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Begriff
Siedlerkolonien sind Gebiete außerhalb Europas, in denen sich so viele Einwanderer aus freien Stücken niederließen, dass ihnen ihre Anzahl die politische Vorherrschaft ermöglichte, selbst wenn sie gegenüber der indigenen Bevölkerung in der Minderzahl blieben.1 Die Siedlerkolonie war bis ins frühe 19. Jahrhundert der Normalfall, in der Folgezeit entwickelte sie sich zu einer speziellen Form der Kolonie. In der Antike verstand man unter Kolonie nur die geschlossene Ansiedlung von Emigranten aus einer Polis bzw. im römischen Kontext die Ansiedlung von Veteranen; auf den antiken Bedeutungsgehalt bezogen, ist der Begriff Siedlerkolonie eine Tautologie. Wir benutzen ihn dennoch als unterscheidenden Begriff, denn seit dem 19. Jahrhundert ist diese Art der Ansiedlung zur Ausnahme geworden. Der Begriff des Kolonialismus, der als solcher erst im späten 19. Jahrhundert entstand, hat die Konnotation von "Fremdherrschaft" angenommen.
Die Kolonie ist ein "Ableger" einer Gesellschaft, die ein fernes Gebiet besiedelt. Dies impliziert zweierlei: (1.) Die Kolonie besteht in ihren Anfangsjahren nicht aus wahllos zusammengewürfelten Einzelpersonen, sondern aus Menschen, die eine gemeinsame Herkunft haben. Dies kann die Herkunft aus einem Reich, aus einer Region oder sogar aus einer Stadt sein, es kann eine gemeinsame religiöse Herkunft meinen wie bei den Puritanern, oder eine gemeinsame Erfahrung wie bei den australischen Sträflingen. Daraus folgt (2.), dass die Auswanderergruppe wesentliche Institutionen der Herkunftsgesellschaft mitnimmt, die ihr selbstverständlich sind und die durch die relative Homogenität der Auswanderer nicht in Frage gestellt werden: Dazu zählen soziale Hierarchien, Siedlungsformen, politische Institutionen und das Rechtssystem. Zwar werden diese Institutionen den neuen Gegebenheiten angepasst, doch werden sie zum Anlass vielfacher Konflikte mit der indigenen Bevölkerung. Diese versteht deren Sinn nicht wie umgekehrt die Institutionen der Indigenen von den Siedlern als fremdartig, primitiv und unverständlich betrachtet werden.
Siedlungskolonien sind als welthistorisches Phänomen weder auf die europäische Neuzeit noch auf europäische Siedler beschränkt. Ansiedlungen von Menschen in einem angrenzenden oder entfernt liegenden Territorium lassen sich welthistorisch vielfach nachweisen.2 Im Folgenden soll nur von den Siedlerkolonien unter europäischer Herrschaft die Rede sein. Deren Siedler waren meist europäischer Herkunft, doch im 19. Jahrhundert wanderten auch Asiaten in europäische Kolonien ein. Europäische Siedlerkolonien existierten seit Beginn der europäischen Expansion und man kann selbst die USA noch bis Ende des 19. Jahrhunderts als Siedlerkolonie bezeichnen, weil erst ab diesem Zeitpunkt der freie Siedlungsraum schwand.3
Historischer Überblick
In der frühen Neuzeit waren Siedlerkolonien auf den atlantischen Raum beschränkt.4 Hier legte die geringe indigene Bevölkerungsdichte in großen Teilen Nordamerikas oder das durch europäische Krankheiten ausgelöste Massensterben in der Karibik, Mittel- und Südamerika die Ansiedlung von Europäern nahe.5 Im spanischen Herrschaftsbereich ließen sich zwar zahlreiche Spanier, meist Kastilier, nieder, doch entwickelte sich hier eine Mischform aus Ansiedlung und Herrschaft über Indigene. Sie war mit einer ausgeprägten Staatlichkeit verknüpft und durch Einrichtungen wie der Encomienda, durch die ganze Indianergruppen und Dörfer Teilnehmern der spanischen Conquista unterstellt wurden, bildete sich eine soziale Hierarchie aus, die auf die Entmündigung der Indigenen hinauslief.6 Während im Andenraum die Indigenen eine starke Präsenz behielten, entwickelten sich im äußersten Süden des Kontinents Siedlerkolonien, nämlich die späteren Staaten Argentinien, Chile und Uruguay. Das portugiesisch besiedelte Brasilien war das einzige lateinamerikanische Land, das nicht primär urban geprägt war.7 Die Siedlerkolonien in Nordamerika verstanden sich als Gemeinschaften europäischer Siedler, da die Einbeziehung der Indigenen frühzeitig misslang oder abgelehnt wurde.8
Die europäische Expansion in den Indischen Ozean führte – mit Ausnahme der Kapkolonie – nicht zur Besiedlung, da das vorrangige Ziel der Aufbau von Handelsbeziehungen war. Europäische Besitzungen blieben bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts Stützpunkte für den Handel, in denen sich frühzeitig Mischgesellschaften herausbildeten. In den europäischen Niederlassungen lebten fast ausschließlich europäische Männer, die Lebens- und Ehepartnerinnen in der indigenen Bevölkerung suchten.9 Neben den wenigen Europäern kamen in größerer Zahl Asiaten in diese Stützpunkte. So war Batavia, das heutige Jakarta, in der frühen Neuzeit eine von den Niederländern beherrschte chinesische Stadt, in der keine Javaner lebten.10 Erst ab Ende des 18. Jahrhunderts gründeten die Europäer auch im Pazifikraum Siedlerkolonien, so in Australien, Neuseeland und Neukaledonien.
