Überblick und Einordnung
Bereits lange vor der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 wurde der Zugang orthodoxer Missionare aus dem Mittelmeerraum nach Osten und nach Afrika durch den Aufbau islamischer Kalifate in Nahost verhindert. Manche östlich-orthodoxen Kirchen im Nahen Osten1 (die Patriarchate in Alexandria, Antiochien und Jerusalem) oder auf dem Balkan (die Kirchen der Südslawen Bulgariens und Serbiens) standen zu diesem Zeitpunkt bereits seit Längerem oder Kürzerem unter arabischer oder osmanischer Herrschaft. Die Donaufürstentümer Walachei und Moldau, die sich ihre Selbstständigkeit durch Tributzahlungen bei der Großen Pforte erkauften, erwirkten zwar gelegentlich seit dem 15. Jahrhundert eine tatkräftige materielle und politische Unterstützung an wichtigen Orten der Orthodoxie unter osmanischer Herrschaft (wie die alten patriarchalen Institutionen in Konstantinopel, Jerusalem und Antiochien oder monastische Zentren wie z.B. auf dem Berg Athos oder das Kloster der Heiligen Katharina auf dem Sinai). Die erdrückenden Bedingungen dieser osmanischen Oikumene lähmten aber langfristig die Energie all dieser einzelnen Kirchen. Die Neuordnung Osteuropas im 19. Jahrhundert mit der Entstehung der Nationalstaaten Griechenlands, Bulgariens, Serbiens und Rumäniens – alle Heimatländer orthodoxer Kirchen – ließ bis zum Ersten Weltkrieg und später bis zur Machtergreifung sozialistisch-atheistischer Regime nach sowjetischem Modell keine nach außen gerichteten missionarischen Initiativen zu.
Nach der Taufe des Kiewer Fürsten Vladimir (956–1015) erblühte nördlich des Schwarzen Meeres eine christliche Kultur, die zu einem künftigen Ausstrahlungszentrum der Orthodoxie wurde. Nach dem Fall der Tataren-Khanate Kasan (1552) und Astrachan (1554) an der Wolga – der letzten größeren Gebiete unter mongolischer Herrschaft in Europa – stand dem Zarenreich der Zugang nach Osten offen. Von Russland aus verbreitete sich das orthodoxe Christentum im Kaukasus und weiter nach Osten über Zentralasien und Sibirien bis zum Pazifik, dessen Küste 1636 erreicht wurde. Auch Alaska mit den nordpazifischen Inseln des Beringmeeres wurde seit Anfang des 19. Jahrhunderts Schauplatz intensiver Missionsbemühungen. Von Ostsibirien aus kam auch eine Mission in das Altai-Gebirge zustande. Wo die Expansion Russlands an die Grenzen anderer Mächte stieß, ermöglichten anfänglich diplomatische Beziehungen den Zugang orthodoxer Geistlicher ins Land, etwa in China Anfang des 18. Jahrhunderts, in Japan 1860 und in Korea um 1900.
Eine überraschende Wendung zur Orthodoxie lässt sich in Afrika verzeichnen. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstand in verschiedenen Metropolen Afrikas eine griechisch-orthodoxe Diaspora. Ihre Wirkung für die Mission blieb allerdings überschaubar. In den 1920er Jahren entwickelte sich aber verschiedentlich auch eine Bewegung zur Orthodoxie, die nicht auf missionarische Tätigkeiten zurückzuführen war, sondern als Projekt der "Selbstmissionierung" bezeichnet werden kann. Dies führte dennoch zu einer nachhaltigen Ausbreitung des östlichen Christentums auf dem Kontinent.
Russisch-Orthodoxe Mission
Periodisierung
Die Periodisierung der russisch-orthodoxen Missionsgeschichte2 lässt sich grob an den folgenden kirchlichen und politischen Rahmenbedingungen festmachen. In der Anfangszeit ging die Mission spontan von einzelnen Klöstern aus, die in ihrer unmittelbaren Umgebung sowohl auf Christen als auch auf nicht-christliche Bevölkerungsgruppen einwirkten. Da sich monastische Gemeinschaften im Allgemeinen an abgelegenen Rückzugsorten am Rande der Zivilisation ansiedelten, waren sie vielerorts auch Vorposten des orthodoxen Glaubens im Prozess der russischen Expansion, ohne dass dabei in dieser Phase eine systematische "Klosterkolonisation"3 verfolgt worden wäre. Mit der Einnahme der Tataren-Khanate an der Wolga Mitte des 16. Jahrhunderts wurden die neue Islammission sowie sonstige missionarische Bemühungen politisch unterstützt oder sogar angeordnet. Peter der Große (1672–1725)[] förderte Anfang des 18. Jahrhunderts die Mission systematisch, band aber die Kirche so stark an den Staat, dass sie als Institution langfristig quasi zu einem Teilbereich der Regierungsgeschäfte wurde. Diese Entwicklung wirkte sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts missionshemmend aus, als mit Katharina II. (als Zarin 1762–1796)[] eine Monarchin den Thron bestieg, die im Geiste der Aufklärung bemüht war, die gesellschaftliche Rolle der orthodoxen Kirche zu begrenzen. Damit gingen auch regelrechte Missionsverbote einher. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts stärkte der Missionseifer einzelner Akteure die Mission wieder deutlich, was sich auf die ganze Kirche auswirkte. 1865/70 wurde schließlich eine Missionsgesellschaft gegründet. Nach der Oktoberrevolution 1917 kam die Mission jedoch erneut weitgehend zum Erliegen.
Die Islammission
Der Kontakt zwischen der russischen Orthodoxie und dem Islam war seit dem Mittelalter durch den militärischen und politischen Zusammenstoß zwischen Slawen und verschiedenen Turkvölkern im Wolgagebiet und Zentralasien geprägt. Diese spannungsvolle Begegnung wurde durch einen bleibenden religiösen Gegensatz weiter aufgeladen, nachdem mit Berke (1205–1267) und später mit Özbeg (Uzbek) (1313–1341) zwei muslimische Herrscher den Thron der Goldenen Horde bestiegen, die dem Islamisierungsprozess unter den Mongolen4 Vorschub leisteten. Russische Fürstentümer blieben bis in die Zeit Iwans III. (1440–1505)5 Vasallen der Goldenen Horde. Mit der Eroberung der Khanate von Kasan (1552) und Astrachan (1554) durch Iwan IV. (1530–1584)[] verschwand das politische Erbe der Mongolenherrschaft aus jener Region, die als Bollwerk des Islam gedient hatte. Diese wechselseitige Beziehung von Herrschaft und Vasallität prägte auch das Verhältnis zwischen der russischen Orthodoxie und dem Islam im Zarenreich bis 1917.
