Einleitung
Der Schweizer Gelehrte, Naturforscher, Arzt, Dichter und Magistrat Albrecht von Haller (1708–1777)[] unterhielt einen der umfangreichsten Briefwechsel seiner Zeit.1 Von seinen eigenen Briefen hat sich nur eine kleinere Zahl (rund 3.750) erhalten, während er selbst den größeren Teil der an ihn gerichteten Schreiben aufbewahrte (rund 13.200). Diese stammen von 1.200 Personen und von insgesamt 447 verschiedenen Absendeorten aus – bezogen auf die heutigen Landesgrenzen – nicht weniger als 21 europäischen Staaten sowie einem in Übersee. Zeitliche Entwicklung, Umfang und geographische Ausdehnung des Netzwerks sind einerseits auf die Biographie und die spezifischen Interessenlagen Hallers zurückzuführen, andererseits aber auch durch allgemeine Grundstrukturen europäischer Gelehrtenkorrespondenzen bedingt.
Aufbau des Beziehungsnetzes
Hallers Briefnetz entwickelte sich in drei Lebensphasen. Erste wichtige Kontakte knüpfte er ganz gezielt in seiner Studienzeit in Deutschland und Holland sowie auf den Studienreisen nach London und Paris. Diese Kontakte wurden während der anschließenden Jahre als Arzt in Bern verfestigt und in bescheidenem Rahmen ausgebaut. Die große Expansion fand in der zweiten Phase in Göttingen (1736–1753) statt. Dort wurde er als Professor der Anatomie, Botanik und Chirurgie, als Chefredakteur der Göttingischen Gelehrten Anzeigen, als Präsident der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften und als Verfasser bahnbrechender Forschungen zu einer internationalen Berühmtheit. Nun musste sich Haller nicht mehr um die Aufnahme von Korrespondenzen bemühen, sondern wurde vielmehr – oft sogar im Übermaß – darum gebeten. Die Rückkehr in die Heimat und die Übernahme des Amtes eines Rathausammans in Bern (1753–1757), des Salzdirektors im waadtländischen Roche (1758–1764) und weiterer Magistratsfunktionen in Bern (1764–1777) bedeuteten keinen Abschied von der Gelehrtenrepublik; die ab 1747 erreichte Netzwerkgröße von 300–400 empfangenen Briefen pro Jahr hielt sich bis ans Lebensende aufrecht. Verschiebungen gab es in der geographischen Ausrichtung. Die Ausdehnung des Netzes in der Göttinger Zeit erfolgte in erster Linie auf dem Gebiet des heutigen Deutschland. Die eigentliche Internationalisierung fand erst in der letzten Lebensphase statt; nun baute Haller viele Kontakte in die östliche Hälfte Frankreichs, nach Ober- und Mittelitalien sowie nach Großbritannien auf. Damit entstand eine eigentliche Nord-Süd-Achse, die Hallers Brückenfunktion zwischen der deutsch-angelsächsischen und der romanischen Welt abbildet. Auffallend ist für alle drei Lebensphasen, dass die schweizerischen Briefe in jenen Perioden überwiegen, in denen sich Haller in der Schweiz befand, die "deutschen", während er in "Deutschland" wirkte. Auch ein Gelehrter europäischen Zuschnitts wie Haller blieb in großen Teilen seiner Briefkommunikation eng mit dem regionalen und "nationalen" Umfeld seines aktuellen Wirkungsortes verflochten.
Sozialstruktur der Korrespondenzpartner und Inhalt der Briefe
Die meisten Briefe wurden von praktizierenden Ärzten geschrieben (32% aller Briefe). Dazu zählten neben den freien Praktikern auch Spitalärzte, Feldärzte, Stadtärzte, Landärzte und Hofärzte sowie einzelne Chirurgen und Prosektoren. Die zweitgrößte Gruppe waren die Magistraten und Staatsmänner (13%), hauptsächlich gebildet aus Angehörigen der eidgenössischen Stadtregimente, aber auch aus höheren Hofbeamten deutscher Territorien sowie einzelnen Regenten und Regentinnen. Es folgten die nichtmedizinischen Universitätsdozenten und weitere Wissenschaftler, die als Akademiesekretäre, Gartendirektoren, Hofphysiker oder Professoren an Akademien tätig waren (11%). Beinahe genauso groß war die Gruppe der universitären Medizinprofessoren (10,9%), etwas kleiner diejenige der Schulmänner die Professoren an Hohen Schulen, Gymnasien und Akademieschulen, Sprachdozenten, Hofmeister und Hauslehrer umfasste (10%). Als weitere Kategorien folgten Privatiers, die ihren Lebensunterhalt aus ihren Vermögenswerten gewannen (7%), Verwaltungsbeamte wie Bibliothekare, kleinere Hofbeamte und Gerichtsdiener (3%), Geistliche wie Vikare, Pfarrer und Domherren (3%), im Buchgewerbe Tätige wie Buchhändler, Verleger, Drucker und Kupferstecher (2%), die zu einer Gruppe zusammengefassten Chirurgen und Apotheker (2%) sowie die Studenten (2%), zu denen auch die nicht wenigen Korrespondenten zählten, die ihre eben fertiggestellte Dissertation an Haller schickten.