Besiedlungen begannen typischerweise mit der Gründung eines "Brückenkopfes", meist einer Hafenstadt (Boston, Kapstadt, Sydney), die den Ausgangspunkt für weitere Expansionen ins Hinterland bildete. Europäer besiedelten ganze Kontinente (Amerika und Australien) oder Großräume (Sibirien) und wanderten in so großer Zahl aus, dass sie im späten 19. Jahrhundert die indigenen Bevölkerungsgruppen marginalisierten.11
Einen Sonderfall stellte Nordirland als in Europa gelegene Siedlerkolonie dar. Diese wurde von Großbritannien im Zeitalter der konfessionellen Gegensätze mit dem Ziel angelegt, Irland strategisch zu sichern.12 Bei Sibirien handelte es sich zwar um keine überseeische, gleichwohl aber um eine Siedlerkolonie, die bis Ende des 19. Jahrhunderts eine bewegliche Siedlungsgrenze hatte. Erst danach dehnte der moderne Staat seine Administration bis an die Pazifikküste aus.13
Die Kapkolonie war die einzige Siedlerkolonie der frühen Neuzeit, in der die Siedler auf Dauer nicht nur in der Minderheit blieben, sondern wo sich mit der Expansion der Kolonie die demographischen Verhältnisse sogar immer stärker zu ihren Ungunsten verschoben.14 Europäer konnten sich nur in den malariafreien Hochländern Süd- und Ostafrikas niederlassen, darüber hinaus sorgte die Immunität der afrikanischen Bevölkerung gegen die von Europäern eingeschleppten Krankheiten zusammen mit ihren stabilen Sozialsystemen und politischen Ordnungen dafür, dass die Weißen in der Minderheit blieben. Das Massensterben der Khoikhoi-Bevölkerung Südafrikas durch die Pocken im 18. Jahrhundert blieb eine Ausnahme.15
Eine zweite afrikanische Siedlerkolonie wurde erst 1830 mit der Eroberung Algeriens und ab etwa 1848 im Zuge der Einwanderung französischer, spanischer, maltesischer und italienischer Siedler in das nordafrikanische Land begründet. Die übrigen entstanden erst nach dem sogenannten "Scramble for Africa", der raschen Aufteilung fast des ganzen Kontinents unter die europäischen Mächte in den 1880er Jahren.
Die größten Siedlerzahlen mit mehr als einer Million wiesen Südafrika und Algerien auf. Daneben können Südrhodesien (Zimbabwe), Kenia, Mosambik, Angola und Deutsch-Südwestafrika (Namibia) als Siedlerkolonien bezeichnet werden.16 In anderen Ländern gab es nur regionale Enklaven von Siedlern wie in Deutsch-Ostafrika17 und Katanga (Kongo),18 oder sie stellten so kleine Minderheiten, dass sie nicht über den politischen Einfluss verfügten, der für Siedlerkolonien typisch ist.
