Nationalrevolutionäres Potential seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert
Die Entstehung eines nationalrevolutionären Potentials in griechischsprachigen Milieus ist seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts dokumentiert1. Zentrale Impulse dafür kamen aus dem Raum der mittel- und westeuropäischen Diaspora, was in hohem Maße die zeitgenössischen politischen Verwerfungen reflektierte, die durch die Französische Revolution von 1789 ausgelöst worden waren.
Zwar waren gelegentliche lokale oder auch regionale Revolten christlicher Untertanen im osmanischen Südosteuropa schon länger bekannt – beispielsweise der Orlow-Aufstand, der 1770 im Zuge des russisch-osmanischen Krieges (1768–1774) auf der Peloponnes ausbrach und Teile Mittel- sowie Nordwestgriechenlands erfasste. Allerdings verfolgten diese Erhebungen noch keine explizit nationalemanzipatorische Programmatik und wiesen überhaupt nur recht unscharfe politische Ziele auf.
Ebenso gab es schon länger gelegentliche Äußerungen von Unzufriedenheit mit der osmanischen Herrschaft, die sich jedoch ausnahmslos in einem von der Orthodoxen Kirche geprägten Denkrahmen bewegten, in dem das "Joch der ungläubigen Türken" als Strafe Gottes zur "Züchtigung der Rechtgläubigen" interpretiert wurde, dadurch allerdings zugleich auch eine heilsgeschichtliche Legitimierung erfuhr. Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tauchten erste Artikulationen einer auf säkularen Argumenten fußenden Kritik an bestehenden politischen wie sozialen Verhältnissen auf, die auf eine zunehmende Verbreitung der Aufklärung im osmanischen Südosteuropa zurückgingen.2
Zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erschienen Texte in griechischer Sprache, die unmittelbar unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der nachfolgenden Ereignisse standen. Ihre Neuartigkeit bestand darin, dass in ihnen über die bereits bekannte Gegenwartskritik hinaus erstmals auch die radikale Umwälzung bestehender Verhältnisse durch den Einsatz von Gewalt als eine realistische Option für die nahe Zukunft präsentiert wurde. Den Auftakt dieser neuen Revolutionsliteratur markieren die Schriften von Rigas Velestinlis (auch bekannt als Rigas Feraios, 1757–1798[]), der aus Thessalien stammte und nach einer Karriere als Sekretär in Konstantinopel sowie in den Donaufürstentümern Moldau und Walachei schließlich in den 1790er Jahren nach Wien gelangt war, wo er sich fortan publizistisch betätigte. Sein bedeutendstes politisches Manifest war ein 1797 erstellter Verfassungsentwurf. Er war eng an die französische Revolutionsverfassung von 1793 angelehnt und propagierte die Schaffung eines als "Hellenische Republik" bezeichneten Staates in den Grenzen des Osmanischen Reiches, unter Beteiligung aller seiner Untertanen ohne Ansehen von Herkunft und Religion.3
Es folgten verschiedene revolutionäre Schriften aus der Feder von Adamantios Korais (1748–1833)[], einer Leitfigur der griechischen Aufklärung, der von 1788 bis zu seinem Lebensende in Paris lebte und somit aus nächster Nähe Augenzeuge der Französischen Revolution geworden war. Er publizierte von 1800 an eine Reihe von Revolutionsgedichten, die an das von Velestinlis in Wien verfasste Kriegslied Thourios anknüpften, das in der Folgezeit zu großer Popularität gelangte4, sowie politische Essays wie das Mémoire sur l’état actuel de la civilisation dans la Grèce von 1803, das in diesem Zusammenhang einen Schlüsseltext darstellt.5 Diese Schriften lieferten wiederum das Vorbild für weitere Revolutionspamphlete, die im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts anonym zu zirkulieren begannen.6
Alle diese Texte waren direkt oder indirekt von den aktuellen kriegerischen Entwicklungen in der Region inspiriert, insbesondere von der französischen Ostmittelmeerexpedition des Jahres 1798, in deren Verlauf sich zwischenzeitlich eine grundsätzliche Umwälzung des politischen Status Quo im osmanischen Südosteuropa abgezeichnet hatte.
Auch inhaltlich reflektieren sie in hohem Maße zeitgenössische europäische Geistesströmungen, die durch eine idealisierende Wahrnehmung der klassischen griechischen Antike und ihre axiomatische Erhebung zum universellen Kulturparadigma gekennzeichnet waren. Während aber die idealisierte griechische Antike im Westen als Referenzgröße für ein okzidentales Europakonzept in Abgrenzung zum "unzivilisierten" Orient fungierte, erlangte sie im Südosten eine spezifische politische Brisanz, da sie hier mit einer Identifizierung von modernen mit antiken Griechen einherging. Diese Identifizierung, die zur Kerndoktrin des griechischen Nationalismus wurde, lieferte die argumentative Grundlage dafür, die osmanische Herrschaft über die Griechen als Unrecht darzustellen und ihre zukünftige Überwindung nicht allein als Akt der nationalen Befreiung zu begreifen, sondern auch mit der Erwartung einer kulturellen Wiedergeburt zu verknüpfen und somit die Sache der griechischen Freiheit gar zu einem Anliegen der europäischen Zivilisation zu machen.
Die Rahmenbedingungen am Vorabend des Unabhängigkeitskrieges
Die Etablierung der Wiener Restaurationsordnung von 1815 schuf zunächst eine allgemein schlechte Konjunkturlage für nationalrevolutionäre Bewegungen, aber in Südosteuropa hatte die vorangegangene Periode der Napoleonischen Kriege auch zu einer deutlichen Erosion der osmanischen Staatsmacht geführt. Die Donaufürstentümer Moldau und Walachei waren nach langjähriger russischer Besatzung (1806–1812) vertragsgemäß entmilitarisiert worden und standen somit nur noch unter ephemerer Oberherrschaft der Hohen Pforte. Serbien, das bereits 1804 revoltiert hatte, war seit dem zweiten Aufstand (1815–1817) teilautonom und auf dem Weg, ein souveränes Fürstentum zu werden. Außerdem war es schon vorher verschiedenen osmanischen Provinzpotentaten gelungen, beachtliche Territorien des Balkanraums über lange Zeiträume der faktischen Kontrolle durch die Zentralregierung zu entziehen und eigene Herrschaften zu errichten. So beherrschte etwa Osman Pazvandoğlu von Vidin (1758–1807) nach seiner Rebellion im Jahre 1794 zeitweise ein Gebiet in den Grenzen des heutigen Bulgarien und Ostserbien, was seinerzeit eine zusätzliche Inspiration für die revolutionären Pläne von Rigas Velestinlis geliefert hatte, der in seinem Thourios auch konkret auf ihn verwies. Ein anderer Fall war Ali Tepedelenli (ca. 1744–1822), der als Pascha von Ioannina (seit 1788) mit Südalbanien, Epirus, Westmakedonien und Thessalien den gesamten Südwestbalkan kontrollierte und von 1807 an als faktisch unabhängiger Alleinherrscher regierte, bis er 1822 von der Zentralregierung militärisch besiegt wurde. Die Rebellion Alis hatte eine wichtige Vorbildfunktion für den griechischen Unabhängigkeitskrieg von 1821, denn viele seiner prominenten militärischen Protagonisten hatten vormals als Söldner in seinen Diensten gestanden und somit aus eigener Anschauung erfahren, dass es durchaus möglich war, die Herrschaft des Sultans erfolgreich in Frage zu stellen.
