Kommentar

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Prof. Dr. Immacolata Amodeo,  Generalsekretärin, Villa Vigoni, Loveno di Menaggio.

Wie stellt sich das Zusammenwirken der Disziplinen wissenschaftssystematisch dar – ist EGO ein transdisziplinäres, ein interdisziplinäres oder ein multidisziplinäres Projekt?

Ich muss meinen Anmerkungen vorausschicken, dass ich keine Historikerin, sondern Literaturwissenschaftlerin bin. Alles, was ich sage, ist sicherlich durch die Traditionen meines Faches und bestimmte Gepflogenheiten geprägt, die möglicherweise für andere historische Fächer so gar nicht zutreffen (ich würde mich daher besonders über einen – auch korrigierenden – Dialog freuen).

Die erste Frage, die mir als Aufgabe gestellt wurde, war: "Wie stellt sich das Zusammenwirken der Disziplinen wissenschaftssystematisch dar – ist EGO ein transdisziplinäres, ein interdisziplinäres oder ein multidisziplinäres Projekt?"

Diese Frage wurde von Herrn Trischler behandelt, ich möchte daher nicht ausführlich darauf antworten, sondern mich direkt auf einige Punkte beziehen, die Herr Trischler in seinem Impulsreferat angesprochen hat: Ausgehend von dem Anspruch von EGO, "auf die interdisziplinäre Vernetzung der internationalen historischen Europaforschung" abzuzielen, fragt Herr Trischler, inwiefern es gelungen ist, "die je spezifischen Perspektiven der für die historische Europaforschung relevanten Disziplinen zu mobilisieren".

Herr Trischler ordnet die Fachherausgeber (die 22 aktuellen plus die fünf ehemaligen) verschiedenen Disziplinen zu, von den Geschichtswissenschaften (22), über die Literatur- und Sprachwissenschaften (4) und die Musikwissenschaften (1) bis zu den Medienwissenschaften (1). Er stellt fest, dass "das ausdifferenzierte Spektrum an historischen Teildisziplinen weitgehend abgedeckt ist" (Wirtschafts-, Sozial-, Wissenschafts-, Medizin-, Kultur-, Gender-Geschichte). Er beobachtet ferner eine Dominanz der Geisteswissenschaften, die Sozialwissenschaften seien praktisch nicht vertreten (weder die Soziologie noch die Politikwissenschaft oder die Psychologie). Herr Trischler sieht hier eine disziplinäre Grenze von EGO.

Ich teile diese Auffassung nicht ganz: Es dominiert zwar der allgemein historische Zugriff, aber sozialwissenschaftliche Aspekte werden durchaus auch behandelt, zum Beispiel kommt die Ökonomie vor, etwa im Artikel Wirtschaftliche Netzwerke von Christian Marx. Themen, die ins Ökonomische oder Politische hineinragen, werden zwar in erster Linie aus historischer Perspektive behandelt, aber eine disziplinäre Öffnung ist durchaus vorhanden, hin zu ökonomischen oder politologischen Ansatzpunkten.

Eingehen möchte ich auch auf den zweiten Punkt, den Herr Trischler anspricht, nämlich die Frage "Ist EGO ein transdisziplinäres Projekt?"

Herr Trischler versteht Transdisziplinarität als eine Verknüpfung von "Wissenschaft mit Gesellschaft und wissenschaftliches Wissen mit praktisch-lebensweltlichem Wissen". Er kommt zu dem Schluss, dass EGO nicht in diesem Sinn transdisziplinär ist. Ich stimme ihm in diesem Punkt zu, möchte aber Transdisziplinarität etwas anders in den Blick nehmen. Wenn man "transdisziplinär" im Sinne von "jenseits von Disziplinen", "disziplinübergreifend" oder "über Disziplingrenzen hinweg" versteht, dann ist EGO durchaus transdisziplinär. Schon der ganze Themenkomplex "Europa" selbst, dessen Geschichte im Mittelpunkt von EGO steht, ist nicht an eine Disziplin und auch nicht an zwei gebunden. Aber auch etliche behandelte Unterthemen, wie zum Beispiel "Migration" sind "transdisziplinäre" Themen im Sinne von "Themen, die Disziplingrenzen überschreiten".

Ergänzend zu den Aspekten, die Herr Trischler in seinem Referat herausgearbeitet hat, möchte ich zur Frage der Inter-, Multi- bzw. Transdisziplinarität von EGO selbst noch einige Anmerkungen machen. Wir haben jetzt die Frage der Inter-, Multi- und Transdisziplinarität vor allem aus der Perspektive der disziplinären Herangehensweisen diskutiert. Man könnte die Frage der Inter-, Multi- und Transdisziplinarität aber auch von den Gegenständen, den Themen bzw. Einträgen her denken.

