüge aus den offiziellen Dokumenten. In Bilddrucken wurden die von der portugiesischen Regierung zur Untermauerung ihrer Anschuldigungen benutzten antijesuitischen Stereotypen visuell umgesetzt. Anonyme Autoren in Frankreich, Italien, den Niederlanden und Deutschland diskutierten die Angelegenheit in Flugschriften und ergriffen Partei für oder gegen die Gesellschaft Jesu. In historischen Abhandlungen wurde versucht, weitere Beweise für die Schuld des Ordens zu erbringen oder das Engagement der Jesuiten in den portugiesischen Kolonien zu rechtfertigen. Nur wenige Monate nachdem die ersten Nachrichten von dem Attentatsversuch an die Öffentlichkeit gedrungen waren, hatte das Medienereignis bereits seinen ersten Höhepunkt erreicht.
Die Kampagne der portugiesischen Regierung zur Diskreditierung der Jesuiten war in ganz Europa äußerst erfolgreich. Dies wurde lange auf Pombals propagandistisches Geschick zurückgeführt. Dabei ist jedoch der Einfluss des Ministers auf die europäische Öffentlichkeit beträchtlich überschätzt worden. Selbst im Zeitalter des Absolutismus ließ sich die transnationale Presse – im Gegensatz zur nationalen – nicht ohne weiteres steuern und kontrollieren, insbesondere wenn es um religiöse oder konfessionelle Fragen ging. Indem Pombal dafür sorgte, dass die Dokumente verbreitet und ins Französische übersetzt wurden, gab er der Diskussion aber definitiv entscheidende Impulse. Der außergewöhnliche Umfang der europäischen Debatte um die portugiesischen Jesuiten lässt sich jedoch nicht allein auf sein Wirken zurückführen. Zwei weitere Aspekte waren von ebenso großer Bedeutung: die besondere Qualität der portugiesischen Vorwürfe gegen die Jesuiten und die Existenz eines Netzwerkes antijesuitischer Publizisten, das sich über Frankreich, Italien und die Niederlande erstreckte.
Es ist offensichtlich, dass sich Pombal bei der Rechtfertigung seiner Maßnahmen gegen den Orden in starkem Maße auf bereits bestehende Stereotypen stützte und dass er bei der Formulierung seiner Vorwürfe sogar auf bekannte antijesuitische Schriften zurückgriff. So prangerte er in den offiziellen Publikationen die fehlende Sittenstrenge, die tyrannischen und aufrührerischen Lehren, die Machtgier, die zwielichtige Organisationsstruktur und den verschwörerischen Charakter des Ordens an.12 Der Erfolg der Kampagne war also weniger auf ihre Originalität als vielmehr auf die Tatsache zurückzuführen, dass diese schwerwiegenden Anschuldigungen nunmehr das Siegel königlicher Autorität trugen. Dies zeigte sich besonders deutlich in den Schriften von Anton Ernst Klausing (1729–1803), dem deutschen Übersetzer und Herausgeber der Dokumente des Marquês de Pombal. Klausing erörterte die Frage, inwieweit die Vorwürfe gegen die Jesuiten der Wahrheit entsprächen und behauptete: "Alle Schrifften, welche auf obrigkeitlichen Befehl und nach angestellter gerichtlicher Untersuchung wider die Jesuiten gerichtet sind, und öffentlich bekannt gemacht werden, sind unverwerfliche Zeugnisse und sichere Beweise von der Wahrheit der darinn enthaltenen Sachen."13 Die Gründe, die Klausing zur Untermauerung seiner These angab, waren eher philosophischer Natur. So verwies er darauf, dass im Bereich menschlichen Handelns logische Schlussfolgerungen nicht zweifelsfrei zur Wahrheit führen könnten. Daher müsse pragmatisch verfahren werden, wobei der Staat und seine Institutionen als Garanten der Wahrheit fungierten. Die Stabilität von Staat und Gesellschaft beruhe darauf, dass man offiziellen Verlautbarungen allgemein Glauben schenke. Sei dies nicht der Fall, bedrohe das den Bestand der Gesellschaftsordnung und führe früher oder später zu ihrem Zusammenbruch.14 Daraus schloss Klausing, dass die allgemeine Akzeptanz der portugiesischen Vorwürfe gegen die Jesuiten eine politische, gesellschaftliche und epistemologische Notwendigkeit darstelle.
Nur wenige Zeitgenossen folgten dem Beispiel des deutschen Protestanten Anton Klausing und machten sich die Mühe, ihre antijesuitischen Schmähschriften argumentativ zu rechtfertigen. Dennoch erhielten ihre Behauptungen durch den offiziellen Charakter der portugiesischen Dokumente beträchtliches Gewicht. Die portugiesischen Anschuldigungen in Frage zu stellen, bedeutete letztlich den rex fidelissimus Joseph I. zu beleidigen. Die Feinde der Jesuiten betonten immer wieder, dass die Verteidiger des Ordens sich faktisch ebenso der Majestätsbeleidigung schuldig machten wie die angeblichen Attentäter. Dies stellte eine große Schwierigkeit für die Unterstützer der Jesuiten dar und erklärt vielleicht zum Teil, warum die antijesuitischen Stimmen in der transnationalen Debatte so viel zahlreicher und lauter waren.
Nicht nur die portugiesische Regierung, sondern auch andere Parteien heizten die Debatte an und sorgten dafür, dass sie zu einem europäischen Medienereignis wurde. So ergriffen die traditionellen Feinde der Jesuiten bereitwillig die Gelegenheit, den Orden in Misskredit zu bringen, veröffentlichten mit großem Eifer Übersetzungen der portugiesischen Dokumente und brachten eigene ergänzende Publikationen heraus. Die erbittertsten Feinde der Jesuiten waren die Jansenisten, die zwar in Frankreich als Häretiker verfolgt wurden, denen es jedoch gelang, im Pariser Untergrund eine beeindruckende Organisationsstruktur aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus pflegten sie enge Beziehungen zu gleichgesinnten reformorientierten Katholiken in Italien und den Niederlanden.15
Die parti janséniste, wie sie bereits von den Zeitgenossen genant wurden, waren Experten, wenn es um die Herstellung und Verbreitung illegaler Schriften ging. In Paris besaßen sie mehrere geheime Druckerpressen und verfügten über ein gut organisiertes Verteilernetzwerk.16 Seit der Verurteilung des Jansenismus in der päpstlichen Bulle Unigenitus (1713) hatten sie in unzähligen Flugschriften und Bilddrucken gegen die Verfolgung der "Heiligen" und ihre Drangsalierung durch geistliche und weltliche Behörden, insbesondere durch die Jesuiten, protestiert. Das Herzstück ihres Propagandafeldzuges waren jedoch die Nouvelles ecclésiastiques, ou Mémoires pour servir à l'histoire de la constitution Unigenitus, eine geheime Wochenzeitschrift, in der die Sache der Jansenisten von 1728 bis 1803 leidenschaftlich vertreten wurde. Nach Schätzungen betrug die durchschnittliche Auflage 2.000, konnte jedoch zu bestimmten Zeitpunkten auf – für damalige Zeiten bemerkenswerte – 6.000 Exemplare gesteigert werden. Die Zeitschrift wurde nicht nur in Frankreich, sondern auch in Italien, Deutschland und in den Niederlanden gelesen, wo sie in Nachdrucken Verbreitung fand.
