Voraussetzungen
Wichtigste Grundlage der Ausbildung politischer Netzwerke war die wachsende Verbreitung von Büchern, Zeitschriften und Pamphleten, die sich im 18. Jahrhundert zunehmend für die Diskussion politischer Grundsatzfragen – etwa den Strukturen einer idealen Verfassung – öffneten.1 Diese Entwicklung wurde von der in verschiedenen europäischen Ländern unterschiedlich ausgeprägten Zensur teilweise behindert, aber nicht unterbunden. Gerade umfangreiche und teure Werke, von denen keine Gefahr einer breiten politischen Mobilisierung auszugehen schien, konnten sich zu internationalen "Bestsellern" der Zeit entwickeln. Das war vor allem dann der Fall, wenn sie auf Latein oder Französisch publiziert wurden und damit international zugänglich waren. Zentrales Beispiel ist die von Jean le Rond d'Alembert (1717–1783) und Denis Diderot (1713–1784) zwischen 1751 und 1780 herausgegebene Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers.2 Damit entstand ein europäischer Diskussionszusammenhang, der die individuelle politische Verortung zugunsten oder gegen Positionen, die mit bestimmten Publikationen oder Autorennamen verbunden waren, erleichterte. Diese Identifikation mit einer Richtung konnte wiederum zur Grundlage von Korrespondenznetzwerken werden, die zwischen Autoren und Lesern geknüpft wurden. Durch den Ausbau des Postwesens und die graduelle Verbesserung von Straßen und Kanälen wurden die Laufzeiten von Briefen bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts leicht verkürzt.
Allerdings konnten solche in einer wie auch immer beschränkten Öffentlichkeit herausgebildeten Netzwerke nur in seltenen Fällen große politische Handlungsfähigkeit erreichen. Erstens zielten sie von ihrer sozialen Zusammensetzung und ihrer überschaubaren Größe her nicht darauf, politische Veränderungen durch Massenproteste herbeizuführen. Die Möglichkeit, als Partei politischen Einfluss zu erlangen, war auch dadurch weitgehend ausgeschlossen, dass nur in wenigen Herrschaftsordnungen, wie in Großbritannien, Württemberg, Polen oder Schweden, Parlamente oder mit Entscheidungen betraute Ständeversammlungen existierten. Politische Interventionen auf der Grundlage der in Publikations- und Korrespondenznetzwerken diskutierten Vorstellungen idealer oder durch Beobachtung validierter Herrschaftsordnungen konnten daher vor allem durch Minister oder hohe Beamte beziehungsweise Mitglieder von Höfen erfolgen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts verstärkte sich dabei in vielen Monarchien die Praxis, Experten für bestimmte Bereiche der Politik, der Wirtschaftsordnung, des Militärwesens oder für politische Grundlagenfragen europaweit anzuwerben; die Wahrnehmung der Qualifikation von Individuen folgte dabei oft aus ihren Publikationen und deren Einschätzung in der Öffentlichkeit. Beispiele sind die Präsenz Voltaires (1694–1778) am Hof Friedrichs II. von Preußen (1712–1786)3 zwischen 1750 und 1753, die Reise Diderots an den Hof Katharinas II. von Russland (1729–1796) 1773–1774 oder der Rückgriff auf Positionen, die Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) 1771/72 zur polnischen Verfassung formuliert hatte und die 1782 veröffentlicht worden waren bei der polnischen Verfassungsreform 1791.4 In eher technischen Bereichen ließen sich die Rolle des Schotten John Law (1671–1729) oder des Schweizers Jacques Necker (1732–1804) als Finanzminister Frankreichs anführen.
