Einleitung
Ein Standardwerk zur (politischen) Geschichte der Balkanländer charakterisiert die Region wie folgt:
An der Nahtstelle zweier Kontinente gelegen war die Balkanhalbinsel durch die Jahrhunderte den verschiedenartigsten äußeren Einwirkungen ausgesetzt gewesen. Sie ist als klassisches Übergangs- und Durchzugsgebiet in die Geschichte eingegangen, als eine Begegnungszone der Völker und Kulturen, an der in gleicher Weise der Okzident wie der Orient, die westlich-abendländische und die orientalische und asiatische Welt, der kontinentaleuropäische und der mediterrane Bereich Anteil haben.1
In der Tat war und ist der Balkan ein Ort vielfältiger kultureller Transfers und Kontakte sowie ausgeprägter sprachlicher und religiöser Vielfalt. Diese sind einerseits Resultat der historischen Zugehörigkeit zu unterschiedlichen, über die Region hinausreichenden politischen Gebilden, andererseits aber auch bedingt durch die Globalisierung und die diese Region auszeichnenden intensiven Migrationsbewegungen.
Doch macht dies den Balkan zu einer generischen Grenzregion – oder war Heterogenität nicht eher der Normalzustand menschlicher Vergesellschaftung, bevor das Prinzip des homogenen Nationalstaats seine Weltsicht dominant werden ließ? Bilden Regionen nicht immer auch Grenzräume, selbst wenn sie nicht an einer physisch-politischen Grenze liegen, da es in ihnen kulturelle und soziale Grenzen gibt? "Zwischen Europa und Orient" ist eine vielfach für den Balkan zu hörende Metapher – es ist vermutlich als für die Region gutes Zeichen zu werten, dass die VolkswagenStiftung mit ihrem gleichnamigen Programmschwerpunkt heute den Kaukasus und Mittelasien, nicht aber den Balkan meint.2 Definiert nicht vor allem der Standort des Betrachters, was als Grenzraum angesehen wird? Vom Balkan aus gesehen kann diese Region auch im Zentrum eines Weltbilds stehen und die umliegenden Regionen als Grenzen wahrnehmen. Was sind schließlich "Europa" und "Asien", wenn nicht ebenfalls überaus heterogene, mit anderen Teilen der Welt vielfach verflochtene Regionen und somit immer auch eine Grenze? Ist nicht eigentlich ohnehin Dazwischensein "normal", während uns (vermeintlich) eindeutige Zugehörigkeiten zu denken geben sollten? Die Tatsache, dass das Anwachsen des geistes- und sozialwissenschaftlichen Interesses für Grenzregionen und ihre kulturelle Vielfalt mit dem Verblassen der Meistererzählungen der Moderne und der Nation einhergeht, deutet jedenfalls auf eine außerempirische Grundlage der Wahrnehmung von Räumen als Grenzräumen hin.
Gerade für den Balkan muss gefragt werden, ob in seiner Konzeptualisierung als Grenzraum nicht Stereotypisierungen mitschwingen, die den Balkan als nicht ganz europäisch verorten und damit diskursiv marginalisieren. Schließlich wurde bereits auf die wichtige Rolle von Grenzmetaphern bei der kulturellen Konstruktion eines üblicherweise abwertenden, jedenfalls aber verzerrenden Balkanbildes in Westeuropa (und Nordamerika) im 19. und 20. Jahrhundert hingewiesen.3 Reisende, die die Grenze der Habsburgermonarchie in das Osmanische Reich oder nach Serbien hinein passierten, schilderten diesen Grenzübertritt häufig wie einen Schritt von Europa in eine andere, orientalisch geprägte Welt und schufen somit einen Grenzraummythos. Der Balkan wurde daher diskursiv weniger durch Ignoranz als durch eine Ontologisierung der Marginalität, des Grenzraumseins ausgeschlossen; diese externe Zuschreibung ist so wirkmächtig, dass sie sich zuweilen in Selbstbildern der in der Balkanregion lebenden Menschen widerspiegelt.4
Die Beschreibung des Balkans als Grenze – zumal zwischen normativ so aufgeladenen Kategorien wie Okzident und Orient, Westen und Osten, Europa und Asien – kritisch zu dekonstruieren bedeutet jedoch nicht, das "Kind mit dem Bade auszuschütten". Zum einen stellt sich die Frage, ob die Wahrnehmung einer Großregion als Grenzraum nicht auch heuristisches Potenzial für das Verständnis von Gegenden birgt, die gemeinhin nicht als Grenzregionen wahrgenommen werden. Zum anderen kann der Begriff Grenzraum anders als in einem geographisch-physischen Sinne verstanden werden, nämlich als eine spezifische Schnittmenge von unterschiedlich konfigurierten Interaktionsräumen und Kommunikationsnetzwerken – die Spezifik einer Region bestimmt sich nach deren Anordnung. Zudem ist es ein historisches Faktum, dass durch die Balkanregion wiederholt wichtige politische Grenzen liefen, die nachhaltige Folgen für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung zeitigten. Insofern muss die Frage nach dem Balkan als Grenzraum um jene nach den Grenzen am Balkan ergänzt werden.
Terminologie
"Balkan" ist mehr als eine vermeintlich neutrale Bezeichnung für eine spezifische geographisch fassbare Entität; vielmehr hat dieser Name eine konkrete Geschichte, die zu massiver kultureller Aufladung geführt hat. Das Wort "Balkan" stammt aus dem Türkischen, wo es einen bewaldeten Berg bezeichnet. Als Bezeichnung für eine Großregion wurde "Balkan" im Jahr 1808 vom dem deutschen Geographen August Zeune (1778–1853) auf Grundlage der irrigen Annahme vorgeschlagen, dass das im heutigen Bulgarien gelegene Balkangebirge (griechisch Haemus, bulgarisch Stara Planina) vom Schwarzen Meer bis zur Adria reiche, also einen großen Teil der Halbinsel umfasse. Der geographische Irrtum wurde bald herausgefunden, weshalb andere Autoren als Alternative zu "Balkan" und "Balkan-Halbinsel" Bezeichnungen wie "Südosteuropäische Halbinsel" (Johann Georg von Hahn (1811–1869), 1863) oder "Südosteuropa" (Theobald Fischer (1846–1910), 1893) vorschlugen.5 Durchsetzen konnten sich diese Begriffe aber erst im Zuge der schrittweisen Zurückdrängung der osmanischen Herrschaft, denn wenigstens bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren Bezeichnungen wie "Europäische Türkei" gebräuchlicher.
