Anfänge
Seit der Frühen Neuzeit, in der europäische Entdecker in alle Teile der Welt ausschwärmten, wurden in Europa "exotische" Menschen ausgestellt. Seefahrer brachten Menschen aus den neu erforschten Gebieten mit nach Hause, so wie sie allerhand fremde Gegenstände, Pflanzen und Tiere vorzeigten, um die Exotik und den Reichtum der bis dato unbekannten Länder zu bezeugen.1 Diese "exotischen" Menschen wurden von ihren "Entdeckern" bei Hofe oder auf Jahrmärkten vorgeführt. Schon Christoph Kolumbus (1451–1506) brachte von seiner ersten Reise sieben "Arawak-Indianer" von den Antillen mit; zu Amerigo Vespuccis (1451–1512) "Trophäen" seiner Amerikareisen gehörten über 200 Ureinwohner, die in Spanien auf Jahrmärkten ausgestellt wurden.2 Ein Großteil dieser – meist verschleppten – Menschen starb noch während der Überfahrt nach Europa. Und auch diejenigen, die es nach Europa schafften, hatten kaum eine Chance, die Heimat wieder zu sehen: Oft verkrafteten sie die Begegnung mit der fremden Welt nicht, litten an Heimweh, vertrugen die ungewohnte Nahrung nicht und starben an ihnen unbekannten Krankheiten.
Neben der Zurschaustellung einzelner Menschen gab es seit dem 16. Jahrhundert die ersten größeren Ausstellungen. So berichtet Michel de Montaigne (1533–1592) von einem Dorf des brasilianischen Tupinamba-Stammes, das 1533 in Rouen eingerichtet wurde.3 In Deutschland blieben solche Veranstaltungen bis ins 19. Jahrhundert selten. Erst seit 1870, als nach den großen Umbrüchen in der deutschen Geschichte eine reichsweit gültige Wandergewerbeverordnung in Kraft trat, nahmen reisende Schaustellereibetriebe zu und groß angelegte, überregionale Schauen wurden möglich.4 Gleichzeitig veränderten sich die großen Märkte. Aus Verkaufs- und Handelsveranstaltungen mit gelegentlich angegliedertem Vergnügungsprogramm wurden Märkte mit allen erdenklichen Attraktionen.
1874 veranstaltete Carl Hagenbeck (1844–1913) die erste große Völkerschau, die zum Vorbild aller späteren werden sollte. Die "Lappländer-Ausstellung" zeigte nicht nur die Menschen dieser Region, sondern stellte sie in einen Zusammenhang mit ihren heimischen Lebensumständen. Dazu beschaffte Hagenbeck Nutztiere wie z. B. Rentiere, originale Zelte, Werkzeuge und Schlitten, um die Ausstellung als möglichst authentisches Ensemble zu arrangieren. Auch im Ausland, etwa in Frankreich, feierten Hagenbecks Spektakel große Erfolge, so dass auch die Pariser Weltausstellung von 1889 nicht ohne Völkerschauelemente auskam.5 Bis zum Ersten Weltkrieg boomte das Geschäft mit "exotischen" Menschen in Europa,6 danach brachen, in Deutschland auch durch den Verlust der Kolonien, die Geschäftskontakte zwischen den Agenten im Ausland und den einheimischen Organisatoren ab. Mit dem Aufschwung der Unterhaltungsindustrie in den 1920er Jahren verschwanden die Völkerschauen dann allmählich ganz aus der europäischen Öffentlichkeit.7
Aufbau einer Völkerschau
Ende des 19. Jahrhunderts brachte Carl Hagenbecks Unternehmen das Völkerschaugeschäft zu einer bis dahin nicht gekannten Perfektion. Ausgehend von früheren Schauen, die er selbst besucht hatte, plante Hagenbeck nun größere Ausstellungen mit mehr Menschen und Tieren und ließ kunstvolle Kulissen anfertigen, um beispielsweise Tempel und Basare nachzustellen. Auch die Durchführung wurde immer straffer organisiert: Hagenbeck nutzte alle verfügbaren Mittel der Werbung, um seine Schauen publik zu machen. Dazu gehörten – neben der üblichen Plakatwerbung – Zeitungsannoncen, pompöse Umzüge durch die Stadt und Werbeaktionen mit verbilligten Eintrittspreisen.8 Nach den kommerziellen Erfolgen der Ausstellungen Hagenbeck'scher Prägung entwickelte sich sehr bald ein Muster, nach dem Zurschaustellungen "exotischer" Menschen in Deutschland durchgeführt wurden.