Einige der bedeutendsten Persönlichkeiten der parti janséniste beteiligten sich an der Verbreitung der portugiesischen Dokumente und steuerten auch eigene Beiträge zur öffentlichen Debatte bei. So wurde die Mehrzahl der portugiesischen Dokumente von Pierre-Olivier Pinault (gest. 1790) ins Französische übersetzt, einem Rechtsanwalt, der als glühender Verehrer des jansenistischen Heiligen François de Pâris bekannt war. Von Januar 1759 bis Juni 1761 gab ein weiteres Mitglied der jansenistischen Gemeinde, der ehemalige Dominikaner Jean-Pierre Viou (1707–1781), eine neue Zeitschrift heraus, die sich vor allem mit der portugiesischen Affäre beschäftigte und in der er zwar anonym aber dafür umso erbitterter gegen die Jesuiten wettern konnte. Seine Nouvelles intéressantes, au sujet de l'attentat commis … sur la personne sacrée … le roi de Portugal fanden weite Verbreitung, wurden mehrmals neu aufgelegt und ins Italienische sowie ins Deutsche übersetzt.17 Darüber hinaus wurden im jansenistischen Untergrundnetzwerk etliche antijesuitische Flugschriften und Sammelwerke herausgegeben bzw. neu aufgelegt. Eine weitere Spezialität der französischen Jansenisten war die Produktion satirischer Bilddrucke, die so weit verbreitet waren, dass sie sich noch heute nicht nur in französischen, sondern auch in portugiesischen, italienischen und deutschen Sammlungen finden. Schließlich berichteten die Nouvelles ecclésiastiques wöchentlich über die portugiesische Kontroverse, veröffentlichten Kritiken der wichtigsten Publikationen und befassten sich auf ihren jährlich erscheinenden Frontispizen auch visuell mit der Affäre.
In Italien spielte eine Gruppe reformorientierter Katholiken, die unter dem Namen cercolo dell'Archetto bekannt war, im Verlauf des Medienereignisses eine ähnliche Rolle wie die Jansenisten in Frankreich, mit denen sie im Übrigen in reger Korrespondenz standen.18 Sie veröffentlichten einige der einflussreichsten antijesuitischen Abhandlungen und sorgten dafür, dass die transnationale Debatte nach Italien übersprang. In ihren Schriften Riflessioni di un Portoghese und Appendice alle Riflessioni versuchten sie, weitere historische Beweise für die portugiesischen Anschuldigungen vorzulegen. Sie verwiesen darauf, dass die Jesuiten stets die geistliche und weltliche Obrigkeit beleidigt hätten, und behaupteten, dem Orden sei hauptsächlich daran gelegen, seine Macht zu vergrößern, um die Weltherrschaft zu erringen.19 Die Publikationen des cercolo dell'Archetto erlangten besondere Berühmtheit und inspirierten zahlreiche Veröffentlichungen, in denen ihre Argumente angezweifelt oder bekräftigt wurden. Ein Indikator ihres Erfolgs ist die Tatsache, dass sie nicht nur ins Französische und Deutsche übersetzt wurden, sondern auch ins Portugiesische, Englische und Spanische.
Möglicherweise war es gerade deshalb ein italienischer Jesuit, der sich zuerst daran machte, anonym auf die gegen seinen Orden erhobenen Anschuldigungen zu antworten. Francesco Antonio Zaccaria (1714–1795), der mit seiner Storia letteraria d'Italia innerhalb der Gelehrtenrepublik bereits zu zweifelhafter Berühmtheit gelangt war, verfasste mehrere Erwiderungen, in denen er den paranoiden Stil seiner zahlreichen Gegner aufgriff und behauptete, dass Jansenisten, aufgeklärte Philosophen und Ungläubige sich gegen den christlichen Glauben und die Kirche verschworen hätten.20 Seine Thesen fanden Unterstützung bei anderen anonymen Verteidigern des Ordens in Frankreich und Italien, die ihren Gegnern jedoch insgesamt zahlenmäßig weit unterlegen waren.
Vor allem aufgrund der Debatten in Italien erreichte die transnationale Kontroverse auch das Heilige Römische Reich. Hier erfuhr das Medienereignis eine leichte Variation, denn anders als in Portugal, Frankreich und Italien, waren die Verteidiger und Kritiker der Jesuiten einander in Deutschland beinahe ebenbürtig. Im antijesuitischen Lager fanden sich hauptsächlich Protestanten wie Klausing, auf der anderen Seite standen die Augsburger Jesuiten, die fast alle in Frankreich und Italien erscheinenden projesuitischen Schriften schnell ins Deutsche übersetzten.21 In dieser Phase erschienen nur wenige wichtige Originalbeiträge zur Debatte in deutscher Sprache. Stattdessen wurden die in Portugal, Frankreich und Italien publizierten und verbreiteten Schriften einfach ins Deutsche übersetzt.
Somit war die erste Phase des Medienereignisses von Pombals publizistischer Kampagne und den Aktivitäten des jansenistischen Netzwerks geprägt, während die Jesuiten und ihre Unterstützer in die Defensive gedrängt wurden. Es liegt auf der Hand, dass es beinahe unmöglich war, im Portugal des Marquês de Pombal projesuitische Beiträge zu veröffentlichen, und auch in Frankreich, wo die parlements die Presselandschaft überwachten, war dies sicherlich schwierig. Doch die Unterstützer der Jesuiten standen noch vor ganz anderen Problemen, wie eine genauere Untersuchung der Zeitungen zeigt. So waren Artikel über den versuchten Königsmord in Portugal zunächst sowohl in protestantischen als auch in katholischen Zeitungen veröffentlicht worden. Sobald sich das Medienereignis jedoch zu einer Auseinandersetzung um die Jesuiten entwickelte, kam es zu einer konfessionallen Spaltung in der Berichterstattung. Protestantische Zeitungen wie der einflussreiche Hamburgische Unpartheyische Correspondent oder die in französischer Sprache erscheinenden niederländischen Zeitschriften griffen die portugiesische Kontroverse sofort auf und füllten ihre Ausgaben über mehrere Monate hinweg mit den letzten Nachrichten aus Lissabon. Katholische Zeitungen hingegen, wie der Courrier d'Avignon oder die Augsburger Postzeitung, bemühten sich die Affäre zu vertuschen. Die katholischen Publizisten in Augsburg veröffentlichten zwar einige der portugiesischen Schriftstücke, entfernten dabei jedoch jeden Bezug zu den Jesuiten, wodurch die Texte nahezu unverständlich wurden. Schließlich entschied sich die Mehrheit der katholischen Presse gegen eine weitere Berichterstattung und tat zunehmend so, als sei gar nichts geschehen. So erfuhren etwa die Leser der Augsburger Zeitung nichts von der Ausweisung des Ordens aus Portugal oder von dessen Verbot in Frankreich.
