Schlüsseldatum 811? Der Versuch der Festschreibung eines Grenzraums im hohen Mittelalter
Die erste vertragliche Fixierung einer Grenzziehung in der Region, die nachmalig den deutsch–dänischen Grenzraum bilden sollte, erfolgte 811, als die Gesandten Karls des Großen (742–814) und des dänischen Königs Hemming (gest. 811/812) die Eider zur Grenze zwischen beiden Machtbereichen bestimmten.1 Allerdings verfestigte sich diese Grenzziehung erst in den folgenden Jahrhunderten, wobei je nach politischer Großwetterlage 'Grenzvibrationen' sowohl in nördlicher als auch südlicher Richtung erfolgten. Als das Bistum Schleswig 1003/1004 dem nordischen Erzstift in Lund als Suffraganbistum zugeschlagen wurde, trat der weltlichen Grenzziehung zwischen Dänemark bzw. dem von einer Sekundogenitur des dänischen Königshauses ab dem ausgehenden 12. Jahrhundert beherrschten Herzogtum Schleswig und dem sich aus dem Ostfrankenreich bildenden römisch-deutschen Reich bzw. der ihm zugehörigen Grafschaft Holstein zudem eine kirchliche Grenze zur Seite. Die Südgrenze der Diözese bildete wiederum die Eider.2 Indes stand die nunmehr sowohl weltliche als auch kirchliche Grenze nicht einer sächsisch-deutschen Siedlungsbewegung im Weg, die sich im Raum zwischen Eider im Süden und Schlei im Norden während des im 12. Jahrhundert an Fahrt aufnehmenden Landesausbaus vollzog.3 Das daraus erwachsende vergleichsweise engräumige Zusammenleben von sächsisch-deutschen und dänischen Siedlern stellte eine Hypothek für den Nationalkonflikt im 19. Jahrhundert dar.
Die Grenze verwischt: Von Schleswig und Holstein zu Schleswig-Holstein
Innere Wirren in Dänemark machten es den Grafen von Holstein möglich, 1326 erstmalig nach der Schleswiger Herzogswürde zu greifen. Rechtsgrundlage hierfür bildete die vom dänischen König ebenfalls 1326 erlassene sogenannten Constitutio Valdemariana. Ihr zufolge sollte das Herzogtum niemals mit dem Reich und der Krone Dänemarks in der Weise verbunden werden, dass beide von einem Herrn gleichzeitig regiert würden.4 Handelte es sich bei dem ersten Ausgriff zunächst nur um eine vierjährige Episode, so sicherten sich die Holsteiner Grafen die Schleswiger Herzogswürde nach dem 1375 erfolgten Aussterben der angestammten Dynastie ab 1386 auf Dauer. Der dänische König Erich VII. (1382–1459) versuchte zwar, ihnen diese Würde wieder streitig zu machen, was zu langjährigen kriegerischen Auseinandersetzungen führte.5 Doch mit der 1440 erfolgten erblichen Belehnung Graf Adolfs VIII. von Holstein (1401–1459) mit dem Herzogtum Schleswig durch König Christoph III. (1416–1448) wurde die enge herrschaftliche Verbindung zwischen Schleswig und Holstein vom dänischen Königtum formal anerkannt. Die nun für eine längere Phase friedliche Entwicklung beider Lande unter dem Dach einer Personalunion zog allerdings eine verstärkte Einwanderung aus dem Süden nach dem Norden nach sich. Der holsteinische Lehnsadel hatte in Schleswig großflächig Grundbesitz erworben und sich zum Teil auf Dauer in diesem Bereich niedergelassen. Langfristig verdrängte er den dort bisher dominanten sogenannten Heermannen- bzw. herremænd-Adel.6 Aus der Personalunion zwischen Schleswig und Holstein wurde ab 1460 auf der Grundlage des Ripener Vertrags eine auch durch gemeinsame Stände- oder Landtage repräsentierte Realunion, während Schleswig–Holstein und Dänemark in den folgenden Jahrhunderten in Personalunion miteinander verbunden waren.7 Nicht zuletzt um ihre starken sozioökonomischen Verbindungen zu wahren und weiter ausbauen zu können, ließ sich die maßgebliche Ritterschaft vom neuen Landesherren Christian I. (1426–1481) für Schleswig und Holstein unter anderem vertraglich zusichern, "dat se bliuen ewich tosamende vngedeelt".8 Parallel zur Entwicklung im Bereich des Adels erlangten in den Schleswiger Städten die aus dem deutschen Raum herrührenden Bevölkerungsteile eine sozioökonomisch dominante Position.9 Die führenden adeligen und bürgerlichen Gruppen des Herzogtums waren fortan von der niederdeutschen Kultur und Sprache geprägt. Dasselbe galt für Kirche, Recht und Verwaltung, wohingegen im ländlichen Bereich nur die Bevölkerung südlich der Schlei dem niederdeutschen Kultur- und Sprachkreis zugehörig war. Daraus entwickelte sich eine prägende Sprach- und Kulturscheide an der Linie Loit–Tondern, die in ihrem Verlauf ungefähr mit der heutigen Staatsgrenze übereinstimmt.10