Im Wesentlichen musste eine Schau drei Elemente vereinen, um kommerziell erfolgreich zu sein: Zum einen bediente sie bestehende Klischees – zeigte also die Menschen so, wie es die Zuschauer erwarteten –, zum anderen verknüpfte sie diese Klischees aber mit der Lebenswelt des Publikums, um dadurch Authentizität zu erzeugen. Hierbei ging es zum Beispiel darum, die "Wilden" als Teil einer Familie zu zeigen. Durch die Verknüpfung mit der eigenen Lebenswelt wurde es dem Zuschauer ermöglicht, das Bekannte mit dem Fremden zu vergleichen. Das dritte Element schließlich sollte das Publikum in die Ausstellung locken. Dafür brauchte jede Schau ein einzigartiges Element, etwas unerwartet Neues, das sie von allen anderen Schauen abhob.
Dieses unerwartet Neue suchten die Aussteller in den unterschiedlichen Völkern, weshalb diese für eine Zurschaustellung bestimmte Voraussetzungen erfüllen mussten: Die auszustellende Bevölkerungsgruppe musste in erster Linie die europäische Phantasie anregen. Dazu musste sie entweder als besonders primitiv und naturnah gelten oder sich malerisch darstellen lassen. Außerdem sollte das Leben der "exotischen" Menschen einen gewissen Nervenkitzel beim Besucher erzeugen.9
Hatte sich der Veranstalter für ein bestimmtes Volk entschieden, wurde etwa ein halbes Jahr vor Beginn der Ausstellung die Auswahl und Anwerbung der auszustellenden Menschen in Gang gesetzt. Die Anwerbung besorgten meist Menschen, die hauptberuflich Tierhändler waren und vor Ort diese zusätzliche Aufgabe übernahmen. Die Agenten achteten darauf, möglichst unterschiedliche Vertreter des betreffenden Volkes anzuwerben, also Frauen, Männer, Kinder und Greise. Denn nur so konnte später dem europäischen Publikum ein Eindruck vom Familienleben des Volkes vermittelt werden. Zudem bemühten sich die Aussteller, ihre Gruppe möglichst interessant und heterogen zusammenzustellen. Sie suchten besonders nach solchen Vertretern des betreffenden Volkes, die entweder dem europäischen Schönheitsideal entsprachen oder aber als Vertreter des Typs "Urmensch" besonders abstoßend wirkten. Darüber hinaus sollten die auszustellenden Menschen nicht schüchtern und zurückhaltend sein, sondern die Initiative ergreifen und Kontakt zu den Besuchern herstellen.
Begehrt waren Menschen mit besonderen Fähigkeiten, die beispielsweise ein Handwerk wie die Elfenbeinschnitzerei beherrschten, oder Artisten, Gaukler und Künstler. Diese Menschen boten den Vorteil, dass sie meist den Umgang mit Publikum schon gewohnt waren und es zum Teil auch genossen, sich inszenieren zu können. Tatsächlich sind die Protagonisten der Völkerschauen nicht allein als hilflose Objekte der europäischen Willkür zu betrachten, obwohl das Geschäftsverhältnis nur durch ihre Unfreiheit zustande kommen konnte. Nicht wenige Menschen aus den Kolonien ließen sich aus finanziellen Motiven bereitwillig für Darstellungen in Europa anwerben und kehrten zum Teil nach einigen Jahren wohlhabend in ihre Heimat zurück, wenngleich ihnen in der Regel höchstens ein Bruchteil der Einkünfte aus den Spektakeln ausgezahlt wurde.10 Nach der Anwerbung wurde unter Aufsicht der ortsansässigen Behörden zwischen dem Händler und der Gruppe ein Vertrag geschlossen, der sicherstellen sollte, dass die Gruppe während ihres Auslandsaufenthaltes ausreichend versorgt werden würde und dass für ihre sichere Heimkehr gesorgt war. Zudem regelte der Vertrag die Arbeitszeiten, Bezahlung, Aufgaben und die ärztliche Versorgung der Gruppe.11 Vor der Ausreise mussten noch Pässe ausgestellt und alle Mitglieder der Gruppe geimpft werden. Impfungen von Darstellern in Völkerschauen waren obligatorisch geworden, nachdem viele Gruppen während ihres Europaaufenthaltes fast vollständig von Masern, Pocken oder Tuberkulose dahingerafft worden waren. Doch trotz der Impfungen bestand die Gefahr, dass die Teilnehmer sich durch die Anstrengungen der Reise ihre Gesundheit ruinierten oder bei ihrer Rückkehr in die Heimat europäische Krankheiten einschleppten.