Somit war bereits vor Ausbruch der Französischen Revolution eine Grundsatzdiskussion über politische Ordnungen entstanden, in der sich relativ klare Positionen herausbildeten, die sich etwa durch die Einschätzung der Monarchie als dominante Herrschaftsform, die Beurteilung parlamentarischer Versammlungen, die Abschätzung der Effektivität bürokratischer Organisation, die Wertschätzung einer ständischen Ordnung, den Blick auf kirchliche Strukturen oder die Perspektive auf die ärmeren Schichten der Gesellschaft klar unterschieden. Für diese Grundsatzdiskussion spielten entweder persönlich hochgradig mobile oder grenzüberschreitend rezipierte Autoren (und wenige Autorinnen) eine wichtige Rolle. Ihr Einfluss auf die praktische Politik hing jedoch vor allem von der Gunst individueller Monarchen ab, die zeitweise gewährt, aber auch rasch wieder entzogen werden konnte. Netzwerke zwischen Personen basierten dabei einerseits auf der weitgehend anonymen Kommunikation durch Printmedien, andererseits auf dem direkten Austausch von Informationen durch eine mehr oder weniger privat gehaltene Korrespondenz.5
Die Französische Revolution
Mit der Französischen Revolution trat die Ausbildung europaweiter politischer Netzwerke in eine neue Phase. Erstens folgte aus der zentralen Position Frankreichs und französischer Autoren in den vorangegangenen europäischen Debatten,6 dass Veränderungen in Frankreich besonders genau beobachtet wurden. Zweitens sorgte der Verlauf der Französischen Revolution für erhebliche Bevölkerungsbewegungen gerade unter politisch interessierten oder exponierten Persönlichkeiten, die entweder in das Zentrum der revolutionären Veränderungen reisten oder vor der Revolution flohen und im Exil häufig daran gingen, gegenrevolutionäre politische Netzwerke zu bilden.7 Drittens führten die an die Revolution anschließenden Kriege, in denen das revolutionäre und napoleonische Frankreich ihr Herrschaftsgebiet in Kontinentaleuropa bis 1812 kontinuierlich erweiterten, dazu, dass in weiten Teilen Europas Elemente der revolutionären Politik in die Praxis umgesetzt oder zur konkreten Herausforderung der bestehenden Ordnung wurden.8 Die Analogie zwischen den Revolutions- bzw. Reformerfahrungen in vielen Teilen Europas ergänzte daher die bestehenden intellektuellen Verbindungen um analoge Erfahrungen.
Die Orientierung an programmatischen Texten – wie der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte,9 der Marseillaise10 Claude Joseph Rouget de Lisles (1760–1836) oder der verschiedenen seit 1791 erlassenen französischen Verfassungen einerseits, revolutionsskeptischer Analysen wie Edmund Burkes (1730–1797) Reflections on the Revolution in France (1789),11 Francois Rene de Chateaubriands (1768–1848) Génie du christianisme12 oder Joseph de Maistres (1753–1821) Essai sur le principe générateur des constitutions politiques13 andererseits – spielte eine wichtige Rolle für die Identifikation ideologischer Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Nach dem Wiener Kongress wurden inhaltliche Programme neu justiert; "Parteien" konsolidierten sich oder differenzierten sich weiter aus. Es war für die politische Diskussion charakteristisch, dass nach 1789, vor allem aber nach 1793/1794, der affirmative oder kritische Bezug auf verschiedene Phasen der Revolution eine starke Rolle für die Definition politischer Standpunkte spielte. Das machte es möglich, sich trotz der in Europa von Republiken über parlamentarische Monarchien hin zu absoluten Monarchien reichenden politischen Verfassungsverhältnisse zu europäischen politischen Netzwerken zusammenzuschließen und gemeinsame Positionen zu identifizieren.
Konservative Überzeugungen
Die Machtpositionen unterschiedlicher Netzwerke veränderten sich im Lauf der Jahrzehnte. Gerieten konservative Netzwerke nach 1789 vielfach in die Defensive, so erstarkten sie nach 1815 und vor allem in den 1820er Jahren. Zu den Kernbeständen konservativer Überzeugungen gehörte der Verweis auf die zentrale Rolle einer als Teil der einzig legitimen göttlichen Ordnung verstandenen Monarchie, auf die Bedeutung von Kirche und Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und sowie die Unverzichtbarkeit stabiler gesellschaftlicher Hierarchien. Aus dieser Position folgte die Verehrung des in der Französischen Revolution hingerichteten Königs Ludwigs XVI. (1754–1793) als "Märtyrer"14, der Versuch der Wiederbelebung von Traditionen wie der Wunderheilung anlässlich der Krönung französischer Könige 1825 bei der Krönung Karls X. (1757–1836),15 die Ablehnung von Neuerungen wie geschriebener Verfassungen und parlamentarischer Versammlungen oder bürgerlicher, ständeübergreifender Rechtskodifikationen. Dabei konnte das politische Ziel darin bestehen, eine hergebrachte, von der Revolution nicht tangierte Ordnung zu bewahren oder diese hergebrachte Ordnung nach den in konservativen Augen illegitimen Revolutionsjahren wieder so herzustellen, wie sie vor 1789 bestanden hatte; das wurde etwa im Königreich Sardinien, in Spanien unter Ferdinand VII. (1784–1833), im Königreich beider Sizilien oder in Kurhessen mittels harter Bestrafung revolutionärer Aktivität in der Vergangenheit und strikter Repression von Dissens in der Gegenwart versucht, in Sardinien sogar in Verbindung mit dem Programm, nach der Restauration der Monarchie Ämter und Besitz auf den Stand vor der französischen Invasion zurückzuversetzen.