Für die Entstehung einer akut revolutionären Situation war jedoch nicht nur das Bewusstsein entscheidend, dass ein politischer Umsturz prinzipiell möglich war, sondern auch der Wille, ihn aktiv herbeizuführen. Voraussetzung dafür war die Vergrößerung des entsprechenden Unzufriedenheitspotentials unter griechischsprachigen Eliten, die sich im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts beobachten lässt.7 Es handelte sich dabei weniger um arrivierte Gruppen wie etwa die Fanarioten8, die bereits fester Bestandteil des soziopolitischen Establishments im Osmanischen Reich waren, als vielmehr um Angehörige einer aufstrebenden Mittelschicht von Intellektuellen sowie Kaufleuten, die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit wachsendem Erfolg im Fernhandel mit Mittel- und Westeuropa betätigten. Diese Kaufleute hatten dabei auch in beachtlichem Maße von den Nebenwirkungen der 1789 eingeleiteten Kriegsperiode profitieren können und wurden durch deren Ende folglich mit der Perspektive drohender ökonomischer Rückschläge konfrontiert.9
Klare Hinweise auf solche Zusammenhänge liefert die Filiki Etaireia (sinngemäß: Gesellschaft der Freunde), die 1814 im russischen Odessa gegründet wurde. Diese nach dem Vorbild von Freimaurerlogen aufgebaute Geheimgesellschaft mit Affinitäten zu den italienischen Carbonari markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung der griechischen Nationalbewegung, da sie im Unterschied zu diversen Bildungsvereinen der vorangegangenen Jahre, deren Programmatik nur mittelbar revolutionär war10, erstmals eine allgemeine Erhebung zur "Befreiung des Vaterlandes" von osmanischer Herrschaft zu ihrem einzigen Ziel erklärte.11 Ihre Gründer, Emmanouil Xanthos (1772–1852), Nikolaos Skoufas (1779–1818) und Athanasios Tsakalof (1788/1790–1851), waren ebenso wie die ersten Mitglieder ausnahmslos Kaufleute mit allenfalls mäßigem Geschäftserfolg, relativ schwacher Vernetzung und ohne sonderlich ausgeprägten Bildungshintergrund. Sie bildeten somit eine Gruppe, die durch einen radikalen Umsturz der Verhältnisse nur relativ wenig zu verlieren, jedoch potentiell viel zu gewinnen hatte. Aufschlussreich ist ferner die geographische Verbreitung der Filiki Etaireia, deren Mitgliederbasis in Russland und den Donaufürstentümern deutlich stärker war als in den Gebieten, die später den griechischen Nationalstaat bildeten.12
Entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis und programmatischen Anspruch kann die Filiki Etaireia nicht als nationale Befreiungsbewegung bezeichnet werden, da ihr die Massenbasis fehlte. Selbst in ihrer Hochkonjunkturphase, die etwa 1818 einsetzte, erreichte sie nur einen verschwindend geringen Teil der griechischen Bevölkerung. Immerhin gelang es aber ihrer Führung mithilfe freimaurerischer Attitüden und Verschleierungspraktiken, bei ihren Adressaten das Erscheinungsbild einer Massenorganisation mit straffer Hierarchie zu vermitteln und erfolgreich das Gerücht zu streuen, dass an ihrer Spitze Russland und sogar niemand Geringerer als der Zar selbst stehe.13 Die historische Relevanz der Filiki Etaireia für den griechischen Unabhängigkeitskrieg liegt somit vor allem in der Katalysatorfunktion, die sie in seinem Vorfeld erfüllte, während sie nach dessen Ausbruch 1821 keine politisch tragende Rolle mehr spielen konnte und bald im Reich der nationalen Legende verschwand.
Auftakt: Der Aufstand in den Donaufürstentümern (1821)
Angesichts der Tatsache, daß wesentliche Impulse für die Formierung der Nationalbewegung von Diasporagemeinden wie Paris, Wien und Odessa ausgingen, ist es bezeichnend, dass auch der Unabhängigkeitskrieg selbst seinen Ausgang nicht etwa im Kerngebiet des nachmaligen griechischen Staates nahm, sondern in einer Region, die weder damals noch später jemals als griechisches Nationalterritorium betrachtet wurde.
Am 22. Februar 1821 überquerte Alexandros Ypsilantis (1792–1828)[], ein in russischen Diensten stehender Offizier griechischer Herkunft und zugleich einer der wenigen Fanarioten, der der Filiki Etaireia beigetreten war und auch gleich ihre Leitung übernommen hatte, mit einer etwa fünfhundert Mann zählenden Freiwilligenlegion, der Heiligen Kompanie, von Bessarabien aus den Fluss Pruth und fiel in das Fürstentum Moldau ein, dessen Hauptstadt Iași sich ihm zwei Tage später ohne Widerstand ergab. Von dort aus zog er weiter nach Süden in Richtung Bukarest, das er am 17. März erreichte, allerdings nicht lange halten konnte, da er vor überlegenen osmanischen Truppen zurückweichen musste, die mittlerweile die Donau überquert hatten und mit russischer Erlaubnis in die entmilitarisierten Donaufürstentümer vorrückten. Sie stellten Ypsilantis schließlich am 19. Juni 1821 im oltenischen Drăgășani, wo die Heilige Kompanie vernichtend geschlagen wurde.
Der Feldzug von Ypsilantis sollte den Anstoß zu einer allgemeinen Erhebung gegen die osmanische Herrschaft geben, wie sie Rigas Velestinlis in seinen revolutionären Schriften entworfen hatte. Das erhoffte Echo blieb jedoch aus, da die Mehrheit der rumänischen Bevölkerung dem Aufstand verhalten bis negativ gegenüberstand, zumal sie als ihre Unterdrücker weniger die osmanischen Türken als vielmehr die einheimischen Bojaren sowie die griechischen Fanarioten ansah. Auch ein ursprünglich geplantes Zusammengehen mit dem Pandurenführer Tudor Vladimirescu (ca. 1780–1821), der zeitgleich mit Ypsilantis einen Aufstand in der Walachei begonnen hatte und im März 1821 mit diesem in Bukarest zusammentraf, erwies sich wegen dieser Interessendivergenz bald als unrealisierbar, was die Grenzen überregionaler Kooperation unter den osmanischen Balkanchristen aufzeigte.14
Während das Scheitern der griechischen Revolte in den Donaufürstentümern unter den gegebenen Umständen vorgezeichnet erscheint, verhielten sich die Dinge an der Südspitze der Balkanhalbinsel ganz anders, denn dort war mittlerweile eine allgemeine Erhebung im Gange, deren Zentrum auf der Peloponnes lag. Sie wird konventionell auf den 25. März 1821 datiert, der als religiöser Feiertag von Mariä Verkündigung heute zugleich auch griechischer Nationalfeiertag ist, obwohl ihr Beginn tatsächlich einige Tage früher gelegen haben dürfte.
Eskalation I: Die Erhebung der Peloponnes, Mittelgriechenlands und der Inseln (1821)
Nachdem sich die Aufständischen in zeitlicher Abstimmung an verschiedenen Punkten der Peloponnes und Mittelgriechenlands formiert hatten, gelang es ihnen relativ schnell, einen Großteil dieses Gebiets unter Kontrolle zu bringen, indem sie die osmanischen Lokaltruppen auf wenige Festungen zurückdrängten, die daraufhin belagert wurden und sich nach einiger Zeit ergaben. Lediglich das arkadische Tripolis, ziviles und militärisches Verwaltungszentrum der Osmanen, widersetzte sich länger und wurde erst Ende September 1821 in einem blutigen Angriff eingenommen, der in ein brutales Massaker an der größtenteils muslimischen Bevölkerung mündete. Nach der Peloponnes und Mittelgriechenland weitete sich die Erhebung im Frühjahr 1821 auch auf die Ägäis-Inseln aus, allen voran Hydra, Spetses und Psara, die in den folgenden Jahren eine entscheidende Rolle im Seekrieg spielten. Auch in anderen Gebieten bildeten sich Aufstandsherde, so etwa in Thessalien, Epirus, Südwestmakedonien, auf der Halbinsel Chalkidiki und in Thrakien, die jedoch zu schwach und isoliert waren und schnell zerschlagen wurden.
Als die Nachricht von der Erhebung auf der Peloponnes sich verbreitete, kam es in verschiedenen Städten des Osmanischen Reiches zu Ausschreitungen gegen die griechische Bevölkerung, zu deren prominentesten Opfern der Patriarch von Konstantinopel, Gregor V. (1745–1821), zählte. Dieser hatte zwar entsprechend seiner Amtsverpflichtung als milletbaşı bzw. Ethnarch der orthodoxen Untertanen des Sultans die Aufständischen umgehend in aller Form exkommuniziert – ebenso, wie er 1798 die revolutionären Schriften von Rigas Velestinlis offiziell verurteilt hatte –, wurde jedoch am Ostersonntag in vollem Ornat von einem hauptstädtischen Mob gelyncht, der sich dabei zumindest der wohlwollenden Billigung der Staatsorgane sicher sein konnte. Ähnliches spielte sich im Juli 1821 auf Zypern ab, wo neben dem Erzbischof auch der gesamte höhere Klerus umgebracht wurde.