Siedler und Macht
Die Siedler
Sowohl bei der Einrichtung der Brückenköpfe, von denen die weitere Besiedlung ihren Ausgang nahm, als auch bei der späteren Nachwanderung weiterer Siedler wurde die ordnende Macht des Staates deutlich. Vielfach wurden die ersten Ansiedlungen auf überseeischem Territorium durch die militärischen und zivilen Eliten organisiert und kontrolliert, während die Siedler selbst Strafgefangene oder Arme waren. So wurde das später als Inbegriff der Freiheit angesehene Nordamerika während der frühen Neuzeit überwiegend mit Vertragsarbeitern besiedelt.19 Diese sogenannten indentured labourers verkauften ihre Arbeitskraft für mehrere Jahre an einen Plantagenbesitzer oder sonstigen Unternehmer, der ihnen im Gegenzug die Schiffspassage finanzierte. Sie waren unfreie Arbeiter, da sie den masters and servants laws unterlagen und den Arbeitgebern eine weit reichende patrimoniale Autorität zufiel. New South Wales als erste Siedlung in Australien bestand aus Strafgefangenen unter militärischer Aufsicht.20 Sibirien war vielleicht am stärksten von allen Siedlerkolonien vom Export von Strafgefangenen geprägt, aber auch von geflohenen Leibeigenen, die auf eine neue, freiere Existenz hofften.21 Ähnliches galt für die Auswanderung zwangsweise enteigneter Schotten aus den Highlands ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie kamen als Armutsemigranten nach Kanada, etwa Nova Scotia oder Ontario, und wurden dort zunächst als Gemeinschaften angesiedelt.22
So war das Red River Settlement (heute Manitoba) in Nordamerika eine private Ansiedlung auf Betreiben des schottischen Lord Thomas Douglas Selkirk (1771–1820), der als führendes Mitglied der Hudson's Bay Company dieser eine stärkere territoriale Machtstellung sichern wollte.23 In Kanada ließen sich zudem in größerer Zahl Vertreter konservativer sozialer Werte nieder. Grund dafür war die Einwanderung von Loyalisten, die während des Unabhängigkeitskrieges der USA nach Norden, vor allem Upper Canada (Ontario) und New Brunswick, auswanderten. Allerdings war die Dominanz konservativer Eliten um den anglikanischen Bischof John Strachan (1778–1867) angesichts der weiteren Neueinwanderung nicht von Dauer. Zwei Rebellionen, die eher zufällig zeitgleich, nämlich 1837, im französischen Lower Canada und im britischen Upper Canada ausbrachen, führten zu einer umfassenden Reform der Institutionen, wie sie John George Lambton, Lord Durham (1792–1840)[] nach einer eingehenden Untersuchung in seinem berühmten Report24 empfahl. In die südafrikanische Kapkolonie wanderten 1820 britische Siedler als sozial stratifizierte Gruppen ein, die sich auch hier nach kurzer Zeit auflösten und individualisiert weiter entwickelten.25
Soziale Konflikte entstanden in fast allen Siedlerkolonien, zunächst mit der indigenen Bevölkerung, aber auch innerhalb der Siedlergemeinschaften. Entgegen dem egalitären Selbstbild entwickelten sich durch die Kommerzialisierung der Landwirtschaft, in Australien z.B. mit der Schafzucht, und durch die Industrialisierung Klassengegensätze, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu teilweise heftigen Konflikten führten. Gewerkschaften und Arbeiterparteien prägten das frühe 20. Jahrhundert.26 Ein Sonderfall war Neufundland, wo im 19. Jahrhundert ein Gegensatz entstand zwischen der englischen, protestantischen Kaufmannselite in der Hauptstadt St. John's und den mehrheitlich irischstämmigen, katholischen Fischern, die in den zahllosen kleinen, voneinander isolierten Dörfern an der Küste lebten und durch Knebelverträge und Kredite in Abhängigkeit gehalten wurden. Erst als im frühen 20. Jahrhundert William Coaker (1871–1938) die Fishermen's Protective Union organisierte, kamen auf dem Gesetzgebungsweg Reformen in Gang.27 Andere Konfliktsituationen ergaben sich in Algerien oder Neukaledonien,28 wohin man mit Vorliebe besiegte Anhänger der Revolution von 184829 und der Pariser Commune von 1870 abschob.