Russisch-orthodoxe Bistümer und Kirchengemeinden existierten in diesen und anderen Territorien auch unter der Mongolenherrschaft. Eine organisierte Mission unter den muslimischen Tataren konnte nur nach der Eroberung Kasans eingerichtet werden. Ihre Hauptakteure waren Iwan IV. und der Vorsteher der neu gegründeten Metropolie von Kasan, Gurij. Iwan gab 1555 dem Metropoliten eine Art Anleitung zur Mission,6 in der er das Ziel, die Tataren zu bekehren, klar formulierte. Gurij wurde angehalten, mit "Güte und Liebe" vorzugehen und sich selbst um Interessenten aus höheren Schichten zu kümmern; ihm wurden im Dienst der Mission auch erweiterte Rechte gegenüber weltlichen Autoritäten – z.B. als Asyl- und Appellationsinstanz für Geflüchtete und Verfolgte unabhängig vom Grund – eingeräumt.
Für einfache Leute übernahmen hingegen Klöster – und Klosterschulen – die Rolle der Unterweisung. Dass in den folgenden Jahrzehnten 31 neue Klostergemeinschaften in dieser Diözese gegründet wurden, unterstreicht ihre Bedeutung. Durch die unterschiedlichen ökonomischen, politischen und pastoralen Anforderungen und Erwartungen, die stark an die Rolle der Klöster und geistlichen Territorien in Westeuropa spätestens seit Karl dem Großen (747–814) erinnerten, kam die missionarische Aufgabe zu kurz. Diese wurde allmählich speziellen Stellen wie etwa einzelnen Klostergemeinschaften7 oder Missionaren übertragen, die aber dem Umfang der Aufgabe nicht gewachsen waren.8
Die 1554 eroberte Stadt Astrachan wurde v.a. nach der Gründung des dortigen Klosters durch den Mönch Kirill zu einem missionarischen Zentrum. Das Beispiel Astrachans zeigt, dass die Mission eher in urbanen Zentren Erfolge für sich verbuchen konnte. Weitere Beispiele gelungener Mission sind schwer zu finden; in der Zeit Gurijs wurden jedoch wahrscheinlich 20.000 muslimische Tataren getauft.
Die Missionsstrategie, die auch einen starken staatlichen Charakter trug, bezog neben rein religiösen Elementen auch ökonomische Anreize ein, wie z.B. die Befreiung von Abgaben, von obligatorischen Arbeitsleistungen und dem Militärdienst sowie die Begünstigung bei der Vergabe von Ämtern und der Nutzung von Land. Die Rahmenbedingungen der Mission blieben ansonsten lange Zeit – wie in solchen Situationen üblich – von Spannungen zwischen Eroberern und den neuen Untertanen geprägt. Für die Mission unterqualifiziertes Personal verstärkte das Problem. Nach der Annahme des Christentums durch die Taufe fehlte es Neugetauften in vielen Fällen an einer dauerhaften seelsorgerlichen Betreuung. Ein tiefgreifender Religionswechsel fand deshalb oft nicht statt.
Eine neue Phase bahnte sich unter dem an der Mission interessierten Peter dem Großen an, der den diesbezüglichen Reformbedarf erkannte. Er bemühte sich um besser ausgebildetes Personal, u.a. in der Geistlichen Akademie in Kiew, die einige engagierte Missionare und Bischöfe hervorbrachte. Auch Metropolit Tichon III. von Kasan (im Amt 1699–1724) gründete 1724 eine Schule,9 mit der er auf die Ausbildung eines einheimischen Missionsklerus abzielte. Unter dem Nachfolger Tichons, Sil'vester (im Amt 1725–1731), brachte die Schule 1728 den ersten tatarischen Priester, Iwan Dimitriev, hervor.10 Die Erfolge der Mission waren jedoch nur von kurzer Dauer, vor allem nachdem Zarin Anna Iwanovna (1693–1740) die Schließung dieser und weiterer Klosterschulen verfügt hatte.
Mit den Reformen Peters des Großen ging für die Kirche allerdings der Verlust von Freiheiten einher. Vor allem missionshemmende Maßnahmen – hauptsächlich durch Katharina II. (1762–1796) – wirkten sich langfristig aus. Ihre kirchenkritische und der Aufklärung zugewandte Regierung stellte die finanzielle Unterstützung der Mission ein und versuchte durch Geheimbefehle oder offene Aktionen alle missionarischen Tätigkeiten zu unterbinden. So löste Katharina z.B. 1764 das Amt des sogenannten "Neugetauften-Kontors" auf. Damit verlor die Mission die zentrale Koordinationsstelle, die zwischen der russischen Synode sowie den einzelnen Diözesen und Missionen vermittelte und deren Tätigkeit unterstützte.11
Während der Regentschaft Katharinas II. verlor die Islammission zunehmend an Boden. Bemühungen einzelner Missionare oder Zentren, wie z.B. unter dem Erzbischof von Kasan Filaret Amfiteatrov (1779–1857), brachten keine Wende. Informationen über offene muslimische Anwerbung (die jedoch formell verboten war) und Nachrichten über die Rückkehr zum Islam einzelner Bevölkerungsgruppen mehrten sich. Erst als polizeiliche und Verwaltungsmaßnahmen nicht mehr ausreichten, um diese Entwicklung einzudämmen, zeigte der Staat wieder Interesse an der Mission. Die Akademie in Kasan wurde wiedereröffnet und ihr Schwerpunkt auf Missionstätigkeiten gelegt. Dafür richtete man Lehrstühle für orientalische und östliche Sprachen sowie für die Kultur- und Religionskunde der zu missionierenden Volksgruppen ein. Diese Initiative setzte einerseits wichtige missionarische Impulse; andererseits wurde damit auch die Basis für die russische Orientalistik geschaffen, die wertvolle wissenschaftliche Arbeiten, etwa des Islamexperten und Tatarenmissionars Nikolaj I. Il'minskij (1822–1891), hervorbrachte.
