Der Beginn des Starzentums vor der Neuzeit und außerhalb Europas
Das Starzentum hat zwei Wurzeln: Der Hesychasmus und die anachoretische Lebensweise.1 Die Anfänge dieser beiden Bewegungen im Christentum liegen im 2. bis 4. Jahrhundert nach Christus in der nitrischen und sketischen Wüste, auf dem Sinai, in Syrien und Palästina.2 Unter Hesychasmus (von griech. hesychia: Ruhe) versteht man eine kontemplative christliche Gebetstradition, bei der ein kurzes Gebet wiederholt wird, oft in einer bestimmten Sitzhaltung und verbunden mit einem speziellen Atemrhythmus. Die bekannteste Variante dieser Gebetsform ist das sogenannte "Jesusgebet". Dabei nimmt der Name "Jesus" eine zentrale Stellung ein.
Mit dem Christentum kam das Mönchtum und damit die hesychastische Gebetsweise aus dem Nahen Osten nach Byzanz.3 Besonders im Mönchtum auf dem Heiligen Berg Athos, das das Ergebnis einer anachoretischen Rückzugsbewegung ist, wurde diese Gebetsform üblich.4 Starez (wörtl. "[ehrwürdiger] Greis") ist die russische Bezeichnung für einen erfahrenen, asketisch lebenden Geistlichen, der Unerfahrene anleitet und begleitet. Eine deutsche Bezeichnung ist "Ältester", im Englischen "Elder". Als "Starzentum" wird eine russische Ausprägung des Klosterlebens bezeichnet, die sich im 19. Jahrhundert entwickelte.
Auch bereits in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends breitete sich das Christentum von Byzanz in Richtung Norden aus, bald verstärkt durch die sogenannten Slavenmissionen. Die erste Begegnung des slavischen Nordens mit dem byzantinischen Mönchtum erfolgte wohl auf der Krim – abermals als Ergebnis eines Rückzugs: Mönche flohen dorthin während der Unruhen des Bilderstreits (8./9. Jahrhundert).5 Der Fürst der Kiewer Rus’ ließ sich 988 taufen. Dem byzantinischen Vorbild folgend erkannte er die mögliche Einigungsfunktion der Kirche für sein Vielvölkerreich und förderte sie. Die Gründung der Metropolie Kiew im 11. Jahrhundert erfolgte jedoch durch Byzantiner und unterstand deren Jurisdiktion. Auch die ersten Bischöfe wurden von Byzanz entsendet. Das Kiewer Höhlenkloster, das erste große Zentrum asketischen Mönchslebens in Russland, geht auf einen vom Athos oder aus Bulgarien stammenden Mönch zurück.6 Zwischen Konstantinopel im Osten, Thessaloniki im Westen und Kiew im Norden bewegten sich Mönche weitgehend frei.7 Für Hesychasmus in der Rus’ gibt es allerdings bis ins 13. Jahrhundert dennoch so gut wie keine Belege.8
Entstehung einer Nord-Süd-Route zwischen Athos und Rus' ab dem 13. Jahrhundert
Die russische Kirche in Schwierigkeiten: Die Goldene Horde
Im Jahr 1240 stürmte die Goldene Horde der Mongolen Kiew und zerstörte unter anderem die Metropolitankathedrale und das Kiewer Höhlenkloster. Von 1240 bis 1480 stand die Rus’ unter mongolischer Herrschaft. Gleichzeitig zerfiel im Süden das byzantinische Reich. Zwischen der lateinischen (1204) und der osmanischen (1453) Eroberung Konstantinopels schrumpfte es infolge ständiger Invasionen fast zum Stadtstaat zusammen.9 Der Kaiser rief die Lateiner um Hilfe. Dies führte zu einer Auseinandersetzung, die als Hesychasmusstreit bekannt wurde und die dazu beitrug, dass die byzantinische Theologie an Eigenständigkeit gewann. Barlaam von Seminara (ca. 1290–1348), ein Mönch byzantinischer Tradition, kam 1330 aus Kalabrien nach Konstantinopel, um die Unionsverhandlungen mit den Lateinern am kaiserlichen Hof vorzubereiten. Er interessierte sich für alles ihm noch Unbekannte und traf auf einen jungen Hesychasten, der versuchte ihm seine Gebetsweise zu erklären. Barlaam war entsetzt und zeigte die Gebetspraxis beim Patriarchen in Konstantinopel an. Das rief Gregorius Palamas (1296–1359), einen