Die Sprach- und Kulturscheide verfestigt sich: Reformation und Landesteilungen
Im Reformationszeitalter kristallisierte sich über das Luthertum und den Humanismus eine besonders enge Verbindung zwischen Dänemark und Deutschland heraus, die für den Grenzraum zwischen beiden Ländern nicht folgenlos blieb. So berief Junker Christian (seit 1534 König Christian III.) (1503–1559) aus dem Wittenberger Umkreis kommende Reformatoren zu sich, um die Reformation in den von ihm bereits vor 1534 regierten Schleswigschen Landesteilen Hadersleben und Törninglehen einzuführen. Bereits 1528 wurde für diesen Bereich eine lutherische Kirchenordnung in niederdeutscher Sprache erlassen, während eine solche für ganz Schleswig-Holstein erst 1542 eingeführt wurde.11 Die erwähnte Sprach- und Kulturscheide quer durch Schleswig verfestigte sich im Zuge dessen, indem auf dem Land im Norden dänisch gesprochen und auf Dänisch gepredigt und unterrichtet und in den nordschleswigschen Städten einschließlich Flensburgs zumindest sonntags Predigten auf Dänisch gehalten wurden; im Süden dagegen bildete Niederdeutsch die Kirchen- und Schulsprache.12 Im 17. Jahrhundert wurde die niederdeutsche Sprache in Kirche und Schule durch das Hochdeutsche verdrängt.
Unterschiedliche Grenzarten und -typen – territorialstaatlich, ökonomisch, konfessionell, ethnisch oder kulturell – mit ganz verschiedenen Phasen und Rhythmen können grundsätzlich auf engstem Raum zusammenkommen,13 was auch das hier behandelte Grenzbeispiel anschaulich vor Augen führt. Entgegen der vertraglichen Zusage von 1460, Schleswig und Holstein "auf ewig" ungeteilt zu lassen,14 war es schon nach Christians I. Tod 1481 zu einer Herrschaftsteilung gekommen. Durch weitere Landesteilungen bildeten sich innerhalb Schleswigs und Holsteins, also unabhängig von der bislang behandelten Grenze zwischen Dänemark–Schleswig und Deutschland–Holstein bzw. der Sprach- und Kulturscheide quer durch Schleswig, im Wesentlichen zwei politische Machtbereiche heraus: der königliche, von Kopenhagen aus regierte, und der herzogliche mit der fürstlichen "Zentrale" auf Schloss Gottorf.15 Zwischen den Königen von Dänemark und den Gottorfer Herzögen brach im Verlauf des 17. Jahrhunderts ein langwieriger Konflikt um die Frage der Lehnsabhängigkeit Schleswigs aus, der sich, nachdem die Gottorfer Souveränität für Schleswig 1658 besiegelt worden war, mehr und mehr zum Grundsatzstreit um die Existenz des herzoglichen Anteils entwickelte und durch die Einbeziehung Schwedens und anderer Mächte eine europäische Dimension erlangte. Im Großen Nordischen Krieg ließ König Friedrich IV. (1671–1730) den Gottorfer Teil besetzen; der Friedensschluss von 1720 sprach ihm als dauerhaften Besitz die gottorfischen Anteile an Schleswig zu, während der Gottorfer Herzog fortan auf seine Besitztümer in Holstein beschränkt blieb.16 Zu einer Verschmelzung Schleswigs mit Dänemark kam es damals nicht: Das dänische Gesetzbuch (Danske Lov) von 1683 wurde nicht auf das Herzogtum übertragen; es wurde über eine Zentrale der in Kopenhagen angesiedelten Deutschen Kanzlei verwaltet, der das 1713 geschaffene Obergericht in Schleswig unterstand.17 Dabei blieb es, als durch den Tauschvertrag von Zarskoje Selo 1773 auch der holsteinische Bereich der Gottorfer an den dänischen König fiel. Schon 1761 war das Herzogtum Sonderburg-Plön an das dänische Königshaus gelangt. Als 1779 die Übernahme des Herzogtums Glücksburg durch den dänischen König möglich wurde, war praktisch ganz Schleswig–Holstein unter seiner Herrschaft vereint.18 Schleswig-Holstein wurde Teil des absolutistisch regierten Dänischen Gesamtstaats.
