Einleitung
Das 16. Jahrhundert war für die akademische Medizin eine Zeit des Umbruchs. Der humanistischen Forderung ad fontes folgend, waren die ersten Jahrzehnte geprägt durch die Wiederentdeckung antiker medizinischer Schriften, die zusehends die mittelalterlichen Übersetzungen und Kommentare als grundlegende Texte der gelehrten Medizin ablösten.1 Von besonderer Bedeutung waren die Schriften des spätantiken Arztes Galenos von Pergamon (129 bis nach 204)[]. Galens Werke waren erstmals im Jahr 1525 in einer griechischen Gesamtausgabe erschienen2 – ein Ereignis, das in den folgenden Jahrzehnten eine Flut von neuen lateinischen Übersetzungen, Kommentaren und Kurzfassungen von Galentexten nach sich zog.3 Man kann nicht oft genug betonen, dass diese Texte im 16. Jahrhundert nicht als historische Quellen gelesen wurden, sondern als aktuelle Instrumente gültiger wissenschaftlicher Erkenntnis galten.
Das gründliche Studium der antiken Mediziner führte jedoch zu einem Phänomen, das Richard Toellner als "humanistisches Paradoxon" bezeichnet hat: Die entschiedene Hinwendung zu den alten Quellen und deren immer besser werdende Kenntnis eröffnete den Raum für Kritik an den antiken Autoritäten.4 Anders gesagt: Je besser man Galen kannte, desto deutlicher traten die Widersprüche in dessen Büchern zutage. Dies wurde in besonderer Weise in der Anatomie deutlich: Hier war es vor allem Andreas Vesal (1515–1564)[],5 der zunächst eine typisch humanistische Aufgabe – die Übersetzung von Galentexten zur Anatomie – übernommen hatte und der dabei feststellen musste, dass Galens Darstellung nicht selten von seinen eigenen Sektionsbefunden abwich. Der Ausgang der Geschichte ist bekannt: In der Praefatio zu seinen 1543 publizierten De humani corporis fabrica libri septem
führte Vesal aus, dass er an mehr als 200 Stellen nachgewiesen habe, dass Galen gar keine Menschen, sondern Tiere seziert habe und dass dessen Aussagen zur Anatomie daher immer der Überprüfung an der menschlichen Leiche bedürften.6
Vesals Fabrica stieß nicht überall und sofort auf ungeteilte Zustimmung. Schon kurz nach dem Erscheinen des Buches musste sich Vesal mit heftigster Kritik seines Pariser Lehrers Jacques Dubois (Sylvius) (1478–1555) auseinandersetzen, der die für das 16. Jahrhundert nicht untypische Auffassung vertrat, die Differenzen zwischen Sektionsbefunden und galenischem Text seien darauf zurückzuführen, dass sich seit den Zeiten Galens die menschlichen Körper verändert hätten. Auf keinen Fall aber habe sich Galen geirrt. Dubois wollte die Autorität Galens nicht angegriffen sehen, und er stand mit dieser Einstellung nicht allein.7
Die Auseinandersetzung mit seinen wissenschaftlichen Gegnern hat Vesal zum Helden der Anatomiegeschichtsschreibung gemacht: Mit ihm – so kann man vielfach lesen8 – hätten die Abkehr von den antiken Personalautoritäten und die Hinwendung zur neuzeitlichen Naturbeobachtung, der "Autopsia" im Wortsinn, begonnen. Mit Vesal hätten die Anatomen angefangen, an die Stelle der Autorität des gedruckten Buchstabens die Autorität des menschlichen Körpers zu setzen, wie er sich dem Wissenschaftler bei der Sektion darstellt.
Für die Universitäten nördlich der Alpen ist diese Sicht nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Betrachtet man die Universität Wittenberg und die gleichzeitig blühende Universität in Ingolstadt, so lassen sich tatsächlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts anatomische Sektionen in einer größeren Häufigkeit als in der ersten Jahrhunderthälfte nachweisen.9 Das bedeutet jedoch nicht, dass Anatomie nach einer neuen Methode gelehrt und gelernt wurde. Die Grundlage des anatomischen Unterrichts waren nach wie vor Bücher, nur veränderte sich im Laufe des Jahrhunderts die Liste der Werke, die das als verbindlich geltende Bild des menschlichen Körpers vermittelten.10 Waren es bis zur Jahrhundertmitte im Wesentlichen die Texte Galens, wurden diese nun ergänzt durch die Werke der neueren Anatomen wie Andreas Vesal, Charles Estienne (1504–1564) und Gabriele Fallopio (1523–1562).