Die Siedlerkolonien unterschieden sich schon bald von den Herkunftsgesellschaften in Europa. In den Kolonien wurde Land als Individualbesitz frei verfügbar und damit früher zu einer Ware als in Europa selbst. Gerade die USA entwickelten sich wegen des 1862 erlassenen Homestead Act, der jedem Neusiedler 65 Hektar Land verhieß, zum Einwanderungsmagnet. Für viele der Beteiligten kam der Besitz eigenen Landes einer neuen Freiheit gleich, ohne Abgaben und Abhängigkeiten, und mit der Möglichkeit, über ihre wirtschaftlichen Entscheidungen selbst zu bestimmen. Dennoch bildete sich im Lauf der Zeit Großgrundbesitz heraus, etwa in Südafrika, wo in der kleinen Kolonie Natal Konzerne und Bodenspekulanten viel Land besaßen, das sie an Farmer verpachteten. Aufgrund des leichten Zugangs zu Land und des Warencharakters von Grundbesitz entstanden Ende des Jahrhunderts in Ländern wie Australien, Neuseeland, Argentinien, Chile und Südafrika dynamische Agrarökonomien.30 Deren Aufstieg wurde durch neue Techniken erleichtert, wie etwa Kühlschiffe, mit denen der Export argentinischen Rindfleischs möglich wurde.
Mittelfristig gaben sich die Siedler nicht damit zufrieden, Rohstofflieferanten für die europäischen Ökonomien zu bleiben. Vielmehr orientierten sie sich an der europäischen Urbanität, an der Industrialisierung und an kommerziellen Formen der Landwirtschaft, auch wenn sich die konkreten Ausgestaltungen oft stark von den europäischen Vorbildern unterschieden. Aufgrund ihres größeren Einflusses, der einerseits auf verwandtschaftlichen und sozialen Netzwerken in Europa beruhte, andererseits auf ihren privilegierten Status als Angehörige der "höheren, europäischen Rasse" zurückzuführen war, fiel ihnen der Schritt in die ökonomische Eigenständigkeit leichter als den indigenen Bewohnern anderer Kolonien.
Siedler und politische Macht
In den afrikanischen Siedlerkolonien errichteten die europäischen Einwanderer ein Privilegiensystem, das gegenüber der indigenen Bevölkerung gerade nicht durch Egalität geprägt war, obwohl die Gleichheit der Siedler untereinander zum Selbstverständnis gehörte. Dies galt auch für die USA oder Australien, wo die Einwanderer bald die überwältigende Mehrheit stellten. Die Ausgestaltung der Siedlermacht hing sehr stark von der Konstellation bei der Gründung der Kolonie ab. Erfolgte die Besiedlung erst nach der Eroberung, hatten es die Siedler schwerer, die Administration für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. In Algerien brauchten die Siedler fast 40 Jahre, bis sie gegenüber der französischen Militärverwaltung das Übergewicht errungen hatten,31 und selbst in Rhodesien, wo die British South Africa Company eher siedlerfreundlich agierte, dauerte es Jahre, bis sie die bereits etablierten Machtstrukturen in ihrem Sinn umorientiert hatten. Erfolgten Besiedlung und Inbesitznahme gleichzeitig, wie in Nordamerika oder Südafrika, verstand sich die Kolonialverwaltung von Anbeginn als Anwalt der Siedler. In Australien dauerte es einige Zeit, bis dieser Gleichklang hergestellt war, was mit dem Status der ersten Siedler als Häftlinge zusammenhing. In Sibirien waren die Verhältnisse noch wesentlich komplizierter, da die ersten Siedler Kosaken waren, während im Lauf des 19. Jahrhunderts die Zahl der weitgehend rechtlosen Sträflinge und Verbannten unter den Zuwanderern zunahm.32 Die Siedler wandten viel Energie daran, Selbstverwaltungsinstitutionen zu erhalten und auszuweiten, um ihre eigenen Handlungsspielräume gegenüber der Kolonialmacht zu vergrößern. Im Kontext neuer Möglichkeiten und Bedürfnisse schufen sie Institutionen, etwa das Town Meeting in Neuengland.33 In der 1867 gegründeten kanadischen Konföderation34 wurde ein Modell des Bundesstaates umgesetzt, das in Großbritannien selbst unbekannt war und das als Vorbild für ähnliche nachfolgende Konföderationen innerhalb des britischen Empire diente, wie z.B. Australien 1901.35