athonitischen Mönch, auf den Plan.10 Palamas entwickelte die sogenannte Energienlehre, eine theologische Theorie, die versuchte die hesychastische Gebetserfahrung mit der traditionellen theologischen Gotteslehre zu vereinbaren.11 Zunächst wurde der Streit von der Kirchenleitung in Konstantinopel verboten.12 In einem politisch motivierten Bürgerkrieg identifizierte sich dann jedoch eine Seite mit den Ansichten der Hesychasten, während die andere Partei für die Antihesychasten eintrat. Am Ende trugen die Befürworter des Hesychasmus den politischen Sieg davon und mit ihnen der "Palamismus", das heißt die Energienlehre. Auf zwei Synoden im Jahre 1347 wurde die Lehre für orthodox erklärt. 1352 folgte die Aufnahme der entsprechenden Artikel in das Synodikon, ein liturgisches Regelbuch der Orthodoxie.13 Durch diesen "Hesychasmusstreit" wurde öffentliche Aufmerksamkeit auf die Gebetsweise gelenkt und diese Text- sowie Methodentradition nunmehr als Schule oder Partei verstanden. Zugleich zeigte der Streit, wie weit sich die Gebetsform in der Region verbreitet hatte.14 Letztlich kam es zu keiner Union mit den Lateinern.15 Vor den zunehmenden Invasionen flohen auch Mönche aus Byzanz und wandten sich gen Norden, weil sie dort auf vertraute Strukturen hoffen konnten.16
Flucht war allerdings nicht der einzige Grund, weshalb sich der Hesychasmus gen Norden in Richtung Rus‘ ausbreitete. Dies zeigt das Beispiel des späteren Metropoliten Kiprian (ca. 1330–1406). Kiprian, geboren in Bulgarien, war ein Enkelschüler des Hesychasten Gregorius Sinaita (ca. 1265–1346).17 Später wurde er Mitarbeiter des mit dem Hesychasmus sympathisierenden Patriarchen von Konstantinopel, Philotheus Coccinus (ca. 1300–1379). Er wurde 1374 nach Kiew entsandt, um byzantinische Jurisdiktionsansprüche in einer um Litauen erweiterten Doppelmetropolie von Kiew neu durchzusetzen; diese beinhaltete mit Litauen eine westliche und mit Moskau eine östliche Hälfte. 1375 wurde er zum Metropoliten von Kiew und Litauen geweiht, und 1390, nach vielen Auseinandersetzungen und Verleumdungen in Konstantinopel, auch zum Bischof von Moskau. Vor allem in den von ihm gesammelten und ins Slavische übersetzten griechischen Texten gibt er sich als Förderer des Hesychasmus zu erkennen.18 Der slavischen Liturgie fügte er die in Byzanz bereits ins Synodikon aufgenommenen Artikel über die palamitische Energienlehre bei. Pastoralbriefe bezeugen, dass er auf die Umsetzung der Artikel achtete. Allerdings war er selbst kein Eremit.
Im Jahre 1448 wurde die russische Kirche autokephal. Nur fünf Jahre später kam es 1453 zur Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen.19 Auch der Athos geriet unter osmanische Herrschaft. Trotz Autokephalie und des Untergangs des weltlichen Byzanz war die Verbindung zwischen Süden und der Rus‘ nicht abgeschnitten: Aus der allgemeinen Verflechtung der verfassten Kirchen in Byzanz und in der Rus‘ destillierte sich erst jetzt das eigentliche Netzwerk der Hesychasten heraus. Der Kontakt des Nordens zum Hesychasmus auf dem Athos verlief über Verbindungen, die seit langer Zeit bestanden. Auf dem Athos gab es spätestens seit 1169, als das russische Kloster des Heiligen Märtyrers Pantaleimon gegründet wurde, kontinuierlich Mönche aus Russland.20 Dass es auf dem Berg nicht allmählich zu einer Assimilation dieser Mönche kam, wurde verstärkt durch ein triviales Faktum: Mönche vermehren sich nicht. Das russische Mönchtum auf dem Athos entwickelte sich darum nie zu einer Gruppe von Siedlern, die nur ihre Sprache im anderen Land weiterpflegte; die Mönche kamen und gingen stattdessen stets erneut den Weg zwischen Nord und Süd und hielten so eine letztlich beständige Verbindung.