Von Königsloyalität und Gesamtstaatspatriotismus zum Nationalismus: Das lange 19. Jahrhundert
Außenpolitische Zurückhaltung und Neutralität sorgten nun für eine Phase des Friedens und der ökonomischen Prosperität, was gemeinsam mit einer zielgerichteten, aufgeklärten Reformpolitik die politischen und kulturellen Beziehungen zwischen dem Königreich und den Herzogtümern gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einem Höhepunkt führte.19 In den Herzogtümern entwickelte sich ein breit verankertes gesamtstaatliches Bewusstsein, das sich bei vielen Einwohnern in entschiedener Königsloyalität äußerte.20 Bezüglich Verwaltung, Rechtsprechung und Steuerwesen behielten die Herzogtümer ihre Sonderstellung innerhalb des Gesamtstaats mit eigenen Gerichts- und Zentralbehörden sowie seit 1788 einer eigenen Währung. Auch bildeten Schleswig und Holstein zwischen Elbe im Süden und Königsau im Norden ein einheitliches, von Dänemark getrenntes Zollgebiet.21
Gegenläufige Versuche, in Dänemark den starken deutschen Einfluss in Kultur und Politik zurückzudrängen, spiegeln sich in der Festlegung des Dänischen als Amts- und Kommandosprache in der Armee von 1773 und im Indigenatsgesetz von 1776 wider. Dadurch wurde das Bewusstsein des dänischen Bürgertums um die Eigenständigkeit der dänischen Kultur geschärft.22 Parallel dazu verschob sich allerdings die Sprachgrenze innerhalb Schleswigs spürbar nach Norden. Dafür war eine Reihe von Faktoren verantwortlich. So führte ein 1768 eingeführtes sogenanntes Biennium – die Bestimmung, dass alle Studenten, die in Schleswig–Holstein Pfarrer und Beamte werden wollten, mindestens zwei Jahre an der Kieler Universität studieren mussten – zur Stärkung des deutschen Elements innerhalb des Kirchen- und Verwaltungspersonals. Agrarreformen sorgten in Teilen der Bauernschaft für Wohlstand, was einen stärkeren Kontakt mit der deutschen Kultur ermöglichte. Zeitgleiche Schulreformen wirkten ähnlich, da die Schulsprache in weiten Teilen Deutsch war. Infolgedessen verschwand das Dänische als Umgangssprache bis 1850 aus Angeln, also der sich entlang der Ostseeküste zwischen Eckernförde und Flensburg erstreckenden Gegend.23
Nach dem Ende des Alten Reiches im Jahr 1806 scheiterte der Versuch Dänemarks, Holstein als "ungetrennten Teil" der dänischen Monarchie zu inkorporieren und die Verhältnisse in Schleswig und Holstein möglichst denjenigen in den dänischen Provinzen anzugleichen.24 1814 stand der seit 1807 mit Frankreich verbündete Gesamtstaat im Kieler Frieden auf der Verliererseite; Holstein wurde 1815 Teil des neu errichteten Deutschen Bundes mit dem damit einhergehenden rechtlichen Anspruch auf eine Verfassung. Schleswig gehörte nicht zum Deutschen Bund.25
Die Verfassungsfrage entwickelte sich in der Folgezeit zu einem Grundproblem Schleswig–Holsteins in seinem Verhältnis zu Dänemark.26 Denn die Ritterschaft und weite Teile des Bildungsbürgertums forderten eine für Schleswig und Holstein gemeinsam gültige Ständeverfassung. Als historisches Argument diente die Bestimmung des Ripener Vertrags von 1460, dass Schleswig und Holstein auf immer ungeteilt und zusammenbleiben sollten. Immerhin wurde unter dem Eindruck der Ereignisse der Julirevolution von 1830 je eine Provinzialständeversammlung für Schleswig und Holstein etabliert. Längst ging es freilich nicht mehr nur um das Problem einer für Schleswig und Holstein gemeinsamen, möglichst liberalen Verfassung. Vielmehr wurde nun in Holstein und von den Deutschen in Schleswig mehrheitlich eine Vereinigung beider Lande unter dem Dach des Deutschen Bundes verlangt, während man auf der dänischen Seite unter der Devise "Dänemark bis zur Eider" den Gedanken einer gemeinsamen Verfassung für das Königreich und Schleswig propagierte.27 Im gleichen Jahr kam es zu einem Zusammenstoß zwischen Deutschen und Dänen in der Schleswiger Ständeversammlung, als der nordschleswigsche Abgeordnete Peter Hiort Lorenzen (1791–1845) im Ständesaal Dänisch zu sprechen begann, um seiner Forderung nach Gleichberechtigung seiner Sprache Nachdruck zu verleihen. Er wurde darin von den dänisch gesinnten Nordschleswigern unterstützt. Zwei Jahre vorher war Dänisch als Rechts- und Verwaltungssprache überall dort eingeführt worden, wo es auch Kirchen- und Schulsprache war.28 Als Reaktion auf den scharfen Protest auf deutscher Seite versammelten sich die Anhänger der dänischen Bewegung ab 1843 zur Stärkung ihrer eigenen Identität und Sprache zu regelmäßigen Kundgebungen im nordschleswigschen Skamlingsbanke.29