In den Jahren 1875 bis 1930 wurden etwa 400 Gruppen bei Völkerschauen in Deutschland gezeigt. Mindestens 100 Schauen davon veranstaltete die Firma Hagenbeck.12 Ein Großteil der Gruppen kam aus Asien, die meisten aus Ceylon, Samoa und Indien. Afrikanische Gruppen kamen meist aus Somalia, Nubien, Kamerun und Dahomey. Schauen, die sich mit "exotischen" Nordländern befassten, zeigten "Eskimos" und "Lappländer".
Die Veranstalter von Völkerschauen hatten bei der Inszenierung im Wesentlichen die Wahl zwischen drei Ausstellungstypen: Sie konnten die Gruppe in einem Eingeborenendorf inszenieren, so dass der Besucher durch das Dorf schlendern und am "tatsächlichen" Leben des Volkes teilnehmen konnte. Entschied sich der Veranstalter hingegen für eine zirzensische Inszenierung, legte er den Schwerpunkt der Schau weniger auf Alltagserlebnisse, sondern bot den Besuchern ein akrobatisches und artistisches Programm mit einem festen Ablauf an Vorführungen. Die dritte Art der Inszenierung bot die Freak Show. Hierbei stellte der Veranstalter die körperliche Andersartigkeit des zur Schau gestellten Volkes in den Mittelpunkt.
Eine besondere Form der zirzensischen Darstellung bot William Frederick Cody, alias Buffalo Bill (1846–1917)[]. Er entwickelte 1882 eine Wild West Show mit Cowboys und Indianern unter freiem Himmel. Zu der Show gehörten Vorführungen einer Cowboykapelle, die Demonstration verschiedener Reitstile, Artillerieübungen amerikanischer Veteranen und eine Reitvorführung amerikanischer Mädchen. Alle Darbietungen dienten dazu, das Leben in den westamerikanischen Plains anschaulich zu illustrieren. Die zunächst nur in den USA gezeigte Show kam im Jahr 1887 nach London. Zwei Jahre später ging Buffalo Bill mit seiner Wild West Show auf Europatournee.13
Wie bei Buffalo Bill, der seine Shows in zirkusähnlichen Lagern unterbrachte, dienten auch für andere Ausstellungen Zirkusse als Aufführungsorte. Häufig wurden hier in sogenannten Sideshows "exotische" Menschen vorgeführt. Die ersten Sideshows entstanden in den 1840er Jahren in Amerika, erreichten aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Deutschland, wo zum Beispiel der Vorläufer des Circus Krone, eine kleine Wandermenagerie, im Jahr 1870 um eine "Negertruppe" ergänzt wurde.14 Ebenfalls von Bedeutung war das Münchner Oktoberfest, das zum zentralen Ort für Völkerschauen in München wurde. Darüber hinaus konnten "exotische" Menschen in Panoptiken gezeigt werden, die eigentlich Veranstaltungsorte für Wachsfigurenkabinette und frühe Filmvorführungen waren. Die wohl beliebtesten Orte für Völkerschauen waren aber Zoologische Gärten. Neben der malerisch exotischen Kulisse, die die Zoos boten, konnten auch die bei der Ausstellung mitgeführten Tiere professionell untergebracht werden und die Veranstaltung konnte ein gewisses wissenschaftliches Renommee für sich beanspruchen. Je nach Veranstaltungsort konnte eine Ausstellung also unterschiedliche Ansprüche des Publikums befriedigen. Während Panoptiken und Varietés den Schwerpunkt auf das Amüsement der Gäste setzten und einen Hauch von Anrüchigkeit verbreiteten, suggerierten Ausstellungen in Zoologischen Gärten einen wissenschaftlichen Hintergrund mit entsprechender Authentizität des Gezeigten.15
Werbung und Inszenierung