Bibliographische Nachforschungen haben ergeben, dass während des gesamten hier betrachteten Zeitraums nur relativ wenige Publikationen über die Jesuiten in Sprachen wie Englisch, Latein, Niederländisch, Spanisch oder Polnisch erschienen.22 Das bedeutet nicht etwa, dass die Debatte die entsprechenden Länder gar nicht erreichte. Vielmehr bediente man sich dort vermutlich des Französischen – der lingua franca der Zeit, um sie zu verfolgen oder sich daran zu beteiligen. Damit fällt allerdings die soziale Reichweite des Medienereignisses in diesen Ländern deutlich geringer aus als etwa in Frankreich oder im Alten Reich. Sicherlich ließen sich über eine Untersuchung der englischen oder der polnischen Presselandschaft weitere nützliche Erkenntnisse über das Medienereignis gewinnen. Da die Frage, welchen Niederschlag die Jesuitenaffäre in den dortigen Zeitungen fand, bisher jedoch nicht eingehend untersucht wurde, ist unser Wissen um die Ausprägung und den Verlauf des Medienereignisses in Ost- und Nordeuropa unvollständig. Immerhin scheint es, als wären in diesen Ländern kaum Originalbeiträge zur Debatte erschienen, als sei sie dort mithin überwiegend rezeptiv verlaufen. Eine wichtige Ausnahme waren die Niederlande, wo hugenottische und jansenistische Flüchtlinge Flugschriften und Presseartikel zum Thema – allerdings in Französisch – veröffentlichten.
Die zweite und dritte Phase: Von der Kontroverse zum Konsens
Wie die erste Phase des Medienereignisses wurde auch die zweite im Wesentlichen durch die Publikation und Verbreitung offizieller Dokumente bestimmt. Die portugiesischen Texte wurden jedoch ab 1761/1762 allmählich von den antijesuitischen Beschlüparlements verdrängt, wobei sich das Pariser parlement besonders hervortat. Obwohl alle Beschlüsse der Obergerichte publiziert wurden, überstiegen doch die Auflagen der antijesuitischen Dekrete bei weitem das übliche Maß. Zudem fanden die Dokumente in diesem Fall, anders als gewöhnlich, auch jenseits der jeweiligen Zuständigkeitsgebiete der parlements Verbreitung. Die Texte wurden in diversen Formaten gedruckt und publiziert. Übersetzungen ins Italienische, Deutsche und Portugiesische sorgten dafür, dass sie in ganz Europa wahrgenommen wurden. Darüber hinaus wurden ausführliche Auszüge in den Nouvelles ecclésiastiques, in den französischsprachigen Zeitungen der Niederlande, im Hamburgischen Unpartheyischen Correspondenten und in vielen anderen europäischen Zeitschriften veröffentlicht, während die meisten katholischen Publikationen sich gar nicht zur Jesuitenangelegenheit äußerten.
Das jansenistische Netzwerk, das bereits während der ersten Phase des Medienereignisses aktiv gewesen war, verstärkte seine publizistischen Aktivitäten im Zuge der Affäre um Lavalette und der darauffolgenden Verbote merklich. Diesmal begnügte sich die parti janséniste nicht mit Veröffentlichungen, sondern nahm auch selbst aktiv Einfluss auf den Rechtsprozess, denn einige ihrer Mitglieder waren im Pariser parlement vertreten und stellten dort eine besonders aktive Minderheit dar. Tatsächlich entschloss sich das parlement von Paris überhaupt erst auf Initiative des jansenistischen Magistrats Abbé Germain Louis de Chauvelin (1685–1762) dazu, die Lehren und Strukturen des Jesuitenordens zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen.23 Die jansenistischen Magistrate hatten bereits zuvor eng mit bedeutenden jansenistischen Publizisten wie Louis-Adrien Le Paige (1712–1802) zusammengearbeitet. So hatte das Gericht während der Affäre um die "Verweigerung der Sakramente" in den 1750er Jahren dem König eine Protestschrift überreicht, die im Wesentlichen von jansenistischen Rechtsanwälten ausgearbeitet worden war.24 Diese Zusammenarbeit wurde wieder aufgenommen, als das Schicksal der Jesuiten auf der Tagesordnung stand. Die im parlement vorgebrachten und danach in ganz Europa verbreiteten Argumente stützten sich in hohem Maße auf eine wichtige und umfangreiche historische Abhandlung, die von den Jansenisten Le Paige und Christophe Coudrette (1701–1774) verfasst worden war.25 Der parti janséniste gelang es also, ihren Standpunkt sogar in die Urteilsbegründungen einfließen zu lassen.
Wie bereits erwähnt, verließen sich die Jansenisten nicht allein auf die Publikationen des parlement, um die Öffentlichkeit von der Bedrohung zu überzeugen, die angeblich von den Jesuiten ausging. Ihre Flugschriften waren ein ebenso wichtiger Bestandteil des Medienereignisses wie die zahlreichen und vielfach reproduzierten graphischen Darstellungen jansenistischer Künstler. Ein Graphiker mit dem Pseudonym Montalais fertigte mindestens 20 antijesuitische Darstellungen an, die in Flugblättern oder als Buchillustrationen und Frontispize verwendet wurden. Viele Bilder stellten eine bestimmte gegen die Jesuiten vorgebrachte Anschuldigung oder ein antijesuitisches Stereotyp dar, wie etwa ihre Handelsaktivitäten, ihre moralische Verkommenheit oder ihre Machtgier. Einige Bilder waren lediglich entsprechend kommentierte Nachdrucke jesuitischer Originale und sollten als Beweise für die Arroganz und den Hochmut des Ordens dienen. Sowohl Montalais als auch Nicolas Godonnesche (gest. 1761), ein anderer äußerst produktiver jansenistischer Künstler, hatten eine besondere Vorliebe für Medaillengravuren nach dem Muster der berühmten, die Herrschaft Ludwigs XIV. (1638–1715) verherrlichenden Histoires métalliques.26
Auf diesen zumeist allegorischen Abbildungen wurden die parlements als Inbegriff der Gerechtigkeit und als Hüter des französischen Staates und Rechtswesens dargestellt, während die Darstellungen der Jesuiten stereotype Anschuldigungen visualisierten: der vergiftete Kelch als Sinnbild für die Entweihung der heiligen Sakramente oder Mord, der Dolch als Symbol für Verschwörung und Königsmord und die Maske als Zeichen für das heuchlerische Wesen der Jesuiten.