Die Debatte über die richtige Benennung der Region entzündete sich an zwei Faktoren: Zum einen schlugen vor allem im deutschsprachigen Raum Autoren "Südosteuropa" als vermeintlich neutrale Alternative zu dem negativ konnotierten "Balkan" und seinen Derivaten vor.6 Insbesondere das nach dem Ersten Weltkrieg geläufige Schlagwort der "Balkanisierung" schien "Balkan" als Bezeichnung für eine geographisch gefasste Region problematisch zu machen. Allerdings erfuhr während des Nationalsozialismus der Begriff "Südosteuropa" ebenfalls eine politisch induzierte normative Aufladung im Kontext nationalsozialistischer Beherrschungspläne ("Ergänzungsraum Südosteuropa"); die Südosteuropaforschung im Dritten Reich verstand sich als ausgesprochen politische Wissenschaft.7 Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte daher in der nicht-deutschsprachigen Forschung und Publizistik wieder "Balkan" als Bezeichnung für das südöstliche Europa; englischsprachige Überblicksdarstellungen der Geschichte der Region führen üblicherweise "Balkans" im Titel, selbst jene, die ausführlich auf die habsburgischen Gebiete eingehen.8 Eine Darstellung der Geschichte der Region im 20. Jahrhundert evoziert im Titel interessanterweise die Europäisierung der Region durch die terminologische Transition von "Balkan" zu "Südosteuropa".9 Im deutschsprachigen Raum blieb hingegen "Südosteuropa" die vorherrschende Benennung der Region, wie sich an den ihrer Erforschung gewidmeten Institutionen zeigen lässt, wiewohl es auch hier Ausnahmen gibt.10
Ein zweiter Faktor, der die Debatte um die korrekte Regionsbezeichnung lebendig hält, ist die Schwierigkeit, eine Region namens "Balkan" oder "Südosteuropa" geographisch befriedigend zu definieren. Scheint nach Westen, Süden und Osten die Abgrenzung durch Meere (Adria, Ionisches Meer, Marmarameer, Schwarzes Meer) klar, gibt es nach Norden hin keine natürliche Grenze. Doch selbst wenn es eine solche gäbe, bliebe zu fragen, ob für die Konstituierung einer Geschichtsregion physische Grenzen von besonderer Bedeutung sind. Aus diesem Grund ist auch der Verweise auf die Meere als Grenzen hinterfragbar:11 Während der langen osmanischen Herrschaft beispielsweise stellte der Bosporus weniger eine Grenze denn eine Verbindung zwischen den europäischen und asiatischen Teilen des Osmanischen Reichs dar, deren Geschichte sinnvollerweise nur in einem Zusammenhang geschrieben werden kann.12
Ein ähnliches Argument kann für das adriatische Küstengebiet und die ionische Inselwelt herangezogen werden, die lange Zeit etwa stärker mit Venedig interagierten (zum Teil als venezianisches Herrschaftsgebiet) als mit dem binnenbalkanischen Hinterland. Für die Bestimmung einer Region als sinnvolle historische Geschehenseinheit ist die Frage, ob sich naturräumliche Abgrenzungen finden lassen, weniger relevant als die Existenz eines Clusters von Entwicklungssträngen, welche die unterschiedlichen Gebiete einer Großregion miteinander verbinden und von anderen Regionen unterscheiden. Dies gilt nicht für das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein einer bestimmten Eigenschaft, sondern in Bezug auf die Kombination mehrerer Faktoren. Eine wichtige Kategorie ist dabei jene des historischen Erbes (legacy), das das Weiterwirken von historischen Weichenstellungen und Prozessen über ihren unmittelbaren Entstehungszusammenhang hinaus impliziert.13
In diesem Sinne hat sich wenigstens in der deutschsprachigen Forschung eine relativ deutliche Unterscheidung zwischen "Balkan" und "Südosteuropa" eingebürgert. Während letztere Kategorie weiter gefasst ist und in unterschiedlichen Zusammenhängen auch Slowenien, die Slowakei, Ungarn, die Republik Moldau und Teile der Ukraine umfasst – oder eben auch nicht –, wird die Balkanregion als eine Geschichtsregion betrachtet, die sich durch ein vergleichsweise klares Bündel von Charakteristika auszeichnet und damit von anderen Regionen Europas unterscheidet. Von einer Reihe von Merkmalen will ich hier nur die beiden in diesen Bestimmungsversuchen wichtigsten erwähnen: das byzantinisch-orthodoxe Erbe einerseits, die osmanische Herrschaft und ihre Folgen andererseits. So gefasst reicht die Balkanregion geographisch im Norden bis an die Flüsse Save und Donau, also an die sich im frühen 18. Jahrhundert konsolidierende Grenze zwischen Habsburgerreich und Osmanischem Reich bzw. die Grenze zwischen den bis in das 19. Jahrhundert unter osmanischer Souveränität stehenden, aber autonomen Fürstentümern Walachei und Moldau sowie dem osmanischen Kerngebiet.14 Das historische Ungarn (inklusive Kroatiens) wird nach dieser Bestimmung nicht zum Balkan gezählt, da die rund 150-jährige osmanische Herrschaft über diese Gebiete relativ wenige Spuren hinterließ (etwa aufgrund der demographischen Diskontinuität) und hier von einem byzantinisch-orthodoxen Erbe nur am Rande gesprochen werden kann.15
Historischer Abriss (ca. 1450–1950)
Der imperiale Kontext
Ein für die Wahrnehmung des Balkans als Grenzraum zentrales Ereignis wird mit der osmanischen Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 markiert, die sowohl von den Zeitgenossen als auch in heutigen Geschichtsbildern als Zäsur wahrgenommen wird, trotz der vielfachen Kontinuitäten zwischen Byzantinischem und Osmanischem Reich. Dem Fall Konstantinopels vorausgegangen war eine beinahe kontinuierliche Ausdehnung des osmanischen Herrschaftsgebiets im südöstlichen Europa seit der Eroberung von Gallipoli (1354). 1453 stellte nicht den Endpunkt in dieser Entwicklung dar, denn bis 1672 expandierte das Osmanische Reich in Europa bis in das Gebiet der heutigen Ukraine (Podolien).16 Für die europäischen Zeitgenossen bedeutete die osmanische Eroberung das Vordringen des Islam nach Europa, weshalb zwei erfolglose Kreuzzüge durchgeführt wurden (1396 und 1443/1444). Südosteuropa wurde somit zum Ort einer als wesentliche zivilisatorische Grenze angesehenen Scheidelinie, nämlich jener zwischen Islam und Christenheit, wobei diese Vorstellung von beiden Seiten – den muslimischen Osmanen und dem christlichen Europa – geteilt und propagiert wurde. Befeuerte das Vordringen der Osmanen ins christliche Europa anti-islamische Stereotype, die sich im 19. Jahrhundert zu orientalistischen Stigmatisierungen verfestigen sollten, so war der Balkan aus der Perspektive der Osmanen ein möglichst auszudehnender Grenzraum zwischen dem (islamischen) "Haus des Friedens" (Dār al-Islām) und dem "Haus des Krieges" (Dār al-Ḥarb), also jenen Gebieten, die noch nicht in den islamischen Herrschaftsbereich eingegliedert waren. Mithin verfestigte die osmanische Eroberung des Balkans im übrigen christlichen Europa das Bild einer andersartigen, zur Häresie neigenden Region, das bereits mit dem Schisma von 1054, als sich Ost- und Westkirche endgültig voneinander trennten, entstanden war.17 Mit dem "großen Schisma" gewann die 395 beschlossene Teilung des Römischen Reiches in eine westliche und östliche Hälfte eine bis heute wirkende konfessionelle Bedeutung.