Il'minskij (1822–1891) legte dem Erzbischof von Kasan, Grigorij Postnikov (im Amt 1848–1856), als Laie eine Übersetzung der Chrysostomos-Liturgie ins Tatarische vor, was zur Einrichtung einer dauerhaften Übersetzungskommission führte. Nachdem die Liturgie 1850 von der Kommission in Druck gegeben wurde, erschienen in den nächsten Jahren weitere liturgische und biblische Texte. Aus der Arbeit der Kasaner Akademie entwickelte sich seit 1854 ein Missionsinstitut mit drei Zweigen – einem tatarischen,12 einem mongolischen und einem tschuwaschisch-tscheremissen –, das sich der Erforschung der Sprachen und der Kultur dieser Völker widmete. Für die Unterstützung der Mission wurde 1867 die Gurij-Bruderschaft gegründet. Diese hatte sich zum Ziel gesetzt, nicht nur die Mission finanziell zu fördern, sondern auch dafür zu sorgen, dass die zu missionierenden Volksgruppen einen besseren Zugang zur Bildung erhalten sollten. Bis 1899 wurden mit Unterstützung der Bruderschaft knapp 1,6 Millionen Exemplare verschiedener religiöser Schriften gedruckt. 1904 unterhielt die Bruderschaft 150 Schulen für Jungen und Mädchen der folgenden ethnischen Gruppen: Tataren, Tschuwaschen, Tscheremissen, Wotjaken und Mordwinen.
Dennoch blieben die Ergebnisse der Mission unter den Tataren im Wolgagebiet, auf der Krim und im Kaukasus überschaubar. Hinzu kam, dass Russland wegen des Krimkriegs (1853–1856) Rücksicht auf die muslimischen Krimtataren nahm und kein Interesse hatte, die religiösen Gefühle eines erheblichen Teils der Lokalbevölkerung zugunsten des osmanischen Gegners zu verletzen.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte die russisch-orthodoxe Islammission erhebliche Fortschritte und zwar auf den folgenden Gebieten: der Ausbildung eines einheimischen Klerus und von Missionaren, der Einrichtung von Schulen für die zu missionierenden Volksgruppen, der Übersetzung und des Abdrucks von Schriften in vielen Missionssprachen sowie der wissenschaftlichen Erschließung von Sprachen, Kultur und Religion der betreffenden Volksgruppen. Trotzdem entsprachen die Ergebnisse nicht immer den Bemühungen. Der Islam baute eine eigene Gegenbewegung auf, wobei die orthodoxe Kirche gleichzeitig vom Staat in vielerlei Hinsicht bei der Erneuerung ihrer Vorgehensweise behindert wurde. Mit dem Toleranzgesetz vom April 1905 verschwand aus staatlicher Perspektive die Berechtigung der Islammission, und die Missionsfreiheit der Kirche wurde zunehmend eingeschränkt. Von nun an nahm der Staat die Kirche für eine neue missionarische Aufgabe in Dienst, nämlich die Bekämpfung des aufkommenden Sozialismus, der gleichermaßen regime- und religionskritisch war. Nach 1917 gab es bis Ende des 20. Jahrhunderts keine vergleichbare Fortsetzung der alten Islammission.
Mission in Sibirien
Die allmähliche Erschließung Sibiriens seit dem 16. Jahrhundert öffnete der russischen Kirche einen Raum gewaltiger Größe. Dieses Gebiet zwischen Ural und Pazifik, dem Polarkreis und der Südgrenze zur Mongolei und China war von verschiedenen Volksgruppen bewohnt, die in vielen Fällen ein semi- oder gänzlich nomadisches Leben führten.
Wichtige Impulse erhielt die orthodoxe Mission unter Peter dem Großendurch einen Ukaz (Erlass) vom Juni 1700. Die Mission sollte den Weg ebnen: "zur Stärkung und Ausbreitung des orthodoxen christlichen Glaubens und zur Verkündigung des Heiligen Evangeliums bei den götzendienerischen Völkern; ferner, um die tributpflichtigen Stämme in der Umgebung von Tobolsk und den anderen Städten Sibiriens zum christlichen Glauben und zur heiligen Taufe zu führen…"13. Auch wenn in diesem Dokument hauptsächlich religiöse Motive genannt werden, sprachen möglicherweise auch sonstige Beweggründe – wie der Wunsch nach interner und externer Stabilisierung des Reiches (hier an der Südgrenze zu China) – für eine solche Initiative.
Der wichtigste Missionar dieser Zeit war Filofej Leščinskij, Metropolit von Tobol'sk (im Amt 1702–1712 und 1715–1720), der dem Zaren persönlich über die Situation in seiner riesigen Diözese berichtete. Seine Vorschläge umfassten Maßnahmen zur Eindämmung des muslimischen Einflusses und zur Schaffung materieller und gesellschaftlicher Anreize für den Übertritt zum Christentum. Zudem schlug er vor, die Evangelisierungsarbeit unter den Stämmen Sibiriens zu intensivieren und gemischte kirchlich-diplomatische Missionen nach China zu entsenden.14 Die Zahl der Kirchen in seiner Diözese stieg während seiner Amtszeit von 160 auf 448. Leščinskij soll zudem 40.000 Neuchristen getauft haben. Dennoch waren derartige Erfolge, die auf den Einsatz weniger Missionare zurückgingen, nicht stabil. Fehlendes Personal (auch wenn in Tobol'sk eine Schule in Betrieb genommen wurde), chaotische Verwaltungszustände, unzureichend umgesetzte Maßnahmen zugunsten von Neugetauften durch die lokale Verwaltung, eine erstarkende Mission des Islams und fehlende missionarische und katechetische Tätigkeiten in Sibirien verhinderten, dass Leščinskijs Anstrengungen dauerhaft Wirkung zeigten.15
Eine besondere Schwierigkeit für die Mission stellte der Verbleib der Neugetauften unter ihren nicht-christlichen Volksgenossen dar. Nach einem ohnehin meist sehr schnellen Verfahren der Christianisierung bestand unter diesen Bedingungen kurz- und langfristig die Gefahr einer Rückkehr zu dem vorchristlichen Glauben. Um dies zu verhindern, bedurfte es einer ausreichenden pastoralen und katechetischen Betreuung, an der es jedoch vielerorts mangelte. Stattdessen kam es – meist unter staatlichem Zwang – zur Umsiedlung Neugetaufter, wodurch die Taufe an Attraktivität verlor. Wie schwierig sich diese Strategie erwies, zeigt das Beispiel der Kalmücken-Mission. Die buddhistische Volksgruppe der Kalmücken drang aus der Mongolei im frühen 17. Jahrhundert nach Zentralasien südlich des Urals bis nach Astrachan und Kasan vor. Der erste Versuch ihrer Christianisierung als Gruppe ist im Zusammenhang mit der Taufe eines Stammesfürsten in den 1720er Jahren zu sehen. Dieser wurde – passend für die nomadische Lebensweise – von der Synode mit einer mobilen Feldkirche ausgestattet. 1738 siedelte die Regierung ca. 2.000 Kalmücken um, die für ihr neues sesshaftes Leben jedoch auf staatliche Hilfe angewiesen waren.16 Als später dort zusätzlich Russen angesiedelt wurden, um den nötigen Wissenstransfer über ein sesshaftes Leben zwischen diesen Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen, wurde für die Kalmücken auch eine Pfarrei eingerichtet. Dennoch konnte ein christlich-buddhistisches "Doppelleben" nicht gänzlich unterbunden werden.