Man kann die Inszenierung von Völkerschauen als einen Stereotypenkreislauf beschreiben. Dabei wurden im Betrachter verankerte Klischees durch die Werbung für eine Schau – beispielsweise auf Plakaten – aktiviert, um später in der Inszenierung bestätigt zu werden und die Besucher zur Bildung neuer Klischees anzuregen.16 Dieses Inszenierungsmuster hatte zur Folge, dass es bei der Planung einer Völkerschau gar nicht so sehr darum ging, Repräsentanten einer Volksgruppe so zu zeigen, wie sie wirklich lebten, beziehungsweise Vorurteile der Zuschauer abzubauen. Vielmehr wurde größter Wert darauf gelegt, Publikumserwartungen auf möglichst spektakuläre Weise zu erfüllen. "Authentizität" war nur insofern wichtig, als dass die Zuschauer die Präsentation für authentisch hielten. Ein Vergleich der Ausstellungen mit Theateraufführungen ist durchaus zulässig: Die Besucher zahlten Eintritt, um sich ein Stück (das Volk der jeweiligen Schau) anzusehen, das von einem Regisseur (dem Veranstalter) in einer bestimmten Weise (zum Beispiel als "Eingeborenendorf") inszeniert worden war. Dazu hatte er geeignete "Schauspieler" ausgewählt, die einen Text (den Ablauf des Programms) lernten und Kostüme (die angebliche oder tatsächliche Tracht ihres Volkes) trugen. Ergänzt wurde die Szene durch Bühnenbilder wie gemalte Fassaden, Hütten, Zelte und für die jeweilige Gruppe spezifische Requisiten, also Tiere und Werkzeuge.17
Damit die Schau ein breites Publikum erreichte, wurde im Vorfeld eine große Werbekampagne gestartet. Begonnen wurde dabei mit der Wahl eines packenden Titels, der zusammen mit entsprechenden Illustrationen auf den Werbeplakaten die Neugier wecken sollte. So lockten die Veranstalter mit "Wild-Afrika", einer "Wakamba-Neger Krieger-Karawane", den "Ersten Lappländer Polarmenschen", einem "Amazonen-Corps" oder auch "Gorilla-Negern".18 Wenn die Teilnehmer der Ausstellung den Gastspielort schließlich erreichten, wurden prächtige Umzüge in der Stadt abgehalten. Am Veranstaltungsort selbst forderten schließlich wortgewandte Rekommandeure die Besucher zum Eintreten auf. Hin und wieder gab es auch besondere Werbeaktionen – so organisierte Buffalo Bill bei seiner Wild West Show 1885 ein "Indian Breakfast", bei dem Neugierige über Holzkohle gegrilltes Rindfleisch serviert bekamen, das mit Hilfe eines angespitzten Holzstocks gegessen wurde.19 Und während der Kanaken-Schau 1931 in Hannover, die sich mit den Bewohnern der französischen Kolonie Neu-Kaledonien beschäftigte, konnten die Besucher im "Kanakenofen" zubereiteten "Kanakenbraten" kaufen – in der Erde geröstetes Schweinefleisch.20
Das mit Abstand wichtigste Medium der Werbung blieben nach wie vor die Plakate, die in großer Vielfalt heute noch in Archiven aufbewahrt werden. Anhand einer Analyse dieser Völkerschauplakate lässt sich rekonstruieren, welche Elemente auf einem Plakat verwendet werden mussten, um bestimmte Assoziationen hervorzurufen und im Betrachter das Bedürfnis zu wecken, die jeweilige Ausstellung zu besuchen.21 Sie deuteten also jenes besondere, unverwechselbar Neue an, das eine Ausstellung von allen anderen abheben sollte. Jedes Plakat kann systematisch einer bestimmten Völkergruppe zugeordnet werden und stellt quasi ein Abbild der Stereotypen dar, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gegenüber verschiedenen Völkern kultiviert wurden. Dabei können die "exotischen" Menschen in folgende Untergruppen eingeteilt werden: Urmenschen, Afrikaner, Araber, Menschen aus dem hohen Norden, Inder, Singhalesen, Indianer und Südseeinsulaner.