Nach dem ersten entscheidenden Beschluss des Pariser parlement am 6. August 1761 begannen die französischen Jesuiten, die sich zur portugiesischen Angelegenheit bisher noch nicht geäußert hatten, auf die Angriffe zu reagieren und beteiligten sich endlich an der publizistischen Debatte. In ihren Entgegnungen setzten sie sich zumeist mit einer bestimmten antijesuitischen Schrift oder einem offiziellen Dokument auseinander und versuchten, die darin enthaltenen Vorwürfe und Behauptungen in beinahe scholastischer Manier Punkt für Punkt zu widerlegen. Viele französische Jesuiten antworteten mit Wissen und Zustimmung ihrer Vorgesetzten auf die Anschuldigungen, wobei ihnen jedoch eingeschärft wurde, dem parlement den nötigen Respekt entgegenzubringen.27 Andere, wie Theodore Lombard (1699/1708 – ca. 1770) aus Toulouse oder André Christophe Balbany aus Marseille, handelten unabhängiger und bedienten sich in ihren Schriften des aggressiven Tons, in dem die antijesuitischen Flugschriften abgefasst waren.28 Im Allgemeinen waren die Jesuiten in ihren Bemühungen zur Verteidigung ihres Ordens jedoch stark eingeschränkt, da General Lorenzo Ricci (1703–1775) in Rom seinen Mitbrüdern verboten hatte, sich überhaupt zur heiklen Frage des Gallikanismus zu äußern. Ricci befürchtete, dass der Orden die Unterstützung der französischen Bischöfe verlieren könnte, wenn er sich bei seiner Verteidigung auf die Oberhoheit des Papstes berief. Trotzdem waren die meisten gallikanischen Bischöfe entschlossen, den Orden zu verteidigen und taten dies auch in gedruckten und weit über die Grenzen der jeweiligen Diozesen hinaus verbreiteten Hirtenbriefen, die allerdings regelmäßig von den parlements verboten wurden.29 Als die von den parlements gefassten Beschlüsse schließlich wirksam wurden und man die Schulen und anderen Einrichtungen des Ordens konfiszierte, wurde es immer schwieriger, die publizistischen Aktivitäten fortzuführen.
Seit Beginn des Medienereignisses hatte sich eine dritte Stimme, die weder die Jesuiten noch die Jansenisten unterstützte, hin und wieder zu Wort gemeldet. Voltaire (1694–1778), den religiöse Auseinandersetzungen an sich nicht sonderlich interessierten, hatte sich ironisch zur Affäre um die portugiesischen Jesuiten geäußert.30 Einige der von Pombal benutzten, auf bekannten Sterotypen beruhenden Argumente ließ er in seinen berühmten Roman Candide einfließen, der 1759 erschien. Trotz seiner generellen Abneigung gegen die Jesuiten, protestierte er scharf gegen die Behandlung des achtzigjährigen Gabriele Malagrida, der 1761 in einem Autodafé verbrannt wurde. In der Affäre um die französischen Jesuiten sahen sich Voltaire und andere philosophes vor einem Dilemma, denn sie hassten die Jesuiten mindestens ebenso sehr, wie sie die nunmehr siegreichen Jansenisten verachteten. Nachdem der König 1764 die von den parlements verabschiedeten antijesuitischen Gesetze bestätigt hatte, erklärte Jean le Rond d'Alembert (1717–1783) in einer Flugschrift, dass das Verbot der Gesellschaft Jesu vor allem auf einen in der französischen Öffentlichkeit zunehmend spürbaren esprit philosophique zurückzuführen sei. Gleichzeitig behauptete er, die Jansenisten seien dem Untergang geweiht, denn mit dem Verschwinden der Jesuiten hätten auch sie ihre Daseinsberechtigung verloren.31 Die heftigsten Reaktionen auf d'Alemberts philosophenfreundliche Umdeutung der Ereignisse kamen erwartungsgemäß von den Jansenisten, die sich um das Verdienst gebracht sahen, die Jesuiten in Frankreich in die Knie gezwungen zu haben. Von diesem Zeitpunkt an richtete die parti janséniste ihre polemischen Attacken nicht mehr gegen ihre alten jesuitischen Gegner, sondern zunehmend gegen die aufgeklärten Philospophen als vermeintlich ebenso gefährliche Feinde des Glaubens und der Kirche.
Während die öffentliche Debatte in Frankreich in den Jahren 1761 und 1762 ihren Höhepunkt erreichte und mit der Auseinandersetzung um die Äußerungen d'Alemberts im Jahr 1765 noch in die Länge gezogen wurde, ging ihre transnationale Wirkung allmählich zurück. Natürlich wurden die entscheidenden Beschlüsse der parlements im Ausland bekannt, die Nachrichten vom Schicksal der französischen Jesuiten verbreiteten sich durch ganz Europa, und die wichtigsten antijesuitischen Schriften wurden auch weiterhin ins Italienische übersetzt. Anton Ernst Klausing setzte jedoch sein Vorhaben, die bedeutendsten französischen Dokumente ins Deutsche zu übertragen und zu veröffentlichen, nicht in die Tat um. Die einflussreiche Histoire générale von Christophe Coudrette und Louis-Adrien Le Paige wurde erst 1785 im Kontext der Debatte um Aufklärung und Obskurantismus ins Deutsche übersetzt.32 Da jedoch die gebildeten Leser in Europa in der Lage waren, französische Texte zu verstehen, ist die Anzahl der Übersetzungen – anders als im portugiesischen Fall – nicht unbedingt ein verlässlicher Indikator für die transnationale Wirkung der Debatte. Darüber hinaus deutet die große Anzahl der heute in deutschen Bibliotheken vorhandenen französischen Originaldokumente darauf hin, dass die wichtigsten Schriften in Deutschland im Original gelesen wurden. Andererseits ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sich die breite Öffentlichkeit außerhalb Frankreichs für die juristischen Details der französischen Affäre interessierte. Was die gegen den Orden vorgebrachten Anschuldigungen betrifft, so wurde den bereits von Pombal veröffentlichten Vorwürfen wenig Neues hinzugefügt. Das projesuitische Lager hingegen engagierte sich ungleich stärker als zuvor während der Debatte um die portugiesischen Jesuiten. So übersetzten die Augsburger Jesuiten nun beinahe sämtliche in Frankreich erschienenen Rechtfertigungsschriften ins Deutsche und veröffentlichten zudem ein vielbändiges Sammelwerk zur Verteidigung ihres Ordens. Daher war der Anteil der projesuitischen Schriften in Deutschland vergleichsweise höher als in anderen Staaten. In beinahe allen katholischen Ländern Westeuropas sah sich der Orden hingegen in seinen Verteidigungsbemühungen großen Beschränkungen unterworfen. In Italien musste er zudem jene Jesuiten versorgen, die aus Portugal und später aus Spanien und den spanischen Kolonien vertrieben worden waren. Potentielle Unterstützer des Ordens, wie zum Beispiel die französischen Bischöfe, wurden von den Behörden zum Schweigen gebracht.