Vor allem aber waren viele dieser Verfassungen demokratischer als die des "Mutterlandes", weshalb die Siedlerkolonien oft experimentierfreudiger und offener für Innovationen waren als die europäischen Staaten. Dies lag freilich auch daran, dass die Mehrheit der Siedler nicht den etablierten Führungsschichten der europäischen Staaten entstammte. Das "farbenblinde" Zensuswahlrecht, das 1853 in der Kapkolonie mit der Einrichtung eines Kolonialparlaments eingeführt wurde und einer Minderheit der indigenen Bevölkerung das Wahlrecht verlieh, wurde allerdings von London verordnet.36 In Südrhodesien ging im Jahr 1923 nach 25 Jahren die Macht an ein Siedlerparlament über, das aus seinen Reihen einen Premierminister und seine Regierung wählte.37 Obwohl die britische Regierung ungeachtet des geradezu grotesken demographischen Ungleichgewichts zwischen den ca. 34.000 weißen Siedlern und den etwa 900.000 Afrikanern die Einrichtung von responsible government herbeiführte, verhinderte sie in den folgenden Jahrzehnten, dass die Siedlerautonomie weiter entwickelt wurde und Rhodesien vollen Dominion-Status erhielt.38
Schwierigkeiten ergaben sich, wenn eine Kolonie den Besitzer wechselte und sich die neuen Herren der Loyalität der Siedlergemeinschaften nicht sicher sein konnten. Als die Briten 1763 Kanada von den Franzosen oder 1806 die Kapkolonie von den Niederländern übernahmen, bemühten sie sich, ihre neuen Untertanen mit Zugeständnissen loyal zu stimmen. Eine Ausnahme war die Zwangsumsiedlung der französischen Acadiens in den Anfangsjahren des Siebenjährigen Krieges. Als französische Siedler in Acadia (Nova Scotia, New Brunswick und Prince Edward Island) an der kanadischen Ostküste 1713 mit dem Frieden von Utrecht britische Untertanen wurden, waren sie als Katholiken nicht bereit, dem britischen König, der gleichzeitig Oberhaupt der Church of England war, einen Treueid zu leisten. Nach Jahrzehnten der Reibereien und des Misstrauens deportierten die Briten die Acadiens während des Siebenjährigen Krieges in andere Kolonien, von wo nur ein Teil zurückkehren konnte.39
Während die Siedler in den meisten Kolonien rechtlich abgesicherte Machtpositionen durchsetzen konnten, gelang dies in Kenia nicht. Denn obwohl die aus der britischen Machtelite stammenden Siedler über erhebliche informelle Macht verfügten, verweigerte ihnen die britische Regierung ein eigenes Parlament.40 In den niederländischen und französischen Kolonien Nordamerikas mussten sich die Siedler die Mitsprache mühsam erkämpfen, und auch in Deutsch-Südwestafrika wurde erst spät ein vergleichsweise machtloser Landesrat eingeführt.
Die Ausweitung von Mitspracherechten in den Siedlungskolonien des British Empire geschah nach einem bestimmten Muster. Zuerst lösten von den Siedlern gewählte Mitglieder in legislativen und exekutiven Gremien die bislang vom Gouverneur ernannten ab. Den nächsten Schritt stellte ein representative government dar, ein Siedlerparlament, das zwar das Budgetrecht hatte, aber einem von London eingesetzten machtvollen Gouverneur gegenüberstand. Erst im Zuge des responsible government konnte das Parlament einen Premierminister wählen, woraufhin sich auch die ersten Parteien bildeten. Die Jurisdiktion lag in den meisten Kolonien bei Gerichten, die von der Metropole gesteuert wurden und die so von der Kolonialverwaltung unabhängig wurden. Oft wurde das Recht weiterentwickelt, da neben dem europäischen Recht für die indigene Bevölkerung, vor allem in Afrika, das angebliche Gewohnheitsrecht kodifiziert wurde.41 In fast allen Siedlerkolonien existierte ein eigenes Recht für die Indigenen (indigénat)42, wodurch ihr untergeordneter rechtlicher Status gegenüber den weißen Siedlern festgeschrieben wurde. Westlich gebildete afrikanische Intellektuelle waren davon ausgenommen, wurden aber nicht gleichberechtigt, sondern befanden sich in einem unsicheren Status zwischen Indigenen und Siedlern. Gerade sie erlebten schmerzhaft, dass das zivilisationsmissionarische Versprechen der Europäer nicht eingehalten wurde. Die mangelnde Gleichberechtigung führten sie auf den Rassismus zurück. Dessen Ausmaß und Intensität hing nicht in der Weise von den demographischen Verhältnissen ab, dass weiße Minderheiten sich rassistischer gebärdeten als Mehrheiten. Ein Blick auf die USA oder Australien zeigt, dass auch weiße Mehrheitsgesellschaften einen ausgeprägten Rassismus pflegten. Dieser richtete sich sowohl gegen Indianer bzw. Aborigines als auch gegen die angebliche Gefahr, die von der asiatischen Einwanderung ausging.43
Dynamik der Ausbreitung: Die Frontier
Die Frontier als Interaktionszone
Nach der Errichtung eines "Brückenkopfes" im Zuge der ersten Ansiedlung erfolgte in vielen Kolonien die Expansion durch die Siedler. Der Staat folgte erst in einigem Abstand, sanktionierte die Expansion, sicherte das eroberte Territorium und überzog es mit seinen Institutionen. Algerien als Militäreroberung blieb eine Ausnahme.