Als Urmenschen galten um 1900 all jene Völker, die aus europäischer Sicht unzivilisiert und rückstaendig lebten. Dazu gehörten Feuerländer, Als Urmenschen galten um 1900 all jene Völker, die aus europäischer Sicht unzivilisiert und rückständig lebten. Dazu gehörten Feuerländer, Patagonier, "Hottentotten" (Südafrikaner und Namibier) und "Austral-Neger". Da sich diese Menschen laut allgemeinem Vorurteil auf dem kulturellen Entwicklungsstand von Steinzeitmenschen befanden, wurde auf den Plakaten vor allem diese Primitivität hervorgehoben. Die abgebildeten Menschen waren meist nackt, zeigten wilde Gesten und Mienen und schienen über keinerlei zivilisatorischen Hintergrund, wie etwa eine Religion oder gesellschaftliche Strukturen, zu verfügen.22
Afrikaner – in diesem Fall ausschließlich Schwarzafrikaner – galten zwar als nur unwesentlich fortschrittlicher, trotzdem lag der Fokus der Plakate auf einem anderen Aspekt: Menschen vom "schwarzen Kontinent" wurden für besonders wild gehalten. Um diese Eigenschaft zu unterstreichen, stellten die Plakate sie fast immer mit Waffen und oftmals kämpfend dar. Ihre "Wildheit" und die Tatsache, dass sie von der Jagd lebten, machte sie in den Augen der Europäer den wilden Tieren der Savanne ähnlich, weshalb Afrikaner häufig mit diesen gemeinsam abgebildet wurden. Genau wie die vermeintlichen Urmenschen waren Afrikaner gemäß dem Klischee nicht erwerbstätig, weshalb man sie auf den Plakaten nie arbeiten sieht.23
Ganz anders wurden Araber dargestellt. Obwohl sie geographisch nicht weit von den Afrikanern entfernt lebten, wurden sie auf eine andere Art wahrgenommen. Araber galten nicht als "Naturvolk", sondern als "Kulturvolk". Plakate lockten die Besucher mit den geheimnisvollen Märchen aus 1001 Nacht (1300–1401) an und präsentierten wilde Reiter mit bestickten Gewändern, Schnurrbart und Turban. Sie warben mit Kamelkarawanen, Basaren und erotischen Bauchtänzerinnen und zeigten die Menschen im Kontext ihrer fremdartig erscheinenden Religion.24
Südseeinsulaner wiederum, so suggerierten die Plakate, waren in jeder Hinsicht zu beneiden. Sie lebten im Paradies auf Erden, zwischen Kokospalmen und blaugrünem Wasser in der Wärme des ewigen Sommers. Aus diesem Grund wurden diese Menschen durchweg als freundliche, liebenswürdige Wesen mit sonnigem Gemüt beworben, die tagtäglich nichts anderes taten, als zu singen, Hula zu tanzen und Feste zu feiern. Die Frauen aus dieser Gruppe erschienen oft mit freiem Oberkörper, nur mit Bastrock und Blumengirlanden bekleidet. Während Araber in europäischen Augen vor allem auf den Basaren ihren Geschäften nachgingen und Afrikaner hauptsächlich kämpften, taten Südseeinsulaner nichts von alledem, sondern widmeten sich ausschließlich ihren Spielen und Vergnügungen.25
Ethnien aus Nordamerika erschienen als "Indianer" auf den Völkerschauplakaten. Dabei machten die Veranstalter keinen Unterschied zwischen den zahlreichen Stämmen des Kontinents. "Indianer" bezeichnete immer den Indianer aus den Great Plains, wie ihn die Deutschen aus den Romanen von Karl May (1842–1912)[] kannten oder zu kennen glaubten. Dabei durften auch die standardisierten Requisiten nicht fehlen: Indianer trugen stets Ledergewänder mit Fransen und waren mit Federn geschmückt, sie kämpften mit dem Tomahawk und rauchten danach vor ihrem Wigwam eine Friedenspfeife. Besiegte Feinde wurden an den Marterpfahl gebunden, und an den Füßen trugen Indianer weiche Mokassins. So wollten es die Besucher von Völkerschauen sehen, und so bekamen sie es geboten.26