Das osmanische Vordringen schuf auch in einem wesentlich engeren Sinn neue Grenzräume, da sich an der lange Zeit fluktuierenden Grenze zwischen dem osmanischen Herrschaftsgebiet und seinen christlichen Nachbarn neuartige Konfigurationen herausbildeten. Zum einen ist auf die Praxis der Osmanen zu verweisen, in den jeweiligen Grenzgebieten muslimische Kolonisten aus Anatolien anzusiedeln und die Konversion von Christen zum Islam mit besonderem Nachdruck zu betreiben (wobei sich hinter der Islamisierung äußerst komplexe und in der Forschung bis heute umstrittene Prozesse verbergen; Gewalt im engeren Sinne spielte eine untergeordnete Rolle). Im heutigen Bulgarien, das im 14. und 15. Jahrhundert Grenzland war, bevor die osmanische Expansion nach Norden weiter voranschritt, wurden z. B. Yürüken (muslimische Nomaden aus Anatolien) ebenso wie anatolische Türken zur Grenzbefestigung angesiedelt.18 Die rasche und breite Konversion zum Islam in Bosnien hängt vermutlich ebenfalls mit dem Grenzlandstatus dieser Provinz zusammen, und ein ähnliches Szenario lässt sich für Kreta nach der osmanischen Eroberung der Insel (1645–1669) annehmen.19 Eine weitere Besonderheit der Kontrolle der Grenzgebiete war die osmanische Praxis, weit von der Hauptstadt Konstantinopel entfernt liegende Gebiete in der Regel nicht direkt in die zentralen Verwaltungsstrukturen des Reiches zu integrieren, sondern ihnen einen vasallenähnlichen Status mit einem unterschiedlich ausgeprägten Ausmaß an innerer Autonomie zu verleihen. Dies betraf im südöstlichen Europa die Republik Ragusa (Dubrovnik), die Fürstentümer Siebenbürgen, Walachei und Moldau sowie das Chanat der Krim.20
Auf der anderen Seite der Grenze entwickelten die Nachbarn des Osmanischen Reiches ebenfalls spezielle Regime, um ihre Grenzen zu befestigen und zu verteidigen. In der Habsburgermonarchie wurde bereits 1535 die Institution der Militärgrenze etabliert, die nach den großen habsburgischen Eroberungen im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert sowie dem letztlichen Friedensschluss mit dem Osmanischen Reich im Frieden von Belgrad (1739) von der Adria im Westen bis in die Gegend des heutigen rumänischen Banats reichte. Die Militärgrenze zeichnete sich durch eine Reihe von besonderen Regularien bezüglich ihres Rechtsstatus aus:21 Das Gebiet wurde in mehrere Abschnitte unterteilt und von Wien aus direkt verwaltet. Um es nach den Verwüstungen des österreichisch-osmanischen Krieges wieder zu besiedeln, wurden Kolonisten mit der Vergabe von Land und der Befreiung von feudalen Verpflichtungen sowie Steuervorteilen angelockt. Allerdings mussten diese dafür Militärdienst leisten und unterlagen Mobilitätsbeschränkungen; zudem untersagten die Militärbehörden die Teilung von Haushalten. Der Status der wehrbäuerlichen Bevölkerung war dennoch so attraktiv, dass sowohl viele Christen (zumeist Orthodoxe) aus dem Osmanischen Reich als auch Bewohner aus anderen Teilen Österreichs in die Militärgrenze übersiedelten, was zu einer ausgesprochenen ethnischen Heterogenität führte. Auf venezianischem Gebiet wurde eine vergleichbare Grenzorganisation geschaffen.22 Die habsburgische Militärgrenze erwies sich als langlebig und wurde, trotz sinkender militärischer Bedeutung, erst 1881 endgültig aufgelöst. Nachhaltig waren auch die gesellschaftlichen Folgen: Aufgrund der diversen Beschränkungen, der Priorisierung militärischer Kalküle sowie der schlechten infrastrukturellen Erschließung entstand ein merklicher ökonomischer Entwicklungsabstand der Militärgrenze zu den zivil verwalteten Gebieten; dieser ist z. B. im Falle der kroatischen Krajina noch heute zu beobachten.
Die Eroberung der diversen, während des Mittelalters entstandenen und mehr oder weniger selbständigen südosteuropäischen Staatswesen durch die Osmanen sowie das Vordringen der Habsburger nach Südosteuropa markierten den Beginn einer als imperial zu beschreibenden Epoche der Geschichte des Balkans, die bis zu den Balkankriegen und dem Ersten Weltkrieg andauerte. Angesichts der Komplexität der imperialen Erfahrung kann hier nur in verkürzter Form auf einige ihrer zentralen Elemente eingegangen werden. An erster Stelle ist darauf zu verweisen, dass die Einbindung des Balkans in imperiale Kontexte (dies betrifft auch das venezianische Kolonialreich) die Region in unmittelbare Verbindung mit anderen Teilen des jeweiligen Reichs brachte. Das Kriegsglück der Osmanen in Südosteuropa korrelierte beispielsweise mit den Verhältnissen im Osten des Reiches, in dem es regelmäßig zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Osmanen und den Persern kam. Gleichzeitig waren die Geschicke der drei Reiche durch Kriege, Handel, Diplomatie und andere Faktoren miteinander aufs Engste verflochten.23
Die politische Entwicklung der Region wurde nun maßgeblich in Hauptstädten bestimmt, die am Rande (Konstantinopel) oder außerhalb des Balkangebietes (Wien, Venedig, später auch Budapest) lagen. Dies bedeutete keinesfalls, dass lokale Eliten bedeutungslos gewesen wären. So betrieben die Imperien eine Politik der Kooptierung von lokalen Notabeln, die im Falle der Illoyalität allerdings in physische Vernichtung umschlagen konnte. Besonders ausgeprägt war der Handlungsspielraum lokaler Eliten in den nicht direkt in die osmanischen Verwaltungsstrukturen eingebundenen Reichsteilen, wie in den beiden Fürstentümern Walachei und Moldau, die über ihre eigenen Fürsten und einen grundbesitzenden Adel (Bojaren) verfügten, während die osmanische Zentralmacht nur rudimentär präsent war. Aber auch in nominell direkt verwalteten Gebieten gab es diverse Sonderregelungen, z. B. für Bevölkerungsgruppen, die besondere Leistungen für den Sultan erbrachten. Österreich(-Ungarn) wies mit seinem Charakter eines Konglomeratsstaates ohnehin eine dezentrale Struktur auf, die nur zeitweise (vor allem während des Neoabsolutismus) hinter die zentrale Machtausübung zurücktrat. Im Osmanischen Reich konnten darüber hinaus dank der prinzipiell meritokratischen Rekrutierung auch Personen aus ärmlichen Verhältnissen in die Verwaltungselite aufsteigen, sofern es sich um – egal ob seit der Geburt oder durch Konversion – Muslime (und Männer) handelte. Eine Reihe von Großwesiren hatte einen südslawischen, albanischen oder griechischen Hintergrund.