Die hier aufgezeigten Entwicklungen in der Medizin und besonders in der Anatomie des 16. Jahrhunderts treten deutlich im Werk des Wittenberger Humanisten und Reformators Philipp Melanchthon (1497–1560)[] zutage.11 In der Folge soll der Einfluss der neu verfügbaren Galentexte und der neueren Anatomen auf Melanchthons häufig nachgedruckte und viel gelesene Schrift De anima aufgezeigt werden. Dieser Text ist erstmals 1540 als Commentarius de anima12 und 1552 in stark überarbeiteter Form als Liber de anima erschienen.13 Er gehörte bis ins 17. Jahrhundert zur Standardlektüre an artistischen und medizinischen Fakultäten protestantischer Universitäten.14
Der "Commentarius de anima" von 1540
Melanchthon beabsichtigte ursprünglich nicht, Seele und Körper des Menschen zum Gegenstand eines eigenen Lehrbuchs zu machen. Im Jahr 1534 betrachtete er die Lehre vom Menschen noch als Bestandteil der allgemeinen Naturkunde, der Physica, als er in einem Brief an Leonhart Fuchs (1501–1566) die Absicht bekundete, in seinem geplanten Lehrbuch zur Naturkunde auch den Menschen und besonders die Anatomie des menschlichen Körpers darstellen zu wollen:
Wenn wir nun zur Natur des Menschen und der Seele gelangen, möchte ich unbedingt die Anatomie, die Eigenschaften der Teile sowie die Verschiedenheiten der Temperamente, also die Ursachen und Arten der menschlichen Mischungen, einfügen. Diese Dinge werden in den gewöhnlichen Werken zur Naturkunde nicht erwähnt.15
Dabei wolle er aus den Schriften Galens, nicht aus den zeitgenössischen anatomischen Lehrbüchern, ein ordentliches Werk erstellen. Fuchs möge ihm helfen, die zu diesem Zweck geeignetsten Galenstellen zu finden.16 Auch an seinen Freund Joachim Camerarius (1500–1574) richtete Melanchthon eine ähnliche Bitte.17
Melanchthon veröffentlichte dann allerdings seine Abhandlung über die Seele und die Natur des Menschen, den Commentarius de anima, bereits im Jahr 1540, während das Lehrbuch zur Naturkunde, die Initia doctrinae physicae,18 erst im Jahr 1549 erschien. Sein Versprechen jedoch, in seiner Seelenlehre auch die Anatomie des Menschen zu behandeln, hat Melanchthon eingelöst: Die anatomische und physiologische Beschreibung des Menschen umfasst nahezu die Hälfte des Buches. Damit unterscheidet sich Melanchthons Commentarius von allen anderen Schriften des 16. Jahrhunderts, die den Titel De anima tragen.19 Zwar wurde auch von anderen Autoren, die über die Seele schrieben, ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmend auf der Basis anatomischer Kenntnisse argumentiert,20 aber in keiner anderen psychologischen Schrift dieser Zeit findet sich eine ähnlich entschlossene Hinwendung zu anatomischen Inhalten wie bei Melanchthon, auch nicht in den De anima et vita libri tres 21 des spanischen Humanisten Juan Luis Vives (1492–1540)[
],22 deren Lektüre Melanchthon im Widmungsschreiben zu seinem Commentarius ausdrücklich empfahl.23
Der weitaus größte Teil der Galenzitate und -paraphrasen begegnet erwartungsgemäß im anatomischen Teil des Commentarius. Melanchthon benannte und beschrieb hier die äußeren Körperteile, stellte die drei Leibeshöhlen und die wichtigsten Organe dar und ging auf die Säfte und die spiritus ein. Galen erscheint hier als die anatomische Autorität. Aulus Cornelius Celsus (ca. 25 v.Chr. – ca. 50 n.Chr.), Plinius der Ältere (23-79), Avicenna (980–1037) und die Arabes werden gelegentlich erwähnt,24 ohne tiefere Spuren zu hinterlassen, und Jacopo Berengario (ca. 1460–ca. 1530) als einziger Zeitgenosse wird an einer Stelle offen kritisiert.25 Inwiefern die zahlreichen Verweise auf Galen26 im Commentarius auf eine genuine Lektüre Melanchthons hindeuten oder auf die Hilfe zeitgenössischer Experten wie Camerarius oder Fuchs zurückzuführen sind, ist heute schwer zu beurteilen. Sicher ist aber, dass Melanchthon in allen anatomischen Streitfragen die Aussage Galens entscheiden ließ, den er – wie er an anderer Stelle schrieb – als die "Quelle der Medizin" ansah, aus der "wie Bächlein" alle Schriften der späteren Ärzte entsprungen seien.27