Abgesehen von der Gewalttätigkeit, die den griechischen Unabhängigkeitskrieg von Beginn an kennzeichnete, dokumentieren die genannten Vorgänge, dass ihm auch von osmanischer Seite eine weit über eine Lokalrevolte hinausgehende Dimension zugeschrieben wurde. Zugleich weisen sie darauf hin, dass dieser Konflikt nicht nur national, sondern auch religiös aufgeladen war. Tatsächlich sahen ihn viele der Aufständischen durchaus als einen Glaubenskrieg zwischen Christen und Muslimen, eine Sichtweise, die keineswegs nur Angehörige bildungsferner Milieus betraf und sehr bald auch einschlägige symbolische Verankerungen erfuhr.15 Ihre sichtbarste war die Festlegung des Kreuzes als Zeichen des Aufstands, woraus später Staatswappen und -flagge Griechenlands hervorgingen, die bis heute gültig sind.16 Sie wurde im Rahmen der griechischen Revolutionsverfassung von Epidavros vom 1. Januar 1822 beschlossen. Es stellt das erste Dokument dieser Art mit explizit gesamtnationalem Geltungsanspruch dar und enthält zugleich die erste offizielle Selbstbezeichnung der Aufständischen als Hellenen. Die Verfassung von Epidavros markiert somit einen wichtigen Schritt im Hinblick auf die politische Transformation der Revolte zur nationalen Erhebung. Andererseits war sie jedoch nur Zwischenstation in einem Konstitutionalisierungsprozess, der bereits in den ersten Monaten des Unabhängigkeitskrieges eingesetzt hatte und in der Folgezeit weitergeführt wurde.17 Schon im Verlauf des ersten Kriegsjahres hatten sich verschiedene Aufstandsregierungen gebildet und Lokalverfassungen verabschiedet, nämlich eine auf der Peloponnes, zwei in Mittelgriechenland und weitere auf den Inseln.18 Diese Lokalverfassungen blieben auch nach der Verabschiedung der Verfassung von Epidavros in Kraft und wurden erst im März 1823 formal annulliert, während die Lokalregierungen, die sie geschaffen hatten, faktisch noch jahrelang fortbestanden.
Dies spiegelt die außerordentlich starken Partikularkräfte im Lager der Aufständischen wider, die den Unabhängigkeitskrieg in seinem gesamten Verlauf maßgeblich prägen sollten und wesentlich dazu beitrugen, dass er wiederholt an den Rand des Scheiterns geriet. Sie waren auch Ausdruck der soziokulturellen Heterogenität des Aufstandsgebiets, das von sehr unterschiedlichen, historisch gewachsenen Eliten- und Klientelstrukturen gekennzeichnet war, die auch nach der griechischen Staatsgründung noch lange Zeit fortwirkten.
Akteure und Klientelstrukturen
Das Kerngebiet des Unabhängigkeitskrieges, aus dem 1830/1832 der griechische Staat hervorging, zerfiel in drei historische Hauptregionen mit jeweils unterschiedlichem kulturgeographischem Profil: Erstens die Peloponnes bzw. Morea, zweitens das mittelgriechische Festland inklusive inklusive Attika und der Insel Euböa, das allgemein als "Roumeli" bezeichnet wurde, sowie drittens die Ägäischen Inseln.19
Auf der Peloponnes dominierte eine Grundbesitzerelite ziviler Notabeln, die Kotzampasides (Koça Başı), die seit Beginn des 18. Jahrhunderts ein fester und entsprechend privilegierter Bestandteil des osmanischen Herrschaftsgefüges waren.20 Ihr Interesse lag folglich vor allem darin, diese vorrevolutionäre Führungsposition unter den veränderten Bedingungen aufrechtzuerhalten, das heißt vor allem, keine Veränderungen etablierter Besitzverhältnisse an Grund und Boden zuzulassen und ihre althergebrachten Privilegien nach Möglichkeit zu verteidigen. Daraus erklärt sich, dass bei dieser Gruppe auch die Tendenz zu landsmannschaftlichem Partikularismus besonders stark ausgeprägt war. Dasselbe gilt für die an der Südspitze gelegene Halbinsel Mani, die einen gesonderten Raum bildete, weil sie aufgrund ihrer unzugänglichen Lage von den Osmanen niemals direkt kontrolliert wurde und faktisch eine Clanherrschaft der Familie Mavromichalis darstellte.
Das mittelgriechische Festland hatte eine ganz andere Sozialstruktur, die von vergleichsweise kleinteiligem Grundbesitz und insgesamt schwacher Urbanisierung bei relativ beschränkter maritimer Anbindung dieser in weiten Teilen zerklüfteten Bergregion geprägt war. Hier dominierte eine militärische Elite irregulärer Krieger, die Armatolen, die von den Osmanen als christliche Milizionäre zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit in Dienst genommen wurden, als sozioprofessionelle Gruppe aber fließende Übergänge zu den von ihnen verfolgten Räuberbanden aufwiesen. Sie waren unter Druck geraten, als die Osmanen nach dem Orlow-Aufstand begannen, bei der Vergabe solcher Milizaufträge zunehmend muslimische Albaner zu favorisieren. Im Grunde stellte der Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges für sie aber keine einschneidende Wende dar – viele von ihnen waren zudem schon vorher an der Revolte Alis beteiligt gewesen –, da er kaum mehr als einen veränderten Rahmen für die Fortführung ihres traditionellen Gewerbes als unabhängige Kriegsunternehmer bedeutete, nicht aber einen radikalen Umsturz der alten Ordnung. Dies erklärt auch, warum es besonders in diesem Milieu zu häufigen Absprachen einzelner Truppenführer mit den Osmanen kam, die von individuell vereinbarten Waffenruhen bis hin zu temporären oder dauerhaften Seitenwechseln reichten.21
Anders wiederum verhielten sich die Dinge auf den Ägäischen Inseln als dritter historischer Region, die in der Periode vor dem Unabhängigkeitskrieg die vergleichsweise stärkste Entwicklung auf ökonomisch-sozialem Gebiet durchlaufen hatte. Hier dominierte eine Elite von Seekaufleuten, der es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelungen war, sich unter Ausnutzung günstiger politischer Großkonjunkturlagen im Mittelmeerhandel zu etablieren, u.a. als Nutznießer des 1774 geschlossenen Friedensvertrags von Küçük Kainarca, der die Anerkennung Russlands als Schutzmacht der orthodoxen Untertanen des Sultans sowie die Durchfahrt von unter russischer Flagge segelnden Schiffen durch die Meerengen beinhaltete. Unter diesen Rahmenbedingungen kam es in der Folgezeit nicht nur zu einem signifikanten demographischen Aufschwung, der auch kleine, abgelegene Inseln erfasste, die bis dahin eher Piratennester als Drehscheiben des überregionalen Handels gewesen waren, sondern auch zur Anhäufung beträchtlicher Privatvermögen, die in den Aufbau einer Handelsmarine investiert wurden und 1821 das finanzielle Rückgrat des Seekriegs bildeten.22 Räumliche wie soziale Mobilität in Kombination mit zunehmend engeren Kontakten zum westeuropäischen Raum machte diese Seekaufleute zu prädestinierten Rezipienten eines Fortschrittsgedankens moderner Prägung und beförderte in ihrem Milieu die Ausbildung eines Mentalitätsprofils, das im weiteren Sinne durchaus als bürgerlich zu charakterisieren ist.