Rückzug als Methode – Eremiten und Skiten
Auch unter mongolischer Herrschaft gelang es der russischen Kirche, einen gewissen Freiraum zu erwerben.21 Dennoch kam es auf der Rus‘ zu Rückzugsbewegungen. Geistliche zogen aus den Städten und in die Einsamkeit der ausgedehnten Wälder nördlich der Wolga. Dort lebten sie zunächst als Eremiten. Mit der Zeit entstand typischerweise eine Ansiedlung mehrerer Hütten, oft um eine Holzkirche herum. Wenn solch eine Pustyn‘ (Einödkloster) entstanden war, ging der Älteste zum Bischof und bat ihn um die Weihe der Kirche. Er erhielt bei ausreichender Bildung die Mönchs- und Priesterweihe, falls er sie nicht schon besaß. Andernfalls wurde ein Mönchspriester zum Kloster gesendet, so dass die Liturgie gefeiert werden konnte.
Die Form der Pustyn' war komplementär zu den in Russland ebenfalls schon früh bekannten Klostergründungen durch Adelige. Diese Klöster waren eng mit der Adelsfamilie sowie deren Wirtschaftsbetrieb verbunden und besaßen eine striktere Verwaltung. Zwischen den beiden Formen kam es wiederholt zu Konflikten. Sergij Radonežskij (ca. 1319–1392)[] verband das strengere asketische Leben aus der Pustyn' und das koinobitische (das heißt mit mehr gemeinschaftsbezogenen Elementen gestaltete) Beten und Leben, und wurde so zum Vater einer Kultur asketischen Gemeinschaftslebens.
Infolge des Wirkens Radonežskijs und seiner Schüler kam es zu einer Welle neuer Klostergründungen.22 Diese Ausbreitung der Klosterkultur führte zu einer regelrechten geistlichen Besiedlung des Nordens, die man auch als "Klosterkolonisation"23 des 14.–16. Jahrhunderts bezeichnet hat.24 Die Einödexpedition drängte in die Grenzregionen der Rus', führte zur Entstehung neuer monastischer Zentren zwischen Ostseeraum, Kaukasus und Athos und ging damit auch über den Bereich Osteuropas[] hinaus.25 Zur gleichen Zeit erfolgte eine weitere Reihe von Gründungen, ausgehend vom Spaso-Kamenyi Kloster, wo durch Abt Dionisij (gest. 1425) eine Klosterregel vom Athos eingeführt worden war.26 Das streng asketische Leben und das koinobitische, die Sergij Radonežskij verbunden hatte, gerieten im 15. Jahrhundert noch einmal neu in Konflikt. Die beiden Parteien fanden ihre hauptsächlichen Repräsentanten in Iosif Volockij (ca. 1440–1515) und Nil Sorskij (1433–1508).27 Iosif, der im Borovskij-Kloster als Mönch erzogen worden war, regte später als Abt eine enge wirtschaftliche Verbindung des Klosters zu den umgebenden Dörfern sowie dem Adel an. Außerdem regelte er das klösterliche Leben in allen Bereichen sehr streng und genau. Viele Bischöfe des 16. Jahrhunderts gingen aus seinem Kloster hervor. Der ebenfalls aus dem Adel stammende Nil Sorskij hingegen lehnte diese Art der Klosterkultur ab. Er zog mit einem Freund und Schüler auf den Athos und brachte von dort das Ideal eines vertieften asketischen und hesychastischen Lebens mit zurück. Es kam zu einer Auseinandersetzung, die dem Armutsstreit der lateinischen Kirche in mancher Hinsicht gleicht. Iosif Volockij sprach sich für die Notwendigkeit von Klosterbesitz aus, der die Mönche in die Lage versetzen sollte, von Sorgen um ihre Existenz befreit und unbeschwert als Hirten, Seelsorger und Bischöfe wirken zu können. Nil hingegen trat für die weitgehende Besitzlosigkeit der Mönche und die Lebensform der Einödklöster ein, in denen die Ernährung nur durch eigenhändige Arbeit gewährleistet war. 1503 siegten die "Iosifljanen", die Klöster behielten ihren Besitz. Aber die Differenzen hatten sich deutlich gezeigt und in "Parteien" manifestiert. Nil Sorskij hatte das mönchische Leben Russlands durch die Begegnung mit dem athonitischen Hesychasmus um einen neuen Impuls dauerhaft bereichert.