Mit der Zugehörigkeit des Balkans zu den drei Reichen gingen unterschiedliche Gesellschaftsordnungen einher, wobei es in jedem Reichsgebilde eine große regionale Heterogenität gab. Dies galt in besonderem Maße fü24 Fundamental waren die Unterschiede in der Agrarordnung, die angesichts der überragenden Bedeutung der Landnutzung (der Urbanisierungsgrad des Balkans war bis in das 20. Jahrhundert hinein sehr niedrig) für das Leben der allermeisten Menschen entscheidend war. Im habsburgischen Gebiet herrschten, mit Ausnahme der Militärgrenze, feudale Zustände. Im von Venedig kontrollierten Gebiet dominierte das sogenannte Kolonat, eine der Teilpacht vergleichbare Eigentumsform. Im Osmanischen Reich, in dem das meiste Land dem Sultan gehörte, waren Bauern prinzipiell frei und genossen ein vererbbares Nutzungsrecht des ihnen zugewiesenen Bodens.25 Die ausgesprochen kleinbäuerliche Struktur der serbischen und bulgarischen Landwirtschaft bis zur kommunistischen Machtübernahme nach dem Zweiten Weltkrieg stellte ein unmittelbares Erbe dieser Eigentumsordnung dar. Es war ein Anzeichen der Schwächung des Sultans, dass sich vor allem im 17. und 18. Jahrhundert eine Art erblicher Großgrundbesitz herausbilden konnte und Bauern teils in einen von lokalen Notabeln abhängigen Status herabsanken. Allerdings stellten Latifundien vom Typ des sogenannten çiftlik (türkisch für "Bauernhof, Landgut") selbst in ihren zentralen Verbreitungsgebieten nicht die dominante Form der Landnutzung dar.26 Der Antagonismus zwischen dem Sultan und den nach Autonomie strebenden lokalen Eliten war jedenfalls ein Grundmuster osmanischer Politik, bis im Rahmen der Reformen des 19. Jahrhunderts die Zentralmacht wieder die Oberhand gewann. In jenen Gebieten des osmanischen Balkans, die von Konstantinopel indirekt kontrolliert wurden, herrschten althergebrachte Eigentumsordnungen vor, wie Großgrundbesitz mit Leibeigenschaft in den rumänischen Fürstentümern oder tribale Besitzgemeinschaften in den durch Schaf- und Ziegenzucht geprägten Gebirgsregionen im Westen des Balkans.
Ein weiterer für die Gesellschaftsordnung relevanter Faktor war die Art und Weise, wie in der jeweiligen Reichsordnung die Bevölkerung differenziert wurde. Die Elite war sowohl im osmanischen als auch im habsburgischen Herrschaftsgebiet ausgesprochen multiethnisch, aber dafür typischerweise monokonfessionell: muslimisch im einen, katholisch im anderen Fall. Während das Habsburgerreich bis in das 19. Jahrhundert ständisch organisiert war, wies die vertikale soziale Hierarchie des Osmanischen Reiches eine größere Durchlässigkeit in beide Richtungen auf.
Für die gesellschaftliche Praxis wichtig war insbesondere die Frage des Umgangs mit der religiösen und sprachlichen Vielfalt, welche die beiden Reiche auszeichnete: Obwohl die Habsburger sich als Vorkämpfer des römisch-katholischen Glaubens verstanden, waren sie doch aus herrschaftsstrategischen Überlegungen zu Konzessionen an andere Glaubensgemeinschaften bereit: So wurde nach der Ansiedelung vieler orthodoxer Christen (vor allem Serben) im Habsburgerreich nach dem langen Krieg gegen die Osmanen im Gefolge der zweiten osmanischen Belagerung von Wien (1683) den Angehörigen dieser Kirche im Jahr 1713 die Einrichtung eines eigenen Bischofssitzes in Sremski Karlovci (Karlowitz) zugestanden. Dieser Metropolitensitz sollte sich zum religiösen und auch kulturellen Zentrum der orthodoxen Serben entwickeln. Nach der Okkupation Bosnien-Herzegowinas wurden auch die Muslime von Seiten des Staates als Religionsgemeinschaft anerkannt. Darüber hinaus wiesen die südosteuropäischen Randzonen der Habsburgermonarchie einen vergleichsweise hohen Anteil von Protestanten auf, die im Zuge der Rekatholisierung der habsburgischen Kernlande dorthin umgesiedelt bzw. die im Rahmen von Wiederbesiedelungsmaßnahmen dort ansässig wurden.27
Im Osmanischen Reich war Religionszugehörigkeit ein zentrales Unterscheidungsmerkmal: Gemäß der Tradition islamischer Staats- und Rechtslehre verstanden die Osmanen ihr Reich zwar als islamisches (und die Verbreitung des Islam als wichtige Aufgabe), doch sie gewährten den Angehörigen der anderen Buchreligionen Glaubensfreiheit. Die Religionsgemeinschaften bildeten korporatistische Verbände (millet), deren Oberhaupt mit dem Sultan Belange der jeweiligen Gläubigen verhandelte und die nach innen, etwa im Familienrecht, autonom waren.28 Für den Balkan besonders bedeutsam war die schrittweise Zusammenfassung aller Orthodoxen unter der Autorität des Patriarchen von Konstantinopel. Da das Patriarchat vom wohlhabenden, griechischsprachigen Kaufmannsmilieu im Fanar-Viertel der Hauptstadt (daher auch Fanarioten genannt) dominiert wurde, erhielt die orthodoxe Kirche ein dezidiert griechisches Antlitz. Die Dominanz des Griechischen als Liturgiesprache auch in den nichtgriechischen Gebieten des Balkans sollte zum Ausgangspunkt der bulgarischen Nationalbewegung werden, die ihren ersten Erfolg mit der Einrichtung einer autokephalen bulgarischen Kirche durch den Sultan im Jahr 1870 feierte.