Ein Merkmal dieser frühen Mission in Sibirien und im Pazifikraum ist der Mangel an Missionaren und Gemeindepriestern. Auch wenn an einzelnen Orten Missionserfolge erzielt wurden, verfestigten sich diese aufgrund von Personal- und Materialmangel kaum. An vielen Orten musste die Mission deswegen zum wiederholten Mal neu ansetzen.17
Nachdem die Bedingungen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts kaum auf eine positive Entwicklung der russischen Mission hoffen ließen,18 begann wenige Jahrzehnte später eine neue Epoche. Hierzu sind besonders zwei Beispiele von Missionsunternehmungen zu nennen: die Altai-Mission von Makarij Glucharev und die Aleuten-Mission von Innokentij Veniaminov.
Der Mönch Makarij Glucharev (1792–1847) wählte die Altai-Region als Missionsgebiet.19 Gemeinsam mit einigen wenigen Mitstreitern wollte Makarij neben der konkreten Missionstätigkeit unter den verschiedenen Stämmen dieser Region – z.B. mit mobilen Zeltkirchen – langfristig auch die Erschließung einheimischer Sprachen und umfangreiche Übersetzungsarbeiten20 realisieren.21 Makarij war der Überzeugung, dass die Christianisierung erst nach der Taufe einsetzte, und bemühte sich aus diesem Grund um eine kontinuierliche katechetische Begleitung der Neugetauften. Diese konnte am besten dort erfolgen, wo die Neuchristen sesshaft wurden und dadurch auch ein sinnvoller Schulbetrieb gewährleistet war.
Eine weitere innovative Idee bezog sich auf die Einbindung von Frauen in die Mission, die primär in der Erziehung von Mädchen und der Pflege von Kranken tätig sein sollten. Aus diesem Ansatz entstand schließlich ein Institut für Missionshelferinnen. Dank dieser planvollen Organisation der Missionstätigkeiten bestand Makarijs Werk auch nach seinem Tod weiter. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Altai-Mission fort und wirkte sich positiv auf Entwicklungen innerhalb der ganzen russisch-orthodoxen Kirche aus.
Für die Wahrnehmung der russisch-orthodoxen Mission im Kontext der Missionswissenschaft ist das Beispiel Innokentij Veniaminovs (1797–1879)[] repräsentativ. Innokentij zählt zu den erfolgreichsten Missionaren der Neuzeit. Durch seine umfangreichen Tätigkeiten als Missionar und Missionsorganisator sowie Sprach- und Naturforscher22 steht er in einer Reihe mit Persönlichkeiten wie Franz Xaver (1506–1552)[], Robert Morrison (1782–1834) oder David Livingstone (1813–1873)[]. Dennoch blieb sein Name in der Missionswissenschaft weitgehend unbeachtet. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen als Sohn eines früh verstorbenen, einfachen Kirchendieners erhielt der junge Veniaminov seine Ausbildung im Priesterseminar von Irkutsk, heiratete und wurde anschließend Gemeindepriester in dieser Stadt. Als 1823 ein Seelsorger für die Aleuten-Inseln gesucht wurde, stellte er sich nach anfänglichem Zögern für diese Stelle zur Verfügung. Bald darauf reiste er mit Ehefrau und Kleinkind, Mutter und Bruder ab und erreichte seine erste "Stelle" auf Unalaska im Pazifik.
Auch wenn alle Aleuten als Christen galten, war ihr praktisches Christentum relativ oberflächlich, zumal diese Pfarrstelle – wie auch viele andere – seit ca. 30 Jahren unbesetzt war.23 Während seiner ca. zehnjährigen Tätigkeit auf Unalaska und den benachbarten Inseln bemühte sich Veniaminov um eine Mission in der Sprache der Einheimischen, die er mithilfe Iwan Pan'kovs erlernte. Er verschriftlichte sie, verfasste dafür erstmals eine Grammatik, übersetzte das Matthäus-Evangelium sowie einen Katechismus und erstellte Unterrichtsmaterial für die Schule. Zugleich machte er ethnologische und naturwissenschaftliche Notizen, die Veniaminov in seinen mehrteiligen Aufzeichnungen über die Inseln des Bezirks Unalaska24 zusammenfasste. 1834 wurde er nach Novo-Archangelsk auf der Insel Sitka versetzt, wo er neben einer Gemeinde von Russen und Mestizen während einer Pockenepidemie auch die einheimischen Koloschen betreute. Obwohl letztere als rebellisch galten und sich den Russen vielfach widersetzt hatten, öffneten sie sich aufgrund Veniaminovs' Einsatz während der Epidemie allmählich der Mission.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen entwickelte Veniaminov eine missionarische Vision,25 die ihn in den nächsten zwei Jahrzehnten in den Raum zwischen dem ostsibirischen Jakutsk (seit 1852 zu seiner Diözese gehörend), dem nordsibirischen Anadyr, bis an die russische Südgrenze zu China, in die Mongolei an den Amur und nach Alaska führte. Durch die Verlagerung seines Wohnorts nach Jakutsk und Ajan legte er einen Schwerpunkt auf die Mission in Sibirien. Seine transkontinentale Diözese teilte er in einzelne Missionsgebiete auf. Auf dem nordamerikanischen Kontinent ging die Mission weiter, sodass zuerst auf der Insel Kodiak und später sogar nahe San Francisco in Kalifornien weitere Ausstrahlungszentren entstanden. Die erste orthodoxe Präsenz an der Westküste der USA geht somit auf die Mission zurück, bevor eine nennenswerte Anzahl russischer und sonstiger orthodoxer Einwanderer diese Region erreichten.