Die Abschwächung der transnationalen Debatte um die Jesuiten zeigte sich noch deutlicher in der letzten Phase des Medienereignisses ab 1765. Die eigentlich zur Unterstützung des Ordens gedachte päpstliche Bulle Apostolicum pascendi vom Januar 1765 stieß bei allen katholischen Mächten, auch in Österreich, auf Ablehnung und goss Wasser auf die Mühlen der antijesuitischen Lobby. Nach der Ausweisung der Jesuiten aus Spanien folgte die spanische Krone 1767 dem portugiesischen Beispiel, indem sie offizielle Dokumente zum Prozess gegen den Jesuitenorden veröffentlichte.33 Obwohl diese Dokumente ins Französische, Italienische und Deutsche übersetzt und in mehreren Zeitungen abgedruckt wurden, fielen die Reaktionen im Vergleich zur publizistischen Aktivität der Jahre 1759 oder 1761 eher bescheiden aus, was möglicherweise daran lag, dass die einzigen in den spanischen Dokumenten vorgebrachten "Beweise" die vom König selbst aufgestellten Behauptungen waren. Tatsächlich erklärte Karl III. (1716–1788), dass die wirklichen Gründe für die Verurteilung der Jesuiten nur ihn allein etwas angingen und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt seien. Der Erlass, in dem die Jesuiten verboten wurden, untersagte sogar ausdrücklich und bei Androhung der Todesstrafe jede öffentliche Debatte zu diesem Thema. Obwohl dies natürlich nur für die Untertanen des spanischen Königs galt, war es auch anderswo für eine öffentliche Erörterung der Ereignisse in Spanien nicht eben förderlich.
Nach der Vertreibung der Jesuiten aus Spanien erwartete man allgemein die vollständige Zerschlagung des Ordens, und in der europäischen Presse tauchten hin und wieder entsprechende Gerüchte auf. Als der Papst die Gesellschaft Jesu im Sommer 1773 tatsächlich auflöste, reagierte man in Europa auf vorhersehbare Weise. Das päpstliche Breve fand in zahlreichen Ausgaben und Übersetzungen Verbreitung und wurde eifrig kommentiert. In Kupferstichen wurde der gemeinsame Sieg der katholischen Mächte über die jesuitische Hydra gefeiert.34 Da es nun allerdings kaum noch jemanden gab, der die Jesuiten unterstützte, kam eine kontroverse Debatte nicht mehr zustande. Das Medienereignis hatte sich gewandelt: Die Kontroverse war einem weitgehenden Konsens gewichen. Nur in Deutschland ließen sich einige kritische Stimmen vernehmen, denn dort konnten sich die Jesuiten in einigen Gebieten halten oder erhielten zumindest die Erlaubnis, ihre üblichen Aktivitäten noch einige Jahre fortzuführen.
Medienereignis als Diskurstransfer: Von der Geschichte zur Verschwörungstheorie
Pombals Kampagne verfolgte den Zweck, die offizielle portugiesische Sicht der Jesuitenaffäre europaweit zu verbreiten und durchzusetzen, um die Vertreibung der Patres zu rechtfertigen. Nach seiner Version hatten jesuitische Missionare in Paraguay portugiesisches Gebiet usurpiert, um dort eine unabhängige "Jesuitenrepublik" zu errichten und die einheimischen Guaraní zu versklaven. Ihr Hauptmotiv, so wurde behauptet, war die Bereicherung des Ordens. Als der König im Begriff war, ihren Verrat zu entdecken, fassten die Jesuiten den Plan ihn zu ermorden. Zu diesem Zweck konspirierten sie mit einigen unzufriedenen Adligen und missbrauchten ihre geistliche Autorität, indem sie den Adligen bei der Beichte versicherten, der Mord an König Joseph I. stelle lediglich eine lässliche Sünde dar.
Während diese offizielle portugiesische Version angeblich nur die harten "Fakten" enthielt, ging es in der transnationalen Debatte darum, den Ursachen der Affäre auf den Grund zu gehen. In den meisten antijesuitischen Publikationen wurde versucht, die portugiesischen Anschuldigungen mit historischen Beweisen zu untermauern. Da die Jansenisten in diesem Kommunikationsprozess eine entscheidende Rolle spielten, entsprach das im Verlauf des Medienereignisses propagierte Geschichtsbild ihrer spezifischen Sicht auf die Vergangenheit. "On peut dire avec vérité que depuis deux cents ans il s'instruit contre les Jésuites, à la face de tout l'Univers, un Procès criminel & de Religion & d'Etat", schrieb 1759 der Jansenist Charles Clémencet (1703–1778).35 In der Mehrzahl der jansenistischen Schriften wurde die portugiesische Affäre im Kontext der theologischen Auseinandersetzung erklärt, in der sich Jesuiten und Jansenisten – die "Verteidiger des wahren Glaubens", wie sie sich selbst gern nannten – seit der Mitte des 17. Jahrhunderts befanden. Moralischer Laxismus, Molinismus (oder Probabilismus) und Pelagianismus waren nur einige Stichworte dieser Debatte. Die kürzeste Version dieses allgegenwärtigen jansenistischen Geschichtsnarrativs erschien in den Nouvelles ecclésiastiques. Dort umriss der jansenistische Journalist zu Beginn seiner Besprechung eines portugiesischen Dokuments die historischen Hintergründe der Affäre wie folgt:
Depuis plus de 100 ans deux Corps d'hommes, les Jésuites d'un côté, les Défenseurs de la doctrine de Saint Augustin de l'autre, donnent à l'Eglise le spectacle singulier de s'accuser mutuellement. … Après plus d'un siècle de calomnies de la part des Jésuites, … l'Eglise n'en est que plus convaincue de la fausseté de ces calomnies. La Doctrine & la Morale des prétendus Jansénistes sont reconnues de toute part pour saines & orthodoxes.36
Daraufhin fügt er die portugiesische Geschichte von der jesuitischen "Republik Paraguay" mühelos in das größere jansenstische Geschichtsnarrativ ein:
On les a dénoncés à l'Eglise comme coupables d'une Morale dépravée, même impie, d'une doctrine pestiférée, meurtrière, autant contraire au repos des Sujets, qu'à la sûreté des Rois. … On les a accusés de renverser la doctrine de l'Evangile, & d'y substituer un Corps de dogmes erronés. … Enfin, sans insister sur tant d'autres excès, on les accuse, depuis cent ans, d'abuser du prétexte de la propagation de l'Evangile, pour satisfaire dans les Indes, & singulièrement dans le Paraguay, leur avarice insatiable; pour s'emparer des richesses de cette excellente portion des Indes occidentales; pour y réduire les Indiens à une odieuse servitude; … en un mot pour y établir une sorte de République Souveraine ….37
