The future historian may regard as the greatest "revolution" of the twentieth century not Lenin's overthrow of the short-lived free regime in Russia in November 1917, but the less conspicuous […] and, yet, more far-reaching process which brought Europe's four hundred years old dominion of the globe to an end (Hans Kohn, Oktober 1958).1
Einleitung: Begriffsdefinition, Periodisierung und Erklärungsmodelle
Der Begriff der "Dekolonisation" beschreibt den Auflösungsprozess kolonialer Herrschaft in der Peripherie und der Metropole hinsichtlich seiner verschiedenen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Dimensionen.2 Der Transfer von staatlichen Souveränitätsrechten führte zur Entstehung neuer unabhängiger Staaten, wodurch die internationalen Beziehungen und das Weltstaatensystem nachhaltig verändert wurden. Dem deutschen Wirtschaftswissenschaftler Moritz Julius Bonn (1873–1965) wird zugeschrieben, den Begriff wissenschaftlich etabliert zu haben. Im Jahr 1932 spricht er in seinem Beitrag "Imperialism" für die Encyclopaedia of the Social Sciences explizit von Dekolonisation: "All over the world a period of countercolonization began, and decolonization is rapidly proceeding."3 Bonn beschrieb damit die Anfänge einer Entwicklung, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre volle Durchschlagskraft entfalten sollte. Ab 1945 verschwanden innerhalb des relativ kurzen Zeitraums von 30 Jahren die europäischen Kolonialreiche in Asien und Afrika vollständig von der politischen Weltkarte und wurden durch neue Nationalstaaten ersetzt. Entsprechend wird der Terminus der Dekolonisation in erster Linie mit diesen Entwicklungen auf dem asiatischen und afrikanischen Kontinent in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert in Verbindung gebracht.4
Das Phänomen der Auflösung europäischer Kolonialherrschaft lässt sich aber auch auf allen anderen Kontinenten und über einen weitaus längeren Zeitraum feststellen. Bedingt durch die Verwerfungen der Atlantischen Revolutionen im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert, errangen zunächst die Kolonien in Nord- und Südamerika zwischen 1776 und 1826 ihre nationale Unabhängigkeit. Ab 1839 begannen sich die britischen Siedlungskolonien in Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika von Großbritannien zu emanzipieren, was mit dem Statut von Westminster 1931 letztlich zu ihrer staatlichen Eigenständigkeit führte. Neben der erwähnten klassischen Phase von 1914 bis 19755 lässt sich auch der Zusammenbruch des Sowjetimperiums im Zeitraum von 1985 bis 1991 unter dem Aspekt einer Dekolonisation interpretieren, wodurch sich insgesamt vier Dekolonisationsphasen herauskristallisieren.
Das Ende kolonialer Herrschaftsverhältnisse ist eng mit dem Begriff der Revolution verknüpft, der einen radikalen Bruch mit und eine fundamentale dauerhafte Veränderung der bestehenden politisch-sozialen Ordnung beschreibt.6 Mit Ausnahme der zweiten Dekolonisation, in der sich die betreffenden Gebiete evolutionär über einen langen Zeitraum von fast 100 Jahren vom kolonialen "Mutterland" lösten und gleichzeitig staatsrechtlich weiter mit der britischen Krone verbunden blieben, waren alle anderen drei Phasen revolutionäre Prozesse.7 Die Unabhängigkeitsbewegungen stellten mit ihrem Widerstand die koloniale Situation vollständig in Frage und strebten den Aufbau einer neuen Ordnung an. Prägende Figuren der antikolonialen Bewegung im 20. Jahrhundert bedienten sich bewusst der Revolutionsrhetorik und charakterisierten die Überwindung der kolonialen Fremdherrschaft entsprechend, wie etwa Frantz Fanon (1925–1961) in seiner zentralen Schrift Die Verdammten dieser Erde: "Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist […] ein Programm absoluter Umwälzung".8 Ho Chi Minh (1890–1969)[], Gründer und Anführer der vietnamesischen Nationalbewegungen Viet Minh, stellte wiederum die Erklärung der Unabhängigkeit seines Landes von Frankreich gezielt in die lange Tradition der amerikanischen und französischen Revolution des 18. Jahrhunderts.9 Während die Kolonisatoren den gegen sie gerichteten antikolonialen Widerstand mit Begriffen wie "Rebellion" und "Aufruhr" als kriminelle Umsturzversuche gegen legitim erachtete Herrschaft zu verunglimpfen versuchten, fungierte der Revolutionsbegriff der antikolonialen Bewegung als "Legitimationstitel"10 ihres Unabhängigkeitsstrebens.
Welche Ursachen und Deutungen für das Ende kolonialer Herrschaft lassen sich identifizieren? Trotz aller kontroversen Debatten über die unterschiedliche Gewichtung einzelner Faktoren11 kristallisiert sich immer deutlicher ein Erklärungsmodell heraus, das die verschiedenen Theorieansätze miteinander zu kombinieren versucht. Demnach ist die Dekolonisation das gemeinsame Ergebnis von Entwicklungen innerhalb der beherrschenden Metropolen ("metropolitan theory"), einer zunehmenden Stärke und Aktivität der Unabhängigkeitsbewegungen in der Peripherie ("peripheral theory") sowie von bestimmten Konstellationen in der internationalen Politik ("international theory").12 Die Gründe für die Auflösung kolonialer Herrschaft sind also weniger in einer einzelnen, isolierten Komponente zu suchen, als vielmehr im wechselseitigen Zusammenspiel metropolitaner, peripherer und internationaler Kräfte.