Entsprechend der Fokussierung auf die Monarchie spielten Monarchen für Konservative eine entscheidende Rolle, wobei sie als Initiatoren von Bewegungen oder als Projektionen politischer Sehnsüchte auftreten konnten. Allerdings vertraten nicht alle Monarchen uneingeschränkt konservative Positionen; viele öffneten sich liberalen Praktiken und Vorstellungen.
Liberale Vorstellungen
Das Etikett des Liberalismus erwies sich in dieser Epoche als besonders wandlungsfähig und dehnbar.16 Der Begriff entwickelte sich im Kontext der Debatten um die spanische Verfassung von 1812 zur Bezeichnung politischer Vorstellungen. Im Anschluss fand er zunächst in der mediterranen Welt und schließlich in ganz Europa als Parteiname Verwendung. Liberale befürworteten eine konstitutionelle Herrschaftsordnung, in deren Rahmen (männliche) Vertreter vermögender Haushalte Einfluss auf politische Entscheidungsfindung besitzen sollten. Standesunterschiede, die weitreichende Folgen für die politische, soziale, wirtschaftliche und rechtliche Stellung hatten, wurden kritisch gesehen. Es galt als eine zentrale Aufgabe staatlicher Herrschaft, individuelle Freiheitsrechte, nicht zuletzt Eigentumsrechte, Presse- und Versammlungsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung, des Familienlebens und der Briefkommunikation zu schützen. Bezüglich der konkreten Ausgestaltung dieser Erwartungen gingen liberale Positionen allerdings weit auseinander, sowohl zwischen Ländern als auch innerhalb liberaler Bewegungen eines Landes.
So spielte im Mittelmeerraum der 1820er Jahre die Forderung nach der Einführung einer Verfassung nach dem Muster des 1812 in Cádiz ausgehandelten Modells für liberale Bewegungen die zentrale Rolle.17 Das implizierte aber beispielsweise, dass man bereit war, die Festschreibung der katholischen Religion als Staatsreligion mitzutragen. Zwar hatten auch in anderen Ländern einige Liberale Vorbehalte gegenüber uneingeschränkter religiöser Gleichberechtigung, besonders, was die Stellung von Juden oder pazifistischen religiösen Bewegungen betraf, aber die meisten Anhänger des Liberalismus räumten individueller Glaubens- und Gewissensfreiheit einen hohen Rang ein. Während die meisten Liberalen einer Monarchie gegenüber aufgeschlossen waren, gab es in liberalen Zirkeln auch Anhänger einer republikanischen Ordnung nach dem Vorbild der Schweiz oder der USA. Zwei-Kammer-Parlamente nach dem Vorbild des britischen Parlaments (und des amerikanischen Kongresses) schienen manchen Liberalen plausibel, andere präferierten die gemeinsame Debatte aller Parlamentarier in einer Kammer nach dem Vorbild der französischen Verfassunggebenden Nationalversammlung von 1789. Einige Liberale akzeptierten das Recht der Monarchie, die personelle Zusammensetzung der Regierung zu bestimmen; andere forderten, dass die Regierung vor allem das Vertrauen der Mehrheit der gewählten Parlamentsabgeordneten genießen müsse. Bezüglich der politischen Ordnung Europas hielten einige die nach 1815 festgelegten Grenzen für tragbar; andere forderten eine Neuordnung von Staatlichkeit nach dem Nationalitätsprinzip, insbesondere für Griechenland, Polen und später Belgien. Daher war die liberale "Mitte" des politischen Diskurses besonders anfällig für Differenzierungen in moderate und radikale Strömungen, die sich in unterschiedlichen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten klarer konturierten – in parlamentarischen Versammlungen tendenziell früher und offensichtlicher als in Konstellationen, wo mangels Parlamenten und angesichts weniger, starker Zensur unterworfenen Presse kein freier Debattenkontext existierte.