1869 wurde Veniaminov als Metropolit von Moskau auf das höchste Amt der russischen Kirche berufen. Hier reformierte er die seit 1865 existierende Orthodoxe Missionsgesellschaft von Grund auf. Zu seinen missionarischen Grundsätzen zählten: Beherrschung der Missionssprache für eine unvermittelte Glaubensverkündigung; Geduld, bis die Taufbewerber selbst von ihrer Taufe überzeugt und für diesen Schritt bereit waren; Verzicht auf alle Anreize oder Ausübung von Druck zur Annahme des Christentums; Übersetzung der Heiligen Schrift, liturgischer Texte und katechetischer Schriften in die Missionssprachen; Verankerung des Missionsauftrags im Bewusstsein des Kirchenvolkes.
Spät im 19. Jahrhundert wurde auch die Region um Wladiwostok als Missionsgebiet organisiert.26 Von den elf Missionsstationen, die dort eingerichtet wurden, widmeten sich neun der Mission der koreanischen Einwanderer. Auch ein koreanischer Priester war dort tätig. Einer Statistik aus dem Jahr 1904 ist zu entnehmen, dass von den ca. 15.000 dort lebenden Koreanern mehr als 8.000 orthodox waren.27 Der Missionsgedanke begleitete die vielen Koreanern, die in ihre Heimat zurückkehrten, so dass in den 1920er Jahren in Seoul und Heijo (Pjöngjang) vielversprechende Missionen existierten. Die Mission in Seoul bestand auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter, in Nordkorea verloren sich jedoch die Spuren.28
China
Die erste gewichtige russisch-orthodoxe Präsenz in China entwickelte sich, nachdem die beiden Länder durch ihre Expansionen in Zentral- und Ostasien aneinandergeraten waren. Ein Kontingent von ca. 100 russischen Gefangenen wurde im nördlichen Teil von Peking angesiedelt, nachdem die Mandschus den Grenzort Albasin am Amur 1685 erobert hatten. Religiös betreut wurden sie von dem mitgefangenen Priester Maksim Leont'ev. Durch den Vertrag von Kiachta (1727) gelang es Russland, mit Verweis auf die religiöse Betreuung der dort lebenden Albasiner und sonstiger russischer Besucher eine Art Missionsstation29 in Peking einzurichten. Neben vier Klerikern waren für diese Mission auch bis zu sechs Sprachschüler vorgesehen. Missionserfolge konnten im Laufe der Zeit hauptsächlich in den Familien der Albasiner erzielt werden. Die Auswirkungen sowohl der Mission als auch der Schule blieben im 18. Jahrhundert überschaubar, da die Arbeit der dort lebenden Russen durch Bewegungs- und Kontaktbeschränkungen erschwert wurde. Ein Gegengewicht zur teils einflussreichen römisch-katholischen Mission (hauptsächlich der Jesuiten) oder eine wirkliche Säule des europäischen Transfers von und nach China wurde die orthodoxe Mission erst im 19. Jahrhundert.
Nach 1800 machte die russische Sinologie Fortschritte und genoss zunehmend internationale Anerkennung. Nach dem Vertrag von Tien-tsin vom 1. Juni 1858 erreichte Russland für seine Missionare völlige Bewegungs- und Predigtfreiheit. Auch der Heilige Synod achtete von jetzt an stärker auf die Erfüllung missionarischer Pflichten und legte Wert auf das Erlernen der Sprache und auf die Ausbildung einheimischer Helfer. In den 1860er Jahren baute der Mönchspriester Isaja Polikin in Dundinan nahe Peking eine chinesische Dorfgemeinde auf. Er übersetzte das Stundengebet und 1866 auch die Liturgie ins Chinesische, auch wenn der Synod sich weiter an die kirchenslawische Fassung hielt. Das änderte sich erst in den 1880er Jahren, als einige Teile des Gemeindegesangs auf Chinesisch genehmigt wurden. Zu dieser Zeit gab es ca. 400 – enger oder loser verbundene – Anhänger der Mission. 1883 wurde Mitrofan Tsi als erster chinesischer Priester ordiniert.
Entscheidenden Schwung erhielt die Missionstätigkeit ab 1896 mit der Ernennung von Innokentij Figurovskij (1863–1931) als Leiter. In nur zwei Jahren wurden zwei neue Kapellen errichtet, eine dritte Schule, ein Waisenhaus, ein Altersheim und eine Druckerei, in der als Erstes ein russisch-chinesisches Wörterbuch erschien. Die Zahl der Anhänger und der Schülerinnen und Schüler wuchs beachtlich. Der Boxeraufstand 1900/01 beeinträchtigte auch die Mission – ca. 220 orthodoxe Gläubige starben und Vieles ging in Flammen auf – aber er brachte keinen nachhaltigen Rückgang mit sich. Der Heilige Synod unterstützte den Wiederaufbau, so dass kurze Zeit später unter der Leitung des jetzt als Bischof amtierenden Innokentij 34 Personen tätig waren. 1914 zählte die Mission über 5.000 chinesische Christen. Außerhalb von Peking wuchs die orthodoxe Präsenz in Shanghai und in der Mandschurei. Nach der Oktoberrevolution stieg besonders in der Mandschurei die Zahl der Gläubigen, ausgelöst durch die große Welle russischer Flüchtlinge. Harbin wurde zum Bischofssitz erklärt, und dutzende neue Gemeinden entstanden in der Region. Die japanische Besatzung (1931–1945) und später der Einmarsch der roten Armee 1945 in der Mandschurei sowie die maoistische Revolution Chinas ab den 1950er Jahren bereiteten der orthodoxen Mission und den dort lebenden Russen große Schwierigkeiten. 1950 wurde der chinesische Geistliche Simeon Du (1886–1965) zum Bischof der orthodoxen Kirche in China unter der kanonischen Autorität des Moskauer Patriarchats ernannt und durch das Regime Maos (1893–1976 ) anerkannt. Dies bedeutete das Ende der russisch-orthodoxen Mission in China und stellte zugleich den Anfang einer autonomen orthodoxen Kirche Chinas dar.