Die Atlantischen Revolutionen und die Unabhängigkeit Amerikas (1776–1826)
Die erste Dekolonisation führte im Zeitraum von 1776 bis 1826 zur staatlichen Unabhängigkeit der meisten europäischen Kolonien in Nord- und Südamerika. Sie war das Ergebnis der "Atlantischen Revolutionen",13 einer regelrechten Welle ineinander greifender revolutionärer Ereignisse, die unter wechselseitigem Einfluss die bestehenden Ordnungskonzepte auf beiden Seiten des Atlantiks im Fundament erschütterte und das "Zeitalter der Revolutionen"14 in der Sattelzeit prägte. Die Ursache für diese "transatlantische Kettenreaktion"15 lag in einem wachsenden Spannungsverhältnis zwischen den europäischen Metropolen und der amerikanischen Peripherie. Im Zuge umfangreicher Reformvorhaben (Hannoverische und Bourbonische Reformen) verstärkten sowohl London als auch Madrid ab den 1760er Jahren spürbar den politischen und fiskalischen Zugriff auf ihre amerikanischen Besitzungen, um von diesen wirtschaftlich stärker zu profitieren und dadurch die schwelende Krise der Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen.16 Die kreolische Bevölkerung in den Überseegebieten nahm diese Entwicklung als schwerwiegenden Eingriff in ihre Interessen wahr, zumal sie eine Behandlung als gleichberechtigte Untertanen ihrer Monarchen zunehmend vermisste. Trotz einer gewachsenen "amerikanischen" Identität nahmen sich die Bevölkerungsgruppen in Übersee nach wie vor in erster Linie als Engländer und Spanier wahr. Entsprechend zielte ihr Widerstand zunächst nicht darauf, sich von ihrem europäischen Mutterland loszulösen; vielmehr strebten sie eine angemessene politische Beteiligung an. Erst im Verlauf radikalisierte sich der Widerstand, und es entwickelten sich gewaltsame Unabhängigkeitsbestrebungen. Die internationalen Rahmenbedingungen bildeten dabei zunächst der Siebenjährige Krieg (1756–1763), infolge dessen das unterlegene Frankreich zum kolonialen Rückzug aus seinen nordamerikanischen und indischen Besitzungen gezwungen wurde; gleichzeitig brachte der Krieg für den Sieger Großbritannien enorme finanzielle Bürden mit sich, was wesentlich zur revolutionsauslösenden Finanzkrise beitrug.17 Die Napoleonischen Kriege (1803–1815), als direkte militärische Folge der expansiven Französischen Revolution, wirkten anschließend als Katalysator für die Dekolonisation Südamerikas.18
Den Auftakt zur ersten Dekolonisationswelle bildete die Nordamerikanische Revolution (1775–1783).19 Die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 markierte den entscheidenden Schritt zur Loslösung der dreizehn neuenglischen Kolonien von der britischen Krone und führte schließlich zur Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika, die im Friedensvertrag von Paris 1783 als unabhängiger Staat anerkannt wurden. Für Großbritannien bedeutete dies – abgesehen von seinen kanadischen Besitzungen – den Verlust seines nordamerikanischen Kolonialreichs, was London aber mit einer stärkeren Hinwendung nach Indien zu kompensieren wusste. Der Dekolonisationsprozess im 18. Jahrhundert konnte somit nicht nur koloniale Herrschaftsverhältnisse auflösen, sondern auch Expansionskräfte auf andere Weltregionen umlenken und, wie in diesem Fall, zur stärkeren kolonialen Durchdringung des indischen Subkontinents führen.20
Die amerikanische Revolution wirkte sich aber auch direkt auf die Entwicklung in der europäischen Metropole aus. Abgesehen von den schweren finanziellen und systemdestabilisierenden Folgen des französischen Engagements zu Gunsten der amerikanischen Revolutionäre, bildete sie einen ideellen Präzedenzfall, der in Form der Französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 prägnant widerhallte.21 Die Strahlkraft der Französischen Revolution wiederum nahm in verschiedener Hinsicht globale Ausmaße an, wirkte sich aber ganz unmittelbar auf die Situation in der bedeutenden französischen Kolonie Saint-Domingue aus.22 Auf der wegen ihrer Zuckerproduktion wirtschaftlich enorm wertvollen Karibikinsel kam es im Zuge der Verwerfungen im Mutterland zunächst zu schweren inneren Auseinandersetzungen um rechtliche Gleichstellung zwischen den verschiedenen sozialen Schichten der europäischen Siedler. Ab 1791 mündeten diese Unruhen in einen blutigen Aufstand der schwarzen Sklaven, die die Mehrheit an der Bevölkerung darstellten. Unter maßgeblicher Führung des freigelassenen Sklaven Francois-Dominique Touissant Louverture (1743–1803)[] gelang es den schwarzen Aufständischen schließlich, die gesamte Insel unter Kontrolle zu bringen sowie spanische, britische und französische Invasionen erfolgreich zurückzuschlagen. Im Zuge der Haitianischen Revolution (1789–1804) wurde auf der Insel die Sklaverei vollständig abgeschafft und am 1. Januar 1804 unter dem indigenen Namen Haiti der erste unabhängige farbige Staat Lateinamerikas proklamiert.23
Die Auswirkungen der Französischen Revolution blieben aber nicht nur auf die Karibik beschränkt, sondern weiteten sich auf ganz Südamerika aus, nachdem die Iberische Halbinsel direkt in die Napoleonischen Kriege involviert worden war. Aufgrund der französisch-spanischen Invasion Portugals im Jahr 1807 floh der portugiesische König zusammen mit der gesamten politischen Elite des Landes für die Dauer des Krieges in seine Kolonie Brasilien. Die vorübergehende Verlagerung der politischen Machtzentrale aus Europa in die Peripherie veränderte dort die kolonialen Verhältnisse grundlegend und setzte einen entscheidenden Emanzipationsprozess in Gang. Am 7. September 1822 erklärte der portugiesische Kronprinz, der nach der Rückkehr des Hofes nach Lissabon in der Kolonie verblieben war, mit dem sogenannten "Ruf von Ipiranga" die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal und ließ sich im Dezember zum brasilianischen Kaiser Peter I. (1798–1834) krönen.24
Im Gegensatz zur weitgehend friedlichen Emanzipation Brasiliens verlief die Dekolonisation Spanisch-Amerikas zwischen 1808 und 1826 weitaus konfliktreicher und blutiger. 1808 löste die französische Besetzung Spaniens und die Gefangennahme des spanischen Königs den kompletten Zusammenbruch des metropolitanen Herrschaftszentrums aus. In diesem Machtvakuum übernahmen provisorische Ausschüsse (Juntas) die Regierungsaufgaben in den verschiedenen amerikanischen Kolonien.25 Obwohl man zunächst weiterhin dem inhaftierten spanischen Monarchen die Treue gelobte, wurden Stimmen nach mehr Autonomie und liberalen Reformen laut. Der daraus entstehende Konflikt zwischen republikanischen und royalistischen Kräften führte zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, die sich, auch nachdem die spanische Monarchie unter dem reaktionären Ferdinand VII. (1784–1833) im Jahr 1814 wieder etabliert worden war, zu einer Reihe von extrem gewalttätigen Unabhängigkeitskriegen in ganz Spanisch-Amerika entwickelten. Unter der Führung von prägenden Figuren wie Simón Bolívar (1783–1830)[], José de San Martín (1778–1850) und Bernardo O'Higgins (1778–1842) gelang es den republikanischen Bewegungen bis 1826 die spanische Kolonialherrschaft endgültig abzuschütteln und im ehemaligen spanischen Kolonialreich – von Mexiko im Norden bis Chile im Süden sowie der Rio de la Plata Region im Osten –, unabhängige Staaten zu errichten. Spanien verlor damit bis auf kleine Restgebiete in der Karibik und Asien sein gesamtes Überseereich und war dadurch der "imperiale Absteiger des 19. Jahrhunderts".26
Im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen und angesichts möglicher Versuche Spaniens mit Hilfe seiner europäischen Verbündeten Südamerika zu rekolonialisieren, bezog auch die junge Republik der Vereinigten Staaten außenpolitisch eine klare Position. In seiner State of the Union Address vom 2. Dezember 1823 erteilte US-Präsident James Monroe (1785–1831) allen zukünftigen europäischen Kolonialbestrebungen und Interventionsversuchen auf dem amerikanischen Kontinent eine klare Absage.27 Dieses antikoloniale, antiinterventionistische Bekenntnis, das erst im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts als Monroe Doctrine bezeichnet wurde, hinderte die USA allerdings in der Folgezeit nicht daran, eigene Expansionsbestrebungen zu verfolgen, die sich zunächst kontinental in Richtung Westen gegen die indigenen Völker und mit der Annexion kalifornischer Gebiete gegen Mexiko richteten. Diese kulminierten schließlich 1898 im Spanisch-Amerikanischen Krieg, der mit der Niederlage Spaniens und dem endgültigen Verlust seiner restlichen Kolonien Puerto Rico, Guam, den Philippinen und Kuba endete.28 Die ehemaligen spanischen Kolonien erhielten allerdings nicht ihre Unabhängigkeit, sondern gerieten nun vielmehr unter die Kontrolle der aufstrebenden US-Großmacht. Auf den Philippinen leistete die dortige Nationalbewegung unter Emilio Aguinaldo (1869–1964), die sich bereits 1896 in der philippinischen Revolution gegen die spanische Fremdherrschaft erhoben hatte, vehement Widerstand gegen die USA und verwickelte die neuen Kolonialherren in einen langjährigen Krieg (1899–1913).29 Die erste Dekolonisation beendete die direkte Kontrolle der europäischen Metropole über den amerikanischen Kontinent, ermöglichte aber gleichzeitig, dass dieser nun von den Nachfahren der Europäer – und nicht der ursprünglichen indigenen Bevölkerung – beherrscht wurde. Im Fall der Vereinigten Staaten kam es auch langfristig sogar zur Etablierung einer neuen imperialen Macht, die von Kuba bis auf die Philippinen das Erbe des spanischen Kolonialreichs antrat.