Nil Sorskij gilt in Russland auch als Begründer der Skite, einer neuen Wohn- und Lebensform, die sich im 16. Jahrhundert sowohl auf dem Athos als auch im Norden ausbreitete.28 Durch ihre Größe stellt sie einen Mittelweg zwischen Kloster und Einzelklause dar. Jeweils etwa drei Mönche leben in ihr auf sehr engem Raum zusammen.29 Ihre Bauform spiegelt die charakteristische Verbindung zwischen Älterem und Schüler wider: Der Älteste bewohnt die Hauptzelle, und (mindestens) ein jüngerer Mönch ist sein Zellendiener. Dieser untersteht so der strengsten Erziehung und hat zugleich in allen Lebensbereichen das lebendige Vorbild vor Augen. Die Skite wurde zur Lebensform des Starzentums.
Wegbeschreibungen des russischen Starzentums vom 18. bis zum 20. Jahrhundert
Für das 17. Jahrhundert existieren praktisch keine Informationen zu Hesychasmus und Starzentum in der Rus'. Historiographisch überbrückt diese Zeit eine "Große Erzählung" von einem Niedergang des Asketentums in der gesamten russischen Kirche, bevor das Zeitalter des Starzentums begann. Was aber geschah während der langen Zeit in den vielen Skiten? Es ist möglich, dass in dieser Zeit ein Asketentum existierte, das jedoch keine Textzeugen hinterließ. So wenig das ausgeschlossen ist, so wenig ist auf diesem Weg historisch zu sagen.30
Zaristische Aufklärung
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts sah sich die russische Kirche allerdings mit einem neuen Problem konfrontiert: Zar Peter I. (1672–1725) orientierte sich nach Westeuropa, und sein Bekenntnis zur Aufklärung nach westlichem Vorbild brachte traditionelle russische Frömmigkeitsformen in Bedrängnis.31 Während die akademische Theologie scholastisch wurde und damit interessanterweise jene Methode aufnahm, die die lateinische theologische Tradition gerade im Zuge der Aufklärung neu hinterfragte, regte sich bei Laien und Mönchen gegen diese Entwicklung grundsätzlicher Widerstand.32 Das erste sichtbare Zeichen dieser Ablehnung bestand in der Trennung der Altgläubigen von der verfassten Kirche. Diese Reaktion von Laien blieb aber nicht das einzige Symptom des Protests. Die Geschichte des hier vorgestellten Netzwerks bis ins 20. Jahrhundert kann als Geschichte der kreativen Distanzierung von den Entwicklungen der lateinischen Theologie und der Aufklärung und der kritischen Auseinandersetzung mit der akademischen Theologie gelesen werden. Im Unterschied zur lateinischen Kirche, in der neue Herausforderungen typischerweise die Gründung neuer Orden zur Folge hatte, meisterte die Kirche der byzantinischen Tradition geistliche Krisen wiederholt durch Auffrischung der gleichen hesychastischen Tradition.