Japan
Nach der Öffnung Japans30 im Jahr 1853 bekam Russland ab 1855 Zugang zu den Häfen Shimoda und Nagasaki und wenig später auch zu Hakodate auf der Insel Hokkaido, wo bald ein russisches Konsulat eröffnet wurde. Für diese diplomatische Vertretung wurde Nikolaj Kasatkin (1836–1912), Student der Geistlichen Akademie in St. Petersburg, 1861 als Geistlicher gefunden.31 Den Zugang zu Einheimischen fand Kasatkin – trotz seines relativ abgeschirmten Daseins im Konsulat – durch einen Gesprächsaustausch, der als Disput mit dem Samurai Takuma (später Paul) Sawabe (1834–1913)[] begonnen hatte. Sawabe – Verwalter eines Shintotempels und scharfer Gegner jeder fremden Einwirkung auf Japan – verwickelte Kasatkin in ein Streitgespräch, das gegen alle Erwartung schließlich zur Konversion des früheren Samurais und zweier seiner Freunde führte. Unter Annahme neuer Taufnamen ließen sich Paul Sawabe, John Sakai (ein Arzt) und Jakobus Urano 1869 im Verborgenen taufen und waren damit die ersten orthodoxen Japaner im Land. Ihnen folgten weitere interessierte Hörer und Taufbewerber. Werbung für den neuen Glauben machte nicht der fremde Geistliche, der keinen Zugang zur einheimischen Gesellschaft hatte, sondern die Konvertiten selbst. Ihre Verkündigung weckte bei mehreren Samurais aus der Region Sendai Interesse an der Orthodoxie. 1871 erreichte Kasatkin die Einrichtung einer offiziellen Mission in Japan.32 Zu seinen missionarischen Grundsätzen zählten das Erlernen der Landessprache, die Rekrutierung von Katecheten unter den Einheimischen, keine Taufe ohne eine solide Unterweisung und die ernsthafte Prüfung der Überzeugung. Durch ein solches Verfahren und weitere katechetische Maßnahmen sollten Konvertiten selbst zu Missionaren werden.33 1872 zählte die Mission 500 Taufbewerber und ca. 100 japanische Christen. Der Staat zeigte sich zunächst wenig tolerant – es galten noch die restriktiven Gesetze gegenüber der Mission –, und einige prominente Christen wurden eingesperrt, kurze Zeit später allerdings wieder freigelassen. Das alles steigerte den Bekanntheitsgrad der japanischen Orthodoxie in der Öffentlichkeit.
1872 übersiedelte Kasatkin nach Tokyo, wo er die Missionszentrale ansiedelte. 1875 wurde hier ein Seminar für die Bildung von Katecheten und künftigen Geistlichen eröffnet. Bald übernahmen ehemalige Schüler selbst die Verantwortung für den Unterricht. Etliche kleine Schulen für Jungen und Mädchen wurden an verschiedenen Orten ins Leben gerufen. Auch russische Schüler und Seminaristen aus Ostsibirien wurden in Tokyo als Sprach- und Theologiestudenten aufgenommen. Im gleichen Jahr wurden die ersten japanischen Geistlichen geweiht: Der ehemalige Samurai Sawabe wurde zum Priester und der Arzt Sakai zum Diakon ordiniert. Weitere fünf Katecheten schickte man 1878 zur Ordination als Priester nach Wladiwostok.
Eine der wichtigsten Maßnahmen Kasatkins war, seiner Kirche eine betont synodale Verfassung zu geben. Ohne auf die traditionell-hierarchische Struktur der Orthodoxie zu verzichten, bezog er alle Arbeitskräfte unter den Laien, Katecheten und dem Klerus in die Arbeit der Synode mit ein. Auf regionaler und Gemeindeebene galten die gleichen Grundsätze, so dass die einheimische Beteiligung an der Gestaltung des kirchlichen Lebens sehr schnell ein beachtliches Maß erreichte. Dies kam der Arbeit Kasatkins zugute, da er weit und breit der einzige orthodoxe Missionar in Japan war und sich nur zeitweilig auf die Hilfe weniger russischer Arbeitskräfte stützen konnte. Die Wirkung dieser konsequent, aber mit Wohlbedacht und Geduld angewandten Verfahrensweise war, dass die Zahl der einheimischen Priester, Katecheten und Gläubigen, verglichen mit der Zahl auswertiger Missionare im Land, alle weiteren westlichen Missionen in den Schatten stellte. Nur wenige Jahrzehnte nach ihrer Gründung war die orthodoxe Kirche in Japan weitgehend eine Angelegenheit japanischer Christen. Einer Statistik für das Jahr 1907 lassen sich die folgenden Zahlen entnehmen: neben einem einzigen fremden Missionar (Nicolai Kasatkin) gab es 37 japanische Priester, 129 nicht ordinierte Helfer und eine Anhängerschaft von gut 30.000 Gläubigen. Im Vergleich dazu hatte die römisch-katholische Mission 124 fremde Missionare im Land und verfügte über 33 einheimische Priester sowie 303 nicht ordinierte Helfer für 61.000 Anhänger.34
Auch in der Krisenzeit des Russisch-Japanischen Krieges (1904–1905) verhielt sich Kasatkin klug, indem er sich weitgehend aus dem öffentlichen Leben der Kirche zurückzog und die Verantwortung der Synode überließ. Gleichzeitig erkannte er die Pflichten japanischer Christen gegenüber ihrem Vaterland an, so dass während des Krieges in den orthodoxen Kirchen für den Sieg Japans gebetet wurde. Die orthodoxe Kirche übernahm eine wichtige Vermittlungsrolle im Blick auf die über 70.000 russischen Gefangenen im Land. 23 japanische Priester und Katecheten mit Kenntnissen der russischen Sprache wurden an verschiedenen Orten für die Seelsorge dieser Gefangenen eingesetzt. Offiziere durften sogar örtliche orthodoxe Gemeindekirchen besuchen.
Nach Kasatkins Tod 1912 führte sein Nachfolger Sergei (1871–1945) die Kirche durch schwierige Zeiten. Die schlechte materielle Lage in Russland erschwerte die finanzielle Unterstützung missionarischer Tätigkeiten, und nach der Oktoberrevolution war die japanische Kirche weitgehend auf sich allein gestellt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Bischof Sergei – wie alle russischen Bürger in Japan – interniert. Eine neue Kirchenverfassung aus dem Jahr 1941 sah vor, dass die Ausübung aller Kirchenämter Japanern vorbehalten war. Daraufhin wurde Iwan Ono (1872–1956), der Dekan der Hauptstadtgemeinde, von der russischen Exilsynode in Karlowitz zum Bischof ernannt. In der Nachkriegszeit kam es zur Spaltung: Während Bischof Ono unter die kanonische Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats zurückkehrte, entstand eine Gruppe um den Priester Samuil Uzawa, die sich an der russischen Kirche in den USA orientierte.