In dieser Hinsicht standen sie einer weiteren Akteursgruppe nahe, die zahlenmäßig zwar klein war, jedoch eine wichtige Rolle im Unabhängigkeitskrieg spielte. Es handelt sich um Angehörige einer griechischen Intelligenzija, die aus den Metropolen des Osmanischen Reichs sowie aus den europäischen Diasporagemeinden stammten und sich nach Ausbruch des Aufstands eingefunden hatten, um aktiv an seinem Erfolg mitzuwirken. Ihr oftmals breiter Bildungshorizont qualifizierte sie für die Übernahme wichtiger organisatorischer, politischer sowie diplomatischer Kompetenzen: Sie waren Initiatoren und Träger des Konstitutionalisierungsprozesses, sie bemannten die entstehenden staatlichen Strukturen, und sie waren es vor allem auch, die als Sprachrohr des Aufstands in Westeuropa fungierten, was bei fortschreitendem Konflikt immense Bedeutung erlangte. Als Zugewanderte bzw. "Heterochthone" ohne indigene Klientelnetze gerieten sie jedoch bald ins Schussfeld einheimischer bzw. "autochthoner" Eliten, die danach trachteten, die ortsfremde Konkurrenz aus ihren Führungspositionen zu verdrängen. Damit entstanden Konflikte, die noch weit in die Zeit nach der Staatgründung hineinwirkten.
Schließlich sind Personen zu nennen, die bis dahin in keinem der obengenannten Milieus etabliert gewesen waren, denen es aber gelang, sich im Krieg als Freischärlerführer zu profilieren und auf diese Weise zu Rang und Namen zu kommen. Ihr Einfluß basierte auf militärischem Prestige und persönlichem Charisma, bei einigen jedoch auch auf dem Umstand, dass sie sich zu Wortführern der Besitzlosen machten. Beispiele sind etwa der aus ärmsten Verhältnissen stammende mittelgriechische Krämer Ioannis Makrygiannis (1797–1864) oder der peloponnesische Räuberhauptmann Theodoros Kolokotronis (1770–1843), der 1822 einen wichtigen Zwischensieg gegen die Osmanen errang und in der Folgezeit zur militärischen Leitfigur des Aufstands avancierte.
Derartige Karrieren wurden einerseits durch die Ausnahmesituation ermöglicht, die der Ausbruch der Revolte geschaffen hatte, andererseits aber auch durch die spezifischen Formen dieses Kampfes befördert, die zugleich einen Schlüssel zum Verständnis der zahlreichen internen Konflikte im Lager der Aufständischen liefern. Der griechische Unabhängigkeitskrieg wurde von Freischärlerverbänden getragen, die keiner zentralen Leitung unterstanden. Ihr einziger Zusammenhalt basierte auf der persönlichen und dementsprechend wechselhaften Loyalität der selten mehr als einige Hundert, meist jedoch eher nur Dutzende zählenden Mannschaften gegenüber ihrem jeweiligen Anführer bzw. kapetan.23 Durch diesen massiven organisatorischen Nachteil geriet der Aufstand einige Jahre später tatsächlich ins militärische Aus. Im zweiten Kriegsjahr reichten diese Kräfte jedoch noch für eine Serie wichtiger Etappenerfolge.
Eskalation II: Nationalisierung des Konflikts im zweiten Kriegsjahr (1822)
Eine neue Eskalationsstufe wurde erreicht, als die osmanische Zentralregierung 1822 die zur Bekämpfung von Revolten üblichen Aushebungs- und Marschbefehle an die Paschas der Region erteilte. Von Epirus aus brach ein Heerhaufen unter Führung von Reşid Mehmed Kütahı und Omer Vrioni in Richtung Süden auf, nachdem die Liquidierung Alis in Ioannina zu Beginn des Jahres und die Niederschlagung eines lokalen Aufstands in der Bergregion Souli ihnen die dafür nötige Handlungsfreiheit verschafft hatten. Von Thessalien aus zog Mahmud Dramalis (1780–1822) gegen die Peloponnes, die er im Sommer des Jahres erreichte, ohne unterwegs auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Schon im Frühjahr war darüber hinaus eine osmanische Kriegsflotte von Konstantinopel in die Ägäis entsandt worden, die Ende März die Insel Chios besetzte und ein Massaker an der Bevölkerung anrichtete, das einen Aufschrei der Empörung in der europäischen Öffentlichkeit auslöste und der bereits vorhandenen philhellenischen Strömung gewaltigen Auftrieb verlieh.24
Gegen den Aufstand richteten sich somit drei große Angriffskeile, von denen jedoch am Ende keiner sein Operationsziel erreichte:
Der epirotische Heerzug unter Kütahı und Omer Vrioni lief sich vor der westmittelgriechischen Hafenstadt Messolongi fest, die erfolglos belagert wurde, nachdem es den Aufständischen gelungen war, die Versorgung der Stadt von See aus sicherzustellen. Nach einem gescheiterten Sturmangriff am Weihnachtstag 1822 zogen sich die osmanischen Truppen demoralisiert ins Umland zurück.
Das thessalische Heer unter Dramali erreichte zwar ungehindert die Peloponnes und nahm die strategisch wichtige, von den Aufständischen jedoch unbesetzt gelassene Festung Akrokorinth am Isthmus kampflos ein. Ende Juli erlitt es aber in der Dervenakia-Schlucht auf dem Weg zwischen Korinth und Nafplion eine fast vernichtende Niederlage gegen Theodoros Kolokotronis, der mit dieser Schlacht den Unabhängigkeitskrieg rettete und zugleich seinen Ruf als herausragender Militärführer begründete.
Die osmanische Kriegsflotte blieb bis zum Sommer des Jahres im Hafen von Chios vor Anker, wo sie im Juni Ziel von Branderangriffen25 der Aufständischen wurde, denen es sogar gelang, das Flaggschiff zu zerstören und dabei den befehlshabenden Admiral zu töten. Ein Teil der Flotte setzte sich daraufhin nach Norden in Richtung Dardanellen ab, der andere segelte zur Peloponnes, wurde aber von den Flotten der Inseln Hydra und Spetses gestellt und im Oktober des Jahres schließlich durch weitere Branderangriffe bei der Insel Tenedos gezwungen, ebenfalls den Rückzug in die Meerengen anzutreten.
Mit dem Scheitern dieser drei Offensiven im Jahr 1822 hatte die Pforte ihre militärischen Mittel zur Bekämpfung der Revolte zunächst verbraucht, und die Aufständischen mussten zumindest bis auf weiteres nicht mehr mit massiven Angriffen osmanischer Truppen rechnen.
Verfassungskrise und Bürgerkriege von 1823/1824
Die militärischen Erfolge des zweiten Kriegsjahrs hatten die Revolte vor akuten äußeren Bedrohungen bewahrt, allerdings brachen nun die internen Konflikte im Lager der Aufständischen mit umso größerer Heftigkeit hervor. Sie artikulierten sich zunächst als ein politischer Partizipationskonflikt, der jedoch bald in zwei aufeinander folgende Bürgerkriege mündete.
Die zu Jahresbeginn 1822 verabschiedete Verfassung von Epidavros war ein stark von der französischen Revolutionsverfassung von 1795 inspiriertes Dokument, das dem Prinzip der Gewaltenkontrolle in radikaler Form Rechnung trug. Zu den geistigen Impulsgebern dieser Verfassung gehörte neben Alexandros Mavrokordatos (1791–1865) und Theodoros Negris (1790–1824) auch der italienische Carbonaro Vincenzo Gallina (1795–1842), der 1821 mit europäischen Verfassungstexten im Gepäck nach Griechenland gekommen war.26 Ihr vom Gedanken der Machtbalance geprägtes Staatskonzept mochte geeignet sein, Sympathien bei demokratisch gesinnten Kreisen in der europäischen Öffentlichkeit zu wecken und dem Aufstand ein westlich-modernes Außenprofil zu verleihen. Für die praktische Anwendung jedoch erwies sich das, was schon in Frankreich nicht lange funktioniert hatte, schnell als völlig unbrauchbar, da es denkbar wenig Bezug zu den soziopolitischen Rahmenbedingungen im aufständischen Griechenland hatte.
Die Ende März 1823 im peloponnesischen Astros zusammengetretene Zweite Nationalversammlung machte es sich daher zur Aufgabe, die Verfassung von Epidavros im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der zentralen staatlichen Ebene zu korrigieren, indem sie das ursprünglich absolute Vetorecht der "Exekutive" gegenüber Gesetzesvorlagen des Parlaments zu einem lediglich suspensiven Veto abschwächte, was faktisch die Monopolisierung der Legislativgewalt durch das Parlament bedeutete. Der in der Verfassung von Astros unternommene Zentralisierungsversuch, der auch von weiteren Maßnahmen wie etwa der formalen Aussetzung der Lokalverfassungen von 1821 begleitet wurde, war in hohem Maße vom Interessenkonflikt zweier politischer Lager geprägt, die sich mittlerweile formiert hatten: einerseits die "Archonten", die sich aus Angehörigen der zivilen Eliten zusammensetzten und das Parlament dominierten, andererseits die "Militärs", die in der "Exekutive" vorherrschten.27 Die Entmachtung der "Exekutive" bedeutete insofern nicht zuletzt einen Sieg der etablierten Eliten über die erst mit dem Krieg zu Einfluss gelangte Gruppe der militärischen Parvenüs.