Diese von der Siedlungsdynamik bestimmte Situation nennt man Frontier. Während der Historiker Frederick Jackson Turner (1861–1932) im amerikanischen Kontext die Frontier als Siegeszug der amerikanischen Zivilisation durch einen von natürlicher Wildnis bestimmten Kontinent verklärte,44 wird die Frontier inzwischen generellerals Interaktionszone aufgefasst, die von Instabilität geprägt ist – von der Gleichzeitigkeit von Handel und Raub, Krieg und Frieden, Gewalt und Kooperation.45 Ihre Dynamik als wandernde Grenze verdankte sie der Asymmetrie der Machtverhältnisse. Ein zunächst relativ ausgeglichenes Machtverhältnis kippte durch den weiteren Zuzug von Siedlern und, wie etwa im Fall Nordamerikas, wegen der Dezimierung der einheimischen Bevölkerung durch eingeschleppte Krankheiten und Gewalt zugunsten der europäischen Einwanderer. Letztere eigneten sich das Land der Indigenen an, zwangen diese in ein koloniales Unterwerfungsverhältnis oder exterritorialisierten sie in Reservate. Damit einher ging ein zunehmend brutaleres Vorgehen, das bis zu Massakern und Völkermord reichte.
Gleichwohl darf man die Geschichte von Siedlerkolonien nicht primär aus der Rückschau beurteilen, als sei für die Zeitgenossen die Dezimierung der Indigenen absehbar gewesen. Während sich das Volk der Beothuk auf Neufundland vor den Weißen zurückzog, dadurch den Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen verlor und letztendlich 1820 ausstarb46 und die Tasmanier ausgerottet wurden, leistete die indigene Bevölkerung andernorts lange höchst erfolgreich Widerstand.47 Am Ende waren es die schiere Masse der Neueinwanderer und und die Anwendung von Strategien der "verbrannten Erde", die die Sioux in den Great Plains,48 die Aborigines Australiens,49 die Maori Neuseelands50 oder die Indianer der kanadischen Nordwestküste unter weiße Herrschaft brachten.51
Bestrebungen der Kolonialmacht, die Expansion der Siedler zumindest einzudämmen oder zu lenken, scheiterten häufig an den Entfernungen und der mangelhaften Kommunikation oder am Widerstand der Siedler. So war der Versuch der Briten im Quebec Act von 1774, das Ohiotal als Westgrenze der Besiedlung festzulegen, um ihre indianischen Verbündeten zu schützen, eine der Ursachen, die zur amerikanischen Revolution führten.52
Stadt und Frontier
Entgegen der egalitären Selbstbeschreibung von Frontier-Gesellschaften betätigten sich keineswegs alle Siedler in der Landwirtschaft; die Tendenz zur Stadtbildung war früh erkennbar. Die 1820 settlers in Südafrika verließen die ihnen zugewiesenen Parzellen nach kurzer Zeit. Grund dafür war nicht nur deren zu geringer Zuschnitt und die mangelhafte Fruchtbarkeit des Landes, sondern auch die Herkunft der meisten Siedler aus kleinstädtischen Kontexten und Händlerberufen. Diese erwies sich als so prägend, dass sie sich ihnen in den Garnisonsstädten der Frontierregion wieder zuwandten.53 Auch in den USA waren die Städte weniger Außenposten einer bereits differenzierteren und europäisierteren Gesellschaft an der Küste als vielmehr Motoren der Siedlerexpansion. Chicago ist das bekannteste Beispiel einer Frontierstadt, die seit dem frühen 19. Jahrhundert – zuerst durch den Erie-Kanal und die Großen Seen, dann durch die Eisenbahn mit der Ostküste verbunden - die Siedlerausbreitung im Mittleren Westen vorantrieb. Der Infrastrukturausbau förderte die Expansion der Siedlung und den kolonialen Nationsbildungsprozess.54
Frontierstädte wuchsen häufig, wie auch im Fall Chicagos, um Festungen, was sich wegen deren strategischer Position anbot. Auch in Sibirien entwickelten sich zahlreiche Städte aus Forts, was in diesem Fall damit zu tun hatte, dass das Gebiet durch Kosaken erschlossen worden war.55 In Südafrika entstanden die kleineren Städte der Frontierregion um militärische Festungsanlagen oder um die Sitze von Landdrosten, den wichtigsten Amtsträgern im Hinterland.56
Entwicklungen, die von den Herkunftsgesellschaften abwichen, blieben nicht nur auf soziale und politische Institutionen beschränkt, sondern betrafen auch den sozialen Habitus und das kulturelle Selbstverständnis. Gerade die Frontier als Unruhezone brachte einen bestimmten Siedlertyp hervor, dessen Eigenschaften sich ideologisch zu normativen Rollenerwartungen verdichteteten. Diese übten auf Neueinwanderer eine stark assimilierende Wirkung aus:57 Das Männlichkeitsbild verlangte Selbsthilfe, Eigeninitiative, Gewaltbereitschaft und die Schutzfunktion gegenüber der eigenen Familie, während umgekehrt Frauen als schwach und schutzbedürftig angesehen wurden. Das Recht auf Waffenbesitz beruhte im Wesentlichen auf dem privaten Landeigentum und der Erfahrung der Staatsferne.