Sozialistische Programme
Während sich liberale Strömungen in parlamentarischen oder konstitutionellen Monarchien in der Regel in den Parlamenten etablieren konnten, standen sozialistische Positionen seit den ausgehenden 1790er Jahren weitgehend außerhalb des Raums der institutionalisierten Politik. Ihre Ideen speisten sich einerseits aus den "jakobinischen" Positionen der Französischen Revolution, welche die Gleichheit aller Menschen und die Priorität sozialer Fragen ebenso betont hatten wie bedingungslose Loyalität gegenüber der revolutionären Nation als Verteidigungsgemeinschaft, die extreme Härte gegen "Verräter" rechtfertigte. Da es erhebliche Überschneidungen zwischen Positionen des "radikalen" Liberalismus und des Sozialismus geben konnte, fiel die Abgrenzung bereits den Zeitgenossen nicht immer leicht, und auch im Rückblick lässt sie sich nicht ohne weiteres vornehmen.18 Einige Autoren datieren daher den eindeutigen Beginn einer sozialistischen Bewegung auf die Mitte des 19. Jahrhunderts,19 obgleich das Kommunistische Manifest von 1848 selbst eine Genealogie kommunistischer Positionen dokumentierte, die bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichte – dabei aber zugleich eine Terminologie für diese Positionen entwickelte, die es vorher so nicht unbedingt gegeben hatte.20 "Radikale", "sozialistische" oder "kommunistische" Positionen befürworteten in jedem Fall einen grundsätzlichen Umbau der Produktionsverhältnisse, oft nach dem Vorbild einer rational organisierten, auf weitgehender Gleichheit beruhenden Fabrik. Eine republikanische Verfassung genoss in diesem politischen Lager die größten Sympathien, wobei es unterschiedliche Vorstellungen davon gab, ob diese mittels einer Revolution oder grundlegender Reformen erreicht werden sollte. Auch die Frage, ob eine sozialistische Gesellschaft zunächst in Europa erschaffen oder durch entsprechende Gesellschaftsexperimente in Übersee (sei es in den USA, in Nordafrika oder anderen Regionen) vorbereitet werden sollte, wurde unterschiedlich beantwortet. Breit geteilt wurde die Kritik an Sklaverei, Leibeigenschaft und anderen Formen unfreier Arbeitsverhältnisse, die Ablehnung einer ständischen Ordnung und ungleicher Vermögensverteilung. Dagegen waren die Positionen gegenüber dem Potential ökonomischer Modernisierung, das sich durch Fabrikproduktion und globalen Freihandel eröffnen sollte, keineswegs eindeutig. Auch die Einschätzung der Erfolgsaussichten direkter revolutionärer Maßnahmen im Vergleich zu politischen oder ökonomischen Reformbemühungen oder die Bedingungslosigkeit in Bezug auf die Forderung nach einer philosophischen und religiösen Neuorientierung von Individuen und Gesellschaft fielen sehr unterschiedlich aus. Das folgte auch daraus, dass sozialistische Denker (noch) stärker als Vertreter anderer politischer Strömungen dazu neigten, auf der Grundlage philosophischer Erwägungen zu argumentieren und intellektuelle Differenzen bis ins Detail durchzufechten. Entsprechend rasant schritt die Ergänzung und Differenzierung ihrer Positionen voran. Zugleich lieferten äußerst individuelle, als extrem innovativ oder extrem verstörend wahrgenommene Vorschläge wie die Abschaffung der Ehe, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die Abschaffung der Erdbestattung oder die Ablehnung aller Herrschaftsordnungen Gegnern eine breite Angriffsfläche. Entsprechend war "Kommunist" oder "Sozialist" (ebenso wie "Jakobiner") vielfach eine polemisch intendierte Fremdbeschreibung, die auch Forderungen umfasste, die nur von wenigen Individuen ernsthaft erhoben wurden, um die politische Position so insgesamt zu diskreditieren.21
Kommunikations- und Organisationsformen
Die Struktur politischer Netzwerke hing in doppelter Hinsicht von ihrem politischen Programm ab. Erstens legte es die Orientierung an bestimmten Institutionen nahe oder schloss sie weitgehend aus. So suchten die Konservativen die Nähe von Monarchen und Höfen, Liberale präferierten Vereine, kommunale politische Institutionen oder parlamentarische Gremien, während Sozialisten an Modelle von Gesellenverbänden und Arbeitervereinen anknüpften und vielfach Distanz zur formalisierten Politik wahrten oder wahren mussten. Das lag daran, dass das politische Programm – neben anderen Faktoren wie dem sozialen Hintergrund der Mitglieder – entscheidend dafür war, ob politische Netzwerke von Regierungen gefördert, toleriert oder verfolgt wurden. Welche Bedingungen für welche politische Gruppe wo herrschten hatte wiederum Auswirkungen darauf, wo und auf welche Weise sich Netzwerke auf kürzere oder längere Dauer ausbilden konnten.