Dieser Sieg war allerdings nur vorläufig, denn die dadurch ausgelösten Gegenreaktionen führten zu einem Bürgerkrieg, der im November 1823 ausbrach und sich bis zum Juni 1824 hinzog. Den Anstoß gaben die Militärs, indem sie das Parlament gewaltsam aus seinem Tagungsort in Argos vertrieben. Dieses zog sich daraufhin in den vor der Insel Hydra gelegenen Küstenort Kranidi zurück, wo es im Dezember 1823 eine neue "Exekutive" wählte und damit seine eigene Regierung schuf. Die Militärs verlegten sich im Gegenzug ins arkadische Tripolis, wo sie Anfang 1824 ein neues Parlament bildeten und auf diese Weise eine zweite Aufstandsregierung ins Leben riefen, die nun weitgehend unter dem Einfluss der Peloponnesier stand.
Die Regierung von Kranidi, die von den Insulanern sowie dem mittelgriechischen Freischärlerkommandeur Ioannis Kolettis (1773/1774–1847) dominiert wurde, konnte allerdings unter Berufung auf die Nationalversammlung von Astros größere Legitimität für sich beanspruchen. Sie verstand es auch, diesen Legitimitätsanspruch im europäischen Ausland geltend zu machen, wo der Aufstand an der Südspitze der Balkanhalbinsel von einer philhellenisch eingestellten Öffentlichkeit aufmerksam und mit wachsender Anteilnahme verfolgt wurde. Dies ermöglichte ihr den Zugriff auf eine erste europäische Geldanleihe, die im Frühjahr 1824 in London für die Sache der griechischen Freiheit vereinbart wurde.28 Die Aussicht auf dieses Geld versetzte sie in die Lage, Soldzahlungen vorzunehmen bzw. glaubhaft zu versprechen, was sich im Sommer des Jahres als Schlüssel für ihren militärischen Sieg über die Gegenregierung in Tripolis erwies.
In der Auseinandersetzung der beiden Aufstandsregierungen von Kranidi und Tripolis während der ersten Jahreshälfte 1824 zeichnete sich bereits eine Verschiebung der zentralen Konfliktachse von einer anfangs eher "vertikalen" Konstellation – das heißt etablierte zivile Eliten gegen militärische Aufsteiger – hin zu einer eher "horizontalen" nach landsmannschaftlich-regionalen Parametern ab. Dies kam zur vollen Ausprägung im zweiten Bürgerkrieg vom November und Dezember 1824, der sich in seinem Verlauf vor allem als Konflikt zwischen den von den Insulanern unterstützten Mittelgriechen auf der einen und den Peloponnesiern auf der anderen Seite darstellt. Letztere waren nach Ende des ersten Bürgerkriegs politisch weitgehend marginalisiert worden und hatten daraufhin ein Bündnis gebildet, das die zentrale und westliche Peloponnes faktisch kontrollierte und die Regierung von den relativ bedeutenden Steuereinnahmen aus diesem Gebiet abschnitt. Diese entsandte daraufhin Truppen, die aus einer von Kolettis geschmiedeten Koalition mittelgriechischer Warlords bestanden und das Land in einem verheerenden Plünderungsfeldzug verwüsteten.
Auch aus diesem Konflikt ging das Regierungslager somit als Sieger hervor: Die unterlegenen Peloponnesier wurden entweder zur Flucht gezwungen oder inhaftiert, wie etwa der Sieger von Dervenakia, Theodoros Kolokotronis. Zu einer nachhaltigen Stabilisierung führte das Ende des zweiten Bürgerkriegs allerdings nicht, denn nur wenige Wochen später verschlimmerte sich die militärische Lage drastisch.
Eskalation III: Internationalisierung des Konflikts (1825–1827)
Ende Februar 1825 landete bei Methoni im Südwesten der Peloponnes ein 17.000 Mann starkes ägyptisches Expeditionskorps, das modern bewaffnet und von französischen Militärinstrukteuren nach europäischen Standards ausgebildet worden war. Es stand unter der Führung von Ibrahim Pascha (1789–1848), dem Sohn des damals nur noch formal dem Osmanischen Reich unterstehenden Vizekönigs von Ägypten, Muhammad Ali Pascha (1769–1849), dem die Pforte für seine militärische Intervention die Übertragung der Insel Kreta sowie der Peloponnes versprochen hatte.
Die Freischärlerverbände der Aufständischen hatten diesen Truppen abgesehen von Störmanövern mit Guerillataktiken nichts entgegenzusetzen. Nach weitgehend ungehindertem Ausbau des Brückenkopfes um die Bucht von Navarino herum machte sich Ibrahims Korps an die Eroberung der Peloponnes, besetzte im Juni 1825 das arkadische Tripolis und erreichte wenige Tage später die Stadt Argos im Nordosten der Halbinsel. Ein weiterer Vormarsch in Richtung Isthmus von Korinth wurde durch ein erfolgreiches Abwehrgefecht der aufständischen Griechen bei den Mühlen von Lerna sowie durch logistische Probleme verhindert. Stattdessen bewegte sich das Korps in Richtung Nordwesten durch die Peloponnes, um die Belagerung von Messolongi zu verstärken, die Kütahı Pascha vom mittelgriechischen Festland aus im Frühjahr 1825 erneut aufgenommen hatte. Da es den Angreifern diesmal gelang, die Stadt effektiv von der Seeversorgung abzuschneiden, fiel Messolongi im April 1826, nachdem die Verteidiger in aussichtsloser Lage einen Sturmangriff unternommen hatten, bei dem die Mehrzahl ums Leben kam, während die in der Stadt Zurückgebliebenen sich selbst in die Luft sprengten.
Der Exodus von Messolongi markierte einen militärischen Wendepunkt, denn nach Einnahme dieser Stadt gelang es den Osmanen relativ schnell, das mittelgriechische Festland wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.29 Bereits im Juli 1826 erreichte Kütahı Athen und ließ die Akropolis belagern. Die aufständischen Griechen waren damit von Norden und Süden in die Zange genommen und kontrollierten abgesehen von denjenigen Inseln, die der Unterwerfung (Kreta) oder Zerstörung (Psara, Kasos) entgangen waren, nur einen schmalen Gebietsstreifen im Nordosten der Peloponnes um Nafplion und Korinth.
Messolongi markierte jedoch auch einen politischen Wendepunkt, denn der Untergang der Stadt, an deren Verteidigung auch viele namhafte Philhellenen teilgenommen hatten, darunter der berühmte englische Dichter George Gordon Noël Lord Byron (1788–1824)[], löste in Europa ein öffentliches Echo aus, das noch stärker war als seinerzeit beim Massaker von Chios. Erstmals erwogen nun auch die Kabinette der Großmächte eine politische Intervention zugunsten der aufständischen Griechen. Schon am 4. April 1826, wenige Tage vor dem Ende der Belagerung, hatten Großbritannien und Russland in St. Petersburg ein Protokoll unterzeichnet, das die Schaffung eines autonomen griechischen Staates unter osmanischer Suzeränität als Lösung des Konflikts projektierte, wobei sich die beiden Großmächte zugleich als zentrale Vermittlungsinstanzen positionierten. Das Petersburger Protokoll, dem im Jahr darauf eine entsprechende Vereinbarung zwischen Großbritannien und Frankreich folgte, die Londoner Konvention vom 6. Juli 1827, bildete den formalen Auftakt für den Positionswechsel dieser Staaten von interessierten Beobachtern zu beteiligten Akteuren und leitete zugleich eine Entwicklung ein, an deren Ende 1830 bzw. 1832 die Schaffung des souveränen Königreichs Griechenland als Produkt europäischer Großmachtdiplomatie stand.30
Die Intervention der Großmächte blieb nicht allein auf das Feld internationaler Diplomatie beschränkt, sondern nahm bald sehr viel handgreiflichere Formen an. Im Oktober 1827 versenkte ein vereinigtes britisch-französisch-russisches Geschwader, das bereits seit einigen Monaten in der Ägäis kreuzte, die ägyptische Invasionsflotte Ibrahims in der Bucht von Navarino. Damit fiel eine wichtige Vorentscheidung für die zukünftige Unabhängigkeit Griechenlands, die weiter zementiert wurde, als Russland dem Osmanischen Reich im Jahr darauf den Krieg erklärte, seine Armee bis vor die Tore Konstantinopels vorrücken ließ und ihm 1829 den demütigenden Friedensvertrag von Adrianopel aufzwang, der u.a. eine Bestimmung zur griechischen Autonomie nach serbischem Vorbild enthielt.