Die beiden Lager mit ihren miteinander unvereinbaren Zielen "Dänemark bis zur Eider" bzw. "Schleswig–Holstein bis zur Königsau" prallten schließlich in der sogenannten "Schleswig-Holsteinischen Erhebung" ab 1848 erstmals militärisch aufeinander.30 Internationale Dimensionen nahm der Regionalkonflikt an, als Preußen und der Deutsche Bund militärisch zugunsten der Schleswig–Holsteiner intervenierten, was wiederum die europäischen Mächte zum diplomatischen Eingreifen zwang. Allerdings konnte keine Kriegspartei ihre Hauptziele erreichen, sodass man sich 1851/1852 nur auf die Wiederherstellung des Status quo ante einigte und darauf verständigte, die einzelnen Landesteile des Gesamtstaats einander gleichzustellen sowie Schleswig nicht Dänemark einzuverleiben.31
Dem Geist dieser Verabredungen widersprach die folgende Kultur- und Verwaltungspolitik der dänischen Seite, die bewusst darauf abzielte, Schleswigs Bande zu Dänemark doch zu stärken.32 Gerichts- und Regierungsbehörden, der Schleswiger Bischofssitz sowie die Ständeversammlung wurden aus der Stadt Schleswig nach dem loyalen Flensburg verlegt. Innerhalb der Beamtenschaft fand eine Säuberungspolitik statt. Pfarrstellen wurden mit Pastoren besetzt, die auf der Kopenhagener Universität ausgebildet worden waren. Ähnliches geschah in der Lehrerschaft. Für Aufregung sorgten vor allem die Sprachenreskripte von 1851, die in knapp 50 mittelschleswigschen Gemeinden Anwendung fanden, wo das Dänische noch Umgangssprache war.33 Gottesdienste sollten dort künftig abwechselnd auf Deutsch oder Dänisch gehalten werden, während als Schulsprache fortan Dänisch galt; Deutsch hingegen wurde zum Hauptunterrichtsfach degradiert. Gerade die Tatsache, dass die Sprachreskripte auch auf Bereiche ausgedehnt wurden, wo die dänische Sprache längst verschwunden war, erregte zusammen mit dem teilweise offenkundig ungeschickten Verhalten dänisch gesinnter Amtsträger den Unmut der zu Deutschland tendierenden Bevölkerung und beschworen vollends eine antidänische Stimmung in Deutschland herauf. Die Garantiemächte von 1852 mahnten die dänische Seite zur Einhaltung ihrer Zusagen. Selbst auf dänischer Seite wurden Stimmen laut, die Kritik an den Reskripten übten. Nach Protesten im Innern und unter dem publizistischen Druck von außerhalb erfolgte 1861 deren Lockerung, indem Eltern wenigstens die Sprache bestimmen konnten, in der ihre Kinder konfirmiert werden sollten.
Ab der zweiten Hälfte der 1850er Jahre spitzte sich die Problemlage innerhalb des Gesamtstaates wieder zu. Sinnfälliger Ausdruck der aufgeheizten Stimmung war die Aufstellung des Idstedt-Löwen im Jahr 1862 in Flensburg als nachträgliche Siegesdemonstration am Jahrestag der schweren schleswig-holsteinischen Niederlage gegen dänische Truppen bei Idstedt am 24. und 25. Juli 1850. Die keine eineinhalb Jahre später erfolgende Annahme der sogenannten Novemberverfassung, die für Dänemark und Schleswig ausgearbeitet worden war und einen Schritt hin zur Aussonderung Holsteins aus dem Gesamtstaat bedeutete, beschwor neue deutsche Proteste und im Dezember 1863 die militärische Besetzung Holsteins durch Bundestruppen zur, wie es hieß, Wahrung der Rechte des Deutschen Bundes herauf. Da die dänische Seite nicht bereit war, der preußisch-österreichischen Forderung nach Zurücknahme der Novemberverfassung nachzukommen, wurden schließlich am 1. Februar 1864 die Kampfhandlungen eröffnet.34 Der Frieden von Wien besiegelte Ende Oktober 1864 die dänische Niederlage und die Abtretung ganz Schleswigs sowie Holsteins an die Siegermächte Österreich und Preußen.35 Auf der von April bis Juni 1864 dauernden Londoner Konferenz, die vergeblich eine diplomatische Lösung herbeizuführen suchte, wurde auch die Frage einer Teilung Schleswigs nach Nationalitäten verhandelt. Doch die dänische Seite lehnte diese Idee als undurchführbar ab.36 Erst nach dem Totalverlust Schleswigs erkannte sie eine Teilung als realistische Option zur Lösung des Schleswiger Problems an. Gemäß der Phaseneinteilung von Bernhard Struck darf man für das folgende "Grenzstadium" von einem "infant borderland" sprechen.37
Unter preußisch–deutscher Ägide: Der Grenzraum bis 1920