Textsammlungen und Übersetzungsliteratur vom Athos
Von Beginn an hatte die Rus' sich an den Textgrundlagen von Byzanz orientiert.33 Übersetzt wurden liturgische Bücher, die Heilige Schrift, Heiligenviten und weitere Predigtgrundlagen, kanonistische Literatur, Schriften der Kirchenväter sowie asketische Schriften. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs die Buchproduktion an und bescherte dem Hesychasmus einen eigenen Textkanon: Auf dem Athos sammelte der Mönch Nikodēmos Hagioreitēs (1748–1809) Texte zur hesychastischen Gebetsweise von der Antike bis zum Mittelalter, ließ sie 1782 in Venedig drucken und veröffentlichte sie unter dem Titel Philokalia (Liebe zur [inneren] Schönheit).34 Knapp zehn Jahre später lag das Buch auf kirchenslavisch vor.35 Die Übersetzung stammte von dem Starez Paisij Velyčkovsʹkyj (1722–1794)36 und erschien 1793 in St. Petersburg unter dem Titel Dobrotoljubie (Liebe zum [sittlich] Guten). Paisij war wie Nikodemus kein moderner Gelehrter, sondern interessiert an einer "großen Vergangenheit". Zu einem Zeitpunkt als in Mittelwesteuropa der Klassizismus und die Romantik vorherrschten, wurde die Philokalia zu einem Klassiker des Ostens. Anders als in der klassizistischen Sichtweise erlebte sich der Akteur jedoch nicht durch ein dunkles Zeitalter von der Vergangenheit getrennt, die er studierte und nachahmte. Paisij konnte sich vielmehr als Teil einer Tradition empfinden, die von den Wüstenvätern bis zu ihm reichte: Das Lernen von den geistlichen Vätern trat in eine neue Epoche.37
Die "klassischen" Starzen in Russland ab 1800
Ab der Wende zum 19. Jahrhundert gab es scheinbar "plötzlich" die Starzen in Russland. Im Kontext der öffentlichen, europaweiten Auseinandersetzung mit der religiösen Tradition der Rus' wurden sie nun als Teil der russischen Öffentlichkeit wahrgenommen und als ein provozierender Gesprächspartner der verhältnismäßig rational geprägten westeuropäischen Aufklärung hochgeschätzt und zugleich bestaunt. Relativ "plötzlich" sind sie durch vielfache Zeugnisse historisch gut nachweisbar. Die Namen einzelner Starzen wurden so bekannt, dass sie von Prominenten und Unbekannten, Groß und Klein um Rat aufgesucht wurden.38
Die Grundstruktur der Beziehung blieb, wie in der Tradition, das herausfordernde und anleitende Gespräch vom geistlichen Vater zum Sohn.39 Auch diese Gespräche wurden, wie die der "Vorväter", oft nachträglich schriftlich dokumentiert. Entweder schrieben die Starzen selbst allgemeinere Anleitungen40 oder auch persönliche Briefe, oder diejenigen, die einen Starez besuchten, hielten das mit ihm Erlebte schriftlich fest. Mit der akademischen Theologie ihrer Zeit hatten die Starzen nicht viel Berührung, mit anderen Intellektuellen – gleichsam interdisziplinär – aber durchaus. Vor allem die russische Literatur und Philosophie erhielten wesentliche Anregungen.41
Hagiographische Starzenviten folgen typischerweise folgender Grundform: Ein junger Mann ist unzufrieden mit der Religiösität seiner Umgebung, er verlässt sie und tritt in ein Kloster ein. Dort wird er Schüler eines großen Lehrers, zieht sich eine zeitlang in die Einsamkeit zurück und steht schließlich als großer geistlicher Ratgeber zur Verfügung. Zuletzt sieht er den eigenen Tod kommen und stirbt wie ein Heiliger. Betrachtet man die Biographien jedoch genau, zeigen sie eine ungeheure Farbigkeit und große Verschiedenheit, wie im Folgenden an einzelnen Beispielen gezeigt werden soll.