Auch innerhalb Griechenlands wurde der Einfluss der Großmächte in dieser Phase signifikant stärker, zumal sie mittlerweile begannen, konsularische Vertretungen in den größeren Orten einzurichten, was eine quasistaatliche Anerkennung der Aufständischen implizierte – Russland unterhielt solche Vertretungen freilich schon seit dem Frieden von Küçük Kainarca 1774.
Im Herbst 1825 hatten die Aufständischen Wahlen zur Bildung einer Dritten Nationalversammlung ausgerufen, die Anfang April 1826 im peloponnesischen Piada bzw. Nea Epidavros zusammentrat, ihre Arbeit jedoch kurz darauf wieder einstellten musste. Grund waren massive Differenzen zwischen zwei Interessengruppen, die nun bezeichnenderweise nach den Großmächten benannt waren: die "englische", an deren Spitze Ioannis Kolettis stand, und die "russische" unter Führung von Theodoros Kolokotronis.31 Im August 1826 zerfiel die Nationalversammlung in zwei Fraktionen, die sich an jeweils eigene Tagungsorte begaben, die "englische" auf die Insel Ägina und die "russische" in das bei Kranidi gelegene Dorf Ermioni. Erst nach langwieriger Vermittlungstätigkeit, die weitgehend von britischer Seite getragen wurde32 und während der es wiederholt zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den verfeindeten Lagern kam, gelang es, die Abgeordneten beider Seiten zu einer gemeinsamen Versammlung zu bewegen, die im März 1827 im peloponnesischen Troizina zusammentrat.
Sie verabschiedete dort im Mai des Jahres eine dritte Revolutionsverfassung, die an die US-amerikanische Verfassung von 1787 angelehnt war und das Konzept der Präsidialdemokratie verankerte. Diese Abkehr vom Prinzip radikaldemokratischer Machtbalance, das die ersten Verfassungen gekennzeichnet hatte, zugunsten einer deutlichen Stärkung der Exekutivgewalt mag zu einem gewissen Grade als Reaktion auf die Negativerfahrungen der vorangegangenen Konflikte zu sehen sein. Sie hatte jedoch auch einen konkreten Hintergrund, denn schon vor Verabschiedung der Verfassung hatte die Dritte Nationalversammlung in Troizina einstimmig Ioannis Kapodistrias (1776–1831) zum ersten Regenten (Κυβερνήτης) Griechenlands mit siebenjähriger Amtszeit gewählt.
Staatsbildung mit Rückschlägen (1828–1832)
Der aus Korfu stammende Ioannis Kapodistrias (bzw. Capo d'Istria) hatte in der Zeit vor dem griechischen Unabhängigkeitskrieg Karriere im russischen diplomatischen Dienst gemacht, u.a. als Bevollmächtigter des Zaren auf dem Wiener Kongress von 1815. Mit Kapodistrias, der vor 1821 kaum an die Möglichkeiten einer bewaffneten Erhebung geglaubt hatte33, sich nach deren Ausbruch aber zunehmend mit seinen griechischen Landsleuten solidarisierte, stand somit ein Staatsmann von europäischem Format zur Verfügung, von dem man erwarten konnte, dass er in der Lage sein würde, der Sache der griechischen Unabhängigkeit nach innen wie nach außen Kontur zu geben.
Nachdem er Anfang 1828 in Nafplion eingetroffen war, setzte Kapodistrias unverzüglich ein umfangreiches Aufbauprogramm in Gang, das sich auf nahezu alle Bereiche staatlichen, wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Handelns erstreckte und das angesichts der denkbar schwierigen Ausgangsbedingungen, unter denen es begonnen wurde, als überaus ambitioniert zu bezeichnen ist. Es umfasste so grundlegende Aspekte wie die Verwaltungsorganisation des Staatsgebiets, das im Sinne der von Kapodistrias betriebenen Zentralisierungspolitik in Departements gegliedert wurde, ferner die Homogenisierung der Rechtsprechung durch Ausarbeitung eines modernen Zivilkodex, die allerdings über erste Anfänge nicht hinauskam, und nicht zuletzt den Versuch der Schaffung eines professionellen Militärapparats, der in der Lage sein sollte, nicht nur den Krieg fortzusetzen, sondern auch die Durchsetzung der Regierungspolitik gegen Widerstände im Inneren zu gewährleisten. Kapodistrias schuf außerdem die ersten Grundlagen eines staatlichen Bildungswesens sowie erste Ansätze einer öffentlichen Sozialfürsorge und setzte darüber hinaus wichtige Impulse in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dazu gehörten Innovationen im Agrarsektor mittels Anschaffung von zeitgemäßKartoffel, sowie der Gründung einer landwirtschaftlichen Schule in Tiryns. Ferner wurde der nach Jahren des Krieges darniederliegende Seehandel mittels gesetzgeberischer Maßnahmen und gezielter Bekämpfung der Piraterie wiederbelebt. Bereits im Februar 1828 war eine staatliche Geschäftsbank zur Mobilisierung einheimischer wie ausländischer Kapitalreserven gegründet sowie eine Landeswährung, der Phönix, eingeführt worden, die allerdings wenige Jahre später wieder zusammenbrach.34
Für die Realisierung seines ehrgeizigen Staatsbildungsprogramms stand Kapodistrias kaum mehr zur Verfügung als Sachkenntnis und persönliches Ansehen, denn im Lande gab es keine nennenswerten Finanzmittel und von einem Auslandsdarlehen, das man ihm in Europa vor Annahme der Regentschaft unverbindlich in Aussicht gestellt hatte, wurde ihm nach erheblicher zeitlicher Verzögerung lediglich ein Bruchteil ausbezahlt. Erschwerend kam hinzu, daß für die Londoner Geldanleihe von 1824 – gefolgt von einer weiteren 1825, die ebenso wie die erste zum großen Teil in den Taschen griechischer Vermittler und europäischer Philhellenen versickert war – Rückzahlungen ausstanden. 1829 mußte der Schuldendienst für diese offiziell eingestellt werden, so daß Griechenland das seltene Beispiel für einen Staat liefert, der schon vor seiner eigenen Unabhängigkeit in den Finanzbankrott geriet.
Angesichts dieser Situation war Kapodistrias umso mehr darauf bedacht, sich wenigstens gegenüber eventueller interner Opposition größtmöglichen Handlungsspielraum zu sichern, weswegen er als eine seiner ersten Amtshandlungen im Januar 1828 unter Berufung auf den Ausnahmezustand die Verfassung von Troizina außer Kraft setzte und daraufhin alle wichtigen Entscheidungskompetenzen auf seine Person vereinigte. Kapodistrias konnte bei der Etablierung seiner faktischen Alleinherrschaft anfangs durchaus auf das Einvernehmen der einheimischen politischen Kräfte zählen – die Aussetzung der Verfassung etwa erfolgte mit ausdrücklicher Zustimmung des Parlaments, das sich bei dieser Gelegenheit gleich selbst auflöste. Mittelfristig aber stießen seine autokratisch-paternalistische Regierungspraxis und sein rigides Zentralisierungs- und Modernisierungsprogramm auf wachsenden Widerstand. Die Opposition gegen sein Regime erhielt nach der französischen Julirevolution von 1830 noch zusätzlichen Auftrieb, bis Kapodistrias im September 1831 einem Attentat zum Opfer fiel, das von Angehörigen der Familie Mavromichalis begangen wurde. Diese hatte zuvor eine Revolte auf der von ihr kontrollierten Halbinsel Mani entfacht, die Kapodistrias mit russischer Hilfe niederschlug, wobei er das Familienoberhaupt Petrobey Mavromichalis (1765–1849) inhaftieren ließ. Was vordergründig als Akt atavistischer Blutrache erscheint, hatte indes weiterreichende politische Hintergründe, denn die Attentäter konnten sich bei ihrem Vorgehen auf die Unterstützung der britischen und französischen Konsulatsvertreter verlassen, die möglicherweise sogar Drahtzieher des Anschlags waren.35
Das Interesse Großbritanniens und Frankreichs richtete sich dabei auf die Eindämmung des russischen Einflusses in Griechenland, als dessen Exponenten man Kapodistrias ansah. Dieselbe Überlegung hatte bereits eine Rolle gespielt, als im August 1828 während des russisch-osmanischen Krieges ein 14.000 Mann starkes französisches Armeekorps unter Leitung von General Nicolas-Joseph Maison (1771–1840) auf die Peloponnes entsandt wurde, dessen vordergründiger Auftrag in der Entwaffnung des ägyptischen Expeditionskorps bestand, das dort aber bis 1833 stationiert blieb.