Selbstwahrnehmung und Realität waren jedoch oft nicht deckungsgleich. So wirkmächtig solche Selbstbeschreibungen und Selbstinszenierungen58 einer martialischen Maskulinität in vielen Siedlerkolonien waren, waren viele Frauen keineswegs bereit, sich mit der ihnen zugewiesenen Rolle des "Heimchens am Herd" zufrieden zu geben. In Australien, einer besonders männlich geprägten Kolonie, entstand eine durchsetzungsfähige Frauenbewegung,59 und Neuseeland war 1893 das erste Land der Welt, das Frauen das volle Wahlrecht verlieh.
Das Verhältnis zur indigenen Bevölkerung
Unterwerfung, Marginalisierung und Ausrottung
Die Konflikte mit der indigenen Bevölkerung gestalteten sich in Abhängigkeit von deren politischen und sozialen Organisationsformen.60 So ließen sich in Siedlerkolonien indigene Gesellschaften, die kleine, auf Familien aufbauende, locker organisierte Verbände bildeten, leichter unterwerfen als bevölkerungsreiche Königreiche oder Chiefdoms.61 In Südafrika wurden die Khoikhoi, deren politische Organisationsform als mobile Rinderzüchter auf der schwachen Autorität von Chiefs aufbaute, vergleichsweise rasch in die entstehende Kolonialordnung der Niederländer integriert. Dagegen konnten die Chiefdoms der bantusprachigen Xhosa erst in einem erbitterten hundertjährigen Dauerkonflikt unterworfen werden.62 Im Gegensatz zu den Indianern Nordamerikas, den Aborigines Australiens oder den Khoikhoi starben die Xhosa und andere afrikanische Völker nicht an von Europäern eingeschleppten Krankheiten, so dass sich die Mehrheitsverhältnisse in der Kapkolonie nie zugunsten der Siedler änderten.
In Nouvelle France (Quebec) und in Nieuw-Nederland (New York) entwickelte sich ein weniger konfliktreiches Zusammenleben, da der Zweck der Koloniegründung der Pelzhandel war, während die Besiedlung regional begrenzt blieb.63 Die indigene Bevölkerung wurde in ihren Lebensgrundlagen nie in der Weise bedroht, wie das in den britischen Kolonien in Nordamerika mit ihrer viel größeren, landhungrigen Bevölkerung der Fall war. Wegen der Größe des Landes und der klimatisch bedingten geringeren Attraktivität für Neueinwanderer wurde die Landfrage in Kanada nie zu einem so drängenden Problem wie in den USA. Dort wurde schließlich selbst ein Gebiet wie Oklahoma, das den – teilweise dorthin zwangsumgesiedelten – Indianern auf Dauer versprochen worden war, schließlich doch unter dem Druck der Siedler für die Weißen geöffnet. In Australien lagen die Rückzugsräume für die Aborigines im ariden Landesinneren, während die küstennahe Bevölkerung schon nach wenigen Jahrzehnten des Kontakts mit den Weißen kulturell marginalisiert, oft alkoholabhängig und von den Weißen verachtet wurde. Außerhalb Afrikas konnten sich nur die Maori lange gegen die Siedler behaupten, ihre Marginalisierung erfolgte so spät, dass sie sich demographisch bald erholten und gegen Ende des 20. Jahrhunderts viele verlorene Territorien auf dem Rechtsweg zurückfordern konnten. Außerdem verklärten die nationalen Geschichtsmythen in Neuseeland die Kolonialzeit zu einem friedlichen Zusammenleben von Weißen und Maori64 und waren nicht wie in Südafrika, Australien oder den USA auf Rassentrennung ausgerichtet.