Ich habe etwa überprüft, inwiefern Themen in EGO vorkommen, die man nicht primär der Geschichtswissenschaft, sondern zum Beispiel der Literaturwissenschaft oder der Musikwissenschaft zuordnen würde. Stichprobenartig habe ich ein paar Namen und Stichwörter eingegeben, zum Beispiel habe ich nach "Oper" gesucht. Ich bin dabei auf kurze Einträge zu einzelnen Komponisten gestoßen: Es gibt im Beitrag Griechenlandbegeisterung und Philhellenismus einen Verweis auf Gioachino Rossinis Belagerung von Korinth (dazu gehört auch eine Musikeinspielung) http://ieg-ego.eu/de/mediainfo/gioachino-rossini-die-belagerung-von-korinth-giusto-ciel-in-tal-periglio, Jean-Baptiste Lully wird ebenfalls kurz erwähnt. Einen eigenen ausführlichen Eintrag zum Stichwort "Oper", "Europäische Oper" oder "Operntheater" gibt es in EGO (noch) nicht. Ich habe dann das Stichwort "Roman" eingegeben. Da sieht es besser aus als bei der Oper: Gefunden habe ich u.a. einen relativ ausführlichen Artikel zum Wertherfieber, einen kurzen Eintrag zu Victor Hugo (mit Bild) http://ieg-ego.eu/de/mediainfo/victor-hugo-180220131885, einen schönen Artikel zum Buchmarkt, ein Foto von James Joyce http://ieg-ego.eu/en/mediainfo/james-joyce-188220131941-and-sylvia-beach-188720131962, ein Foto von Thomas Mann mit kurzem Eintrag http://ieg-ego.eu/de/mediainfo/thomas-mann-187520131955.

In diesem Bereich hätte ich als Literaturwissenschaftlerin durchaus mehr erwartet. Insgesamt hätte ich mir eine stärkere Integration von Gegenständen anderer Disziplinen, also etwa der Literaturwissenschaft (Autoren, literarische Texte usw.), der Musikwissenschaft bzw. der Musiktheatergeschichte erhofft. Die Literaturgeschichte der behandelten Kulturkreise in ihren Verflechtungen mit der Politik, der Sozialgeschichte und der Wirtschaft ist wenig vertreten; auch Komponisten, Opern usw., sowie Aspekte der Sozialgeschichte der Oper und des Theaters kommen meines Erachtens etwas zu kurz. Dabei würde es wohl die Grenzen dieses Projektes sprengen, Literatur und Oper systematisch ausschöpfend zu behandeln, aber in bestimmten Perioden oder in Verbindung mit bestimmten Ereignissen wäre eine stärkere disziplinäre Grenzüberschreitung der Gegenstandsbereiche sicherlich gewinnbringend. Ich denke dabei zum Beispiel an die Bedeutung der Oper für die italienische Geschichte im 19. Jahrhundert und zugleich an ihre Rolle als gesamteuropäisches Phänomen oder auch an die Herausbildung eines bürgerlichen Theaters in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts.

Andererseits muss man sicherlich berücksichtigen, dass EGO noch nicht so lange existiert und ein work-in-progress ist. Es ist normal, dass zunächst einmal die im engeren Sinn geschichtswissenschaftlichen Themen behandelt werden, bevor ergänzend zur Literatur oder zur Musik usw. übergegangen wird. Denn es soll ja eine "Geschichte Europas" sein und keine Enzyklopädie.

Welchen Gewinn ziehen die beteiligten Disziplinen aus dem EGO zugrundeliegenden Konzept der transferts culturels?

Da bin ich zu folgendem Ergebnis gekommen:

  • EGO steht aus meiner Sicht für eine Aufweichung des nationalgeschichtlichen zugunsten eines komparatistischen Zugangs;
  • dargestellt wird nicht deutsche Geschichte neben der italienischen oder der französischen, sondern "europäische Geschichte" und die Erforschung der jeweiligen unterschiedlichen Schwerpunktbildungen in Bezug auf bestimmte Themen;
  • ein Beispiel: Bei Europäische Kleidermode geht es um Modelle, um das Aufkommen von Trends und deren Übernahme und Abwandlung bzw. Variation; also Mode als ein europäisches Phänomen, das Wirtschaftsbeziehungen in Europa mitgestaltet, Mode als ein Phänomen zwischen künstlerischer Gestaltung und Kommerz. Aspekte von Gendergeschichte spielen hier ebenso eine Rolle wie die Geschichte des Außenhandels, der Rohstoffe, des Handwerks usw.
  • Oder der Eintrag Antisemitismus: Auch dieses Thema kann nicht national verhandelt werden; entsprechend spielen die transferts eine große Rolle und zwar sowohl in einer diachronen als auch einer synchronen Perspektive.