Die "weißen" Dominien und die Etablierung der "Neo-Europas" (1839–1931)
Die zweite Dekolonisation war keine Revolution, sondern ein Prozess, der sich über einen Zeitraum von ziemlich genau hundert Jahren erstreckte.30 Von 1839 bis 1931 emanzipierten sich die "weißen" britischen Siedlungskolonien Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika von Großbritannien und wurden unabhängige Nationalstaaten, die allerdings verfassungsrechtlich weiter mit der britischen Krone verbunden blieben. Noch stärker als in der ersten Dekolonisationsphase brachte dies die Etablierung eines politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Systems mit sich, das auf drei verschiedenen Kontinenten europäische Ableger in Gestalt von "Neo-Europas"31 manifestierte. Diese Entwicklung ging weniger von einer antikolonialen Bewegung aus als vielmehr von der Kolonialmacht Großbritannien selbst. Mit der schrittweisen Übertragung der Selbstverwaltung verfolgte London die strategische Absicht, seine Siedlungskolonien in einem Empire, das sich in Afrika und Asien stetig ausbreitete, weiter verankert zu halten und diese gleichzeitig direkt an den steigenden Kosten zur Aufrechterhaltung des Reichsverbandes zu beteiligten. Das ursprüngliche Ziel war also nicht die Auflösung, sondern die Konsolidierung kolonialer Herrschaftsverhältnisse. Großbritannien hatte aus der amerikanischen Revolution gelernt, dass schrittweise Reformen aus der Metropole dazu beitragen konnten, etwaige radikale Unabhängigkeitsbestrebungen in der Peripherie zu entkräften und langfristig die britische Oberhoheit zu sichern.
Erneut bildete der amerikanische Kontinent den Ausgangspunkt für diesen Prozess. Nachdem es 1837 in Britisch-Nordamerika – den kanadischen Gebieten, die unter britischer Herrschaft verblieben waren – zu einer Reihe von gewalttätigen Aufständen gegen die dort herrschenden politischen Kräfte gekommen war, entsandte London eine Untersuchungskommission unter Leitung des Reformpolitikers John George Lambton, Earl of Durham (1792–1840)[], die die Ursachen klären sollte.32 In seinem 1839 vorgelegten Abschlussbericht Report on the Affairs in British North America empfahl Durham in den kanadischen Kolonialgebieten ein "responsible government" einzuführen. Entsprechend dem Westminster Modell sollte dort ein eigenes Unterhaus mit einer parlamentarisch legitimierten Kabinettsregierung selbstständig die inneren Angelegenheiten verwalten, während die außen- und verfassungspolitische Domäne weiter in den Händen der europäischen Metropole blieb. Der Durham-Report wurde zu einem "der wichtigsten Dokumente der globalen Verfassungsgeschichte"33 und steckte den verfassungsrechtlichen Rahmen ab, innerhalb dessen sich die weißen Siedlungskolonien zu halbsouveränen Dominien (Herrschaftsgebieten) entwickeln konnten.
Die Vorschläge Durhams wurden allerdings erst 1867 mit dem British North America Act umgesetzt, der die einzelnen kanadischen Provinzen zum "Dominion of Canada" vereinte. Dem kanadischen Vorbild folgten die ursprünglich als Sträflingskolonien gegründeten australischen Überseegebiete, die sich am 9. Juli 1900 mit dem Commonwealth of Australia Constitution Act zu einem Bund zusammenschlossen, gefolgt von Neuseeland und dem kleinen Neufundland, die beide am 26. September 1907 den Dominionstatus erhielten. In Südafrika setzte diese Entwicklung erst nach der blutigen Auseinandersetzung im Zweiten Burenkrieg (1899–1902) und der damit verbundenen Eingliederung der Burenrepubliken ins Empire ein; am 31. Mai 1910 vereinten sich die britischen Kolonien zur Südafrikanischen Union.34
Die nächste entscheidende Etappe auf dem Weg zur staatlichen Eigenständigkeit bildete der Erste Weltkrieg (1914–1918). Nach dem Kriegseintritt Großbritanniens standen die fünf Dominien loyal an der Seite des British Empire und kämpften unter zum Teil enorm hohen Verlusten, wie zum Beispiel das Australian and Newzealand Army Corps (ANZAC) in der Gallipolischlacht (1915–1916), für den Sieg der Alliierten über die Mittelmächte.35 Die Kriegsbeteiligung bedeutete einen enormen Emanzipationsschub für die Dominien und führte dazu, dass sie nach 1918 – wenn auch noch offiziell Großbritannien untergeordnet – mit eigenen Vertretern an der Versailler Friedenskonferenz teilnahmen und mit Ausnahme von Neufundland jeweils einen Sitz im neu gegründeten Völkerbund erhielten. Zudem übernahmen drei Dominien – nämlich Südafrika in Südwestafrika, Australien in Neuguinea und Neuseeland auf Samoa – das Völkerbundmandat über ehemalige Überseegebiete des Deutschen Reichs und schlüpften dadurch selbst unter dem Deckmantel ihres Mandatsauftrages in die Rolle von Kolonialherren.
Aufgrund ihres national wie international gewachsenen Selbstbewusstseins erhöhten die Dominien, zu denen – nach dem erbitterten irischen Unabhängigkeitskampf (1919–1921) und der anschließenden Unterzeichnung des Anglo-Irischen Vertrages 1922 – auch der Irish Free State hinzukam, in der Folgezeit den Druck auf die Reichszentrale in London. Sie wollten ihren außenpolitischen Schwebezustand beenden und die Frage nach ihrer vollen staatlichen Souveränität endgültig klären. Nach intensiven Debatten auf verschiedenen Reichskonferenzen berief man zu diesem Zweck 1926 das "Inter-Imperial-Relations-Committee" ein, das vom ehemaligen britischen Premierminister Lord Balfour (1848–1930) geleitet wurde. Der Abschlussbericht, der sogenannte Balfour-Report vom 18. November 1926, kam dabei zu dem Ergebnis, dass die Dominien innerhalb des Empire völlig gleichberechtigte, autonome Gemeinschaften waren und sich freiwillig in ihrer gemeinsamen Treue zur britischen Monarchie als Mitglieder des "British Commonwealth of Nations" vereinigten. Das britische Parlament bestätigte diese Formel 1931 mit dem Statute of Westminster und machte damit den Weg zur vollständigen staatlichen Souveränität ihrer ehemaligen "weißen" Siedlungskolonien frei.36
Die von Großbritannien im 19. Jahrhundert initiierten Reformvorhaben, die die Kolonialherrschaft konsolidieren sollten, mündeten schließlich im 20. Jahrhundert in die Entwicklung selbstständiger, demokratischer Staaten aus dem Reichverband heraus. Die ehemaligen Siedlungskolonien übernahmen als souveräne Nationalstaaten in hohem Maße das politische, gesellschaftliche und kulturelle System ihres kolonialen "Mutterlandes" und etablierten dadurch endgültig "Neo-Europas" auf drei verschiedenen Kontinenten. Dieser Prozess war gleichzeitig mit der vollständigen Marginalisierung der indigenen Bevölkerung in allen Lebensbereichen verbunden, mit deren Auswirkungen diese bis heute zu kämpfen haben.37 Die Etablierung des Apartheidregimes in Südafrika von 1948 bis 1994 bildete dabei sicherlich die gravierendste Form der rassistischen Diskriminierung und Ausgrenzung.38
Die Zusammensetzung des ursprünglich aus der zweiten evolutionären Dekolonisation entstandenen Commonwealth-Verbands veränderte sich grundsätzlich nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit der einsetzenden Auflösung des British Empire ging die Aufnahme ehemaliger "nichtweißer" Kolonien wie Indien (1947), Pakistan (1947) und Ceylon (1948) einher.39 Diesen Wandel dokumentiert unter anderem auch die Streichung des Adjektivs "British" zugunsten der alleinigen Bezeichnung "Commonwealth of Nations" in der Londoner Erklärung vom 26. April 1949. Weitere ehemalige Überseegebiete aus den Reihen des Empires schlossen sich im Verlauf der Jahrzehnte dieser losen Vereinigung souveräner Staaten an, zu denen heute insgesamt 54 Mitgliedstaaten zählen, darunter auch das ehemals portugiesische Mosambik und das einst belgische Ruanda.