Zu den Menschen aus dem hohen Norden und Nordosten zählten die "Kalmücken" aus dem Gebiet zwischen Wolga und Don sowie "Eskimos" und "Lappländer" aus dem Polarkreis. Die Plakate mit Darstellungen dieser Völkergruppen zeichneten sich durch ein hohes Maß an Dynamik aus. Fleiß und Arbeit wurden hervorgehoben, die Menschen waren von domestizierten Tieren umgeben und immer in Bewegung. Um in dem lebensfeindlichen Klima überleben zu können, rangen sie der Natur unter hohem Arbeitseinsatz alles Lebensnotwendige ab. In dieser Darstellung ihrer Kultur drückt sich auch die vermeintliche Unabhängigkeit dieser Völker aus. Denn im Verständnis der damaligen Zeit brauchten Menschen aus dem Norden keine verständigen Weißen, die ihnen Zivilisationstechniken beibrachten, sondern waren sehr gut in der Lage, ihr Leben in der Gemeinschaft selbst zu organisieren.27
Nur Inder und Singhalesen, die größte Bevölkerungsgruppe auf der bis 1972 Ceylon genannten Insel Sri Lanka, wurden im Völkerschaugeschäft kulturell noch höher bewertet als die nördlichen Völker. Ihre Kultur galt zwar als fremd, wurde aber dennoch als der europäischen Hochkultur ebenbürtig wahrgenommen. Menschen dieser Gruppen wurden im Gegensatz zu anderen Volksgruppen in allen Facetten des täglichen Lebens dargestellt: sie arbeiteten, pflegten ihre Kultur und praktizierten eine Religion. Der Schwerpunkt vieler Völkerschauen bestand deshalb darin, dem europäischen Publikum die Magie und Mystik der fremden Kultur zu präsentieren.28
Völkerschauen und Kolonialpropaganda
Immer wieder schreiben Historiker, dass die Zurschaustellung "exotischer" Menschen das Interesse an der aktuellen Kolonialpolitik fördern sollte.29 Tatsächlich diente das Medium Kolonialausstellung zwar der Werbung für die deutsche Kolonisation, doch auf den etwa 50 Kolonialausstellungen, die zwischen 1896 und 1940 stattfanden, wurden so gut wie nie Menschen ausgestellt. Nur zwei dieser von staatlicher Seite organisierten Schauen zeigten Menschen aus den deutschen Kolonien: die Erste Deutsche Kolonialausstellung in Berlin 1896 und die Afrika-Schau, die in den Jahren 1935 bis 1940 stattfand. Abgesehen davon hatten Kolonialausstellungen eher einen Messecharakter. Sie sollten neue Erfindungen aus den und für die Kolonien vorstellen und das Leben der deutschen Siedler vor Ort illustrieren.30 Auch das Konzept des Aktivierens bereits vorhandener Stereotypen durch die Völkerschauen nützte der deutschen Kolonialpropaganda wenig. Hätte man ein fremdes Volk als "Werbemaßnahme" für deutsche Kolonien ausstellen wollen, so hätte man die Menschen als zu zivilisierendes Volk inszenieren müssen. Die Veranstalter hätten mit ihrer Ausstellung die Gründe für die Kolonisation erklären müssen, beispielsweise, dass die zivilisatorisch überlegenen Deutschen den "Wilden" Kultur beibringen sollten. Dieses Konzept hätte sich in Völkerschauen aber nur schwer verkaufen lassen, da die Zuschauer weder Kolonialpropaganda geboten bekommen noch zivilisierte "Wilde" sehen wollten, sondern sich ein unverfälschtes "exotisches" Abenteuer wünschten. Und dafür waren Inszenierungskonzepte im Stil der Romane von Karl May und 1001 Nacht besser geeignet.