Aber nicht nur die Repression politischer Netzwerke durch Regierungen, sondern auch ihre aktive Förderung war ein entscheidender Faktor. So versuchten die Träger der Französischen Revolution früh, Personen aus anderen Ländern, die durch ihre politischen Äußerungen oder künstlerischen Produktionen prominent geworden waren, durch Ernennung zu Ehrenbürgern an sich zu binden;22 dieser Versuch wurde durch die Verfolgung von Ausländern unter dem Terror zwar abgebrochen,23 setzte sich aber mit dem späteren Versuch fort, Paris zu einem europäischen kulturellen und politischen Zentrum auszubauen. Unter umgekehrten ideologischen Vorzeichen etablierte sich der Zarenhof unter Alexander I. (1777–1825) planmäßig als Gravitationspunkt einer konservativ-legitimistischen Gegenposition, indem ihre Protagonisten sowie persönliche Gegner Napoleons durch Stellenangebote oder günstige Arbeits- und Lebensbedingungen dorthin eingeladen wurden.24
Konservative Netzwerke besaßen – gerade bezüglich der Interaktion über die Grenzen europäischer Staaten hinweg – eine günstige Ausgangsposition. Ihre Bezugspunkte, also Monarchen und ihre Höfe, waren durch familiäre Beziehungen ohnehin verbunden, auch wenn diese Netzwerke über konfessionelle Grenzen hinweg weniger stark ausgeprägt waren als innerhalb der katholischen oder protestantischen Heiratskreise. Allerdings waren strikt legitimistische Positionen, also das Festhalten am Gottesgnadentum auch in Situationen, in denen es den realen Herrschaftsverhältnissen wiedersprach, zwischen 1789 und 1850 politisch vielfach in der Defensive: Die exilierten Bourbonen-Herrscher (und ihre Anhänger) wurden nach der Französischen Revolution ebenso wie nach 1830 für Verwandte und Gastgeber ebenso eine Belastung wie weitere Personen, die in politischen Umbrüchen ihre Herrschaft abgeben mussten. Daher wurden sie und ihre Unterstützer zwar als Teil der europäisch vernetzten Hocharistokratie behandelt und von den Regierungen der Länder, in denen sie Aufnahme fanden, zumindest geduldet, teilweise sogar ihrem Rang entsprechend alimentiert. Allerdings verweigerten auch zahlreiche Länder die Aufnahme, und als regierende Souveräne wurden exilierte Monarchen nur dann anerkannt, wenn das – angesichts einer unmittelbar bevorstehenden Restauration – von besonderem Nutzen zu sein schien, und selbst dann nur recht kurzfristig.25 Wenn sich legitimistische Positionen gegen die tatsächliche republikanische oder monarchische Herrschaft wandten, also in Opposition gegen die Französische Republik und ihre Tochterrepubliken, gegen die Herrschaft Napoleons I. (1769–1821)[] oder Louis-Philippe de Ségurs (1773–1850) in Frankreich resultierten, wurden auch diese politischen Netzwerke unter polizeiliche Überwachung gestellt, ihre Publikationsorgane zensiert oder verboten und ihre Anhänger ausgewiesen, wenn die Unterdrückung in der Regel auch weniger intensiv war als gegenüber liberalen, radikalen, jakobinischen oder sozialistischen Regimekritikern.26
Mit der 1815 zunächst zwischen den Herrschern Russlands, Österreichs und Preußens vereinbarten "Heiligen Allianz", der – mit Ausnahme des Papstes – alle weiteren europäischen Monarchen als Staatsoberhaupt oder (wie der englische Prinzregent) als Privatperson beitraten, erhielt das konservativ-legitimistische Netzwerk eine rechtliche Grundlage und zugleich eine lockere Organisationsform: die europäischen außenpolitischen Kongresse nach der Wiener Versammlung konnten zugleich als Treffen der Heiligen Allianz gelten. Das Bild monarchischer Brüderlichkeit in einem christlichen und paternalistischen Geist, das die Heilige Allianz vermitteln sollte, wurde darüber hinaus durch Druckschriften, Bilder und Liedtexte verbreitet[][].
Liberale Netzwerke konnten sich in weiten Teilen Europas der Unterstützung eines Teils der Bürokratie und des Militärs sowie der Bildungseliten an Universitäten und in den freien Berufen erfreuen. In den Ländern, die über parlamentarische Versammlungen verfügten, stellten sie in den gewählten Versammlungen wichtige Fraktionen und bisweilen auch die Regierungen, wie zeitweise in Spanien oder nach 1830 in Frankreich, Großbritannien oder Belgien. Die Spielräume des Sagbaren und des Machbaren unterschieden sich für liberale Netzwerke von Land zu Land daher besonders deutlich. Der Fokus auf Militär, Bürokratie und Gelehrte verweist auf Kontinuitäten von den aufgeklärten Experten des 18. Jahrhunderts über die Anhänger rationaler Reformbestrebungen in der Revolutionszeit und der napoleonischen Ära bis zur Epoche nach dem Wiener Kongress. Allerdings war es nach 1815 deutlich schwieriger, als Ausländer eine offizielle Anstellung zu erlangen oder gar als Minister berufen zu werden als im 18. Jahrhundert.