Die antikoloniale Revolution und die Auflösung der europäischen Kolonialreiche (1914–1975)
Die dritte Phase der Dekolonisation wird heute in erster Linie mit diesem Begriff assoziiert und bezieht sich auf das Ende der europäischen Kolonialherrschaft nach 1945.40 Der Auflösungsprozess der europäischen Überseereiche prägte markant die internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts und ereignete sich angesichts einer kolonialen Fremdherrschaft, die zum Teil über mehrere Jahrhunderte etabliert worden war, innerhalb relativ kurzer Zeit. Gab es zum Beispiel im Jahr 1945 auf dem afrikanischen Kontinent – abgesehen vom weiß dominierten Südafrika – mit Ägypten, Äthiopien und Liberia lediglich drei formell unabhängige Staaten, so war ihre Zahl fünfzehn Jahre später bereits auf 27 angestiegen. Innerhalb von lediglich 30 Jahren, von 1945 bis 1975, verschwanden alle Kolonialreiche Europas von der Weltkarte. Das Ende "europäischer Weltbeherrschung" war somit "Teil des Übergangs zu einer neuen Ordnung des Weltstaatensystems".41 Diese Transformation verlief keineswegs linear nach einem identischen Muster, sondern gestaltete sich in den einzelnen Regionen zum Teil sehr unterschiedlich: Friedliche Übergänge waren genauso Teil dieses Prozesses wie extrem gewaltsame Befreiungskämpfe. Entscheidend waren sowohl kolonialpolitische, strategische Überlegungen der Kolonialmächte als auch die Stärke der jeweiligen antikolonialen Nationalbewegungen. Die Ost-West-Konfrontation und die wachsende Bedeutung internationaler Organisationen, wie der Vereinten Nationen mit dem entstehenden internationalen Menschenrechtsregime, bildeten die zentralen internationalen Rahmenbedingungen, die den Verlauf der dritten Dekolonisation maßgeblich bestimmten.42
Im Gegensatz zu den zwei vorausgegangenen Wellen war es nun in der Tat diese "klassische Dekolonisation", in der sich die nichteuropäische Bevölkerung gegen koloniale Fremdherrschaft erhob und ihre politische Unabhängigkeit errang. Autochthoner Widerstand war allerdings keineswegs ein reines Phänomen des 20. Jahrhunderts, sondern existierte in seinen verschiedenen Formen bereits seit Beginn der europäischen Expansion und kolonialen Durchdringung. Die zahlreichen Kolonialkriege und Aufstände zu verschiedenen Zeitpunkten in den unterschiedlichen Weltregionen sind eindeutige Belege für den erbitterten Widerstand gegen die europäische Vormachtstellung. Dazu zählten zum Beispiel die große Rebellion der indigenen Bevölkerung in Peru von 1780 bis 1782, der Guerillakrieg unter Emir 'Abd-al-Qādir (1808–1883) von 1835 bis 1847 gegen die französische Besatzung Algeriens sowie der große indische Aufstand von 1857 und die Kriege der Maori von 1843 bis 1872 gegen britische Siedler in Neuseeland.43
Der antikoloniale Widerstand konnte die europäische Kolonialherrschaft allerdings nicht grundsätzlich infrage stellen oder gar aufhalten. Die erfolgreiche Haitianische Revolution 1791 und der Sieg der Truppen Negus Meneliks II. (1844–1913) am 1. März 1896 in der Schlacht von Adua, durch den die italienische Invasion Abessiniens zurückgeschlagen wurde, bildeten absolute Ausnahmen. Der technologische Vorsprung der europäischen Staaten in verschiedenen Bereichen, wie etwa des Transport- und Kommunikationswesens, der Tropenmedizin und nicht zuletzt der Waffensysteme, erwies sich einfach als zu groß, als dass indigene Gruppen den europäischen Vormarsch dauerhaft hätten stoppen können.44 Der damit verbundene vermeintliche globale Siegeszug Europas führte in den Metropolen aber auch zu einer wachsenden Kritik an kolonialen Projekten.45 Vor allem Gewaltexzesse und Skandale in den Überseegebieten lösten öffentliche Debatten und Kampagnen aus, die kolonialkritische Tendenzen befeuerten. So wurden zum Beispiel die Internierung burischer Zivilisten in britischen Konzentrationslagern während des Zweiten Burenkriegs und die Schreckensherrschaft des belgischen Königs Leopolds II. (1835–1909) im Belgisch-Kongo scharf kritisiert.46 Darüber hinaus begann sich allmählich auch in der Peripherie selbst eine eigene politische National- und Protestbewegung zu formieren, wie etwa die Beispiele der zwischen 1879–1882 aktiven Urabi-Bewegung in Ägypten sowie des "Indian National Congress", der 1885 gegründet wurde, und der 1906 etablierten "All India Muslim League" im indischen Herzstück des British Empire belegen.47 Massiven Auftrieb erhielten diese Strömungen durch den Sieg Japans im russisch-japanischen Krieg (1904–1905), als zum ersten Mal eine asiatische über eine "weiße" europäische Nation in einem modernen Krieg triumphierte. Dem Bild der vermeintlichen zivilisatorischen Überlegenheit des "Westens" wurde ein erster schwerer Schlag versetzt.48
Die besondere Sprengkraft antikolonialer Bestrebungen im 20. Jahrhundert bestand in dem signifikanten Zusammenspiel einer wachsenden autochthonen National- und Protestbewegung sowie den massiven Verwerfungen, die sich im Zuge von zwei globalen Kriegen ergaben.49 Der Erste Weltkrieg bildete die erste entscheidende Zäsur.50 Die gegenseitige Massentötung der Europäer auf den Schlachtfeldern führte den Mythos der vermeintlichen zivilisatorischen Überlegenheit des "weißen Mannes" geradezu ad absurdum. Afrikanische und asiatische Intellektuelle sowie politische Anführer thematisierten dies nun ganz gezielt, um die Zivilisierungsmission Europas, die immer wieder bemüht wurde, um die koloniale Herrschaft zu legitimieren, grundsätzlich in Frage zu stellen.51 Ähnlich wie im Fall der Dominien stärkte zudem der große Beitrag der Kolonien zu den Kriegsanstrengungen – eine beachtliche Zahl indischer und afrikanischer Soldaten kämpfte auf Seiten ihrer Kolonialherren – nachhaltig das Selbstbewusstsein der autochthonen Bevölkerung, die nun ihren Beitrag zum alliierten Sieg mit konkreten politischen Zugeständnissen verband. Nachdem W. I. Lenin (1870–1924) im Zuge der Russischen Revolution das Selbstbestimmungsrecht der Völker unter anderem im Dekret über den Frieden vom 26. Oktober 1917 thematisiert hatte, griff es auch US-Präsident Woodrow Wilson (1856–1924)[] in seiner Erklärung der Vierzehn Punkte am 8. Januar 1918 explizit auf und befeuerte damit entsprechende Hoffnungen in den Kolonien.52 Der "Wilsonian Moment" geriet zur Initialzündung, die dazu führte, dass von Ägypten über Indien und Korea bis China eine globale antikoloniale Protestbewegung entstehen konnte.53