Tatsächlich erließen der deutsche Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819–1901) und der Kolonialrat im Jahr 1900 ein Gesetz, mit dem die "Ausfuhr von Eingeborenen aus den Kolonien zum Zwecke der Schaustellung" verboten wurde.31 Konteradmiral z. D. Franz Strauch (1846–1928) hatte sich zu den Gründen im Voraus in der Deutschen Kolonialzeitung geäußert: Er merkte an, dass Völkerschauen unabhängig von der Erwerbung deutscher Kolonien schon seit langer Zeit in Deutschland stattfänden und nicht der Bildung des Publikums, sondern dem Gelderwerb ihrer Veranstalter dienten. Gleichzeitig übten Völkerschauen einen schädlichen Einfluss auf die Ausgestellten aus, was das Verhältnis der "Eingeborenen" zu den Kolonialisten empfindlich schädigen könne und deshalb unbedingt zu vermeiden sei.32 Der fehlende wissenschaftliche Anspruch der Veranstalter von Völkerschauen und die Sorge der Kolonialherren um den Ruf der Deutschen und die Stimmung in den "Schutzgebieten" sprachen also entschieden gegen eine Vermischung des Völkerschaugeschäfts mit dem deutschen Kolonialismus.
Völkerschauen und Wissenschaft
Für die akademische Welt boten Völkerschauen neben dem reinen Vergnügen auch einen praktischen Nutzen. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, so etwa Experten der Anthropologie, Ethnologie, Urgeschichte, Medizin und Anatomie, nutzten die zur Schau gestellten Menschen als Forschungsobjekte. Diese Praxis hatte mehrere Gründe: "Exotisches Material" war für die Wissenschaftler nur schwer zu beschaffen – nicht nur war es immer mit aufwändigen Reisen verbunden, vielen Forschern blieb aufgrund der Sprachbarriere auch vor Ort der Zugang zu menschlichen Forschungsobjekten verwehrt. Daher waren die von Schaustellern nach Europa gebrachten "exotischen" Menschen eine gute Alternative, um sich nicht auf riskante, lebensgefährliche und letztendlich möglicherweise unergiebige Reisen begeben zu müssen. Bereits im 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert hatten Gelehrte reges Interesse an den ersten ausgestellten "exotischen" Menschen gezeigt. Nach Hagenbecks Eintritt ins Völkerschaugeschäft intensivierte sich die Zusammenarbeit zwischen Veranstaltern und Wissenschaftlern, besonders mit der 1869 gegründeten Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Deren langjähriger Vorsitzender Rudolf Virchow (1821–1902)[], von Haus aus Mediziner, war fasziniert von anthropologischen Forschungsarbeiten und regte deshalb die Untersuchung von Völkerschauteilnehmern an.33
Besonderes Interesse an "exotischen" Menschen hatten die physischen Anthropologen, die in langwierigen Prozeduren die Körper der Ausgestellten vermaßen. Angelehnt an die Arbeitsweise von Disziplinen wie Botanik und Zoologie versuchten die Anthropologen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Menschen zu beschreiben, in Rassen zu ordnen und Verwandtschaftsverhältnisse der einzelnen Rassen untereinander zu erforschen, so dass das schriftliche und zeichnerische Festhalten von möglichst viel anthropologischem Vergleichsmaterial nötig war.34 Von der Analyse und Synthese der Vermessungsergebnisse erhofften sich die Wissenschaftler Erkenntnisse über die Menschheitsgeschichte, da sie annahmen, dass "Naturvölker" einer niedrigeren Entwicklungsstufe angehörten als "Kulturvölker" und somit den von Charles Darwin (1809–1882)[] gesuchten Missing Link zwischen Affe und Mensch darstellen könnten. Im Vergleich mit ihren Kollegen aus der Anthropologie zogen Ethnologen weitaus weniger Erkenntnisse aus der Erforschung von Völkerschauteilnehmern, da für sie die Einbeziehung des Lebensraumes einen wichtigen Aspekt der Untersuchung darstellte und die offenkundig inszenierten Darstellungen kein Rückschlüsse auf die tatsächlichen Lebensumstände der Menschen ermöglichten.35