Einige Beispiele sollen Melanchthons Vorgehen verdeutlichen: Bei der Darstellung des Aufbaus von Kehlkopf und Kehldeckel wies er darauf hin, dass die "Neueren" den Begriff ἐπιγλωττίς für den gesamten Kehlkopf verwendet hätten. Galen hingegen habe ohne Zweifel mit γλωττίς und ἐπιγλωττίς nur jenes Zünglein gemeint, das die trachea arteria beim Essen und Trinken verschließe und welches das wichtigste Instrument zur Veränderung der Stimme sei.28 Auch in der im 16. Jahrhundert infolge der besseren Kenntnis galenischer Physiologie heftig diskutierten Frage nach Anzahl und Art der spiritus im menschlichen Körper29 folgte Melanchthon der Ansicht Galens. Galen selbst habe die Existenz eines dritten spiritus, des spiritus naturalis in der Leber, bezweifelt, sodass es wahrscheinlicher sei, dass die Leber den für die Blutbereitung benötigten spiritus über Arterien vom Herzen erhalte:
Andere fügten einen dritten hinzu, nämlich den spiritus naturalis in der Leber, der das Blut erwärmt und Dämpfe im Blut aufsteigen lässt. Aber Galen zweifelt, ob er diese Art annehmen soll, indem er sagt: 'Wenn es das natürliche Pneuma gibt'. Denn wenn es auch nötig ist, dass spiritus in der Leber ist, wird dieser durch die Arterien dorthin gebracht. Und die Aufgabe dieses spiritus, den man vitalis nennt, ist, mit lebensspendender Wärme die Herstellung des Blutes zu fördern.30
Galens Autorität zeigt sich auch in der von Melanchthon präferierten Zeugungstheorie. Die aristotelische Lehre, nach der die Frau über keinen eigenen Samen verfügt, sondern mit dem Menstrualblut lediglich das Material für den Fötus bereitstellt, wird unter Berufung auf Galen abgelehnt; stattdessen folgte Melanchthon den Ausführungen Galens in De semine, indem er im Sinne der Zweisamentheorie behauptete, dass sich der Embryo aus der Verbindung von männlichem und weiblichem Samen entwickele:
Wenn die Gebärmutter den Samen des Mannes aufgenommen hat, verbindet sich mit dem männlichen Samen der weibliche Samen. Hier besteht ein großer Streit, ob die Frau aktiv zur Zeugung der Leibesfrucht beiträgt. Aristoteles gestand der Frau keinen Samen zu, sondern sagte, dass der Stoff für die Leibesfrucht das Menstrualblut sei und dass sich der Samen des Mannes aktiv verhalte. Er verwandle sich in spiritus und ordne mit seiner Kraft wie ein Handwerker jenen Stoff an, sodass von dort aus der Foetus erzeugt werde. Dies ist die Zusammenfassung der Auffassung des Aristoteles. Diese wird aber von Galen mit vielen Einwänden zurückgewiesen, weshalb wir Galen folgen wollen, der verneint, dass das Menstrualblut der Stoff für die Leibesfrucht sei, sondern lehrt, dass die verbundenen Samen des Mannes und der Frau der Stoff für den Foetus seien. Wenn auch von diesen der Samen des Mannes wärmer und dicker ist und der Samen der Frau feuchter und kälter, so sagt er, dass dieser deswegen gewissermaßen Nahrung für den männlichen Samen darstelle.31