Im Vergleich mit anderen Briefnetzen fällt der ausgesprochen gelehrte, wissenschaftliche und akademische Charakter von Hallers Briefwechsel auf. Dementsprechend waren die Wissenschaften in allen ihren Facetten das Hauptthema der Korrespondenz. Medizin, Botanik, Naturgeschichte, weitere Wissenschaften und der ganze Wissenschaftsbetrieb (Büchersendungen, Mitgliedschaften, Berufungen etc.) waren für knapp zwei Drittel der Briefinhalte verantwortlich. Die weiteren wichtigen Themen waren Persönliches und Familiäres (11%), Politik, Verwaltung und Ökonomie (10%), medizinische Praxis (8%) und Dichtung (6%). Diese Gruppierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die einzelnen Bereiche nahtlos ineinander fließen konnten und dass das ganze Themenspektrum äußerst breit und vielseitig war. Gerade Hallers umfangreiche Korrespondenzen waren meist ausgesprochen multithematisch und bewegten sich nicht selten in ein und demselben Brief gleichzeitig in den unterschiedlichen Kommunikationsräumen der Gelehrtenrepublik, der Aufklärung, des Literaturmarkts und der Stadtrepublik Bern. Exemplarisch kann der Schweizer Naturwissenschaftler und Philosoph Charles Bonnet (1720–1793) genannt werden, der mit Haller als Gelehrter über Embryologie diskutierte, als Angehöriger des Genfer Patriziats interne Staatsgeschäfte austauschte und als Gegner der philosophes Argumente gegen diese entwickelte.
Informationsbeschaffung und "Insider-Wissen"
Das für den wissenschaftlichen Fortschritt nötige neue Wissen entsteht in einem komplexen Wechselspiel von Informationsbeschaffung und Lektüre, praktischer Forschung und theoretischer Reflexion, lokaler Zusammenarbeit und Austausch mit Auswärtigen sowie schriftlicher Fixierung und Verbreitung. Haller hat alle diese Ebenen der Wissensproduktion effizient eingesetzt und so ein riesiges Œuvre von ca. 50.000 Druckseiten geschaffen, das zahlreiche monographische Werke, Editionsprojekte, Abhandlungen, Enzyklopädie-Artikel, Vorreden und 9.000 Rezensionen umfasst. Dabei hatte er gemäß seines Wissenschaftsverständnisses einen außerordentlich hohen Bedarf an Literatur, war er doch der Ansicht, dass die umfassende Konsultation und Verarbeitung der Literatur ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil des Forschungsprozesses bildet. Sein weitgespanntes Korrespondenznetz sicherte ihm den nötigen konstanten Zufluss von Publikationen. Ein Pool von rund 50 Korrespondenten, von denen er je mindestens 30 Briefe, meist sogar über 50 Briefe erhielt, garantierte Haller die kontinuierliche Versorgung mit Literatur. Diese Informanten saßen bezeichnenderweise in den Universitätsstädten Basel, Göttingen, Kopenhagen, Paris, Leipzig, Montpellier, Padua, Straßburg, Tübingen, Turin, Uppsala, Wien und Wittenberg sowie an weiteren wichtigen Wissenszentren wie Berlin, Genf, London, Lyon, St. Petersburg, Stockholm und Zürich. Ihre Korrespondenz beschränkte sich aber nicht auf den Bücheraustausch, vielmehr informierte man sich ganz allgemein und in vielfältigster Weise über Zustände und Veränderungen am eigenen Wohnort und in anderen Zentren der Gelehrsamkeit.