Selbst der aus den Versailler Verhandlungen hervorgegangene Völkerbund bekannte sich nun in Artikel 22 seiner Satzung formell zum Prinzip, Kolonialgebiete langfristig in die Eigenstaatlichkeit zu überführen. Die neugegründete internationale Organisation übertrug aus diesem Grund den siegreichen Alliierten die Vormundschaft über die ehemaligen Kolonien des unterlegenen Deutschen Reiches und die arabischen Provinzen des aufgelösten Osmanischen Reiches. Ziel war es, diese sogenannten Mandatsgebiete ihren jeweiligen Entwicklungsfortschritten gemäß auf lange Sicht in die Unabhängigkeit entlassen zu können. In der Realität bedeutete dies allerdings nichts anderes, als dass sich vor allem die bereits führenden Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich die entsprechenden Gebiete unter dem Vorwand des Mandatsauftrags einverleibten und ihrem Herrschaftsbereich zuordneten.54
Die Folge war also nicht die Dekolonisation der ehemaligen Gebiete der Mittelmächte, sondern lediglich ein Austausch der Kolonialherren. In der Zwischenkriegszeit erreichte daher "die koloniale Welt das universalhistorische Maximum ihrer Ausdehnung",55 zumal das faschistische Italien 1935 mit der Invasion Abessiniens einen der letzten unabhängig gebliebenen afrikanischen Staaten okkupierte.56 Parallel zu diesem Höhepunkt europäischer Kolonialherrschaft entwickelten aber prägende Persönlichkeiten wie Mohandas Karamchand "Mahatma" Gandhi (1869–1948)[] in Indien, Ho Chi Minh in Indochina und Messali Hadj (1898–1974) in Algerien die antikolonialen Nationalbewegungen entschieden weiter. Sie erfuhren zudem massive Unterstützung aus dem kommunistischen Lager und vernetzten sich zusehends international.57 Diese fortschreitende Verflechtung und Evolution eines internationalen Antikolonialismus zeigt sich deutlich anhand der vier panafrikanischen Kongresse, die zwischen 1919 bis 1927 von dem US-amerikanischen Historiker und Bürgerrechtler William Edward Burghard Du Bois (1868–1963) organisiert wurden. Vor allem die von Léopold Sédar Senghor (1906–2001) und Aimé Césaire (1913–2008) initiierte Négritude-Bewegung propagierte die Wiederentdeckung der afrikanischen Kultur als auch die politische Selbstständigkeit Afrikas nachdrücklich.58
Die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs scheinbar fest etablierte europäische Kolonialherrschaft erwies sich als trügerisch, denn die Verwerfungen des Krieges von 1939 bis 1945 erschütterten die europäischen Überseereiche nachhaltig in ihren Grundfeste. In Südostasien besetzten japanische Truppen von Dezember 1941 bis April 1942 fast alle europäischen Kolonien, darunter am 15. Februar 1942 zum Entsetzen Londons auch den enorm wichtigen britischen Stützpunkt Singapur. Durch ihren imperialen Eroberungsfeldzug fügten die Japaner dem Prestige der weißen Kolonialherrschaft irreparablen Schaden zu.59 Die verbliebenen Überseegebiete – vor allem in Afrika – gewannen auf alliierter Seite als wichtige Rohstoffbasis und Truppenreservoir für die eigenen Kriegsanstrengungen enorm an Bedeutung.60 Im Falle Frankreichs dienten die zentralafrikanischen Kolonien nach der Niederlage von 1940 und der Kollaboration des Vichy-Regimes mit dem Dritten Reich – dank der maßgeblichen Unterstützung des schwarzen Gouverneurs Félix Éboué (1885–1944) –, sogar als letzter Rückzugsraum für das Freie Frankreich, das von General Charles de Gaulle (1890–1970) angeführt wurde.61 Insgesamt veränderte sich aufgrund dieser Entwicklungen das Verhältnis zwischen Metropole und Peripherie grundlegend, zumal Hundertausende kolonialer Untertanen aus Indien und nahezu allen Teilen Afrikas auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen für die alliierten Ziele kämpften.
Das erstaunlich hohe Maß an Loyalität gegenüber den europäischen Kolonialherren erklärt sich unter anderem dadurch, dass Anführer der antikolonialen Nationalbewegungen einen Sieg der Alliierten mit der Hoffnung auf eine liberale Nachkriegsordnung verbanden, die auf den Prinzipien der Atlantik Charta basierte.62 Die gemeinsame Prinzipienerklärung, auf die sich der US-Präsident Franklin Delano Roosevelt (1882–1945) und der britische Premierminister Winston Churchill (1874–1965) am 12. August 1941 geeinigt hatten, beinhaltete neben der verbesserten internationalen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenarbeit ausdrücklich auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker.63 Derartige Versprechen wurden in den Kolonien geradezu euphorisch zur Kenntnis genommen und entsprechend maß man aus Perspektive der Kolonisierten die Neuordnung der Welt an diesen Ankündigungen. Unmittelbar nach Kriegsende bezogen sich daher die Delegierten des Fünften Panafrikanischen Kongresses, der vom 15. bis 21. Oktober 1945 in Manchester tagte, direkt auf die alliierten Prinzipien und forderten ein sofortiges Ende der rassistischen Kolonialherrschaft, was sie mit dem eindringlichen Appell verbanden: "Colonial and Subject Peoples of the World – Unite!"64
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeigten die europäischen Kolonialmächte zunächst allerdings keinerlei Interesse, ihre Kolonialreiche aufzugeben, da sie – vor allem Großbritannien und Frankreich – damit ihren Anspruch verbanden, neben den neuen Supermächten USA und Sowjetunion einen gleichrangigen Status einzunehmen. Zudem sollten die rohstoffreichen Kolonien die Ressourcen liefern, die nach dem verlustreichen Krieg dringend für den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Metropolen benötigt wurden.65 Statt auf Dekolonisation setzten die europäischen Mächte vielmehr auf die Rekolonisation der im Krieg verlorenen Gebiete in Asien sowie auf die intensive Ressourcennutzung der afrikanischen Gebiete, etwa mit Hilfe eines ausgeprägten Entwicklungskolonialismus und in Form einer "zweiten kolonialen Invasion".66 Gegen diese Pläne richteten sich in der asiatischen Region allerdings regelrechte Revolutionswellen der verschiedenen Nationalbewegungen, deren Wucht die europäische Kolonialherrschaft dort endgültig zum Einsturz brachte.67
Zunächst mussten die Briten erkennen, dass ihre Position im indischen Herzstück des Empires aussichtslos war. Im Zuge des Indian Independence Act vom 15. August 1947 zogen sie sich fluchtartig zurück. Damit einher ging die Teilung des Subkontinents entlang religiöser Grenzen in die beiden Staaten Indien unter Premierminister Jawaharlal Nehru (1889–1964) und Pakistan unter dem Staatsgründer Mohammed Ali Jinnah (1876–1948). Dieser Vorgang war gekennzeichnet von extremer Gewalt zwischen Hindus und Moslems, die zwischen 200 000 und einer Millionen Todesopfer forderte, sowie einem in seinen Ausmaßen bis dahin ungeahnten Bevölkerungsaustausch, der zur Vertreibung und Flucht von über zehn Millionen Menschen führte.68 Auch in Burma und Ceylon holte die britische Regierung schließlich 1948 den Union Jack ein, während sie an der Kolonie Malaya, die aufgrund der reichen Kautschuk-Plantagen und Zinnminen wirtschaftlich sehr wertvoll war, bis 1960 gewaltsam festhielt. Die Niederlande scheiterten mit ihrem blutigen Rückeroberungsversuch in Niederländisch-Indien und traten am 27. Dezember 1949 – auch auf Druck der Vereinten Nationen und vor allem der USA, die eine Einstellung der Marshall-Plan-Hilfen androhten – den Rückzug aus dem indonesischen Inselarchipel an. Frankreich hingegen versuchte in einem neunjährigen verlustreichen Krieg von 1945 bis 1954 gegen den Viet Minh seine Herrschaft über Französisch-Indochina aufrecht zu erhalten. Erst die Schlacht von Diên Biên Phu vom 13. März bis 7. Mai 1954, die zum Symbol schlechthin für die Niederlage des "weißen Mannes" wurde, besiegelte endgültig den französischen Abschied aus Südostasien.69