Das österreichische Engagement nördlich der Elbe blieb eine kurze Episode. Denn im schon zwei Jahre später zwischen Preußen und Österreich geschlossenen Prager Frieden von 1866 verzichtete es auf seine Rechte an Schleswig und Holstein. Beide Lande wurden nunmehr – gegen den mehrheitlichen Wunsch der Bevölkerung nach einem selbstständigen Schleswig-Holstein – im Januar 1867 dem Königreich Preußen als neue Provinz Schleswig-Holstein einverleibt.38 Indes hatte sich Preußen auf Drängen Frankreichs zur Aufnahme des fünften Artikels in den betreffenden Friedensvertrag bereitfinden müssen, wonach "die nördlichen Distrikte von Schleswig, wenn ihre Bevölkerung durch freie Abstimmung den Wunsch zu erkennen gibt, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark abgetreten werden soll[t]en".39 Die Berücksichtigung des Prinzips des Selbstbestimmungsrechts der Völker war neu und revolutionär.40 Die dänische Seite betrachtete den Artikel V als Verpflichtung Preußens gegenüber der dänischen Bevölkerung in Nordschleswig. Um wie viele Menschen es sich dabei konkret handelte, lässt sich schwer sagen. In Flensburg erfolgten Schätzungen erst Ende der 1880er Jahre: Man kam auf ca. 3.000 Menschen mit überwiegend dänischer Umgangssprache, was neun Prozent der Stadtbevölkerung entsprach. Für die Bereiche unmittelbar um die Stadt wurden 16.000 Dänischsprachige veranschlagt.41 Die zwischen Dänen und Deutschen stehende nordfriesische Bevölkerung stand den neuen politischen Verhältnissen mit gemischten Gefühlen gegenüber.42 Die Verhandlungen zwischen Preußen und Dänemark wegen der Realisierung des Artikels V verliefen 1867/68 ergebnislos, weil die dänische Seite nicht auf die preußische Forderung weitgehender Garantien für die deutsche Bevölkerung in den abzutretenden Gebieten sowie der Einrichtung eines Schiedsgerichts eingehen wollte, um Preußen keine Möglichkeit zur Einmischung in innere Angelegenheiten zu bieten. Preußen wiederum wünschte, das in Frage kommende Abstimmungsgebiet auf das Amt Hadersleben zu reduzieren. Die französische Niederlage 1871 machte dänische Hoffnungen auf eine Unterstützung Frankreichs dann vollends zunichte. So konnte sich Dänemark auch nicht wirksam dagegen zur Wehr setzen, als Artikel V 1878 durch einen preußisch–österreichischen Vertrag aufgehoben wurde. Vielmehr musste es die Grenzverhältnisse im Optantenvertrag von 1907 anerkennen.43
Die Wahlen zum Norddeutschen Reichstag 1867 erbrachten eine Trennlinie zwischen einer mehrheitlich deutschen und einer überwiegend dänischen Bevölkerung nördlich von Tondern und südlich von Flensburg.44 Die so markierte "Gesinnungsgrenze" wurde in den folgenden Jahren nach Norden verschoben, was insbesondere Flensburg und die anderen nordschleswigschen Städte betraf. Die dänischen Stimmenanteile gingen bei den Reichstagswahlen bis 1912 deutlich zurück. Die zunehmende Einwanderung deutscher Arbeiter und ihrer Familien als Folge der verstärkten Industrialisierung wird dafür ebenso verantwortlich gemacht wie die Tatsache, dass es sich 1867 in Flensburg und Mittelschleswig in der Hauptsache um politisch motivierte Gesinnungsdänen gehandelt hatte, die im täglichen Leben aber Deutsch sprachen und die deutsche Kultur pflegten.45 Überhaupt sorgte der zur Preußenzeit einsetzende, starke wirtschaftliche Aufschwung für eine weitreichende Zustimmung zum neuen Herrschaftssystem.46 Anders verhielt es sich in Nordschleswig auf dem Lande, wo die neuen Machtverhältnisse mehrheitlich als Fremdherrschaft empfunden wurden. Insbesondere eine immer restriktivere antidänische Sprach- und Personalpolitik unter Oberpräsident Ernst-Matthias von Köller (1841–1928) (Köller-Ära) rief dort als Reaktion ein Erstarken des Dänentums hervor, was sich nicht zuletzt in einer intensiven Vereinstätigkeit niederschlug, die wiederum polizeilich scharf überwacht wurde.47 Ein neues Reichsvereinsgesetz von 1908 bestimmte, dass bei öffentlichen Treffen lediglich die deutsche Sprache verwendet werden durfte. Eine Konsequenz der Restriktionen und der ab 1867 geltenden dreijährigen allgemeinen Wehrpflicht war eine immense Zunahme der Auswanderungen aus Nordfriesland und Nordschleswig.48
Zum Ende des Ersten Weltkrieges, in dem Angehörige der dänischen Minderheit auf deutscher Seite kämpften,49 wurde die Nordschleswig-Frage wieder virulent, als Hans Peter Hanssen (1862–1936) am 23. Oktober 1918 im Namen der dänischen Nordschleswiger im deutschen Reichstag die Forderung nach einer Volksabstimmung erhob.50 Kurz zuvor hatte der damalige deutsche Gesandte in Kopenhagen, Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau (1869–1928), unter Verweis auf das vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924)[] proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker zu der Volksabstimmung in Nordschleswig geraten.51 Tatsächlich wurde Anfang 1920 eine solche in einer ersten Zone in Nordschleswig und einer zweiten in den nördlichen Teilen Mittelschleswigs in Vollzug der Artikel 109 bis 114 des Versailler Vertrags realisiert. Der Grenzabstimmung ging der Streit über die Definition voraus, wo überhaupt die Südgrenze Nordschleswigs anzusetzen sei. Die damaligen Entscheidungsträger sprachen sich