Welche spezifischen Perspektiven bringen die einzelnen historischen Disziplinen in das Gemeinschaftsunternehmen EGO ein bzw. welche sollten sie einbringen?

Mir scheint, dass verschiedene historische Disziplinen in EGO zusammenwirken wie zum Beispiel die Wirtschaftsgeschichte, die Technikgeschichte, die Gendergeschichte, die Kulturgeschichte, die Sprachgeschichte usw. All diese spezifischen Perspektiven sind vorhanden und in EGO eingeflossen. Je nach Gegenstand liegt der Schwerpunkt einmal auf dem einen disziplinären Zugang, einmal auf dem anderen. Bei meiner stichprobenartigen Lektüre von EGO habe ich keine dominante Disziplin und keinen Artikel gefunden, der disziplinär so stark geprägt wäre, dass er ein ganz spezifisches Fachwissen beim Leser voraussetzt ohne das man den Artikel nicht verstehen würde.

Insgesamt gehen die unterschiedlichen Disziplinen eher in eine(r) allgemeine(n) Kulturgeschichte ein und auf. In dem Artikel Italienische Küche zum Beispiel wird das Essen gewissermaßen als Kulturthema behandelt. Naturwissenschaftliche (chemische, botanische, biologische) Aspekte treten in den Hintergrund ebenso wie ökonomische. Die Rede ist in dem Artikel von der "Pizzeria und Osteria in Deutschland: die Ausbreitung des italienischen Restaurants nach 1945". Es handelt sich um eine kulturgeschichtliche Behandlung des Themas "Italienische Küche", wobei dieser Artikel aus meiner Sicht ein besonders gutes Beispiel für das Verfahren der transferts culturels ist.

Zusammenfassend möchte ich sagen:

  • Die Artikel in EGO sind historische Artikel.
  • Sie überschreiten punktuell die disziplinären Grenzen der Geschichte im engeren Sinn und integrieren zum Beispiel Aspekte der Ökonomie oder der Technikgeschichte oder sind einer allgemeinen Kulturgeschichte zuzuordnen. In diesem Sinn ist EGO inter- und multidisziplinär.
  • Man könnte auch sagen, dass sich die Inter- und Multidisziplinarität von den Gegenständen her oder von den Schwerpunktsetzungen des jeweiligen Autors her ergibt.
  • Ich habe nicht den Eindruck, dass es sich um eine rigide angewandte "programmatisch gewollte" multi- und interdisziplinäre Perspektivierung handelt.
  • Ich würde meinen, dass dies auch besser so ist; es würde das Werk womöglich mit unnötigem Ballast überfrachten, jeden Eintrag streng aus inter- und multidisziplinärer Perspektive behandeln zu wollen.
  • Transdisziplinarität ist ebenfalls vorhanden, und zwar dann, wenn die Themen so disziplinübergreifend sind, dass sie dies erfordern.
  • Das Konzept der transferts culturels ist, so scheint mir, für dieses Projekt ein sehr brauchbares Modell. Seine Anwendung führt dazu, dass man tatsächlich mit einer "Geschichte Europas" und nicht mit einer "Geschichte einzelner europäischer Länder" konfrontiert ist.
  • Die verschiedenen historischen Disziplinen wirken harmonisch zusammen, keine von ihnen ist so dominant, dass sie die Artikel für Nicht-Fachleute unleserlich erscheinen lässt.

Immacolata Amodeo, Loveno di Menaggio1

Anhang

  1. ^ Prof. Dr. Immacolata Amodeo, Generalsekretärin, Villa Vigoni, Loveno di Menaggio, Italien (amodeo@villavigoni.eu).

Redaktion: Claudia Falk

Zitierempfehlung

Amodeo, Immacolata: Multi-/Inter-/Trans- Disziplinarität. Kommentar, in: Joachim Berger (Hg.), EGO | Europäische Geschichte Online – Bilanz und Perspektiven, Mainz 2013-12-15. URL: https://www.ieg-ego.eu/amodeoi-2013-de URN: urn:nbn:de:0159-2014021736 [JJJJ-MM-T].

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