Der Ausnahmestellung seiner Abhandlung war sich Melanchthon durchaus bewusst: "Nun kehre ich zu den üblichen Fragen zurück, die in den Schulen normalerweise in einem Buch über die Seele behandelt werden",32 schrieb er am Ende des anatomischen Teils, um sich im zweiten Abschnitt des Commentarius tatsächlich den Fähigkeiten der menschlichen Seele, den potentiae animae, zuzuwenden. Melanchthons nun verfolgter psychologischer Ansatz war weitgehend an der aristotelischen Tradition orientiert.33 Der Reihe nach und in ihrer hierarchischen Ordnung von unten nach oben handelte er fünf Seelenvermögen ab, nämlich die potentia vegetativa, sentiens, appetitiva, locomotiva und rationalis, also das vegetative, das empfindende und das begehrende Vermögen sowie die Fähigkeit der Ortsbewegung und das Denkvermögen. Auch in diesen Zusammenhängen ging Melanchthon immer wieder auf anatomische und physiologische Aspekte ein, etwa bei der Frage nach der Entstehung von Hunger und Durst oder bei speziellen Problemen der Physiologie der inneren und der äußeren Sinne. Überlagert wird die aristotelische Gliederung der Seelenvermögen durch die von Platon (ca. 427 – ca. 347 v.Chr.) entwickelte und von Galen übernommene Dreiteilung der Seele, nach der die denkende Seele (λoγιστικόv) in das Gehirn, die leidenschaftliche Seele (θυμoειδές) in das Herz und die begehrende Seele (ἐπιθυμητικόv) in die Leber lokalisiert werden.34 Ganz zu Anfang seines Buches hatte Melanchthon unter Hinweis auf Platon entsprechende Galenstellen aus De placitis und Quod animi mores zitiert.35
Diese als "klassisch" zu bezeichnenden Elemente der Seelenlehre bilden am Ende der Abhandlung die begriffliche Basis für Melanchthons Ausführungen zur Sündhaftigkeit des Menschen. Das Gefüge von Affekten des Herzens, von angeborenen Kenntnissen und inneren Sinnen des Gehirns ist durch die Sünde zutiefst gestört, die Kenntnis Gottes im Verstand ist verschüttet, die Leidenschaften werden durch kein Gesetz gelenkt, und die Begierden bestimmen das Handeln des Menschen. "Dies ist das ungeheure Elend der Menschen, das freilich erkannt und beklagt werden muss."36 In dieses disharmonische Gefüge greife das Erlösungshandeln Gottes ein, um den neuen Menschen hervorzubringen, dessen Affekte mit dem Willen Gottes im Einklang stünden und dessen natürliche Gotteserkenntnis nicht mehr verdunkelt sei.37
Diese letzten Abschnitte des Buches erklären auch, weshalb Melanchthon es für unabdingbar hielt, im Rahmen der Seelenlehre ausführlich auf die Anatomie des Menschen einzugehen. Melanchthons Aussagen über die menschliche Sünde und das göttliche Handeln am Menschen entbehrten gewissermaßen ihrer empirischen Grundlage, wäre nicht in den vorhergehenden Kapiteln des Buches akribisch aufgezeigt worden, wie die inneren Sinne des Gehirns arbeiten und mit den äußeren Sinnen in Verbindung stehen oder wie die Affekte durch verschiedene Bewegungen des Herzens hervorgerufen werden.38 Und um diese Dinge richtig zu verstehen, hielt er es auch für wichtig, die grobe Anatomie des Körpers zu kennen, die Verteilung der Organe auf die drei Körperhöhlen, den Aufbau und auch die Funktion der einzelnen Körperteile sowie ihren Zusammenhang untereinander. Denn über die Seele, so hatte Melanchthon am Anfang des Commentarius geschrieben, könne man nur a posteriori Kenntnis erlangen: Allein von den beobachtbaren Tätigkeiten der Seele, ihren actiones, lasse sich auf die zugrundeliegenden Seelenvermögen rückschließen; dazu aber sei es unabdingbar, dass man die Körperteile und Organe kenne, mit denen die Seele diese actiones verrichtet.39
Melanchthons Commentarius de anima versuchte nichts anderes, als die Seelenlehre, mit der seine Vorstellungen von der grundsätzlichen Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen eng verknüpft sind, in der Wissenschaft vom Aufbau des menschlichen Körpers zu verankern. Aber in Melanchthons Augen leistete die Anatomie noch mehr: Mehr als alle anderen Wissenschaften zeige sie, dass die Natur nicht aus zufällig zusammengesetzten Atomen bestehe, sondern dass ein schöpferischer Geist am Werke gewesen sei. Angesichts des kunstvollen Aufbaus des menschlichen Körpers könne man den Plan und die Sorgfalt des Schöpfers erkennen; die Anatomie offenbare wie keine andere Wissenschaft die vestigia divinitatis, die Spuren der Gottheit, die diese in ihrer Schöpfung hinterlassen habe.40