Nach dem Tod von Kapodistrias wurde die Regierungsgewalt von einem Triumvirat übernommen, das aus Theodoros Kolokotronis, Ioannis Kolettis sowie Avgoustinos Kapodistrias (1778–1857), dem jüngeren Bruder des ermordeten Regenten, bestand. Sie beriefen im Dezember 1831 eine weitere Nationalversammlung in Argos ein, die kurz darauf Avgoustinos Kapodistrias zum Präsidenten ernannte. Dieser machte sich umgehend daran, seine beiden Konkurrenten zu entmachten, was bald zu einer erneuten Spaltung der Regierung führte. Kolettis sprach der Nationalversammlung von Argos ihre Legitimität ab und begab sich mit seinen Anhängern nach Perachora bei Korinth, wo er seine eigene Nationalversammlung einberief und eine eigene Regierungskommission ernannte. Wieder einmal standen sich somit zwei verfeindete Aufstandsregierungen gegenüber, die sich in diesem Fall aus dem Lager der "Regierungsanhänger" (Κυβερνητικοί) um Avgoustinos Kapodistrias und dem Lager der "Konstitutionalisten" (Συνταγματικοί) um Kolettis zusammensetzten.
Den nachfolgenden Bürgerkrieg konnten die "Konstitutionalisten" mit ihrem Sieg in der Schlacht am Isthmus im März 1832 für sich entscheiden. Im Juni des Jahres beriefen sie ihre Nationalversammlung in Argos erneut ein36, die allerdings bald gezwungen war, ihren Tagungsort erst nach Nafplion und dann in das nahe gelegene Pronoia zu verlegen, da im Aufstandsgebiet mittlerweile allgemein anarchische Verhältnisse herrschten. Zu ihren letzten Amtshandlungen gehörte im Juli 1832 die einstimmige Bestätigung der zuvor von Großbritannien, Frankreich und Russland beschlossenen Einsetzung Ottos von Wittelsbach (1815–1867) als zukünftigen König von Griechenland. Ihre zwei Tage später erfolgte Ankündigung, eine neue Verfassung ausarbeiten zu wollen, stieß dagegen auf klare Ablehnung seitens der Großmächte, die im August des Jahres mittels ihrer konsularischen Vertreter für ihre gewaltsame Auflösung sorgten. Damit beseitigten sie allerdings zugleich das einzige noch verbliebene politische Repräsentationsorgan des griechischen Unabhängigkeitskrieges.
Griechenland als europäisches Projekt
Die Schaffung des griechischen Staates war das Ergebnis einer Kette internationaler Verträge zwischen Großbritannien, Frankreich, Russland und dem Osmanischen Reich. Nachdem im Friedensvertrag von Adrianopel vom 14. September 1829 zunächst lediglich die Autonomie Griechenlands mit einem christlichen Fürsten unter osmanischer Suzeränität vereinbart worden war, folgte im Londoner Protokoll vom 3. Februar 1830 die Festlegung auf eine souveräne Erbmonarchie. Als deren König wurde im Londoner Vertrag vom 7. Mai 1832 der Sohn des Königs von Bayern bestimmt und zugleich der Status Großbritanniens, Frankreichs und Russlands als Garantiemächte festgelegt. Die endgültige Festlegung der Staatsgrenzen erfolgte schließlich im Vertrag von Konstantinopel vom 9. Juli 1832 sowie im Londoner Protokoll vom 18. August 1832.
Diese Vertragskette wäre ohne den Unabhängigkeitskrieg zwar niemals zustande gekommen, folgte jedoch, einmal in Gang gebracht, ihren eigenen Mechanismen, die vom Krieg selbst allenfalls mittelbar beeinflusst wurden und noch viel weniger dessen tatsächlichen Verlauf widerspiegelten. Es waren dementsprechend auch weniger die Kampfhandlungen selbst, die sich als entscheidend erwiesen, als vielmehr deren mediale Rezeption in der europäischen Öffentlichkeit. Diese setzte bereits im ersten Kriegsjahr ein und entwickelte in der Folgezeit eine spezifische Eigendynamik, die naturgemäß stark von Projektionen und Stereotypenbildungen geprägt war. Dabei lassen sich drei zentrale Motive lokalisieren, die teils traditionelle, teils aber auch sehr aktuelle Bezüge hatten:
- Die Wahrnehmung des Aufstands als Kampf eines christlichen Volkes gegen seine muslimischen Unterdrücker und die daraus abgeleitete Solidaritätspflicht für die christlichen Glaubensbrüder.
- Die Wahrnehmung des Aufstands als Kampf eines europäischen Kulturvolkes gegen orientalische Barbarei und die daraus abgeleitete Solidaritätspflicht für die Völker der zivilisierten Welt.
- Die Wahrnehmung des Aufstands als Kampf eines freiheitsliebenden Volkes, dem man zudem die Erfindung der Demokratie zuschrieb, gegen despotischen Absolutismus und Herrscherwillkür.
Dem letztgenannten Motiv kam vor dem zeitgenössischen Hintergrund der Wiener Restaurationsordnung besonderes Gewicht zu, da es dem griechischen Unabhängigkeitskrieg eine Ventil- und Vorbildfunktion für demokratisch-liberale Strömungen in der europäischen Öffentlichkeit verlieh.
Die aufständischen Griechen fungierten somit als polyvalente Projektionsfläche für religiöse, kulturelle und politische Idealvorstellungen, die umso eindringlicher wirkte, als mit den osmanischen Türken – sei es in der Rolle von Glaubensfeinden, von Barbaren oder von Despoten (bzw. allen dreien) – eine ebenso polyvalente Negativfolie zur Verfügung stand. Daraus resultierten entsprechend einseitige Opfer-Täter-Zuschreibungen, welche die europäische Wahrnehmung des Unabhängigkeitskrieges dominierten und zugleich das vordergründig paradoxe Phänomen erklären, dass es weniger die militärischen Siege der Griechen als vielmehr die Niederlagen und Katastrophen waren, welche die internationale Aufmerksamkeit für den Aufstand beförderten und somit politische Erfolge wurden.