Die Sicht der Jansenisten auf die jüngere Geschichte war in hohem Maße von ihrer figuristischen Theologie beeinflusst, die davon ausging, dass sämtliche Ereignisse in der biblischen Erzählung bereits angekündigt seien. Die Selbstwahrnehmung der Jansenisten als Zeugen der Wahrheit in Zeiten der Not stützte sich auf diese prophetische Lesart der Bibel, insbesondere auf den Brief des Paulus an die Römer.38 Dies führte zu einem manichäischen Geschichtsbild, nach dem sich die Zeugen der Wahrheit beständig gegen die Mächte des Bösen verteidigen müssten. Die Rollenverteilung beim Kampf gegen die Jesuiten war eindeutig: Während die Jansenisten für den wahren Glauben stritten, galten die Jesuiten als Vorkämpfer des Bösen. Diese jansenistische Interpretation wurde nicht nur in vielen zeitgenössischen Büchern und Flugschriften, sondern auch in den zahlreichen graphischen Darstellungen propagiert, die im Verlauf des Medienereignisses entstanden. Die im Jahr 1762 anonym veröffentlichte Radierung La prière charitable ist in eine dunkle linke und eine helle rechte Seite unterteilt. Auf der linken Seite ist ein Feigenbaum abgebildet, der statt Früchten die Bilder berühmter Jesuiten trägt und mit einem Dämon gekrönt ist. Unter den Jesuiten befinden sich so bedeutende Persönlichkeiten wie die Patres Molina und Escobar, die wegen ihrer höchst umstrittenen Morallehren berüchtigt waren und auf dem Bild von den Blitzen eines Racheengels getroffen werden. Auf der rechten Seite ist eine von göttlichem Licht erhellte Versammlung von Geistlichen dargestellt. Der Begleittext warnt vor den bitteren Früchten des Feigenbaums und erfleht gleichzeitig die Gnade Gottes für die Fehlgeleiteten. Aus Sicht der Jansenisten ergab sich die Bedeutung der Auseinandersetzung um die Jesuiten also aus der Heilsgeschichte.
Die Heilsgeschichte war jedoch nicht der einzige Interpretationsansatz. Auch andere, eher weltliche Geschichtsnarrative ließen sich gegen die Gesellschaft Jesu richten. So griff Pombal ein altes Motiv auf, als er die Jesuiten beschuldigte, dem portugiesischen Volk die Lehre vom Tyrannenmord zu predigen. Die versuchten Königsmorde in Frankreich und Portugal hatten Erinnerungen an die Religionskriege mit ihren zahlreichen Attentaten auf Könige und andere Würdenträger geweckt. Besonders heikel war die Lage für die Jesuiten in Frankreich, wo man sich gut daran erinnerte, dass der Orden bereits 1595 nach zwei Attentatsversuchen auf König Heinrich IV. (1553–1610) des Landes verwiesen worden war. Beide Attentäter waren damals mit den Jesuiten in Verbindung gebracht worden. Pierre Barrière (gest. 1593) hatte das Oberhaupt der Pariser Jesuitenschule Claude de Varade angezeigt, während Jean Chastel (1575–1594) eben diese Schule besucht hatte. Im Januar 1595 verließen die Jesuiten Frankreich, nachdem man einen ihrer Mitbrüder, Pater Guignard, als angeblichen Komplizen Chastels hingerichtet hatte. In der Nähe des Palais de Justice wurde ein pyramidenförmiges Denkmal aufgestellt, um an das vermeintliche Königsattentat der Jesuiten zu erinnern. Dieses wurde jedoch einige Jahre später wieder entfernt, als Heinrich IV. die Gesellschaft Jesu zur Rückkehr nach Frankreich einlud.
Die Jesuitenkontroverse des späten 16. Jahrhunderts brachte eine Reihe berühmter antijesuitischer Schriften von bleibender Wirkung, darunter die Plädoyers von Etienne Pasquier (1529–1615) und Antoine Arnauld (1612–1694), dem Vater des berühmten Jansenisten, hervor. Im Verlauf der Jesuitenaffäre der 1760er Jahre wurden beide Texte immer wieder zitiert und grundlegend überarbeitet.39 Mehrere Bilddrucke erinnerten auch an das abgerissene antijesuitische Mahnmal von 1595. In der Debatte stützte man sich jedoch nicht nur auf solche alten Texte, sondern präsentierte auch neues "Beweismaterial". Den meisten antijesuitischen Autoren diente ab 1758 eine Abhandlung mit dem Titel Les Jésuites criminels de lèze-majesté dans la théorie et dans la pratique als wichtige Inspirationsquelle.40 Der erste Teil des Buches bestand aus einer Zusammenstellung von Zitaten aus jesuitischen Schriften, in denen es um Tyrannenmord und die Vorherrschaft des Papstes ging. Am Ende kam der anonyme Autor zu folgendem Schluss:
Un des points fondamentaux de leur doctrine est que le Souverain Pontife a une pleine puissance de jurisdiction qui s'étend sur tous les Princes de la terre, qu'il peut à son gré déposer les Rois, les priver de leurs Etats, annuller leurs loix, & précéder contre eux non seulement par voie de censures, mais encore par des peines extérieures, & en employant la violence & les armes. … Ainsi dans ce systême le Pape est un Monarque universel à qui tous les Souverains sont assujettis.41
Was den Tyrannenmord betraf, so besagte diese "ultramontane" Doktrin: "Pour faire du Prince légitime un usurpateur, il suffit qu'il ait été déposé par le Pape, & qu'il refuse de se soumettre au jugement qui prononce cette disposition."42 Nachdem der Fürst so als Usurpator verurteilt worden war, könne er vollkommen legal getötet werden. Im zweiten Teil des Buches wurde dann die vermeintliche praktische Anwendung dieser Doktrin im Laufe der Geschichte erläutert und eine Kette von Attentatsversuchen präsentiert, die durch die angeblich jesuitische Lehre vom Tyrannenmord inspiriert gewesen seien, beginnend mit den zahlreichen Anschlägen auf Elisabeth I. von England in den 1580er Jahren über die französischen Religionskriege mit den Attentaten auf die französischen Könige Heinrich III. und Heinrich IV. bis hin zu den Taten von Damiens und Malagrida. Die Idee einer fortlaufenden Kette von Königsmorden, die von den Jesuiten inspiriert gewesen seien, fand sich nicht nur in Les Jésuites criminels, sondern auch in vielen anderen Schriften und in mehreren Bilddrucken.