für die Festlegung nach dem dänischen Historiker Hans Victor Clausen (1861–1937) im Gegensatz zu der nördlich davon verlaufenden Linie des deutschen Historikers Johannes Tiedje (1879–1946) aus. In Zone I erfolgte die Abstimmung en bloc.52 Das Gesamtvotum erbrachte eine Zustimmung von 75 Prozent für Dänemark. In der zweiten Zone, zu der Flensburg trotz seines vergleichsweise hohen dänischen Bevölkerungsanteils gehörte, wurde im Unterschied dazu gemeindeweise abgestimmt. Rund 80 Prozent der Stimmberechtigten votierten hier für einen Verbleib bei Deutschland. Aufgrund der Abstimmungsergebnisse wurde die neue Staatsgrenze, die in ihrem Verlauf seither bis zum heutigen Tag bestehen blieb, südlich der ersten Abstimmungszone gezogen. Am 5. Mai 1920 rückten dänische Truppen in das ca. 4.000 Quadratkilometer große Gebiet Nordschleswigs mit seiner Bevölkerung von rund 163.000 Menschen ein; am 15. Juni wurden die Passkontrollen an die neue Grenze verlegt. Keinen Monat später inszenierte man am 10. Juli die sogenannten Wiedervereinigung ("Genforening") durch den feierlichen Einritt König Christians X. (1870–1947) auf einem Schimmel über die alte Grenze nach Nordschleswig. Durch die Abstimmung und Grenzziehung gab es nun Minderheiten beiderseits der neuen Staatsgrenze, wobei die deutsche Minderheit in Dänemark in etwa doppelt so groß war wie die dänische in Deutschland.53 Die nordfriesische Volksgruppe hatte sich im Übrigen mit überwältigender Mehrheit für einen Verbleib bei Deutschland ausgesprochen.54 Der vom Danziger Modell inspirierte Vorschlag der sogenannten Flensburgbewegung, die Stadt gemeinsam mit Mittelschleswig unter den Schutz des Völkerbundes und eine internationale Verwaltung zu stellen, um dann nach einigen Jahren die Abstimmung zu wiederholen, wurde nicht realisiert.55 Das "infant borderland" wurde nun gewissermaßen zum "adolescent borderland".56
Minderheiten beiderseits der neuen Grenze: Zwischen Verständigungs- und Revisionsbemühungen
Für viele Dänen ging die Grenzverschiebung 1920 nicht weit genug; für viele Deutsche wiederum war sie ungerecht und zu weitgehend. Den so heraufbeschworenen Spannungen sollte das Stauning–Wels–Abkommen entgegenwirken, das Sozialdemokraten beider Länder 1923 zur gegenseitigen Anerkennung der neuen Grenze und zum wirksamen Minderheitenschutz schlossen. Doch verfehlte das Abkommen sein Ziel. Denn die anderen Parteien und Organisationen im Grenzraum distanzierten sich davon, und selbst die Sozialdemokraten vor Ort gingen nur zögerlich darauf ein.57 Auch die Nordisch-Deutsche Woche, die in Kiel organisiert wurde, oder das mit "Ostseejahr" betitelte Vortragsprogramm, das die deutsche Seite 1931 mit dem Ziel einer Verständigung mit den Ostseeländern veranstaltete, hatten nur begrenzte Wirkung. Die Grundhaltung beider Seiten im Grenzraum blieb konfrontativ. Ein 1920 von deutscher Seite vorgeschlagenes Minderheitenabkommen kam nicht zustande.58
Die mit 4.000 bis 5.000 Stimmen zahlenmäßig zunächst weitaus kleinere dänische Minderheit in Deutschland konzentrierte sich vor allem auf Flensburg, in dessen Stadtparlament sie vertreten war, und Umgebung. Sie war im Schleswigschen Verein und in einem Schulverein organisiert. Die Hauptaufgabe des Schleswigschen Vereins bestand darin, engen Kontakt zur dänischen Gesellschaft zu halten.59 Darin kooperierte er mit dem Friesisch-Schleswigschen Verein, der sich seinerseits eine Orientierung der friesischen Volkskultur an Dänemark und dem Norden wünschte. Im Unterschied dazu unterstrich der Nordfriesische Verein durch die sogenannten Bohmstedter Richtlinien von 1926 seine deutsche Gesinnung.60 Die dänische Minderheit verstand sich als Vorposten Dänemarks im jahrhundertelangen Kampf zwischen Deutschland und Dänemark im Grenzland, auf das Dänemark ein vermeintlich historisches Recht hatte.61 Die deutsche Verwaltung der Weimarer Zeit begriff insbesondere die Sprache als Ausdruck nationaler Zugehörigkeit. Wer zur dänischen Minderheit gehören wollte, musste Dänisch sprechen. Folglich wurde der Zugang zum anfangs nur in Flensburg existierenden dänischen Schulwesen strikt mittels Sprachprüfungen kontrolliert. Erst die preußischen Schulverordnungen von 1926 und 1928 erkannten das fortan prägende Gesinnungsprinzip an:62 Das Bekenntnis zur Minderheit durfte nunmehr weder nachgeprüft noch bestritten werden. Vor allem die Rücksichtnahme auf die Interessen der deutschen Minderheit in Polen hatte für ein entsprechendes Umdenken bei den deutschen Behörden gesorgt. So genoss die dänische Minderheit in Deutschland in etwa die gleichen Rechte wie umgekehrt die deutsche Minderheit in Dänemark.