Der Triumph über den europäischen Kolonialismus machte die neuen asiatischen Staaten zum wichtigen Verbündeten der noch unter Kolonialherrschaft stehenden Gebiete in Afrika und ließ die antikolonialen Kräfte auf beiden Kontinenten solidarisch zusammenrücken. Zu einem Schlüsselmoment geriet die Konferenz im indonesischen Bandung vom 18. bis 24. April 1955, zu der Indonesiens Revolutionsikone und erster Präsident Ahmed Sukarno (1901–1970) Delegierte aus 29 asiatischen und afrikanischen Staaten sowie Vertreter von zahlreichen Befreiungsbewegungen einlud.70 In ihrem Abschlusskommuniqué brandmarkten die Teilnehmer gemeinsam den Kolonialismus als fundamentalen Verstoß gegen die Prinzipien der UN-Charta und als schwere Verletzung der Menschenrechte. Sie forderten ein sofortiges Ende der kolonialen Herrschaftspraxis und sicherten die Unterstützung bei der Verfolgung dieses Ziels zu. Der sich in Bandung formierende afroasiatische Block, aus dem sich schließlich 1961 die Bewegung der Blockfreien Staaten entwickeln sollte, wurde zur internationalen diplomatischen Sperrspitze im Kampf gegen den europäischen Kolonialismus und entfaltete vor allem im Rahmen der Vereinten Nationen seine volle Wirkung.
Die beiden größten Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien befanden sich aber auch im Nahen Osten, der wichtigen kontinentalen Schnittstelle zwischen Afrika und Asien, auf dem Rückzug.71 Nachdem Paris und London ihre noch aus Völkerbundzeiten stammende Mandatsherrschaft über Syrien, den Libanon und Palästina – dort besonders dramatisch mit dem UN-Teilungsplan 1947 und dem anschließenden arabisch-israelischen Krieg von 1948 – bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufgegeben hatten, scheiterte 1956 endgültig der gemeinsame Versuch beider Staaten, die Geschicke der Region weiter zu dominieren. Ägypten stieg in dieser Zeit unter Staatspräsident Gamal Abdel Nasser (1918–1970) zum Vorreiter der panarabischen Bewegung und somit zum größten Widersacher der beiden Kolonialmächte auf.72 Mit der Verstaatlichung des Suezkanals, der enorm hohe wirtschaftliche sowie strategische Bedeutung besaß und gleichzeitig den britisch-französischen Machtanspruch in der Region symbolisierte, versuchte Nasser sich am 26. Juli 1956 endgültig der westlichen Einflussnahme zu entziehen. London und Paris reagierten am 5. November, in Absprache mit Israel, militärisch mit der gewaltsamen Besetzung der Kanalzone, wurden aber wenig später auf diplomatischem Weg durch die beiden Supermächte USA und Sowjetunion zum Rückzug gezwungen. Die Suezkrise markierte eine fundamentale Zeitenwende, die vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts die neuen Kraftverhältnisse klar definierte und den machtpolitischen Abstieg der Kolonialmächte deutlich dokumentierte.73
In den afrikanischen Kolonien waren diese Zeichen des europäischen Machtverfalls zunächst noch nicht so deutlich zu erkennen. Der Versuch, die Region im Zuge der "zweiten kolonialen Invasion" stärker zu durchdringen, goss dort allerdings neues Wasser auf die Mühlen der antikolonialen Nationalbewegungen. Insgesamt verlief der Dekolonisationsprozess in Afrika schleppender als in Asien und gestaltete sich auch regional sehr unterschiedlich.74 In Westafrika zeigten London und Paris – auch aufgrund der wachsenden finanziellen Bürde, die das koloniale Engagement für ihre nationalen Haushaltsbilanzen bedeutete – eine Bereitschaft zu Reformen. Schrittweise übertrugen sie die politische Verantwortung an autochthone Eliten. Dies führte zum Beispiel in Ghana unter Kwame Nkrumah (1909–1972) 1957 weitgehend friedlich zur Unabhängigkeit. In den "weißen" Siedlungskolonien in Nord-, Zentral- und Ostafrika gestaltete sich die Situation hingegen völlig anders. Dort pochten die europäischen Siedler darauf, ihre rassistische Minderheitsherrschaft zu erhalten und verlangten von den Metropolen, ihnen gegen den wachsenden afrikanischen Widerstand militärisch beizustehen. In der britischen Kronkolonie Kenia und Französisch-Algerien, das offiziell sogar Teil Frankreichs war, wurden zwei Dekolonisierungskriege mit äußerster Härte geführt. Es kam zu massiven Umsiedlungen und Internierungen, zur Anwendung systematischer Folter und zu schweren Kriegsverbrechen an der autochthonen Bevölkerung, die Hundertausende von Toten forderten.75
Diese Radikalisierung kolonialer Gewalt und die damit verbundenen schweren Menschenrechtsverletzungen führten dazu, dass der Kolonialismus, vor allem mit Blick auf den Algerienkrieg, immer stärker in der Weltöffentlichkeit angeprangert und zu einem zentralen Thema auf der Agenda der internationalen Politik wurde.76 Der afroasiatische Block nutzte gezielt die Vereinten Nationen als antikoloniales Forum, zumal die Aufnahme ehemaliger Kolonien als neue Mitgliedsstaaten dazu beitrug, dass sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der Weltorganisation signifikant zu seinen Gunsten verschoben.77 Den Höhepunkt erreichte die Beitrittswelle im Jahr 1960, das mit der Unabhängigkeit von 17 afrikanischen Kolonien – auch die belgische Herrschaft über den Kongo78 ging in diesem Sog unter – als das "Jahr Afrikas" in die Annalen einging. Seine neue Stärke nutzte der antikoloniale Block unmittelbar in der Generalversammlung zur Verabschiedung der UN-Resolution 1514 (XV) Declaration on Granting Independence to Colonial Countries and Peoples am 14. Dezember 1960. In diesem epochalen Dokument stärkte die internationale Staatengemeinschaft das Selbstbestimmungsrecht der Völker, während sie gleichzeitig den Kolonialismus als fundamentale Verletzung der Menschenrechte ächtete und ihm somit die Existenzgrundlage entzog.79