Starez Prochor S. Mošnin (1759–1833), auch Seraphim von Sarow genannt, zog als begabter junger Mann zunächst zum Kiewer Höhlenkloster und trat 1778 in das Kloster von Sarow ein. Erst 15 Jahre später bekam er die Erlaubnis, als Eremit zu leben. Nach einem Raubüberfall, bei dem er in der Hütte bewusstlos geschlagen wurde, begab er sich auf Befehl des Bischofs zurück ins Kloster, wo er sich in eine Zelle einschloss, die er 1825 nach weiteren 15 Jahren wieder verließ. Von diesem Moment an betätigte er sich als Seelsorger. Lange nach seinem Tod erlangte er Berühmtheit durch seinen Brief "An den Zaren, der nach Sarow kommen wird", in dem unter anderem das Ende des Zarentums vorausgesagt wird und den 1903 schließlich Zar Nikolaj II. empfing. Ob Seraphim Hesychast war, ist nicht bekannt. Tagebuchnotizen eines Richters über ein Gespräch mit Seraphim wurden 1903 von Sergej Nilus (1862–1903) entdeckt, der sie in sein Werk "Das Große im Kleinen" einarbeitete.42
Starez Leonid von Optina (1768–1841) arbeitete zunächst als reisender Kaufmannsgehilfe. 1797 wurde er Novize in Optina Pustyn', zog jedoch immer weiter in die Einsamkeit. In der Einsiedelei zur weißen Klippe bei Orel unterstand er einem Abt vom Athos. Nachdem er einen Schüler Paisij Veličkovskijs kennengelernt hatte, bildete er mit diesem und dessen Schüler eine Kleingruppe von drei Hesychasten, die hoch angesehen war. 1829 kehrte Leonid mit eigenen Schülern wieder nach Optina zurück. Gemeinsam mit Michail N. Ivanov, genannt Makarij von Optina (1788–1860), einem Enkelschüler des Paisij, machte er Optina Pustyn' als Ort des Starzentums bekannt. Auch von Leonid sind keine eigenen schriftlichen Werke überliefert, sondern nur Berichte über sein Leben. Er stützte sich offenbar in allem, was er sagte, auf die Heilige Schrift, die Kirchenväter, die Philokalia und die ihm direkt vorangegangenen Väter.
Starez Makarij von Optina, ein Intellektueller mit einer großen Liebe zu Büchern, führte die Tradition des Leonid in Optina fort. Durch den Kulturphilosophen Ivan Kireevskij (1806–1856),43 ergab sich der Kontakt zu Konstantin Söderblom, Sohn eines evangelischen Pastors aus Moskau. Söderblom trat zur Orthodoxie über und wurde zum Verfasser der Vita Leonids, die nicht das einzige Schriftwerk im Umfeld Optinas bleiben sollte. Unter Makarijs Leitung arbeitete eine Gruppe von Wissenschaftlern an der verbesserten Übersetzung und Neuherausgabe mehrerer patristischer Schriften, darunter auch der Dobrotoljubie.44 Das schriftlich überlieferte Werk eigener Texte Makarijs besteht vor allem aus Briefen.45 Makarij öffnete das Starzentum endgültig für die russischen Intellektuellen. Von diesem geistlichen Experiment profitierte vor allem die Religionsphilosophie: Vladimir Solov'ev (1853–1900), Nikolaj Berdjaev (1874–1948), Sergij Bulgakov (1871–1944) und letztlich auch Michail Tareev (1866–1934) sind nicht zu verstehen, ohne ihre Begegnung mit dem Starzentum zu berücksichtigen.46
Starez Ignatij Brjančaninov (1807–1867) war zunächst beim Militär. Erst als er durch Tuberkulose geschwächt war, durfte er den Armeedienst quittieren. Zusammen mit einem Freund begab er sich zu Leonid und wurde sein Schüler.47 Nach einigen gesundheitlichen Schwierigkeiten und Autoritätskonflikten blieb er allerdings nicht bei Leonid, sondern wurde 1831 andernorts Mönch. Während dieser schwierigen Zeit schrieb er bereits Reflexionen und Gedichte.48 Beim Militär war er seinem obersten Dienstherrn Zar Nikolaus I. (1796–1855), bereits aufgefallen, so dass dieser ihn bei einem Truppenbesuch in den Reihen vermisste und ihn suchen ging. Als er den Mönch fand, befahl er, ihn in Verantwortung, Amt und Würden zu heben und beorderte ihn kraft seiner Autorität aus der Einsamkeit in die Nähe der Hauptstadt zurück. Dort wurde Ignatij mit der Verwaltung der Sergieva Pustyn' beauftragt.49 Der Zar besuchte diese Einsiedelei oft. Ignatij hat seine Reflexionen und Aufsätze unter dem Titel "Asketische Versuche" selbst herausgegeben;50 daneben liegen auch einige Briefe vor.