Das große Kontaktnetz und seine hohe Reputation ermöglichten es Haller, über diesen konstanten Informationsfluss hinaus bei Bedarf spezifische Nachrichten zu besonderen Themen und Ereignissen einzuholen. Dazu konnte er entweder neue Korrespondenten rekrutieren, sich an einen seiner wichtigen Gewährsleute oder an seltener kontaktierte Briefpartner wenden. Dabei ging es insbesondere im Fall von sich abzeichnenden oder bereits bestehenden wissenschaftlichen Kontroversen häufig nicht mehr um am lokalen Ort allgemein zugängliche Mitteilungen, wie etwa den Hinweis auf die Publikation eines Buches, sondern um "Insider-Informationen". So erfuhr Haller etwa von Frederik de Thoms (1696–1746), dem Schwiegersohn von Hallers Lehrer Herman Boerhaave (1668–1738), dass man ein anonymes – eigentlich aber von Haller verfasstes – kritisches Urteil über den großen Boerhaave in Leiden als absolut fehl am Platz erachte.2 Ein halbes Jahr später, im September 1745, vernahm er zudem aus Franeker von Johann Samuel König (1712–1757), dass man in Leiden eine Replik darauf verfasst habe.3 Auf Hallers Bitte bemühte sich Thoms erfolgreich, die Replik im Manuskript einsehen zu können. Er erreichte auch, dass das Erscheinen der ätzenden Kritik verzögert und diese gemildert wurde. Gleichzeitig erfuhr Haller von zwei weiteren seiner Briefpartner in Leiden und St. Petersburg, dass es sich beim Autor der Replik um den Leidener Arzt Willem van Noortwyck (ca. 1713–ca. 1777), den Schwager des Wiener Boerhaave-Schülers Gerard van Swieten (1700–1772), handle.4 Für Haller war somit klar, dass sich seine Gegnerschaft weniger aus den Leidener Boerhaavianern als aus dem Kreis um van Swieten rekrutierte. Damit war Haller schon gut drei Monate, bevor die Replik überhaupt gedruckt war, darüber informiert, dass die Gegenseite nicht nur durch solidargemeinschaftliche Bande (Schüler Boerhaaves), sondern auch durch Verwandtschaft verbunden war. In seiner – wiederum anonymen – Erwiderung konnte er daher herausstreichen, dass sein Gegner der Schwager van Swietens sei und es diesem daher viel mehr um dessen als um Boerhaaves Ruhm gehe.5 Und bei alledem gelang es ihm, gegenüber seinen Informanten geheim zu halten, dass er der Verfasser der den Streit auslösenden Rezension gewesen war.
Europäische Kommunikation
Angesichts der großen Distanzen, der kulturellen Vielfalt und der politischen Fragmentierung von Hallers europäischem Kommunikationssystem interessiert die Frage nach dessen Organisation. Die staatlichen und konfessionellen Grenzen wurden in seinem Netz zwar thematisiert, behinderten aber nur in Einzelfällen die übergreifende Kommunikation. Auf den ersten Blick erschwerend wirkte die Tendenz zur sprachlichen Fragmentierung als Folge des Rückgangs der alten Universalsprache Latein, der in Hallers Korrespondenz immer wieder beklagt wurde.6 Die starke Präsenz der "Nationalsprachen" Französisch (39%), Deutsch (24%) und Englisch (15%) neben dem Lateinischen (21%) zeugt aber gerade von dem Bemühen, dieser Fragmentierung entgegenzuwirken. Dahinter stehen natürlich auch überdurchschnittliche Sprachfähigkeiten der Hauptperson im Beziehungsnetz, die man allgemein zu den Voraussetzungen beim Unterhalt eines europäischen Korrespondenznetzes zählt und die beispielsweise auch bei dem Naturphilosophen und langjährigen Sekretär der Royal Society, Henry Oldenburg (ca. 1617–1677), oder Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) zu beobachten sind.