Während sich liberale Gruppen in West- und Mitteleuropa in Vereinen, um Zeitungen oder als Parteien in gewählten Versammlungen organisieren konnten, wie sie im Zarenreich auch in Polen (bis zur Niederschlagung der Revolution von 1830) und Finnland existierten, waren sie in den italienischen Staaten, Russland, dem Habsburgerreich oder Preußen stärker auf persönliche Verflechtungen angewiesen, die in mehr oder weniger geheimen Organisationen münden konnten: den Carbonari in Italien und den Anrainerstaaten des Mittelmeerraums27 oder die Union der Erlösung (1816) (Союз спасения;. Soyuz spaseniya), bzw. die Union des Wohlergehens (1818) (Союз благоденствия; Soyuz blagodenstviya) im russischen Offizierskorps oder die Burschenschaften und Turnervereine im Deutschen Bund.
Die Tatsache, dass Revolutions- und Liberalisierungsversuche in den 1820er Jahren immer wieder an den Interventionen konservativerer Mächte scheiterten, trug in doppelter Hinsicht zur Verflechtung dieser Netzwerke über Staatsgrenzen hinweg bei. Erstens sahen sich Personen, deren Zugehörigkeit zu solchen Netzwerken bekannt wurde, und denen es gelang, der Verhaftung oder Hinrichtung zu entgehen, gezwungen, ihre Heimatländer zu verlassen. Sie begaben sich an ähnliche Orte, die zu Knoten liberaler Netzwerke wurden – vor allem in die Metropolen liberaler Staaten wie London, Paris, Brüssel oder Zürich. Dort entstanden in liberalen Salons Orte der persönlichen Kontaktpflege, während Nachrichten über die beteiligten Personen und ihre Aktivitäten weitere Kreise zogen – soweit die Zensur es zuließ über Märkte für Zeitungen, Pamphlete und Bücher sowie über Briefe, ansonsten mittels heimlich eingeführter und unter der Hand weitergereichter Texte oder mündlicher Nachrichten.
Zweitens erschien der Kampf für die Durchsetzung liberaler Vorstellungen nach 1820 als europaweites, bisweilen sogar transatlantisches Projekt, für das man sich im Wortsinne an verschiedenen Fronten engagieren konnte. So beteiligte sich der Kölner Liberale Franz Raveaux (1810–1851) 1830 an der belgischen Revolution[] und 1831–1835 am spanischen Bürgerkrieg. Der sardische Aktivist Giuseppe Garibaldi (1807–1882) ging nach der gescheiterten Revolution in Genua 1834 bis 1848 als Soldat nach Südamerika. Der britische Dichter George Gordon Lord Byron (1788–1824)[] verstarb als Freiwilliger für die griechische Revolution. Der aus Genua stammende, an der französischen Militärakademie St. Cyr ausgebildete Gerolamo Ramorino (1792–1849) nahm von den Feldzügen der Revolution über die polnische Kampagne von 1831 und Aktionen Giuseppe Mazzinis (1805–1872) bis zur römischen Revolution von 1849 an jeder größeren politischen Aktion teil. Institutionelle Gestalt erhielten diese Verbindungen über auf einzelne Aktivisten zentrierte Vereinigungen wie das 1831 von Guiseppe Mazzini gegründete "Junge Italien", das sich 1834 (charakteristischer Weise im Schweizer Exil) durch die Ergänzung um ein "Junges Polen" und "Junges Deutschland" zu einem "Jungen Europa" erweiterte.
An den Zentren der liberalen politischen Emigration erhielten Individuen und Vereinigungen Unterstützung vermögender und politisch einflussreicher Persönlichkeiten, die von der Öffnung ihrer Salons und Zirkel über die Vermittlung von Stellen und Einkommensmöglichkeiten bis hin zur Organisation finanzieller Unterstützung durch Wohltätigkeitsveranstaltungen reichen konnten. Beispiele sind für England das Netzwerk von Henry Richard Vassall-Fox (Lord Holland) (1773–1840), für Frankreich das Netzwerk um den ehemaligen russischen Minister Adam Jerzy Czartoryski (1770–1861), der sich 1830 für die Unabhängigkeit Polens eingesetzt hatte und daraufhin nach Paris ins Exil gegangen war.