In seiner berühmten Rede bei einem Besuch im südafrikanischen Parlament am 3. Februar 1960 charakterisierte der britische Premierminister Harold Macmillan (1894–1986) die Entwicklung als "Wind of Change". Dieser fegte in der Folgezeit sukzessiv auch die Reste der europäischen Kolonialreiche von der Karte des afrikanischen Kontinents – bis auf drei Ausnahmen: Die Diktatur Portugals hielt weiter unerschütterlich an ihrem Überseereich fest und bekämpfte ab 1961 die Widerstandsbewegungen in Angola, Guinea-Bissau und Mosambik mit aller Entschlossenheit. Erst die portugiesische Nelkenrevolution am 25. April 1974, deren Ursachen tief verwurzelt in den drei anachronistischen Kolonialkriegen lagen, und der darin anschließende demokratische Wandel in der Metropole, beendeten schließlich 1975 die Herrschaft der ältesten europäischen Kolonialmacht auf dem afrikanischen Kontinent.80 Als letzte Inseln "weißer" Herrschaft verblieben nun noch Rhodesien, das sich unter Ian Smith (1919–2007) am 11. November 1965 einseitig von London lossagte und sich als europäisches Siedlerregime noch bis 1979 gewaltsam behaupten konnte,81 sowie der südafrikanische Apartheidstaat. Im Ost-West-Konflikt, der im südlichen Afrika im zum Stellvertreterkrieg mutierten angolanischen Bürgerkrieg seine blutigsten Spuren hinterließ,82 galt das rassistische Regime in Pretoria den westlichen Regierungen als antikommunistisches Bollwerk und wertvoller Verbündeter.83
Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums als vierte Dekolonisation (1985-1991)
Im Auflösungsprozess der europäischen Kolonialreiche nahm die Sowjetunion eine zentrale Rolle ein, da sie – der marxistisch-leninistischen Tradition folgend – die antikoloniale Bewegung weltweit ideell wie materiell massiv unterstützte. Im Ost-West-Konflikt versuchte die UdSSR sich dadurch gegenüber den USA entscheidende Vorteile in den neu entstehenden Staaten Asiens und Afrikas zu sichern.84 Paradoxerweise war allerdings die antikoloniale Supermacht selbst ein imperiales Gebilde, zwar nicht im klassischen Sinne nach dem Modell der europäischen Kolonialreiche, jedoch in einer ganz speziellen Konstellation.85 Das von der Ostsee bis zum Pazifik reichende "innere Imperium" bestand aus der Union von fünfzehn mit eigenen Grenzen versehenen Republiken, die zum Teil, wie im Baltikum und im Kaukasus, gewaltsam in den Staatsverbund hineingezwungen worden waren. Die darin versammelten über 150 verschiedenen nationalen Ethnien wurden durch eine gezielte Sowjetisierungspolitik auf eine gemeinsame sowjetische Identität festgelegt, wobei das russische Element mit der Reichssprache und dem Zentrum Moskau klar dominierte. Das "äußere Imperium" wiederum bestand aus den im Zuge des Zweiten Weltkriegs von der Roten Armee besetzten Staaten Ostmitteleuropas, die nominell ihre Souveränität behielten und auch eigenständige Mitglieder der Vereinten Nationen wurden.86 Mit seiner großen Militärpräsenz sicherte sich Moskau aber die direkte Kontrolle in diesen Staaten und legte dort mit einer erneuten Sowjetisierungswelle das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische System nach seinen sozialistischen Vorstellungen fest. Das Militärbündnis des Warschauer Paktes und der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe waren institutioneller Ausdruck dieser Blockbildung. Versuche, daraus auszubrechen beantwortete das imperiale Zentrum mit Militärinterventionen, wie etwa 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei. Seinen uneingeschränkten Führungsanspruch untermauerte Moskau mit der Breschnew-Doktrin von 1968, die im Fall der Bedrohung der sozialistischen Gemeinschaft eine sowjetische Intervention in die inneren Angelegenheiten legitimierte.87 Die außereuropäischen sozialistischen Staaten Kuba, Vietnam und Angola waren aufgrund des fehlenden umfassenden Zugriffs nicht direkter Teil des Imperiums, bildeten aber als Verbündete quasi den "dritten Ring" des sowjetischen Machtbereichs.88
Die Dekolonisation des sowjetischen Imperiums kam völlig unerwartet. Sie verlief zwischen 1985 und 1991 in einem rasanten Tempo und veränderte nicht nur die Situation in der Peripherie grundlegend, sondern brachte letztlich aufgrund der engen Verknüpfung von "äußerem" und "innerem" Imperium sogar die Metropole selbst zu Fall.89 Ausgelöst wurde diese Entwicklung von Michail Gorbatschow (*1931)[], der am 11. März 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt wurde und damit zum neuen starken Mann im Moskauer Machtzentrum aufstieg. Mit umfangreichen "Reformen von oben" reagierte dieser auf die desolate wirtschaftliche Situation in der Sowjetunion, die nicht zuletzt den enorm hohen Militärausgaben im Zuge des Wettrüstens im Kalten Krieg geschuldet war. Er beabsichtigte damit nicht, das sowjetische Imperium aufzulösen, sondern es vielmehr zu konsolidieren und neu auszurichten.90 Innenpolitisch bedeutete dies den fundamentalen Umbau des wirtschaftlichen und die Demokratisierung des politischen Systems, was unter die beiden Schlagworte "Perestroika" (Umbau) und "Glasnost" (Offenheit) subsumiert wurde. Außenpolitisch setzte sich Gorbatschow mit seiner Politik des "Neuen Denkens" für eine Annäherung zum Westen und die friedliche Koexistenz in einem gemeinsamen "europäischen Haus" ein. Zu diesem Zweck nahm er die direkten Abrüstungsverhandlungen mit den USA wieder auf, kündigte eine einseitige sowjetische Truppenreduzierung in den Ostblockstaaten an und beendete mit dem vollständigen Abzug der Roten Armee den 1979 begonnenen verlustreichen Afghanistankrieg.91
Diese außenpolitische Neuausrichtung bedeutete einen fundamentalen Wandel im Verhältnis zwischen der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten des "äußeren" Imperiums. Diesen gestand Gorbatschow nun die freie, eigenverantwortliche Wahl ihres politischen, gesellschaftlichen Systems ohne jede Form der Einmischung in die inneren Angelegenheiten zu (Sinatra-Doktrin), was einen radikalen Bruch mit dem bisherigen außenpolitischen Dogma der Breschnew-Doktrin bedeutete. Moskau gab mit dem Rückzug seines "imperialen Wächters", der Roten Armee, ab 1988 sukzessiv die direkte Kontrolle über die Staaten in Ostmitteleuropa auf und entließ diese damit in ihre vollständige Unabhängigkeit.92 Ohne die militärische Rückendeckung aus Moskau konnten sich die prosowjetischen Regime nun nicht mehr gegen die Demokratiebewegungen behaupten, die lange Zeit unterdrückt worden waren. Im Revolutionsjahr 1989 brachen sie in einer regelrechten Kettenreaktion zusammen. Den Anfang machten Polen und dann Ungarn, das als erster Staat den Eisernen Vorhang durchschnitt, gefolgt von der friedlichen Revolution in der DDR und dem symbolträchtigen Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. Bis zum Jahresende fielen auch die kommunistischen Regime in der Tschechoslowakei ("Samtene Revolution"), in Bulgarien sowie nach einem gewaltsamen Umsturz in Rumänien.93 Mit der Auflösung des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und des Warschauer Paktes verschwanden schließlich 1991 auch die institutionellen Klammern des "äußeren" Imperiums.