Die Bedeutung von Sprache für die Organisation von Staat und Gesellschaft sowie für die Bestimmung von Zugehörigkeit entwickelte sich im Osmanischen und Habsburgischen Reich unterschiedlich. Das Osmanische Reich war ein nur oberflächlich bürokratisiertes Staatswesen, in dem sich erst im 19. Jahrhundert eine im Ansatz moderne Verwaltung herausbildete. Das Schulwesen blieb rudimentär bzw. den Religionsgemeinschaften überlassen, und nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung verfügte bis zum Untergang des Reiches über Lese- und Schreibkenntnisse. In einem solchen Milieu spielten Fragen des offiziellen Sprachgebrauchs eine geringere Rolle für gesellschaftliche Mobilität als im Habsburgerreich mit seinem deutlich umfangreicheren Verwaltungs- und Schulapparat. Spätestens im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Frage der Amtssprache zu einem der zentralen politischen Konfliktpunkte insbesondere in den multilingualen Peripherien Österreichs bzw. Österreich-Ungarns nach dem Ausgleich von 1867, da die offizielle Anerkennung der jeweiligen Muttersprache und die Schaffung eines auf dieser Sprache beruhenden Verwaltungsapparats Aufstiegsmöglichkeiten eröffnete. Österreich und Ungarn sollten hierbei unterschiedliche Wege gehen: Während die österreichische Reichshälfte (Cisleithanien) in einem kontroversen Prozess lokale Umgangssprachen in den amtlich-offiziellen Sprachgebrauch aufnahm, betrieb die Regierung der ungarischen Reichshälfte (Transleithanien) im Sinne der angestrebten Magyarisierung eine Politik der Marginalisierung der Sprachen anderer Nationalitäten.29 Es ist bezeichnend, dass für die gegen die osmanische Herrschaft gerichteten Nationalbewegungen (mit Ausnahme der albanischen) die Frage des Sprachgebrauchs keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielte (auch die bulgarische Sprachopposition richtete sich nur gegen die Dominanz des Griechischen im kirchlichen Bereich, nicht gegen das Osmanotürkische).
Mit dem Aufkommen nationaler Bewegungen im 19. Jahrhundert deutete sich die Möglichkeit einer politischen Organisation jenseits des imperialen Prinzips an. Man würde jedoch in die Falle des vom ideologischen Apparat des Nationalstaats entworfenen teleologischen Selbstbildes tappen, wenn man eine geradlinige Entwicklung von den ersten Artikulationen des Nationalen am Balkan hin zur Entstehung unabhängiger Nationalstaaten annähme. Zum einen blieben die Vorstellungen von einer Nation lange Zeit vage und in ihrem konkreten Inhalt umstritten sowie auf eine kleine gesellschaftliche Elite beschränkt, während sich die bäuerliche Mehrheit in der Regel über die Gründung von Nationalstaaten hinaus in anderen als nationalen Begrifflichkeiten bestimmte.30 Selbst der erste heute als nationale Erhebung gedeutete Aufstand (der serbische von 1804) brach aufgrund sehr spezifischer lokaler sozialer und politischer Probleme aus und richtete sich anfänglich nicht gegen die Herrschaft des Sultans.
Zum anderen entstanden Nationalstaaten am Balkan nicht nur in Folge der Stärke nationaler Bewegungen; vielmehr spielte die Politik der europäischen Großmächte, die im Zeichen der Orientalischen Frage am Balkan ihre Interessen durchzusetzen versuchten, eine zentrale Rolle.31 Russland als selbsterklärte Schutzmacht der Orthodoxen war besonders stark involviert und sowohl für die Etablierung eines autonomen serbischen Fürstentums (Anerkennung durch den Sultan 1830) als auch des bulgarischen Fürstentums (1878) ausschlaggebend. Die Schaffung eines unabhängigen Albaniens 1913 war nicht so sehr Ergebnis der albanischen Nationalbewegung, sondern der imperialen Interessen Österreich-Ungarns und Italiens. Der 1821 ausgebrochene griechische Aufstand wäre wohl gegen die osmanisch-ägyptische Übermacht auch aufgrund innerer Konflikte gescheitert, hätten nicht Frankreich, Großbritannien und Russland zugunsten der Griechen militärisch interveniert. Im österreichisch-ungarischen Kontext bedurfte es ohnehin der Niederlage im Ersten Weltkrieg, bis sich neue Staaten auf dem Territorium der einstigen Doppelmonarchie bilden und sich somit jene Strömungen der jeweiligen Nationalbewegungen durchsetzen konnten, die bis in den Weltkrieg hinein deren extremen Rand gebildet hatten, während der Mainstream nach Autonomielösungen innerhalb der Monarchie gestrebt hatte.
Auch im 20. Jahrhundert blieb Südosteuropa ein Gebiet, auf das europäische Großmächte ihre Herrschaftspläne nicht nur projizierten, sondern auf dem sie sie auch umsetzten. Dabei versuchten Großmächte wiederholt, (vermeintlich) loyale Gruppierungen für ihre Sache zu gewinnen. Während des Zweiten Weltkriegs manifestierte sich diese Politik unter Anderem in der Schaffung eines faschistischen kroatischen Vasallenstaats durch Nazi-Deutschland sowie eines mit Italien verbundenen Großalbanien.
Die Ära des Nationalstaats
Mit der Gründung von Nationalstaaten einher ging das Ziehen neuer Grenzen, sowohl im Sinne von Staatsgrenzen als auch von politisch-kulturellen Grenzziehungen. Vom Selbstverständnis her betrachteten die neuen nationalen Eliten die Staatsbildung als einen Bruch mit der imperialen Vergangenheit, als Absetzbewegung vom vermeintlich orientalischen Balkan und als Anschluss an "Europa". Durch die neuen Grenzen wurden allerdings auch vielfältige Kommunikations- und Interaktionswege unterbrochen, was sich z. B. negativ auf die Wirtschaft ganzer Regionen auswirken konnte. Für die vielen mobilen Bevölkerungsgruppen des Balkans erwiesen sich die neuen Staatsgrenzen als großes Hindernis, das ihre traditionelle Lebensweise nach und nach unmöglich machte.