So sind beispielsweise auf der anonymen Darstellung Quelques unes des conjurations des Jésuites mises en ordre chronologique Gedenktafeln abgebildet, auf denen alle bekannten Attentatsversuche seit 1581 vermerkt sind. Der Künstler hat sogar vorsorglich einige Tafeln ohne Inschrift belassen, um auf die kommenden Verbrechen der Jesuiten hinzuweisen. In anderen Darstellungen ist Gabriele Malagrida, die Schlüsselfigur in Pombals antijesuitischer Kampagne, als Königsmörder dargestellt. Eine kleine Radierung porträtiert den Jesuiten als heuchlerischen Priester, der unter den Perlen seines Rosenkranzes einen Dolch versteckt und eine Krone zertritt, während die Bildunterschrift seine düsteren Gedanken verrät: "Mes mains ont un poignard avec un chapelet. / L'un est pour tromper le vulgaire, / L'autre, pour le plonger dans le coeur téméraire / De tout tyran qui nous déplaît."
Der Königsmord war das wichtigste aber nicht das einzige Thema, mit dem sich die antijesuitischen Autoren der 1760er Jahre befassten. Die Wirkung dieses Motivs wurde noch verstärkt, wenn man es mit anderen Stereotypen kombinierte, wie den illegalen Geschäften der Jesuiten oder ihrer Machtgier. In ihrer Gesamtheit entwarfen diese Anschuldigungen ein Jesuitenbild, das den Orden als teuflischen Apparat darstellte, der seine eigene Macht auf Kosten und zum Nachteil der kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten vermehren wollte. Tatsächlich entwarfen viele antijesuitische Schriften eine regelrechte Verschwörungstheorie. Auch wenn das Wort "Verschwörung" in der Debatte selten auftauchte: Die Vorstellung, der Orden verfolge insgeheim den Plan, eine "Universalmonarchie" zu errichten, war relativ weit verbreitet. Ein charakteristisches Merkmal dieser verschwörungstheoretischen Sichtweise war die Annahme, dass der Jesuitenorden tatsächlich vollkommen andere Ziele verfolgte und eine andere Organisationsstruktur besaß, als es nach außen den Anschein hatte.43 Diese Idee war bereits in einer berühmten Flugschrift des 17. Jahrhunderts mit dem Titel Monita secreta entwickelt worden, die im Verlauf der Jesuitenkontroverse des 18. Jahrhunderts in ganz Europa neu herausgegeben und bearbeitet wurde. Die Behauptung, die Jesuitenoberen hätten einigen ausgewählten Ordensbrüdern geheime Anweisungen zukommen lassen, sollte die Gesellschaft Jesu in Verruf bringen, indem auf den unmoralischen oder sogar kriminellen Charakter der "wahren" Ziele und Methoden des Ordens verwiesen wurde.44 Pombal und viele andere Zeitgenossen griffen dieses zentrale Motiv auf und erklärten, dass der Orden geheime Anweisungen befolge, in die nur einige wenige ausgewählte Mitglieder eingeweiht seien, während die anderen nach ihnen unbekannten Regeln beherrscht würden. Der gemeine Jesuit, dessen Eid ihn zu blindem Gehorsam verpflichte, sei daher ein potentiell gefährliches Werkzeug in den Händen seiner Vorgesetzten. Diese Vorstellung wurde emsig diskutiert, und einige Autoren behaupteten sogar, dass diese geheimen Anweisungen in Rom versteckt seien und nicht einmal der Papst genaue Kenntnis von den Absichten der Jesuiten habe.45
Darüber hinaus wurden in den Schriften der antijesuitischen Autoren die offiziellen Texte des Ordens systematisch fehlinterpretiert, indem man die darin erwähnten Ideale als objektive Tatsachen betrachtete. So schlossen antijesuitische Autoren zum Beispiel aus dem in der Verfassung des Ordens enthaltenen Aufruf zur Einigkeit, dass alle Jesuiten in der ganzen Welt stets in eine Richtung marschierten und im Grunde gleich seien. Diese verschwörungstheoretische Sichtweise stellte die Gesellschaft Jesu nicht als Gemeinschaft von Individuen, sondern als eine übermenschliche Armee dar, die einmütig und widerspruchslos den Befehlen des Generals in Rom gehorchte. Dieses Bild des Jesuitenordens wurde nicht nur von Jansenisten propagiert, sondern auch von aufgeklärten Philosophen. D'Alembert vertrat die Auffassung, die Gesellschaft Jesu sei durch einen "esprit d'invasion" gekennzeichnet, der sich nur notdürftig hinter einer "Maske der Religion" verstecke.46 Die Jesuiten seien schon immer "pleins du projet de gouverner, & de gouverner par la religion" gewesen und hätten stets eine "politique uniforme & constante" verfolgt.47 D'Alembert griff auch andere Motive, wie den Hochmut der Jesuiten, ihr fortgesetztes gegenseitiges Ausspionieren und ihre vollkommene innere Einheit auf und kam zu dem Schluss: "[T]ous à la fois sont mis en action par ce ressort unique, qu'un seul homme dirige à son gré; & ce n'est pas sans raison qu'on les a définis une épée nue dont la poignée est à Rome."48
Trotz seines geschickten Umgangs mit antijesuitischen Stereotypen konnte d'Alembert sich als Verschwörungstheoretiker nicht mit den jansenistischen Autoren der berühmten Histoire générale messen, die einen so großen Einfluss auf die französischen parlements ausübte. Le Paige und Coudrette entwarfen die gelungenste antijesuitische Verschwörungstheorie der Debatte. Diese enthielt im Wesentlichen zwei Anschuldigungen: Die Jesuiten seien eine despotische Organisation und hätten das politische System Frankreichs systematisch unterwandert. Die Autoren beschrieben die Jesuiten als eine Armee, in welcher der General über allen anderen stehe und sich sogar über die Gesetze des Ordens hinwegsetzen könne. Die Jesuiten hätten sich gegen den expliziten Willen der Obergerichte in Frankreich niedergelassen. Obgleich die parlements daraufhin von ihrem Remonstrationsrecht Gebrauch gemacht hätten, habe der König die Ansiedlung des Ordens verfügt. So hätten die Jesuiten einen verhängnisvollen, das bien public gefährdenden Keil zwischen den König und sein parlement getrieben und von Beginn an das französische Rechtssystem unterwandert.
Das von Le Paige und Coudrette entworfene verschwörungstheoretische Bild des Ordens war nicht nur ein Meisterwerk antijesuitischer Propaganda, sondern unübersehbar auch antiabsolutistisch aufgeladen. Ihre Beschreibung der "despotischen" Organisationsstruktur des Ordens und der Art und Weise, wie er sich in Frankreich angeblich festgesetzt habe, entsprach einer alternativen, die bestehenden Verhältnisse in Frage stellenden Vision vom Aufbau eines idealen Staates. Nach dieser Vorstellung hätten die parlements und nicht der König das letzte Wort in allen wichtigen Staatsangelegenheiten, denn die Magistrate in den Obergerichten repräsentierten die Nation und seien die Hüter der Grundgesetze des Königreiches. Die parlements hätten daher die Pflicht, einem König Widerstand zu leisten, der von bösartigen Ratgebern fehlgeleitet und von den Jesuiten getäuscht worden sei. Eine zentrale Aussage des Buches lautete, dass ein König, der die parlements systematisch überging, sich alsbald in einen Despoten verwandeln würde, der Frankreich beherrsche wie der Jesuitengeneral seinen Orden. Diese antiabsolutistische Dimension der Histoire générale war eine der wesentlichen Ursachen für die Verfassungskrise um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die zum Konflikt zwischen dem französischen König und dem parlement führte.