Die deutsche Minderheit in Nordschleswig wollte die neuen Grenzen auch nicht anerkennen, sondern hoffte auf eine Grenzrevision, worin sie sich mit der Mehrheit der Deutschen südlich der Grenze einig fühlte. Ihr diente die Tatsache als Argument, dass durch die En-bloc-Abstimmung in der ersten Zone die zum Teil deutliche Mehrheit pro Deutschland in den größeren Städten und im Gebiet des sogenannten "Schiefen Vierecks" östlich von Tondern keine Berücksichtigung gefunden hatte. Als weitere Kernpunkte der nationalpolitischen Konfrontation kristallisierten sich der Kampf um den landwirtschaftlichen Grundbesitz ("Bodenkampf") und die Bemühungen um kulturelle Autonomie für die deutsche Minderheit heraus. Die wichtigsten Organisationen stellten der Schul- und Sprachverein und der Schleswigsche Wählerverein ("Slesvigsk Parti") dar. Zwar gelang in der Folgezeit nicht zuletzt durch die finanzielle Hilfe seitens des Deutschen Reiches und Spenden hilfsbereiter Schleswig-Holsteiner der Aufbau eines deutschen Schul- und Büchereiwesens, der "Bodenkampf" schlug aber letztlich fehl. Die erwünschte kulturelle Autonomie wurde einstweilen ebenfalls nicht erreicht.63
Die nordschleswigschen Dänen waren mit den neuen Verhältnissen gleichfalls nicht rundherum zufrieden. Es fiel sichtlich schwer, die ökonomischen Verhältnisse Nordschleswigs mit denjenigen Dänemarks zu harmonisieren. Vor allem sorgten die Währungsumstellung und die Ausrichtung der Landwirtschaft auf den Export für große Probleme, was zur Bildung bäuerlicher Protestbewegungen führte. Leichter ging die Übertragung der dänischen Verwaltungsstrukturen auf Nordschleswig vonstatten. Beiderseits der neuen Grenze setzte eine verstärkte kulturpolitische Tätigkeit ein, um die nationale Identität in Abgrenzung zum direkten Nachbarn nachhaltig zu stärken und insbesondere auf der deutschen Seite der verbreiteten Furcht vor weiteren Gebietsverlusten zu begegnen.64
Der Grenzkonflikt verschärfte sich im Umfeld der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland zunächst weiter.65 Zwar hatten die Nationalsozialisten in Nordschleswig bis zum Beginn der 1930er Jahre kaum Fuß fassen können. Doch in Schleswig-Holstein konnten sie wegen der dort seit 1927 herrschenden schweren Landwirtschaftskrise große Wahlgewinne verbuchen.66 Von dort aus eröffneten lokale Funktionäre der NSDAP im Frühjahr 1933 dann den sogenannten "Ostersturm" mit der Forderung einer Abtretung Nordschleswigs an Deutschland. Als Reaktion der dänischen Seite bildete sich eine Abwehrfront, die sämtliche dänischen Parteien und Organisationen miteinschloss und sich "Det unge Graensevaern" bzw. "Danske Samfund" nannte.67 Indes schritt die NS-Führung von Berlin aus rasch energisch gegen die grenzpolitische Agitation der schleswig-holsteinischen Funktionäre ein, da sie keine Konfrontation wegen der Grenzfrage wünschte. Vielmehr erstrebte sie aus ideologischen wie politischen Motiven ein positives Verhältnis zu Dänemark. Selbst nach der Besetzung Dänemarks im April 1940 stellte sie den Grenzverlauf nicht in Frage, was viele Nordschleswiger und Schleswig-Holsteiner enttäuschte.68 Die deutsche Minderheit "gleichzuschalten", misslang fürs Erste, weil verschiedene NS-Gruppierungen untereinander konkurrierten. Erst 1939 erreichte die 1935 gegründete Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nordschleswig (NSDAP-N) die Vereinnahmung aller bestehenden kulturellen und politischen Organisationen. Die Anlaufschwierigkeiten der NS-Bewegung dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vorstellung einer deutschen Volksgemeinschaft in der bedrängten oder sich bedrängt fühlenden Minderheit auf sehr fruchtbaren Boden stieß.