Neu gezogen wurden auch die Grenzen von Zugehörigkeit. Im Laufe des späten 19. Jahrhunderts setzten sich in Südosteuropa allenthalben ethnische Bestimmungen von Nation durch (wiewohl sie nicht alternativlos blieben); nationale Ideologien betonten die gemeinsame Kultur (ausgedrückt insbesondere in der Vorstellung einer gemeinsamen Sprache) sowie die geteilte Abstammung. Die Betonung der Religionszugehörigkeit als Quelle nationaler Identität gestaltete sich hingegen deutlich ambivalenter: So verstand sich die albanische Nationalbewegung als überkonfessionell, um sowohl muslimische als auch katholische und orthodoxe Albanischsprachige zu integrieren; im kroatischen und serbischen nationalen Diskurs wurden die Muslime Bosniens lange Zeit für die eigene Nation reklamiert; im rumänischen Falle gehörten Kleriker der in Siebenbürgen stark präsenten Unierten Kirche (Sitz im Bistum Blaj / Blasendorf) zu den Vordenkern der nationalen Ideologie; und das orthodoxe Patriarchat in Konstantinopel sah völlig zu Recht in den diversen Nationalbewegungen die Gefahr der Aufspaltung der orthodoxen Ökumene.32
Aus der Spannung zwischen dem ethno-kulturellen Nationsverständnis einerseits und der sprachlich-ethnischen Heterogenität andererseits resultierte eine besondere Dynamik des Nationalismus in Südosteuropa, die sich im Fortdauern des Prozesses der Nationalstaatsbildung – in den meisten Fällen qua Sezession – bis heute äußert. Griechenland erlangte 1830 als erster Nationalstaat am Balkan seine Unabhängigkeit, Kosovo als jüngster 2008. Dazwischen liegen Rumänien (Vereinigung 1861, Unabhängigkeit 1878), Serbien (Autonomie 1817/1830, Unabhängigkeit 1878 und erneut 2006), Montenegro (Unabhängigkeit 1878 und 2006), Albanien (1913), Slowenien (1991), Kroatien (1941 als deutscher Vasallenstaat in Form des "Unabhängigen Staates Kroatien" / NDH, als Republik Kroatien 1991), Makedonien (1991) und Bosnien-Herzegowina (1992). Die Republik Türkei (1923) sowie Zypern (1960) können als weitere post-osmanische Nachfolgestaaten in Südosteuropa erwähnt werden. Da die nationalen Eliten üblicherweise der Meinung waren, dass die Grenzen ihres neuen Staates nicht mit jenen der kulturell begriffenen Nation übereinstimmten, prägte das Streben nach dieser Übereinstimmung die Politik der Nationalstaaten. Dieses richtete sich nach innen ebenso wie nach außen.
Wesentlich weniger Aufmerksamkeit widmeten die Regierungen der neuen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit der ökonomischen und infrastrukturellen Entwicklung ihrer im europäischen Vergleich rückständigen Länder, trotz des allerorten propagierten Ziels der "Europäisierung". Dominant blieb eine relativ unproduktive und in weiten Teilen subsistenzorientierte Landwirtschaft, nur hier und dort gab es kleine Inseln der Industrialisierung. Neben einer der wirtschaftlichen Entwicklung abträglichen Prioritätensetzung der nationalen Regierungen spielte für die andauernde Unterentwicklung am Balkan der schon in osmanischer Zeit eklatante Kapitalmangel eine zentrale Rolle. Versuche, ihm etwa durch die Aufnahme von Krediten im europäischen Ausland abzuhelfen, führten nicht nur zu neuen politischen Abhängigkeiten, sondern brachten die Länder des Balkans wiederholt an, oder wie im Falle Griechenlands im Jahr 1893, über die Grenze der Zahlungsunfähigkeit. Exporte beschränkten sich in der Regel auf landwirtschaftliche Güter sowie, sofern vorhanden, Rohstoffe; seit dem 19. Jahrhundert notorische Importüberschüsse wurden und werden zum Teil durch die beträchtlichen Zuflüsse an Migrantenüberweisungen finanziert.33
Innere Nationsbildung erfolgte daher nicht in Form einer stärkeren ökonomischen Integration und Entwicklung, sondern primär in einer Politik der ethnischen Homogenisierung, die in Kriegszeiten bzw. im Zuge der Etablierung von Nachkriegsordnungen in gezielte Vertreibungen umschlug ("ethnische Säuberung").34 In den Unabhängigkeitskriegen des 19. Jahrhunderts, den Balkankriegen (1912/1913), den beiden Weltkriegen sowie den jugoslawischen Zerfallskriegen vertrieben die Eroberer wiederholt Angehörige "anderer" Nationalitäten bzw. Konfessionen, wobei in der Summe die Muslime die meisten Opfer zu beklagen hatten.35 Auch für die Entwicklung des Völkerrechts relevant waren die Fälle des "freiwilligen" bzw. erzwungenen Bevölkerungsaustauschs zwischen Staaten im Kontext der Friedensschlüsse nach den Balkankriegen sowie dem Ersten Weltkrieg. Am bekanntesten ist die als Teil des Lausanner Vertrags von 1923 zwischen der Türkei und Griechenland vereinbarte "Konvention betreffend den Austausch von griechischer und türkischer Bevölkerung", welche die Ausweisung von ca. 1,5 Millionen "orthodoxen Christen" aus der Türkei sowie 0,5 Millionen "Muslimen" aus Griechenland regelte.36 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Vertreibung von Bevölkerungsgruppen (z. B. der Deutschen aus Jugoslawien) bzw. zur durch politischen und sozialen Druck verursachten Auswanderung von Angehörigen ethnischer Minderheiten (z. B. der Türken aus Bulgarien in den 1950er Jahren und 1989).37 Dennoch blieb das Niveau ethnischer Heterogenität in Südosteuropa ausgeprägt, was auch der Tatsache geschuldet ist, dass es immer auch Phasen vergleichsweise liberaler Minderheitenpolitik gab und die Staaten der Region Assimilationsprogramme nicht immer erfolgreich umsetzen konnten.
Zweitens zielte die Politik der "Vollendung" der nationalen Mission darauf ab, jene präsumtiven Mitglieder der Nation, die noch unter fremder Herrschaft leben mussten, zu "befreien" – unabhängig davon, wie sich diese identifizierten. Die neuen Nationalstaaten betrieben im "langen" 19. Jahrhundert allesamt eine Politik der territorialen Expansion, die zu signifikanten Gebietsgewinnen, aber auch zu bilateralen Konflikten führte (wie im Zweiten Balkankrieg 1913). Die Bündniskonstellationen während der beiden Weltkriege hingen wesentlich davon ab, welche territorialen Zugewinne die Großmächte den Staaten der Region für ihre Unterstützung im Krieg in Aussicht stellten (auf diese Weise konnte Rumänien z. B. durch sein Bündnis mit der Entente nach dem Ersten Weltkrieg sein Territorium verdoppeln). In den jugoslawischen Zerfallskriegen war es insbesondere die serbische Seite, die durch eine Politik der Eroberung und ethnischen Säuberung eine großserbische Version realisieren wollte.38 Allseits anerkannt ist die staatliche Ordnung Südosteuropas auch im 21. Jahrhundert nicht (siehe den Konflikt zwischen Kosovo und Serbien, die Teilung Zyperns sowie die Abspaltung Transnistriens von Moldova).39
Konflikthafte Nations- und Staatsbildung war (und ist) nicht nur durch endogene Faktoren bedingt, denn die Etablierung neuer Staaten am Balkan involvierte in hohem Maße die Großmächte.40 Ob beim Berliner Kongress 1878, bei den Friedensverhandlungen in den Pariser Vororten nach dem Ersten Weltkrieg oder bei den Gipfeltreffen der alliierten Mächte des Zweiten Weltkriegs: In diesen Verhandlungen wurden zentrale Entscheidungen über die politische Ordnung und die Grenzen der Region gefällt sowie Einflusssphären markiert, wodurch neue Antagonismen entstanden. So scheiterte beispielweise eine tragfähige Kooperation der Balkanstaaten in der Zwischenkriegszeit auch an den gravierenden Interessensunterschieden zwischen den Siegermächten des Ersten Weltkriegs (Jugoslawien, Rumänien, Griechenland) und den auf territoriale Revision erpichten Verlierernationen (Ungarn, Bulgarien). Nach dem Zweiten Weltkrieg fand sich ein Teil der Region im sowjetischen Einflussbereich wieder, während Griechenland und die Türkei im "westlichen" Lager verortet wurden; der Eiserne Vorhang durchzog also auch den Balkan. Die Länder Südosteuropas beteiligten sich an den beiden Weltkriegen ebenfalls nicht aus primär endogenen Gründen, sondern entweder in Folge einer Aggression von außen (Österreich-Ungarn gegen Serbien 1914, Italien gegen Griechenland 1940, Deutschland gegen Jugoslawien und Griechenland 1941) oder weil die großen Kriegsparteien sie nötigten, sich einer Front anzuschließen. Im Zweiten Weltkrieg standen bis zum Einmarsch der Roten Armee im Sommer 1944 daher Bulgarien und Rumänien auf der Seite Deutschlands, von dem die beiden Länder in den 1930er Jahren ökonomisch abhängig geworden waren; Rumänien versprach sich von dem Bündnis die Rückeroberung der Bukowina und Bessarabiens, die es 1941 an die Sowjetunion hatte abtreten müssen, und Bulgarien den dauerhaften Besitz Makedoniens. Griechenland und Jugoslawien befanden sich hingegen unter deutscher, italienischer (bis September 1943) und bulgarischer Besatzung.