Zusammenfassung: (Gegen-) Aufklärung und die Polarisierung der europäischen Öffentlichkeit
Nicht nur die Feinde der Jesuiten arbeiteten mit Verschwörungstheorien. Die Verteidiger des Ordens waren ebenso anfällig für derartige Denkweisen wie ihre Gegner und warnten vor "ces hommes puissans, dont les effets combinés annoncent depuis long-tems une conjuration formée contre le Trône et l'Autel".49 Mit den "mächtigen Männern" konnten sowohl die Aufklärer als auch die Jansenisten gemeint sein. Konventionelle Katholiken machten zwischen beiden ohnehin meist keinen Unterschied. Eine berühmte katholische Verschwörungstheorie, die im Zuge der Debatten der 1760er Jahre neu belebt wurde, ging davon aus, dass es sich bei den frühen Jansenisten tatsächlich um Deisten handelte, die insgeheim den Untergang des Christentums und der katholische Kirche herbeiführen wollten. Um ihr Ziel zu erreichen, propagierten sie moralische Normen, die so streng waren, dass sie den durchschnittlichen Christen abschrecken mussten.50 "Esprit d'indépendance", "libertinage" und "vaine philosophie", so die Anhänger dieser Theorie, seien die Folgen dieser perfiden Verschwörung und die Ursachen der Schwierigkeiten, mit denen die Kirche zu kämpfen hatte.51 Die Unterstützer der Gesellschaft Jesu stimmten meist darin überein, dass die Offensive gegen den Orden nur die erste Etappe eines Prozesses war, der am Ende zum völligen Zusammenbruch der politischen und gesellschaftlichen Ordnung führen würde:
Voilà ce qui fait tant de rebelles, & de-là tant d'incrédulles; car quand une fois on a secoué le joux [sic] de l'obéissance & de la soumission dûe à l'Eglise la foi s'éteint & devient morte & il n'en coute pas plus de ne rien croire, que de se révolter contre toutes les Décisions qui contrarient nos penchants ….52
Einige Autoren waren davon überzeugt, dass der Fall der Jesuiten schon bald die Herrschaft der Philosophie einleiten würde – eine furchtbare Vorstellung, wie eine recht sarkastische "dame philosophique" im Jahr 1762 bekräftigte:
Société avide d'honneur & d'estime, que voulez-vous de mieux? L'ébranlement de l'Autel n'honore-t-il pas assez votre chûte? N'est-il pas glorieux de ne plus être, quand on est tombé avec tant d'éclat? Nous allons être Philosophes; tout ce qui ne l'est pas, vous donne déjà des regrets & des larmes, que la seule Philosophie pourra essuyer. … Siecle avenir [sic], vous jouirez du fruit de notre sagesse. Encore un instant: la Société tombe; & le regne de la Philosophie, élevé sur ses ruines, ne finira plus.53
Paradoxerweise stimmten die Jansenisten mit ihren Gegnern vollkommen darin überein, dass sich Glaube und Kirche in einem bedenklichen Zustand befänden. Während die Unterstützer der Jesuiten jedoch die Ursache dieses Niedergangs in einer unheiligen Allianz von Jansenisten und philosophes sahen, gingen die Jansenisten von einer stillschweigenden Zusammenarbeit zwischen Jesuiten und Ungläubigen aus. Nach Meinung der Jansenisten hatte die lockere Moral der Jesuiten dem Deismus und dem Libertinismus den Weg bereitet:
Mais n'est-il pas visible que la Morale licencieuse des Casuistes conduit aussi d'une autre manière, qui n'est pas moins dangereuse, à l'incrédulité & aux blasphêmes contre la Religion? Quelle idée veut-on qu'un libertin se forme de la sainteté du Christianisme, quand on lui en présentera la Morale sous une forme aussi méprisable & aussi manifestement indigne de Dieu?54
Ein jansenistischer Autor, der sich direkt an d'Alembert und andere philosophes wandte, suggerierte, dass zwischen den Jesuiten und den philosophes kein wirklicher Unterschied bestehe und die Verfehlungen letzterer sogar noch größer seien:
Leurs principes, leurs maximes sont les vôtres, leur morale est la vôtre, jusqu'au régicide inclusivement. L'unique différence, c'est que leur politique & leur intérêt les portent à arborer un certain dehors de religion, au lieu que vous affichez hautement l'impiété. Qu'est-ce qu'un vrai Jésuite, sinon un Philosophe déguisé; & qu'est-ce qu'un Philosophe, sinon un Jésuite manifeste?55
Diese Bemerkung des Juristen Louis-Adrien Le Paige markiert einen eindeutigen Wendepunkt des jansenistischen Propagandafeldzuges. Ab Mitte der 1760er Jahre nahm das Interesse der parti janséniste für die bereits besiegten Jesuiten ab. Stattdessen richteten sie ihre Aufmerksamkeit und publizistische Energie verstärkt gegen die philosophes, deren Erfolge als meinungsbildende Kraft in der europäischen Öffentlichkeit zunehmend offensichtlich wurden. Die Jansenisten gesellten sich dabei zu jenen, die den Verfall von Religion und Religiosität beklagten und für die Herausbildung eines "antiphilosophischen Diskurses" (Darrin McMahon) verantwortlich waren.56 Paradoxerweise trugen die europäischen Debatten im Zuge der Jesuitenkontroverse also weniger zur Verbreitung aufklärerischer Ideen bei als vielmehr zur Entstehung eines antiphilosophischen Diskurses, der zu einem wesentlichen Bestandteil der Gegenaufklärung im späten 18. Jahrhundert wurde. Die Tatsache, dass das Medienereignis überhaupt stattfand, leistete jedoch in einer bestimmten Hinsicht dem Prozess der Aufklärung Vorschub, und alle Teilnehmer trugen dazu bei, ob gewollt oder ungewollt. Denn allein die Tatsache, dass eine transnationale publizistische Debatte zu so wichtigen Themen wie Religion, Glaube und Politik über mehrere Jahre hinweg andauerte, beschleunigte ganz sicher den Prozess der Polarisierung und Politisierung der europäischen Öffentlichkeit. Daher lässt sich das von der Zerschlagung der Jesuiten ausgelöste Medienereignis ebenso als Phänomen der Gegenaufklärung deuten wie als Symptom der Aufklärung.