Starez Georgij V. Govorov (1815–1894), auch genannt Theophan der Klausner von Vyša, besuchte erst die Kiewer Akademie, verließ sie aber unter dem Einfluss des nahen Höhlenklosters, um fortan als Mönch zu leben. Als solcher wurde er Lehrer und Rektor in Novgorod und hielt Vorlesungen in Logik sowie Psychologie bis er Professor für christliche Sittenlehre an der Petersburger Geistlichen Akademie wurde. Dann reiste er in die Wüsten Palästinas. Seine Lehrer wurden die dort noch ansässigen Nachfahren der vorneuzeitlichen Hesychasten. Nach weiteren akademischen Tätigkeiten und einer Zeit, in der er der Kirche der russischen Botschaft in Konstantinopel vorstand, lehnte er einen Ruf auf eine Professur in Sankt Petersburg ab und wurde Bischof der Diözese Tambov. Nach dem Eintritt in den Ruhestand ging er in eine Einsiedelei. Dort lebte er sechs Jahre in Gemeinschaft und wurde dann strenger Klausner. In seinen zweiundzwanzig Jahren als Klausner beschränkte er sich darauf, Gottesdienste zu feiern und zu schreiben. Um ihn herum standen auch Werke von Hegel, Fichte und Jacobi in deutscher Sprache,51 Atlanten, Teleskope, Ikonen. Er blieb über Briefe mit zahlreichen Ratsuchenden verbunden, und die Korrespondenz nahm bereits damals einige Stunden pro Tag in Anspruch. Sein Werkverzeichnis umfasst 505 Titel. Darin enthalten ist die erste, um 38 Väter erweiterte Übersetzung der Philokalie ins Russische, die 1877 auf dem Athos erschien.52
Schließlich kam es zur Prädikation athonitischer Mönche als "Starzen". Nachdem die Entsendung russischer Mönche zum Athoskloster Sankt Panteleimonon im 17. Jahrhundert zeitweise unterbrochen worden war, wurde sie im 19. Jahrhundert wieder intensiviert – so dass die Griechen bereits Angst entwickelten, der Athos könne von Russen überrollt werden.53 Der bekannteste russisch-athonitische Starez wurde der Hesychast Semen I. Antonov (1866–1938), genannt Siluan.54 Er trat 1892 in das Panteleimononkloster ein und verrichtete sein Leben lang handwerkliche Tätigkeiten. Daneben entwickelte er in verschiedenen Schriften eine eigene Mystik, die jedoch erst nach seinem Tod bekannt wurde und ein großes Publikum fand.55
Bücher hatten weiterhin große Bedeutung für die Verbreitung des Hesychasmus. An erster Stelle zu nennen sind die "Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers".56 Darin erzählt ein anonymer Autor von den Erlebnissen eines Laien, der das Jesusgebet erlernt. Der erste Teil des Buches entstammt einem bereits von Paisij Velyčkovsʹkyj übersetzten Text und erschien erstmals 1870 in Kazan'. Der zweite Teil erschien 1911 in Moskau. Dieses Buch, in moderne Sprachen übersetzt, stellte für viele Menschen die erste Begegnung mit einer praktischen Anleitung zum Jesusgebet dar. Mit der Verbreitung des Buches erlebte auch das Jesusgebet einen Boom.57
Eine ähnlich intensive Wirkung zeigte das 1907 in Russland veröffentlichte Werk "Auf den Bergen des Kaukasus". Es löste den sogenannten Namenstreit aus. Dieser entzündete sich an der im Buch vertretenen These, der im hesychastischen Gebet angerufene Name Jesu sei selbst Gott. Der Streit wurde zunächst in russischen Zeitschriften geführt.58 Dann sprang er auf die athonitische Mönchrepublik über und nahm dort gewaltsame Formen an. Er konnte nur unter großen Mühen im Jahr 1913 beendet werden, als 621 Mönche vom Athos abtransportiert und in Russland auf Klöster verteilt wurden.
Hesychasmus zwischen Emigration und Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert
Infolge der Oktoberrevolution 1917 verschlechterte sich die Situation für die Kirche in Russland noch einmal deutlich. Sie wurde vom kommunistischen Regime zunächst strikt abgelehnt, blutig verfolgt und dann unter strenger Zensur geduldet. Das Überleben derjenigen orthodoxen59 Teilkirche, deren Territorium als einziges seit Beginn der Frühen Neuzeit nicht unter religionsfremder Herrschaft gestanden hatte, schien unsicher und viele gebildete orthodoxe Russen gingen in die Emigration.