Die beiden Weltkriege bedeuteten jedenfalls tiefe Einschnitte für die Geschichte Südosteuropas. An erster Stelle sind die dramatischen menschlichen Verluste zu nennen; Serbien gehörte im Ersten bzw. Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg zu den kriegsbeteiligten Ländern mit den an der Gesamtbevölkerung gemessen höchsten Opferzahlen. Ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung des Balkans wurde im Zweiten Weltkrieg Opfer des nationalsozialistischen bzw. des kroatischen und rumänischen Judenmords. In den besetzten Gebieten stellten die Weltkriege eine extensive Gewalterfahrung dar; hinzu kamen Seuchen (etwa Typhus im besetzten Serbien im Ersten Weltkrieg) und Hungersnöte (z. B. in Griechenland im Zweiten Weltkrieg).41 Insbesondere die Besatzungspolitik NS-Deutschlands zeichnete sich durch äußerste Brutalität aus (z. B. in Form von Massenerschießungen von Geiseln und "Sühneaktionen" gegen Zivilisten).
Darüber hinaus stellten die beiden Weltkriege zentrale politische Weichen und wirkten sich erheblich auf die soziale und ökonomische Ordnung aus. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Jugoslawien) ein neuer Staat. Darüber hinaus kam es nach dem Krieg und auch als Ausdruck eines gestiegenen bäuerlichen Selbstbewusstseins – angesichts der Bevölkerungsstruktur der Balkanländer stellten Bauern das Gros der Soldaten – mit Ausnahme Albaniens zu umfassenden Landreformen, womit die Ära des Großgrundbesitzes in Südosteuropa faktisch zu Ende ging. Die alteingesessenen Eliten verstanden es zwar grosso modo, ihre Dominanz über den Krieg zu retten, sahen sich allerdings gestärkten Konkurrenten gegenüber: Bauernparteien wurden zu Massenparteien und stellten zweitweise in Bulgarien und Rumänien die Regierungschefs; sozialdemokratische bzw. kommunistische Parteien gewannen an Bedeutung. Mit der Etablierung autoritärer Regimes in allen Ländern der Region in der Zwischenkriegszeit (die Königsdiktaturen Griechenlands waren eine Ausnahme) reagierten die traditionellen Eliten auf die neuen politischen Kräfte. Dies resultierte auch aus ihrer Unfähigkeit, die enormen und durch die Weltwirtschaftskrise verschärften ökonomischen und sozialen Probleme unter halbwegs demokratischen Bedingungen zu lösen.42
Der Modernisierungsknoten wurde in Südosteuropa erst nach dem Zweiten Weltkrieg zerschlagen, allerdings unter spezifischen und für die Nachhaltigkeit der Modernisierungserfolge abträglichen politischen Bedingungen. Mit Ausnahme Griechenlands und der Türkei übernahmen in den Ländern der Region Kommunisten die Macht – entweder aufgrund eines erfolgreichen Partisanenkampfes (Jugoslawien, Albanien) oder maßgeblich dank sowjetischer Unterstützung (Rumänien, Bulgarien). In Griechenland scheiterten die Kommunisten in einem bis 1949 andauernden Bürgerkrieg an der Machtergreifung. Unter kommunistischer Ägide kam es zur Kollektivierung der Landwirtschaft (die in Jugoslawien 1952 rückgängig gemacht wurde) sowie zur Urbanisierung und Industrialisierung. Auch die Infrastruktur wurde ausgebaut, und die Bildungsstandards wurden deutlich angehoben.
Gleichzeitig taten sich bereits seit 1948, als die Sowjetunion mit Jugoslawien brach, wesentliche Unterschiede zwischen den kommunistisch regierten Ländern auf, die sich besonders in ihrer Außenpolitik manifestierten: Jugoslawien wurde zu einem der Anführer der Bewegung der blockfreien Staaten, Albanien begab sich in den 1970ern nach der Abwendung von der UdSSR und einer Liaison mit der Volksrepublik China in die totale Isolation, Rumänien betrieb seit Anfang der 1960er Jahre eine von der UdSSR zunehmend unabhängige Außenpolitik, während Bulgarien einer der treuesten Verbündeten der Sowjetunion blieb. Innenpolitisch zeigten sich die Unterschiede unter Anderem in der deutlich größeren politischen und kulturellen Liberalität Jugoslawiens, während in Albanien das kommunistische Regime praktisch bis zuletzt dem Stalinismus die Treue hielt. Als echter föderaler Bundesstaat mit sechs gleichberechtigten Teilrepubliken, die mit jeder Verfassungsreform mehr Rechte erhielten, unterschied sich Jugoslawien zudem von den übrigen, zentralistisch verfassten Nationalstaaten des Balkans. Es gehört zu den tragischen Paradoxien der Geschichte, dass ausgerechnet Jugoslawien, das im Vergleich mit allen anderen kommunistischen Regimen offenste und dem Westen am nächsten stehende Land, in den 1990er Jahren in einem mehr als 100.000 Menschenleben fordernden Krieg versank.43
Kommunikations- und Interaktionsräume
Sei es die Konfrontation von Imperien auf dem Gebiet des Balkans oder die Etablierung und Verschiebung von Grenzen im Zuge von Staatsbildung und -zerfall: Die Geschichte des Balkans ist auch eine Geschichte volatiler Grenzen und ihrer vielfältigen gesellschaftlichen Wirkungen. Gleichzeitig markieren diese Grenzen Kommunikations- und Interaktionsräume. Die Zugehörigkeit zum Osmanischen, Habsburgischen und Venezianischen Reich bedeutete z. B. die Einbettung in einen geographisch weitgefassten Raum der Kommunikation und Interaktion, die sich in der Herausbildung gemeinsamer kultureller Muster und einer regen Mobilität innerhalb des jeweiligen Reiches ausdrückte. Das Reich bildete für viele Bevölkerungsgruppen den primären Interaktionsrahmen, zumal ein Grenzübertritt durch Quarantänebestimmungen bis in das 19. Jahrhundert erschwert wurde. Die Karrierewege der Elitenangehörigen weisen eine verblüffend hohe Mobilität auf.