Politischen Vereinigungen (oder einzelnen ihrer Mitglieder) war es bisweilen möglich, durch die Publikation von Zeitungen und Zeitschriften, journalistischen Texten oder Büchern nicht nur mediale Aufmerksamkeit, sondern auch Einkommen zu generieren, das zur Förderung ihrer politischen Ziele verwendet werden konnte. Dazu kamen Reisen liberaler Politiker, die sich über die Lage in anderen Ländern informieren wollten und dabei Netzwerke knüpften, wie etwa Richard Cobdens (1804–1865) Besuche des europäischen Kontinents in den 1830er Jahren. Auch manche Regierungen propagierten liberale Projekte; so förderte die britische Regierung die Verbreitung des Freihandelsgedankens.28
Wie oben aufgeführt, waren die Grenzen zwischen liberalen und "radikalen" bzw. sozialistischen Netzwerken fließend. Das lag zum einen daran, dass die Definition der Abgrenzung von liberalen, radikalen und sozialistischen Positionen stark vom jeweiligen politischen Klima und der Struktur der Verfassung abhing. Was in einem Land gängige Praxis war oder allenfalls eine milde Reformforderung darstellte, konnte in einem anderen als Beleg für eine kompromisslose radikale Oppositionshaltung erscheinen – etwa die Forderungen nach Ministerien, die parlamentarischen Mehrheiten gegenüber verantwortlich waren, nach geschriebenen Verfassungen und der Garantie von Grundrechten. Eine Position, die in der Schweiz auf Druck der Nachbarstaaten zur Ausweisung führen konnte, konnte in England zwar nicht mehrheitsfähig, aber doch als schützenswert erscheinen. Das machte der Skandal deutlich, der entstand, als 1844 öffentlich wurde, dass die britische Regierung Mazzinis Briefe öffnete, um mehr über seine Aktivitäten und Netzwerke zu erfahren und diese Informationen an andere Regierungen weitergab.29
Die Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen liberalen und radikalen Positionen ergab sich zum zweiten aus der personellen Überschneidung liberaler und radikaler Zirkel und der allmählichen Entwicklung radikaler Positionen aus liberalen Grundlagen bei einzelnen ihrer Protagonisten. So zog Karl Marx (1818–1883) beispielsweise 1843 nach Paris um, nachdem die von ihm herausgegebene, von liberalen Kölner Unternehmern finanzierte "Rheinische Zeitung" von der preußischen Regierung als zu radikal verboten worden war.30 In Paris unterhielt Marx Kontakte zur politischen Linken Frankreichs, zu exilierten deutschen Linkshegelianern wie dem ebenfalls durch die preußische Zensur nach Paris gedrängten Arnold Ruge (1802–1880) sowie zu Vertretern der Arbeiterbewegung. Diese biographische Entwicklung sowie seine Beteiligung an der Formulierung des Kommunistischen Manifests verhinderten freilich nicht, dass dieselben Kölner Finanziers 1848 das Experiment der sich nun explizit als "Organ der Demokratie" verortenden Neuen Rheinischen Zeitung unterstützten.31
Unterschiede der Organisationsformen zwischen liberalen und radikaleren Netzwerken ergaben sich nicht zuletzt aus dem unterschiedlichen Verfolgungsdruck sowie dem sozialen Profil der jeweiligen Gruppen. Bei radikalen Bewegungen war die Anbindung an "Arbeiter", Handwerker und Gesellen stärker, die Verbindung zwischen Organisationen über wandernde Gesellen somit prominenter, das Vertrauen auf etablierte Kommunikationswege wie die Post geringer.32 Prinzipielle Unterschiede waren dagegen kaum vorhanden; sobald der Verfolgungsdruck nachließ, bedienten sich radikale Bewegungen ebenfalls der Organisationsform des (politischen) Vereins.