Eine so verstandene Anatomie diene dann eben nicht nur der Erhaltung der Gesundheit, sondern auch – indem sie an die Weisheit des Schöpfergottes erinnere – der Sittlichkeit des Betrachters,41 und es sei geradezu schändlich für einen Menschen, das Gebäude seines Körpers nicht kennenlernen zu wollen.42 Zudem habe bereits Galen gesagt, dass die Betrachtung des menschlichen Körpers zur Anerkennung eines herrschenden Geistes in der Natur und eben damit zur Erkenntnis Gottes führe.43 Galen, dessen teleologische Aussagen in De usu partium dieser Behauptung Melanchthons zugrundeliegen könnten,44 ist an dieser Stelle also nicht nur Gewährsmann für bestimmte anatomische Lehrsätze, sondern er wird zum Kronzeugen für eine religiös interpretierte Anatomie, welche die Absichten Gottes in seiner Schöpfung offenbart.45
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Galen in Melanchthons Commentarius de anima von 1540 die uneingeschränkte Autorität darstellt in allen Fragen, welche die Anatomie des menschlichen Körpers berühren. Dieses Galenbild wird ergänzt durch eine christlich-reformatorische Interpretation ausgewählter Zitate, die den antiken Arzt zum Zeugen einer religiös verstandenen Anatomie machen und die seine an Platon orientierten Aussagen über die Dreiteilung der Seele benutzen, das Erlösungshandeln Gottes am Menschen zu beschreiben.
Der "Liber de anima" von 1552
In seinen Briefen zeigte sich Melanchthon wenig zufrieden mit dem Commentarius. Von Leonhart Fuchs offensichtlich auf einige anatomische Fehler aufmerksam gemacht, versprach er bald nach dem Erscheinen des Buches eine Überarbeitung.46 Erst 12 Jahre später jedoch, im November 1552, war die veränderte Fassung, der Liber de anima, fertiggestellt. Melanchthon hatte einige Umstellungen in der Anordnung des Stoffs vorgenommen und den Text des Commentarius deutlich gestrafft. Der Argumentation sind die Veränderungen sehr gut bekommen: Viele Aussagen erscheinen klarer und besser begründet als im Commentarius.47
Von medizinhistorischer Seite wurde dem Liber de anima besondere Aufmerksamkeit zuteil, weil Melanchthon nun in dem anatomischen Abschnitt auch auf das 1543 erschienene Hauptwerk des Paduaner Anatomen Andreas Vesal zurückgriff. Von den eingangs angedeuteten Streitigkeiten um Vesals Fabrica unbeeindruckt, bearbeitete Melanchthon intensiv sein eigenes Exemplar des Buches, das er zudem mit einem eigens verfassten Gedicht versah.48 Aus einem Brief an Johannes Stigel (1515–1562) vom Juni 1549 geht hervor, dass er die durch die Vesal-Lektüre gewonnenen Erkenntnisse bei der geplanten Neuauflage seines Lehrbuches über die Seele verwenden wollte.49
Im Liber de anima lässt sich dann tatsächlich an vielen Stellen der Einfluss Vesals nachweisen.50 In einem der Eingangskapitel wird die Fabrica als "locupletissimum opus viri peritissimi"51 ("das sehr reichhaltige Werk eines äußerst kenntnisreichen Mannes") gelobt, und an drei Stellen wies Melanchthon ausdrücklich auf die Verbesserungen hin, die die anatomische Lehre durch Vesal erfahren habe. So habe allein Vesal die Anatomie des Kehlkopfes richtig beschrieben, indem er klar unterschieden habe zwischen γλωττìς und ἐπιγλωττìς.52 Auch habe Vesal die Anatomie des Sprunggelenks als erster in korrekter Weise dargestellt,53 und er habe bewiesen, dass die fünflappige Leber vielleicht beim Schwein, aber in keinem Falle beim Menschen zu finden sei.54