Der imperiale Rückzug im Äußeren unterminierte aber auch die sowjetische Zentralmacht im Inneren, die bereits stark angeschlagen war. Die im Zuge der Reformpolitik aufgeflammte Nationalitätenfrage entlud sich daraufhin in einer regelrechten "Explosion des Ethnischen"94 und führte zu blutigen Zusammenstößen, etwa zwischen Armenien und Aserbaidschan.95 Vor allem die Teilrepubliken im Baltikum und im Kaukasus, die mit Gewalt in den Unionsverband gezwängt worden waren, wurden zu nationalistischen Brandherden und lösten einen Flächenbrand aus. Hier entwickelten sich revolutionäre Kräfte, die offen für eine Loslösung aus dem Reichsverband eintraten und eine Abspaltung von Moskau forderten. Als Vorreiter erklärten im Frühjahr 1990 Litauen (11. März 1990), dann Lettland (4. Mai 1990) und schließlich Estland (8. Mai 1990) ihre staatliche Unabhängigkeit. Weder eingeschränkte sowjetische Militärinterventionen in Tiflis, Baku und Vilnius, noch der Putschversuch alter Sowjetkader gegen Gorbatschow im Sommer 1991 konnten diese Dynamik aufhalten. Nachdem sich auch die größte Teilrepublik Russland unter seinem Präsident Boris Jelzin (1931–2007) gegen eine Aufrechterhaltung der alten Union ausgesprochen hatte, war das Ende der Sowjetunion mit dem Einholen der Roten Fahne über dem Kreml am 25. Dezember 1991 endgültig besiegelt.96 Die Auflösung des inneren Sowjetreichs führte zur Gründung von fünfzehn neuen souveränen Staaten von Osteuropa bis Zentralasien, die sich – mit Ausnahme der baltischen Republiken und Georgiens – lose zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zusammenschlossen.97 Die vierte Dekolonisation trug somit zur Auflösung der sowjetischen Metropole ("das letzte Imperium des 20. Jahrhunderts")98 bei, beendete die bipolare Weltordnung und half, die seit 1945 bestehende Teilung Europas zu überwinden.
Im südlichen Afrika wiederum ermöglichte die Dekolonisation des Sowjetimperiums die Beendigung des Stellvertreterkriegs in Angola, der seit 1975 angedauert hatte.99 Im Zuge der Annäherungs- und Entspannungspolitik zwischen den Supermächten kam es am 22. Dezember 1988 zur Unterzeichnung eines UN-Abkommens zwischen Angola, Kuba und Südafrika. Die drei direkt involvierten Konfliktparteien vereinbarten darin den Abzug der kubanischen Interventionstruppen aus Angola sowie den Rückzug der südafrikanischen Armee aus dem von ihr besetzten Südwestafrika. Damit wurde die ehemals deutsche Kolonie unter dem Namen Namibia staatlich unabhängig. Dieser außenpolitische Rückzug aus den Konflikten in Angola und Namibia hatte wiederum direkte Konsequenzen für die "innere Dekolonisation" Südafrikas.100 Nachdem Pretoria seine Funktion als antikommunistisches Bollwerk eingebüßt hatte, erhöhte der Westen den diplomatischen und wirtschaftlichen Druck auf das südafrikanische Regime, um es zur Aufgabe seiner Apartheidpolitik zu bewegen. Die völlige außenpolitische Isolierung, gepaart mit dem enormen Widerstand gegen die Apartheid im Inneren, zwang die Regierung unter dem neuen Präsidenten Frederik Willem de Klerk (1936–1921) mit dem African National Congress (ANC) zu verhandeln.101 Nach Aufhebung der Apartheidgesetze wurde am 11. Februar 1990 der Führer des ANC, Nelson Mandela (1918–2013), nach 27 Jahren Gefängnishaft entlassen, und der Demokratisierungsprozess begann konkrete Formen anzunehmen. Mit der Wahl Mandelas am 27. April 1994 zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas verschwand das letzte Relikt direkter weißer Kolonialherrschaft auf dem afrikanischen Kontinent. In der Geschichte der Dekolonisation nimmt der Fall Südafrikas daher eine Sonderstellung ein: Mit dem Erlangen des Dominionstatus' 1910 und der anschließenden Entwicklung staatlicher Souveränität aus dem britischen Empire, den direkten Auswirkungen des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums und dem erkämpften Übergang von der "weißen" zur autochthonen "schwarzen" Herrschaft vereint er signifikant zentrale Elemente der zweiten, dritten und vierten Dekolonisation.
Zusammenfassung
Die Dekolonisation war seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine zentrale, prägende historische Entwicklungslinie, die mit der Freisetzung von destruktiven wie auch konstruktive Kräfte das Weltstaatensystem formte, wie wir es heute kennen. Zum einem trug die Auflösung der Kolonialimperien wesentlich dazu bei, die über mehrere Jahrhunderte etablierte unangefochtenen Vormachtstellung Europas zu beenden und die eurozentrisch ausgerichtete Weltordnung zu zerstören. Neue nichteuropäische Weltmächte, wie die Vereinigten Staaten, schlüpften in die dominierende Rolle und füllten das politische Vakuum. Zum anderen entstanden auf allen Kontinenten neue Nationalstaaten, die häufig ein politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches System übernahmen, das in Europa verwurzelt war. Trotz ihres – mit Ausnahme der zweiten Phase – revolutionären Charakters und der damit verbundenen offensichtlichen Brüche bedeutete die Dekolonisation keineswegs, dass die eng verflochtenen Beziehungen zwischen der europäischen und nichteuropäischen Welt vollständig und abrupt abbrachen. Vielmehr wurde es im Zuge der Dekolonisation möglich, dieses Beziehungsgeflecht umzugestalten und neu zu definieren. Abhängigkeitsverhältnisse, die während der Kolonialherrschaft geschaffen worden waren, endeten mit dem Erreichen der "formellen" staatlichen Unabhängigkeit nicht einfach. Stattdessen wurden bestehende politische sowie wirtschaftliche Asymmetrien im "informellen" Rahmen häufig fortgesetzt und behinderten dadurch eigenständige Entwicklungsansätze in der ehemals "kolonisierten Welt".102 Inwieweit sich das heute en vogue scheinende Globalisierungsparadigma dazu eignet, diese Prozesse zu analysieren, wird in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutiert.103
Die Dekolonisation war darüber hinaus keine Einbahnstraße; der europäische Kontinent drückte dem "Rest der Welt" nicht einfach seinen Stempel auf, ohne selbst davon nachhaltig tangiert zu werden. Vor allem der durch die Postcolonial Studies104 vollzogene methodische Perspektivwechsel zeigt, dass es sich vielmehr um einen wechselseitigen, mehrdimensionalen Prozess handelt, der dauerhafte Spuren sowohl in der Peripherie als auch in der Metropole hinterließ. Die historischen Debatten um die verschiedenen Auswirkungen der Dekolonisation auf die Metropole sind im vollen Gange105 und belegen, wie bedeutsam das Thema für eine europäische Geschichtsschreibung ist, die bewusst den Blickwinkel von außen miteinbezieht.106 Die insgesamt vier Dekolonisationsphasen prägen das Verhältnis des Kontinents zur nichteuropäischen Welt bis heute, denn in ihrem Zuge wurde die Geschichte Europas über einen Zeitraum von mehr als 200 Jahren mit der aller anderen Erdteile auf signifikante Weise verflochten.