Es liegt nahe, die europäischen Kommunikationsprozesse in Hallers Netz auch unter dem Gesichtspunkt des Kulturtransfers zu betrachten, wobei dies vorzugsweise im Rahmen einer entnationalisierten Variante geschieht, die nicht in erster Linie von staatlichen Grenzen ausgeht, sondern den Netzwerkcharakter interkultureller Wechselbeziehungen betont.7 Haller war in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit derart eng mit Göttingen und seinen gelehrten Institutionen verknüpft, dass in seinem Netz diesbezüglich zwischen Deutschland und der Schweiz eher Verflechtungen als eigentliche Transferprozesse zu beobachten sind.8 Als Bestandteil der deutschen Kultur erscheint Haller auch in seiner Rolle als Dichter, in der er als Erneuerer der deutschen Literatur wahrgenommen wurde. Wenn man aber Hallers Verflechtungen mit dem deutschen Kulturraum unter dem Aspekt seiner Vermittlerrolle betrachtet, können all diese Phänomene auch in der Perspektive des Kulturtransfers analysiert werden, so insbesondere seine Bemühungen als "Schweizer" um die Übernahme eines "korrekten" Deutsch. Dies zeigt sich in seinem Netz zum einen in der aufwändigen Überarbeitung seiner Gedichte, in denen er zusammen mit seinen Briefpartnern zugunsten des deutschen Publikums die schweizerischen Besonderheiten ersetzte, zum anderen in seiner deutschen Korrespondenzsprache, die sich im Gefolge des Wohnortwechsels von Bern nach Göttingen von einem ungelenken, sich syntaktisch ans Lateinische anlehnenden und mit Helvetismen durchsetzten Stil hin zu einem rhetorisch geschliffenen, am Ostmitteldeutschen orientierten Sprachgebrauch veränderte.9 Ebenfalls als Kulturtransfer aufzufassen sind Hallers briefliche Bemühungen um die Übersetzung seiner Werke, zumeist ins Französische. Überhaupt war in Hallers Netz der Austausch zwischen dem deutschen und dem französischen Kulturraum von besonderer Bedeutung. Haller nahm dabei eine klassisch schweizerische Position ein, indem er in einer trilateralen Konstellation als Schweizer zwischen französischer und deutscher Wissenschaft bzw. Literatur vermittelte (Helvetia mediatrix).10 Eine ähnliche Vermittlerrolle zeigte Haller auch in seiner Korrespondenz mit den eher an den Rändern der europäischen Gelehrtenrepublik gelegenen Gebieten wie Skandinavien, Russland, Osteuropa und Italien.11 Schließlich sind auch große Teile des die Korrespondenz begleitenden Realientransfers als Kulturtransferprozesse aufzufassen, insbesondere der Transfer von andernorts erfolgreichen Agrarpflanzen.12
Das Leben im Netz
Ein guter Teil der Brief- und Aufklärungsforschung geht davon aus, dass die Briefkultur der Aufklärungszeit einen vollständigen Bruch mit den traditionellen Kommunikationsformen darstelle. Etwas überspitzt formuliert, erkennt diese Richtung erst im freundschaftlich-empfindsamen Brief der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen "natürlichen" Stil und eine freie Darstellung der Verfasserpersönlichkeit, und zwar in der doppelten Befreiung vom formelhaften Kanzleistil und vom künstlichen Stil des galanten Briefs. Die Analyse von Hallers Netz ergibt ein etwas anderes Bild, indem sich hier "alt" und "neu" sehr viel weniger dichotomisch gegenüberstehen. So zeigen sich verschiedene Korrespondenztypen mit "natürlichem" Sprachstil, die nicht oder nur teilweise mit den neuen Kommunikationsformen der Aufklärung zu tun haben. Zu nennen sind zum einen der familiäre Brief, der in einer ungekünstelten und direkten Sprache auch persönliche Gefühle und Anteilnahme zum Ausdruck bringt, dabei aber vollständig innerhalb der alten ständischen Welt zu verorten ist, zum anderen der "reine" Informationsbrief im Rahmen einer nützlichen Gelehrtenfreundschaft, der in der Tradition der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik steht. Schon eher im Kontext der aufgeklärten Geselligkeit anzusiedeln ist dagegen der freundschaftliche Briefstil, der dadurch gekennzeichnet ist, dass sich hier neben der Informationsfunktion auch phatische (Aufnahme und Unterhalt des Kontakts), poetische (metaphorische Sprache), metasprachliche (Äußerungen über den Schreibakt) und emotive Funktionen (Aussagen des Schreibers zu Alter und Krankheit) erkennen lassen.13 Aber auch in Hallers freundschaftlichen Briefwechseln wurde nicht einfach die Information durch die Emotion ersetzt, wie es für den empfindsamen Brief letztlich charakteristisch ist. Vielmehr scheinen das Interesse am Briefpartner und die zahlreichen kontakterhaltenden und -unterstützenden Passagen in den meisten dieser Briefe Bestandteil des "networkings" zu sein, das für Aufbau und Unterhalt eines Briefnetzes unabdingbar war. Dieses Netz hatte aber seine Hauptfunktion nicht im Austausch von Emotionen, sondern von gelehrten Informationen, Wissensbeständen und Realien im Fall des Gelehrtennetzes; von gesellschaftlichen Ereignissen, Wahlabsprachen und Magistratsinterna im Fall der vernetzten bernischen Stadtrepublik. Dass der persönliche Austausch nicht am Ausgangspunkt von Hallers Netz stand, heißt aber auf der anderen Seite nicht, dass er für Haller und für seine vertrauten Korrespondenten nicht auch persönlich von großer Bedeutung gewesen wäre.