Neben diesen ausdrücklichen Verweisen auf Vesals Fabrica finden sich im Liber de anima auch Änderungen in der Darstellung der menschlichen Anatomie, die zwar sicher mit Melanchthons Vesal-Lektüre im Zusammenhang stehen, die aber nicht expressis verbis mit Vesal verbunden werden. Hatte Melanchthon im Commentarius noch das πλέγμα δικτυoειδἑς Galens – das "netzförmige Geflecht", das in der medizinischen Tradition zum "wunderbaren Netz" (rete mirabile) wurde – ausführlich besprochen und ihm ein eigenes Kapitel gewidmet,55 so heißt es im Liber lediglich, dass Galen zwar dieses Geflecht beschrieben habe, dass man nun aber seine Existenz verneine: "Sed in capite hominis hunc insignem contextum negant esse" ("Aber man bestreitet, dass dieses besondere Geflecht im Kopf des Menschen vorhanden ist").56 Melanchthon wählte die unpersönliche Form negant; er verriet dem Leser nicht, dass er die neue Information der Fabrica Andreas Vesals verdankte.57 In ähnlicher Weise wird die im Commentarius stark an Galen orientierte Beschreibung akzessorischer Gallengänge, die in den Magen münden und erhebliche Beschwerden nach sich ziehen,58 – sicher aufgrund der ablehnenden Haltung Vesals59 – im Liber ganz entscheidend gekürzt und mit dem Satz "Sed haec rara exempla omitto" ("Aber diese seltenen Beispiele übergehe ich") beendet, wiederum allerdings ohne eine Erwähnung Vesals.60 Man gewinnt an diesen Textstellen den Eindruck, dass Melanchthon durch stillschweigende Übernahmen Vesal'scher Verbesserungen eine direkte Konfrontation der beiden anatomischen Koryphäen Galen und Vesal vermeiden und Widersprüche zwischen ihnen nicht offen zutage treten lassen wollte.
In diesem Zusammenhang ist nochmals daran zu erinnern, dass die Anatomie in Melanchthons De anima zwar eine wichtige Rolle, aber nicht die Hauptrolle spielte. Für Melanchthon war anatomisches Wissen Bestandteil einer Anthropologie, die den Zustand des Menschen nach dem Fall und das Handeln Gottes an eben diesem Menschen erklärte. Für diese Grundfragen des Menschseins war es eigentlich unerheblich, ob die anatomischen Kenntnisse von Galen oder Vesal stammten; wichtiger war eine klare und widerspruchsfreie Lehre, die natürlich auch den Tatsachen entsprechen sollte.61 Ganz offensichtlich sah Melanchthon keinen gravierenden Gegensatz zwischen der antiken Autorität und dem zeitgenössischen Anatomen, sondern betrachtete das Werk Andreas Vesals in erster Linie als eine zusammenfassende und illustrierende Ergänzung der immer noch gültigen Anatomie und Physiologie Galens.62 Vesals Fabrica wich zwar in einigen Details von den antiken Texten ab und bot in einigen dieser Abweichungen tatsächlich die "bessere" anatomische Lehre, sie konnte für Melanchthon aber die grundsätzliche Autorität Galens nicht in Frage stellen.63
Deutlich stärker ausgeprägt als im Commentarius ist im Liber die Verbindung zwischen dem anatomisch-physiologischen Teil in der ersten Hälfte des Buches und den theologischen Ausführungen am Schluss. Melanchthon verknüpfte nun die spiritus-Lehre Galens64 mit Überlegungen von der Wirkung des heiligen Geistes im Menschen: Der spiritus sanctus vermische sich bei frommen Menschen mit den körperlichen spiritus in Herz und Gehirn und bewirke auf diese Weise, "dass die Erkenntnis Gottes klarer wird, die Zustimmung fester, und dass die Bewegungen zu Gott glühender werden."65 Offenkundig hatte Melanchthon erst bei der Überarbeitung des Commentarius erkannt, welche zusätzlichen Möglichkeiten die galenische Anatomie und Physiologie auch dem Theologen bieten. Umso mehr lässt sich aber auch nachvollziehen, dass er diese Anatomie als ein harmonisches Ganzes präsentieren wollte und dass er deshalb Konflikten zwischen verschiedenen Lehrmeinungen auszuweichen suchte.