Das betraf zunächst das Massaker von Chios 1822, das eine erste Welle der öffentlichen Empörung und Solidarität auslöste, gefolgt vom Exodus von Messolongi 1826, der diesbezüglich eine zweite Hochkonjunktur einleitete. In vielen westeuropäischen Städten kam es in dieser Zeit zu Spendenaktionen sowie zur Gründung von Vereinen und Komitees zur Unterstützung der Griechen.37 Als Organisationen, die vom Bürgertum getragen wurden, boten diese Vereine zugleich einen institutionellen Rahmen für Meinungsaustausch und politische Artikulation und trugen auf diese Weise zum Prozess der zivilgesellschaftlichen Formierung in vorparlamentarischer Zeit bei. Durch ihre überregionale Vernetzung setzten sie darüber hinaus Impulse für die Konstituierung einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit.38
Diese Entwicklung war mit einer bis dahin beispiellosen medialen Verarbeitung verbunden, deren Erscheinungsformen sehr vielfältig waren. An erster Stelle ist hier die intensive Berichterstattung der europäischen Presse zu nennen, durch die der Krieg fest im Nachrichtenalltag breiter Leserschichten installiert wurde. Eine zentrale Rolle spielten dabei Zeitungen, Zeitschriften, Journale etc. mit überregionaler Reichweite.39
Zur medialen Verarbeitung gehörten ferner Denkschriften und memoirenartige Berichte aus der Feder persönlich beteiligter Philhellenen40, sowie diverse Traktate mit mehr oder weniger wissenschaftlichem Anspruch, die während des Unabhängigkeitskrieges ebenfalls in großer Zahl erschienen. So publizierte etwa der Leipziger Gynäkologe und Kinderarzt Johann Christian Gottfried Jörg bereits im ersten Kriegsjahr eine Denkschrift mit dem Titel Die Wichtigkeit des jetzigen griechisch-türkischen Kampfes für das physische Wohl der Bewohner des europäischen Continents (Leipzig 1821), während der Züricher Jurist Conrad Melchior Hirzel eine Bibelexegese mit dem Titel Der heiligen Propheten Aufruf für die Befreiung Griechenlands aus dem Worte Gottes enthoben (Zürich 1822) vorlegte. In diesem Zusammenhang entstanden jedoch auch durchaus seriöse Arbeiten wie etwa Claude Fauriels Chants populaires de la Grèce moderne (2 Bde., Paris 1824/25), die den Beginn der systematischen Volksliedforschung in Griechenland markiert.
Noch viel zahlreicher waren die belletristischen und insbesondere lyrischen Verarbeitungen des Unabhängigkeitskrieges. Obwohl sich darin auch einige europäische Literaten von Format hervortaten – darunter etwa Victor Hugo (1802–1885)[] mit seiner 1829 erschienenen Gedichtsammlung Les Orientales, oder Adelbert von Chamisso (1781–1838)[] mit seinem vom Massaker inspirierten Gedichtzyklus Chios (Erstdruck 1831) – wurde dieses Feld insgesamt von Autoren dominiert, die bereits unter ihren Zeitgenossen eher zweifelhaften literarischen Ruf genossen und heute weitgehend vergessen sind.41 Insbesondere im deutschsprachigen Raum kam es zu einer regelrechten Flut derartiger Publikationen und Anthologien wie z.B. Hellas an die Teutschen. Ein Jammerschrey um Hülfe in griechischen Hexametern, durch einen teutschen Jüngling […] Jungen Teutschen, Freunden der hellenischen Literatur mitgeteilt von Johann Adam Goez (Nürnberg 1822). Im Hinblick auf ihre Breitenwirkung nicht zu unterschätzen sind ferner Bühnenstücke, von denen zwar einige als reine Lesedramen verfasst wurden, viele jedoch auch aufgeführt wurden, so etwa das 1824 entstandene Drama Die Mainotten von Harro Harring (1798–1870), das die aufständischen Kämpfer der peloponnesischen Halbinsel Mani thematisierte, oder Gioachino Rossinis (1792–1868) Oper Le siège de Corinthe aus dem Jahr 1826.
Überaus zahlreich waren auch die Visualisierungen des Unabhängigkeitskrieges, deren Spektrum von volkstümlichen Stichen bis zu Werken von hohem künstlerischem Anspruch reichte, wofür exemplarisch die beiden von Eugène Delacroix (1798–1863) geschaffenen Ölgemälde Das Massaker von Chios (1824) und Griechenland auf den Ruinen von Messolongi (1826) zu erwähnen sind.42 Das Kaleidoskop zeitgenössischer Medialisierungen wurde durch modische Kleidungsaccessoires nach "griechischer Art" sowie diverse Alltagsgegenstände ergänzt, darunter etwa Geschirrdekors, Spielkarten mit prominenten griechischen Freiheitskämpfern und sogar einer Variante des populären Gesellschaftsspiels Hammer und Glocke unter dem bezeichnenden Titel Phönix und Halbmond.43
Es liegt nahe, der intensiven Rezeption des griechischen Unabhängigkeitskrieges durch die europäische Medienöffentlichkeit auch einen gewissen Einfluss auf die Entscheidungsfindung der Großmächte zugunsten der griechischen Unabhängigkeit zuzuschreiben, obwohl es kaum möglich ist, diesbezüglich konkrete Rückwirkungen zu rekonstruieren. Fest steht, dass die Kabinette der Großmächte dabei neben wie auch immer gearteten philhellenischen Reflexen auch sehr konkreten machtpolitischen Überlegungen folgten. Beide Handlungsmomente, das ideologische wie das machtpolitische, erscheinen in ihrer Art zwar denkbar unterschiedlich gelagert, können aber nicht getrennt voneinander betrachtet werden.
Das machtpolitische Motiv bestand in der Absteckung von Einflusssphären im südosteuropäisch-ostmediterranen Raum vor dem weiteren Hintergrund der Orientalischen Frage, das heißt des fortschreitenden Niedergangs des Osmanischen Reiches als regionaler Ordnungsmacht. Die Schaffung eines christlichen Protektorats an der Südspitze der Balkanhalbinsel lag also im Bereich langfristiger strategischer Interessen der beteiligten Mächte, wenngleich vorerst noch offen bleiben musste, welche von ihnen sich dort auf Dauer als Schutzmacht durchsetzen würde. Diese Frage wurde erst nach der Niederlage Russlands im Krimkrieg (1853–1856) zugunsten Großbritanniens entschieden, das seinen diesbezüglichen Status dann bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgreich aufrechterhalten konnte. Die anfängliche Offenheit der Einflussfrage in Griechenland spiegelte sich auch in der Auswahl des Monarchen wider, denn mit dem bayerischen Prinzen wurde der Vertreter einer neutralen Mittelmacht eingesetzt, die einerseits keine allzu engen Bindungen an eine der beteiligten Schutzmächte hatte, von der andererseits aber auch keine eigene Hegemonialpolitik in der Region zu befürchten war.
Abgesehen von solchen machtpolitischen Überlegungen kam bei dieser Auswahl jedoch auch das andere, ideologische Handlungsmotiv zum Tragen, denn Otto von Wittelsbach war zugleich der Sohn eines der engagiertesten und prominentesten Philhellenen seiner Zeit, Ludwigs I. von Bayern (1786–1868). Dieser war fest entschlossen, aus Griechenland ein Musterkönigreich zu machen, das, wenn schon nicht direkt an den Glanz des antiken Hellas anknüpfen, so doch wenigstens bald in den Kreis der zivilisierten Staaten aufrücken und als Leuchtturm europäischer Kultur im Orient fungieren sollte.44 Zu diesem Zweck stellte er seinem damals noch minderjährigen Sohn eine Regentschaft aus einschlägig ausgewiesenen Staatsbeamten zur Seite, die in relativ kurzer Zeit wesentliche institutionelle Grundlagen des griechischen Staatswesens schufen, darunter die Verwaltungsordnung, die Jurisdiktion, das Schulwesen etc., von denen einige bis heute Bestand haben. Vieles von dem, was Kapodistrias zuvor erfolglos versucht hatte, wurde nun in die Praxis umgesetzt. Allerdings standen der bayerischen Regentschaft dafür auch ungleich wirksamere Mittel zur Verfügung, darunter ein Aufbaukredit von 60 Millionen Goldfrancs45, den die Großmächte im Londoner Vertrag von 1832 ebenfalls beschlossen hatten, nicht zuletzt aber auch ein 3.500 Mann starkes Militärkontingent, das die bayerische Regentschaft begleitete. Seinen symbolträchtigsten Ausdruck fand dieses Programm in der Verlegung der Hauptstadt vom peloponnesischen Nafplion ins damals kaum besiedelte Athen, das seit 1834 eifrig zu einer Residenzstadt mit klassizistischem Architekturprofil[] ausgebaut wurde.
In doppelter Hinsicht war die griechische Staatsgründung somit ein europäisches Projekt: einerseits als Ergebnis von strategischem Großmachtkalkül, andererseits als Gegenstand okzidentalen Missionseifers in Gestalt eines romantischen Philhellenismus. Beide Aspekte, der politische wie der ideologische, wirkten auf ihre Weise als Hypotheken für die Entwicklung des Landes im 19. und 20. Jahrhundert.