Die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Veranstalter im Völkerschaugeschäft brachte nicht nur den Forschern Vorteile. Wenn renommierte Wissenschaftler die Authentizität einer Schau bestätigten, konnte der Aussteller seine Veranstaltung als Bildungsangebot klassifizieren. Besaß eine Völkerschau aber nachweislich Bildungscharakter, so entfiel die Lustbarkeitssteuer, die bis zu vierzig Prozent der Bruttoeinnahmen betragen konnte. Zudem musste der Veranstalter keinen Wandergewerbe-Legitimationsschein beantragen.36 Nach der Jahrhundertwende nahm das wissenschaftliche Interesse an der Untersuchung von Völkerschauteilnehmern ab. Das lag zum einen daran, dass die Schausteller immer öfter "zusammengewürfelte" Gruppen zeigten, denen die für die Wissenschaft nötige Authentizität zu offensichtlich fehlte. Zum anderen setzte sich bei den Forschern zunehmend die Einsicht durch, dass sowohl Ethnologie als auch Anthropologie vor Ort praktiziert werden sollten.37
Das Ende der Völkerschauen
Seit den 1930er Jahren verschwanden Völkerschauen langsam von den Jahrmärkten und Volksfesten. 1931 gastierte mit Hagenbecks Kanaken der Südsee die letzte Ausstellung auf dem Münchner Oktoberfest vor dem Zweiten Weltkrieg.38 Im selben Jahr starb auch Carl Gabriel (1857–1931), der jahrzehntelang Völkerschauen in München organisiert hatte. Gleichzeitig wuchs der Einfluss der Nationalsozialisten, die bezüglich der Einreise von Ausländern, die in Ausstellungen auftreten sollten, gespalten waren. Manche wollten mithilfe von Völkerschauen Kolonialpropaganda betreiben, denn Deutschland hatte nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags alle Kolonien abgeben müssen. Andere hingegen standen diesem propagandistischen Aspekt eher kritisch gegenüber, da Völkerschauen immer die Möglichkeit eines Kontaktes, einer Vermischung von "Schwarzen" und "Weißen", also einer "Rassenvermischung" boten.
Während der Anblick nichteuropäischer Menschen in früheren Jahrzehnten noch Anlass zu ironischem Spott geboten hatte, wurden die Angehörigen "exotischer" Völker unter der nationalsozialistischen Herrschaft als Bedrohung empfunden. Schon bei der Afrika-Schau 1935 hatte man Wert darauf gelegt, dass die ausgestellten Afrikaner in einer kontrollierbaren Gruppe zusammengefasst wurden. Im Jahr 1940 folgte dann das generelle Auftrittsverbot für "Schwarze".39 Doch die Ursachen für das Verschwinden der Völkerschauen dürfen nicht nur im politischen Kontext gesucht werden. In den 1930er Jahren trat der Film als kommerzielles Massenmedium der Unterhaltungskultur in eine starke Konkurrenz zu den Ausstellungen "exotischer" Menschen. Auch im Film dieser Zeit spielte Exotik eine große Rolle, das Medium Film konnte das Sujet sogar noch authentischer vermitteln als die Völkerschauen. Der Spielfilm griff die in den Ausstellungen bedienten Stereotypenkreisläufe auf und vertiefte sie mit eigenen Mitteln. Die Rolle der "exotischen" Menschen in den Schauen übernahmen nun Schauspieler und Komparsen. Der Zuschauer konnte die Abenteuer fremder Länder in aufwändig arrangierten Handlungen miterleben.40
Nach dem Zweiten Weltkrieg tauchten hier und da noch einmal vereinzelt Völkerschauen auf. So wurden auf dem Oktoberfest eine Wildwest Apachen-Schau (1950) und die Völkerschau Hawaii (1951 und 1959) gezeigt. Diese Ausstellungen konnten aber nicht mehr an den Erfolg der Vorgänger anknüpfen.41 Zu groß war die Konkurrenz durch den Film geworden. Aber auch andere Faktoren schmälerten das Interesse an den Völkerschauen. In den 1950er Jahren machte der aufkommende Ferntourismus Völkerschauen für einen Teil der Bevölkerung erst recht überflüssig. "Exotische" Menschen konnte man von nun an selbst vor Ort in ihrer authentischen Umgebung bestaunen. Man holte das Abenteuer nicht mehr ins eigene Land, sondern konnte es sich leisten, ihm hinterher zu reisen. Auch die zunehmende Kritik an der Zurschaustellung "exotischer" Menschen und eine veränderte Grundhaltung der Europäer außereuropäischen Kulturen gegenüber ließen das Konzept "Völkerschau" schließlich überflüssig werden und verschwinden.