Grenzen
Der Umfang politischer Netzwerke lässt sich nur schwer bestimmen. Die Zuordnung von Personen zu leicht identifizierbaren Positionen – sei es als Unterstützer von Monarchie und "Heiliger Allianz", sei es als "Jakobiner" oder "Kommunist" – konnte ebenso der Diffamierung wie einer realistischen Positionsbestimmung dienen. Je weiter man sich von bekannten und klar einer Position zuzuordnenden Personen entfernt, desto diffuser werden Zusammensetzung und Struktur von Netzwerken, die sich überdies mit der Zeit als überaus wandelbar erwiesen. Personen näherten sich an und entfernten sich, interne Differenzen und Spaltungen traten auf und wurden wieder gekittet, persönliche Positionen, Handlungsspielräume und Prioritäten verschoben sich. Während sich Parteizugehörigkeiten der Angehörigen der politisch aktiven Wahlbevölkerung – die aber bis 1848 meist nur eine Minderheit der erwachsenen männlichen Bevölkerung umfasste – in parlamentarischen Systemen anhand der Wahlergebnisse zumindest näherungsweise bestimmen lassen, ist das in anderen politischen Konstellationen schwieriger. Insofern reichen die Schätzungen von der (insgesamt wenig plausiblen) Annahme einer weitgehend apolitischen Bevölkerung zu einer differenzierten Beschreibung politischer Stimmungslagen.33
Fest steht, dass politische Verbündete wie politische Gegner vielfach dazu neigten, Umfang und Stabilität politischer Netzwerke zu überschätzen. Während die politische Opposition nach 1815 die Hand der "Heiligen Allianz" hinter vielen Entwicklungen vermutete, gingen Regierungen auf der Grundlage begrenzter und oftmals interessegeleiteter Informationen in der Revolutionszeit wie nach 1815 vielfach von der Existenz mitgliederstarker Oppositionsnetzwerke aus. Dabei war vor allem die unter konservativen Ministern verbreiteten Annahme einer globalen Verschwörung im Wesentlichen durch die politische Phantasie einiger Staatsmänner und Mitarbeiter der Geheimpolizei ins Leben gerufen worden.34 Unterkomplexe Bedrohungsszenarien standen somit vielfach in einem lockeren Zusammenhang zu einer deutlich komplexeren Realität.
Diese Realität bestand einerseits aus weitgespannten und lange überdauernden Beziehungen zwischen Personen mit ähnlichen ideologischen Sympathien, welche die politischen Brüche der Jahrzehnte zwischen der Französischen Revolution und der Revolution von 1848 überdauern konnten – besonders dann, wenn sie durch weitere Bindungen wie persönliche Freundschaften, familiäre Beziehungen oder ähnliche Tätigkeitsbereiche stabilisiert wurden. Sie bestand andererseits aus der Erfahrung häufiger ideologischer Neuorientierungen von Individuen mit unmittelbaren Folgen für Netzwerke, die oft von wenigen Personen getragen wurden und die sich mangels formaler Organisationen und unsicherer Finanzlage als besonders wandelbar erwiesen.
Dazu kam, dass sowohl in konservativen wie in liberalen Kontexten die geographische Reichweite von Netzwerken durch ihre Ziele begrenzt sein konnte. So konkurrierte im konservativen Spektrum der Fokus auf die Dynastie oder den Staat mit dem Ziel einer allgemein antirevolutionären Politik, wobei im Zweifelsfall der eigenen Dynastie der Vorzug gegeben wurde. Im liberalen Spektrum brachte es die vielfach vorhandene Sympathie für eine Neuordnung Europas in Form mindestens konstitutioneller oder demokratischer Nationalstaaten mit sich, dass immer dann, wenn ein politischer Erfolg in greifbare Nähe rückte – etwa zwischen Verfechtern eines deutschen und eines polnischen Nationalstaats –35 europäische Verbindungen durch die Konkurrenz über konkrete Territorien und Grenzen in Gegnerschaft umschlagen konnten.
Ausblick
Die Jahre zwischen der Französischen Revolution und den Revolutionen der Jahrhundertmitte markierten für europäische politische Netzwerke eine Epoche des Übergangs von den stark personenzentrierten Netzwerken der Aufklärung hin zu den stärker institutionalisierten "Parteien" der zweiten Jahrhunderthälfte. Während Organisationsformen wechselten und persönliche Netzwerke eine große Bedeutung behielten, differenzierten sich politische Personen klarer heraus, und in manchen Teilen des politischen Spektrums wurden auch Parteipositionen klarer erkennbar. Diese Positionierungen verfestigten sich in den Revolutionen von 1848 häufig nochmals deutlich.
Mit der Ausbreitung der konstitutionellen Monarchie nach Mittel- und Südeuropa sowie der Ausweitung des Wahlrechts auf einen größeren Anteil der erwachsenen Männer (bis hin zum fast allgemeinen Männerwahlrecht Frankreichs und dem recht allgemeinen, aber die Stimmen sehr ungleich gewichtenden Dreiklassenwahlrecht in Preußen) wuchs sowohl die Möglichkeit als auch der Anreiz zur Gründung explizit politischer Vereine mit einer potentiell erheblichen sozialen Reichweite. Obgleich der rechtliche Status von "Parteien" umstritten blieb und selbst innerhalb desselben Landes zwischen dauerhaften Strukturen und Wahlkampfvereinen wechseln konnte, wuchs somit die Möglichkeit zur Vernetzung von Institutionen als Ergänzung oder als Ersatz zur Vernetzung von Personen. Damit konnte sich weiterhin ein Anreiz zur grenzüberschreitenden Kooperation und Organisation verbinden (etwa in den "Internationalen" der Arbeiterbewegung), es war aber auch mö