Die Rezeption im "Westen" infolge der kommunistischen Revolution
Unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse gründete Papst Benedikt XV. 1917 in Rom ein Institut, das dem Studium der östlichen Tradition gewidmet war: das Pontificio Instituto Orientale. Irénée Hausherr (1891–1978), der erste Leiter des Institutes, wandte sich, unter all den Themen, die ihm aus der östlichen Tradition zur Auswahl gestanden hätten, gerade dem Hesychasmus philologisch, historisch und theologisch zu.60
Daneben internationalisierte sich gerade durch die Emigration die Forschung orthodoxer Gelehrter zur eigenen Tradition.61 John Meyendorff (1926–1992) wurde als Kind baltischer Emigranten in Paris geboren. Er studierte Theologie am 1924 gegründeten Institut de Théologie Orthodoxe St. Serge[], promovierte an der Sorbonne und wurde Professor für Kirchengeschichte, Schwerpunkt Patristik. Lange Zeit arbeitete er als Dekan am Saint Vladimir's Orthodox Theological Seminary in New York. Dieses Seminar gehört zur Orthodox Church of America, die infolge der Emigration in Nordamerika und Mexiko gegründet wurde. Meyendorff machte auch Gregorius Palamas im Westen bekannt.62 Alexander Schmemann (1921–1983), Meyendorffs Kollege und Vorgänger im Amt des Dekans, wurde 1921 in Estland geboren, bevor seine Familie nach Paris emigrierte. 1951 wurde er Professor am Saint Vladimir's Orthodox Theological Seminary; er wohnte auch als einer der orthodoxen Beobachter dem Zweiten Vatikanischen Konzil bei.
Nicht zuletzt auch diese Forschungsverbünde im 20. Jahrhundert evozierten eine verschiedenkonfessionelle, multiplexe Gemeinschaft wissenschaftlich und praktisch am Hesychasmus Interessierter.63 Gleichzeitig wurde der Hesychasmus auch in den alten orthodoxen Klöstern weiter gepflegt.64
Das Netzwerk
Heute hat die Globalisierung zur weltweiten Präsenz der byzantinischen (ebenso wie der nicht-byzantinischen)65 Orthodoxie geführt, mit neuen regionalen Schwerpunkten in den Vereinigten Staaten von Amerika, Australien und Neuseeland. Das Netzwerk der orthodoxen Hesychasten ist dabei strukturell gegründet geblieben auf die Basis persönlicher Bekanntschaft von Betern und Eremiten.66 Es ist in sehr unterschiedlichem Maße, manchmal gar nicht bzw. zunehmend weniger, gegenüber römischem Katholizismus und Protestantismus geöffnet.67 Daneben, und in ähnlicher Weise zunehmend separat davon, gibt es das strukturell ganz ähnliche Netzwerk der Beter des hesychastischen Gebetes in der lateinischen Tradition, evangelisch und katholisch.68
Das hier dargestellte Netzwerk der Hesychasten besitzt Züge eines Anti-Netzwerks: eine Gruppe von Eremiten, die eine Kultur des Rückzugs pflegen. Freilich tun sie dies in einer kommunikativ, evaluativ und transaktiv vernetzten Weise, für die sich Akteure, Attraktoren, Promotoren und Knotenpunkte benennen ließen. Lange Zeit war dieses hesychastische Geflecht Teil eines übergreifenden Netzwerks: Seine transeuropäischen Strukturen trugen zu Beginn zu einem Transferprozess bei, der weit mehr umfasste als die asketische Kultur. Derselbe Transferprozess brachte etwa auch die kirchliche Hierarchie der russischen Kirche hervor.
Der Fokus auf Hesychasten und Starzen kann dazu verleiten, sich unter Ausblendung der russischen Kirchengeschichte auf das Bild einer idyllischen Gruppe zu konzentrieren. Im Kontext der modernen Sicht auf den Osten ist dies gelegentlich geschehen, wenn Hoffnungen und Sehnsüchte des Westens auf den christlichen Osten projiziert wurden – ein bemerkenswerter Gegensatz zur Ablehnung, die der Westen wiederholt im Osten erfuhr.69 Weder konnte das Starzentum diesen Hoffnungen immer entsprechen, noch konnte es aus dieser Perspektive wahrgenommen werden als das, was es wirklich ist. Ein adäquates Bild insbesondere dieses Netzwerks ergibt sich nur unter Einbeziehung der politisch-kirchenpolitischen Umstände.