Rassismus
Die Idee der Zivilisierungsmission, die gerade im 19. Jahrhundert den britischen und französischen Imperialismus legitimieren sollte, schlug sich in der ideologischen Selbstbeschreibung der Siedler nieder – als zivilisatorischer Triumphalismus, wie in den USA, oder als defensiver rassistischer Überlegenheitsdünkel, wie in sämtlichen afrikanischen Siedlerkolonien.65 Die dortigen Siedler blieben auf die indigene Bevölkerung als Arbeitskräfte angewiesen, weshalb sie Systeme extremer Ausbeutung einrichteten, die mit strikter Rassentrennung verbunden waren.66 Weil sie die Indigenen als Arbeiter benötigten, begingen Siedler in Afrika keine völkermordartigen Verbrechen. Demgegenüber war außerhalb Afrikas das Land die umkämpfte Ressource, weshalb Indigene verdrängt und ausgerottet wurden.67 In den afrikanischen Siedlerkolonien dienten die Reservate für die indigene Bevölkerung zudem dazu, durch territoriale Rassentrennung ein Privilegiensystem der Siedler mit Zugriff auf billige Wanderarbeiter zu ermöglichen. In Ländern mit überwältigender Siedlermehrheit wie Kanada und Australien versuchte man das Gegenteil: Die Zwangsassimilierung der Indigenen.68 Daneben gab es eine Form eines geradezu globalen Rassismus im späten 19. Jahrhundert, der sich gegen Einwandererkonkurrenz aus Asien richtete und Einwanderungsrestriktionen zur Folge hatte. Im französischen Algerien wurde die indigene jüdische Bevölkerung, die im Gegensatz zu den Muslimen das französische Bürgerrecht erhalten hatte, von Siedlern wie Muslimen angefeindet.
Die Entkolonialisierung von Siedlerkolonien
Während Siedlerkolonien außerhalb Afrikas mit ihren großen weißen Mehrheiten einen gleitenden Übergang in die faktische Souveränität als unabhängige Staaten vollzogen,69 sahen sich die Siedlerminderheiten in Afrika von der Entkolonialisierung existentiell bedroht. Sie reagierten mit aggressiver Abschottung gegenüber der Mehrheit und einer Militarisierung, die im gleichen Maß erfolgte, wie ihre politischen Einflussmöglichkeiten gegenüber einem zur Entkolonialisierung entschlossenen "Mutterland" schwanden. Der extremste Fall war Südrhodesien, das sich 1965 in einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung von Großbritannien lossagte, um die befürchtete Machtübergabe an die schwarze Mehrheit zu verhindern. Die Entkolonialisierung verlief in allen Siedlerkolonien in Form von Guerillakriegen,70 die von militanten Unabhängigkeitsbewegungen gegen die Siedler geführt wurden. Oft kämpfte die Kolonialmacht selbst auf der Seite der Siedler, bis die internationale Lage oder politische Einsicht zu einem Umdenken führten, wie etwa in Algerien nach 1958.
In einigen Kolonien, wie etwa Algerien, Mosambik, Angola und Kenia, verließen die Siedler mit der Unabhängigkeit das Land,71 in den übrigen, einschließlich Südafrika 1994, verloren sie ihre Macht und blieben als geduldete Minderheit. Selbst das war nicht immer garantiert, wie die Entwicklung in Zimbabwe nach 2000 zeigt, wo die weißen Farmer gewaltsam enteignet und die weiße Minderheit insgesamt bedrängt wurde.
Europäische Siedlerkolonien gehören mit Ausnahme kleinerer Gebiete wie den Falkland-Inseln oder Neukaledonien der Vergangenheit an. Die großen Siedlerkolonien in Amerika, Nordasien und Australien konnten sich, nachdem sie die indigene Bevölkerung bis zur Bedeutungslosigkeit marginalisiert hatten, problemlos in Nationalstaaten oder einen Teil eines solchen verwandeln. Die Siedlerkolonien in Afrika dagegen gingen in oft langjährigen blutigen Konflikten unter und wurden von Staaten abgelöst, in denen die bis dahin unterdrückte afrikanische Bevölkerungsmehrheit die Herrschaft übernahm. Dies muss nicht heißen, dass es in Zukunft keine Siedlerkolonien mehr geben wird, doch werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach keine riesigen Flächenstaaten mehr bilden und nicht von Europäern besiedelt werden.