Russisch-orthodoxe Mission und "Russifizierung"
Eine der am intensivsten geführten Debatten über die Mission der russischen Orthodoxie dreht sich um den Begriff "Russifizierung". Darunter versteht man hauptsächlich zwei Elemente: einerseits eine mutmaßliche Indienstnahme der Mission für staatliche Ziele in der kolonialen Expansion; andererseits die vermeintliche Auslöschung und Verdrängung einheimischer Kulturen durch die russisch-orthodoxe Kultur und Religion.
Trotz der zahlreichen Verflechtungen, die gerade im Kontext der Expansion und Stabilisierung russischer Macht in neuen Territorien zwischen Staat und Kirche bestanden, entstand die Mission nicht aus politischem Antrieb und wurde niemals ausschließlich von politischen Absichten geleitet. Vielmehr agierte die Kirche selbst missionarisch. Gerade diese Tatsache weckte das Interesse staatlicher Organe, die Mission für ihre eigenen Ziele zu vereinnahmen. Gegen den pauschalen Verdacht einer bewussten Indienststellung der Kirche für staatliche Zwecke sprechen auch die Erfolge der Mission jenseits russischer Grenzen wie in Alaska nach 1867 oder in Japan. Dort, wo sich die Mission hingegen zu stark an den Staat anlehnte, wie streckenweise in der Islammission oder in China, waren ihre Erfolge bescheiden oder unbeständig. Langfristig war auch staatlichen Vertretern klar, dass eine schwache Mission nicht von Nutzen sein konnte.
Was die Stellung einheimischer Kulturen in der russischen Mission angeht, ist das Bild differenzierter als man vermuten würde. Die russische Orthodoxie bediente sich hauptsächlich der russischen Sprache (einschließlich des Kirchenslawischen als Sprache des Kultus); russische Missionare wurden durch Sprache, Bildung und Sozialisation auch Träger der russischen Zivilisation und vielfach als Vertreter derselben wahrgenommen. In der Mission wurden andere Sprachen und Kulturen lange Zeit vernachlässigt.35 Dennoch ist der Erfolg der russischen Mission im 19. Jahrhundert hauptsächlich einer geänderten Strategie zu verdanken, die von Makarij Glucharev und Innokentij Veniaminov ausging. Das Hauptaugenmerk dieser beiden Missionare lag darauf, die Orthodoxie in den jeweiligen Kulturen zu verorten, was letztendlich zu einer einheimischen Form des orthodoxen Glaubens führte.36 Diese Zielrichtung ging ins sogenannte Il'minskij-System ein, das die Mission auf zwei Säulen aufbaute: Schulbetrieb und Katechese in den einheimischen Sprachen (mit Bereitstellen eines umfangreichen katechetischen Materials und der Übersetzung des kirchlichen Ritus einschließlich der Liturgie) und Heranbildung eines einheimischen Klerus. Diese Maßnahmen wurden zur offiziellen Missionspolitik der russischen Orthodoxie erklärt, wenn auch nicht immer konsequent umgesetzt. Die Entstehung einer einheimischen Orthodoxie aus der russisch-orthodoxen Mission war somit möglich und wurde zum Teil auch gefördert.37 Angesichts dieser langfristigen Entwicklungen ergibt sich ein differenzierteres Bild vom Verhältnis zwischen russischer Orthodoxie und einheimischen Kulturen im Prozess der Christianisierung.
Dennoch ist nicht zu verkennen, dass die russisch-orthodoxe Mission über weite Strecken chronologisch und räumlich parallel zur kolonialen Expansion Russlands stattfand. Dadurch diente sie dieser – bewusst oder unbewusst – auch als starke ideologische Basis mit all den aus dem postkolonialen Diskurs bekannten Elementen.
Afrika: Orthodoxie als antikoloniale Strategie
Abgesehen von der langen Geschichte des griechisch-orthodoxen Patriarchats von Alexandria ist die Ausbreitung der östlichen Orthodoxie im subsaharischen Afrika mit einer Bewegung der Selbstmissionierung verbunden, deren Anfänge jenseits jeder Missionsversuche lagen. 1921 entstand in den USA als Protest gegen den Paternalismus weißer Kirchen die sogenannte African Orthodox Church (AOC).38 Ihre Gründer und Anhänger waren Afroamerikaner, die meist anglikanisch und römisch-katholisch sozialisiert worden waren. Sie hatten zwar wenige Kenntnisse von der Orthodoxie, aber bildeten insofern ein Pendant zu den genannten Kirchen als dass sie nicht mit dem westlichen Imperialismus, Kolonialismus oder Paternalismus in Verbindung standen. Die Vorstellung, eine "afrikanische" Kirche zu haben, die in sogenannter "apostolischer Sukzession"39 stand, übte eine große Faszination aus. Dafür wurden auch entsprechende Verbindungen mit Joseph René Vilatte (1854–1929) geknüpft, dessen Weihe zum Bischof mutmaßlich durch Vertreter des Patriarchates in Antiochien vorgenommen wurde.
Die Bildung einer solchen Kirche beeindruckte über die USA hinaus auch Christen in Südafrika, Südrhodesien (Simbabwe), Kenia und v.a. Uganda. Aus ihrer Sicht verband eine solche nicht-koloniale Kirche das Versprechen einer religiösen Dekolonisierung mit der Garantie einer authentischen Form des Christentums – der Orthodoxie. Nach diesem überraschenden Anfang und einer allmählichen Annährung zum Griechisch-Orthodoxen Patriarchat von Alexandria wurden einige Gruppen der African Orthodox Church (AOC) ins Patriarchat aufgenommen und somit in die Gemeinschaft östlich-orthodoxer Kirchen.