Aber auch jenseits der Elite stellte Bewegung im Raum keine Besonderheit dar: Für Wanderhandwerker aus den Gebirgen des osmanischen Balkans war es z. B. üblich, in den asiatischen Teilen des Osmanischen Reiches tätig zu sein, ebenso wie mobile Händler, Missionare und Prediger, Nomaden und Wanderhirten von den Möglichkeiten einer innerhalb der Reichsgrenzen weitgehend ungehinderten Mobilität Gebrauch machten. Schon der Blick auf das Stadtbild südosteuropäischer Städte, so eine Altstadt noch vorhanden ist, verdeutlicht, dass die verschiedenen Regionen des Balkans mit anderen Gebieten in engem Austausch gestanden haben – wenigstens architektonisch weisen die Altstadtkerne von Städten wie Sibiu, Dubrovnik und Plovdiv wenige Ähnlichkeiten miteinander, dafür aber viel mehr mit Städten in Mitteleuropa, Italien bzw. Anatolien auf. Der religiöse Synkretismus, der in einigen Teilen des Balkans beobachtet werden konnte, war eine weitere wichtige kulturelle Manifestation der Einbindung in unterschiedliche größere Zusammenhänge und der regen Interaktion in diesen.44
Selbst im Zeitalter des Nationalstaats blieben die Gesellschaften des Balkans in über die Region hinausreichende Beziehungsgeflechte integriert, obwohl der Nationalstaat vergleichsweise erfolgreich versuchte, die Kommunikation und Interaktion innerhalb seiner Grenzen zu kondensieren. Z. B. kann auf intellektuelle Netzwerke verwiesen werden, die über Grenzen hinausreichen,45 denn ein guter Teil der ersten Kohorten der neuen Eliten der balkanischen Nationalstaaten hatte seine akademische Ausbildung in Wien, Leipzig, Paris, Moskau oder anderswo in Europa erfahren. Kommunikations- und Interaktionsräume wurden somit keineswegs nur durch staatliche Grenzen begrenzt. Herausforderungen des Nationalstaates ließen sich gerade auch in ehemaligen imperialen Grenzgebieten sowie Regionen mit besonders ausgeprägter ethnischer Heterogenität beobachten. Die serbische Vojvodina, deren politische Elite wiederholt nach Autonomie strebte und dies noch immer tut, wäre ein Beispiel für regionales Sonderbewusstsein in einer Grenzregion; Istrien mit seiner in den 1990er Jahren starken regionalistischen Bewegung ein weiteres.46 In diesen Gebieten waren gesellschaftliche Zurückweisungen nationalistischer Loyalitätsaufforderungen und zentralistischer Homogenisierungsprojekte auch eine Reaktion auf die leidvolle Erfahrung mit konkurrierenden nationalstaatlichen Vereinnahmungsversuchen, die in die jeweilige Region Antagonismen hineintrugen bzw. durch die Instrumentalisierung von Bevölkerungsgruppen Spannungen verschärften.
Auch die wiederholten massiven Emigrationsbewegungen, die Südosteuropa charakterisieren, und zwar schon vor der massenhaften Amerikaauswanderung des späten 19. Jahrhunderts, schufen überstaatliche Kommunikations- und Interaktionszusammenhänge.47 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche sogenannte Gastarbeiter aus Griechenland, der Türkei und Jugoslawien angeworben, und dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Ordnung folgte eine erneute ökonomisch motivierte Auswanderung von Millionen von Menschen aus der Region. Die Gemeinschaften von Emigranten wirkten in vielfacher Weise auf ihre Herkunftsländer zurück, sei es durch Geldsendungen (remittances) oder politisches Engagement. Die wichtige Rolle von Diasporas gehört zu den roten Fäden der Nationsbildung in Südosteuropa: Ob Griechen und Bulgaren im Russischen Reich im frühen 19. Jahrhundert, Angehörige der albanischen Minderheit in Italien im 19. Jahrhundert, südslawische Emigranten in Übersee während des Ersten Weltkriegs, Exilkroaten und -kosovaren nach dem Zweiten Weltkrieg oder die makedonische "Diaspora" – immer wieder erbrachten diese Gruppierungen ideelle und materielle Unterstützungsleistungen für nationale Bewegungen am Balkan, so wie umgekehrt Staaten in der Region loyale Diasporas zu kreieren versuchten.48 Die Region ist mithin Ort transterritorialer Nationsbildungsversuche. Insofern finden balkanische Grenzen eine globale Fortführung – während umgekehrt globale Konfliktlagen am Balkan Abgrenzungen und Frontstellungen schufen (z. B. während des Kalten Kriegs).
Schließlich ist die bedeutende Rolle von wechselnden Großmächten für die Geschicke Südosteuropas mit der Integration in überregionale Kommunikations- und Interaktionsnetzwerke verbunden. Dies betraf nicht nur die Imperien, sondern etwa auch die Einbindung in den "Westen" bzw. den "Ostblock" während des Kalten Krieges, mit dem jugoslawischen Sonderweg der Mitgliedschaft in der Bewegung der Blockfreien. Besonders manifestiert sich die Einbettung der Region in grenzüberschreitende Verflechtungen in der Integration in überregionale politische Verbünde wie die Europäische Union: Angefangen mit Griechenland im Jahr 1981 sind bereits mehrere Staaten Südosteuropas Mitglied der EU und damit eines gemeinsamen Rechts- und Wirtschaftsraums geworden.49
Schluss
Die Balkanregion ist somit sowohl historisch als auch aktuell in vielfältige überregionale Kontexte eingebunden, so dass sie heute als eine sehr globalisierte und in verschiedene transnationale Zusammenhänge eingebettete Region gelten kann. Dabei überwinden diese Verflechtungen manche Grenzen innerhalb der Region, verstärken andere aber auch. Für das Verständnis von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Südosteuropa ist daher immer zu klären, in welche Kommunikations- und Interaktionszusammenhänge eine spezifische Region bzw. eine Gruppe von Akteuren eingebettet ist, wo also die räumlichen Grenzen der sozial relevanten Bestimmungsfaktoren liegen. Diese Grenzen können nicht vorausgesetzt, sondern müssen in ihrer Signifikanz empirisch etabliert werden.