Interessant ist dieses Beispiel gerade im Vergleich zur russisch-orthodoxen Mission. Fand dort die Mission zum Teil unter den Voraussetzungen eines (proto-)kolonialen Systems statt, wurde die östliche Orthodoxie in den USA und Afrika als Zugang zu einer nicht-kolonialen Form des Christentums verstanden und damit als Vorbote der Dekolonisierung. Dass Akteure in Afrika aus dieser Vorstellung auch Kraft schöpften, lässt sich daran erkennen, dass afrikanisch-orthodoxe Gruppen in Uganda bereits in der Zwischenkriegszeit zur protonationalistischen Bewegung und in Kenia zum antikolonialen Kampf des Mau-Mau-Aufstandes in den 1950er Jahren zählten.40
Der orthodoxe Missionsbegriff
Wegen der langen Absenz missionarischer Tätigkeit aufgrund der erwähnten historischen Bedingungen konnte die Suche nach einem genuin orthodoxen Missionsbegriff im 20. Jahrhundert nicht von der Praxis ausgehen, sondern musste als theologische Arbeit ansetzen.41 So hat der Erzbischof von Tirana und ganz Albanien Anastasios Yannoulatos (geb. 1929), eine der erfahrensten Stimmen der orthodoxen Missiologie, im Anschluss an und in Übereinstimmung mit vielen orthodoxen Theologen ausführlich auf die trinitarischen, ekklesiologischen, gemeinschaftlichen etc. Aspekte der Mission hingewiesen.
Mission, as everything in Orthodox life, is not only realized 'in the name of the Father, and of the Son, and of the Holy Spirit', but mainly, it is a participation in the life of the Holy Trinity, an expression of this love with all the power of existence …. Mission is an essential expression of Orthodox self-conscience, a cry in action for the fulfilment of God's will 'on earth as it is in heaven'. … indifference to mission is a denial of Orthodoxy. Orthodox mission, internal or external, is through its nature 'ecclesiastic'. It cannot be understood as an individual or a group activity, separated from the body of Christ. … Mission is the extension of the love of the trinitarian God, for the transformation of the whole world42 ... to become the Church of Christ, in order to become after the end of centuries the heavenly Kingdom of God.43
Über solche eher theoretischen Überlegungen hinausgehend kommt Yannoulatos aber auch zu einer konkreten Beschreibung der Mission, zum Teil in Abgrenzung zu sonstigen Aufgaben der Kirche:
It [mission] is not synonymous with pastoral care, though it is closely linked to it. It is not right to call every spiritual effort 'mission', and to reassure ourselves that our missionary duty ends with church activities. Mission is principally the binding of 'non-believers' to the Church; those who have become indifferent or hostile to the faith; those who refuse, in theory or in practice, the teaching and principles of that faith. The type of sensitivity needed is one that leads the bishops, priests and frequent church-goers to another attitude towards those outside the faith. Not an attitude of antipathy or of crossing swords with them, but an effort to understand their language, problems, reservations, temptations, questionings, sinfulness, even their enmity. It leads, finally, to an attempt to overcome existing barriers through the strength of truth, prayer and love.44
Schwierigkeiten bei der Umsetzung eines solchen Missionsverständnisses verursachen gegenwärtig u.a. ein immer noch "excessive nationalism of the local churches"45 und eine defizitäre Auseinandersetzung mit einigen Aspekten post-moderner Gesellschaften. Es fehlt ebenfalls ein konkretes gesamtkirchliches Bewusstsein für die Bedeutung der Mission.
Fazit
In der westlichen Missionswissenschaft wurde die orthodoxe Mission so gut wie übersehen. Dies ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass sie sich nicht auf den üblichen Feldern der (westlichen) Mission betätigte. Meist war sie zudem in Gebieten im Einsatz, wo zeitgleich keine weiteren Missionen in einem nennenswerten Umfang aktiv waren. Andererseits mangelte es – nicht zuletzt wegen der Sprachbarriere – an konkreten Informationen über die orthodoxe Mission. Hinzu kam, dass viele Teile der Orthodoxie auf lange Sicht keine missionarischen Aktivitäten entfalten konnten, was das Bild über sie mitgeprägt hat. In der Außenwahrnehmung blieb die orthodoxe Mission damit ebenso exotisch wie ihr Gegenstand selbst.
Dennoch kann diese Mission mit Blick auf Territorien, die in Asien historisch bedingt unter dem Einfluss Russlands standen, bleibende Ergebnisse vorweisen. Darüber hinaus sind Spuren orthodoxer Mission auch in China, Japan, auf der koreanischen Halbinsel oder in Alaska zu finden. Die Spezifika der orthodoxen Mission im Konzert weltweiter christlicher Missionen ergeben sich aus der Kombination ihrer Elemente: Auf der einen Seite bediente sich diese Mission (v.a. im 19. Jahrhundert) aller modernen Instrumente, die ihr im Allgemeinen einen Vorsprung verschafften: Bildung, Medizin, Spracherschließung, Buchdruck, neue technische Erkenntnisse etc. Auf der anderen Seite trug sie – weitgehend ohne den Druck konfessioneller Konkurrenz – der eigenen Tradition und dem orthodoxen Ethos Rechnung. An manchen Orten entstanden in Synthese mit den lokalen Kulturen indigene Formen des Christentums (wie in Alaska oder Sibirien), die von Einheimischen nicht als etwas Fremdes empfunden wurden. Dort, wo die äußeren Bedingungen vom Kolonialismus geprägt waren, ist auch die orthodoxe Mission von der zeitüblichen Problematik belastet. Dennoch zeigt das afrikanische Beispiel, welches Potential in der Orthodoxie gerade in diesem Kontext entfaltet wurde.
Gegenwärtig ist auch die orthodoxe Kirchengemeinschaft global verbreitet. Zu dieser Verbreitung trug allerdings nicht – primär – die Mission, sondern die Migration vieler orthodoxer Christen aus Osteuropa und dem Nahen Osten bei. Diese verließen ihre angestammten Gebiete hauptsächlich in den letzten 100 Jahren in unterschiedlichen Wellen, beginnend mit der Oktoberrevolution von 1917 im Zarenreich, und in den letzten Jahren aufgrund anhaltender Konflikte in muslimisch geprägten Ländern. Diese Migration führte mancherorts zur Etablierung von Diaspora-Gemeinschaften, die sich über Jahrzehnte nachhaltig entwickelt haben. Die Diasporasituation stellte orthodoxe Gemeinschaften vor neue Herausforderungen. Sie trug zu einem dynamischen Prozess der Selbstfindung und zum Teil Neufindung bei, der sich aufgrund ihrer Existenz in einer Umwelt ergab, die sich teils radikal vom Kontext der Heimatregionen unterschied.