Die dänische Minderheit genoss im deutschen Teil Schleswigs während der NS-Zeit durchaus gewisse Freiräume. So durfte sie weiterhin über eine eigene Presse (Flensborg Avis) verfügen und ihre Interessen in der Flensburger Ratsversammlung vertreten.69 Auch wurde das dänische Privatschulwesen mit neuen Schulniederlassungen in Tönning 1935 und Ladelund 1936 ausgebaut. Allerdings ging die Zahl der dänischen Schülerinnen und Schüler nach 1936 durch intensive Kultur- und Propagandaanstrengungen im Rahmen der sogenannten "Grenzgürtelarbeit" stark zurück.70 Der bisherige Partner der Minderheit, der Friesisch-Schleswigsche Verein, war seit 1933 starken Restriktionen unterworfen. Einzelne Mitglieder der Minderheit, insbesondere aus der Arbeiterschaft, wurden Opfer politischer Verfolgung.71
Während der Besatzungszeit von 1940 bis 1945 entwickelte sich das bisher distanzierte Verhältnis zwischen Dänen und deutscher Minderheit in Nordschleswig zu offener Feindschaft, was sich z.B. in Boykottmaßnahmen äußerte. Um durch aktive Teilnahme am Kriegsgeschehen ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volk zu demonstrieren, traten zahlreiche Kriegsfreiwillige aus Nordschleswig in die Waffen-SS ein; andere schützten militärische Objekte an der Heimatfront im Rahmen des Zeitfreiwilligen- und Selbstschutzdienstes. Umgekehrt mussten Angehörige der dänischen Minderheit als Reichsangehörige in der Wehrmacht Kriegsdienst leisten.72 1942 gelangte die deutsche Minderheit in Nordschleswig zu der seit 1920 angestrebten kulturellen Autonomie. Für den Kontakt der Minderheit zur politischen Zentrale in Berlin war hauptsächlich das SS–Hauptamt der sogenannten Volksdeutschen Mittelstelle zuständig. Die meisten Reichszuschüsse für die Minderheit wurden ab Sommer 1943 über ein Clearing-Konto bei der Dänischen Nationalbank finanziert. Im selben Jahr erhielt die Minderheit auf ihre Initiative ein Sekretariat beim Staatsministerium in Kopenhagen zugesprochen.
Ihre starken Hoffnungen auf eine Grenzrevision musste die deutsche Minderheit aber begraben. Die NS-Führung hielt die Grenzfrage nach wie vor offen und wollte Nordschleswig nicht annektieren. Ab Mitte 1943 verstummten daher entsprechende Forderungen. Gleichzeitig entstanden innerhalb der Minderheit unterschiedliche Positionen bezüglich des künftigen politischen Kurses: Während manche Mitglieder weiterhin linientreue Nationalsozialisten blieben, gingen andere vorsichtig auf Distanz zum NS. Insbesondere der zahlenmäßig kleine Haderslebener Kreis wollte einerseits an der Zugehörigkeit zum deutschen Volk und zur deutschen Kultur festhalten, doch andererseits die deutsch-dänische Staatsgrenze von 1920 anerkennen, sich dem dänischen Staat gegenüber als loyal erweisen und zu demokratischen Verfassungsverhältnissen bekennen.73
Die Nachkriegszeit bis 1955: Auf dem Weg zum vorbildlichen Grenzfrieden
In Nordschleswig entlud sich nach der deutschen Kapitulation im Sommer 1945 die in der NS-Besatzungszeit aufgestaute Aggression der dänischen Seite gegenüber der deutschen Minderheit.74 Die zuvor nur wenig in Erscheinung getretene Widerstandsbewegung agierte als zeitweilige Ordnungsmacht und sorgte für die Verhaftung und Internierung von 3.500 sogenannten Heimdeutschen vor allem im Lager Fårhus. Auf der Grundlage von rückwirkend erlassenen Gesetzen erfolgte in ganz Dänemark eine "Rechtsabrechnung" ("Retsopgør"), in deren Zusammenhang auch 2.958 Angehörige der Minderheit verurteilt wurden. Die juristisch problematische Geltung der Gesetze und Erlasse wurde mit den Verhältnissen während der Besatzungszeit begründet, die einen vorherigen Erlass unmöglich gemacht hätten. Die Zahl der Verurteilten entsprach rund einem Viertel aller männlichen Mitglieder der deutschen Volksgruppe.75 Nachfolgende Amnestieerlasse verkürzten die durch Urteile ausgesprochenen Haftzeiten; Beschränkungen im Wahlrecht, besonders beim passiven, und bei der Ausübung freier Berufe blieben noch bis zur Mitte der 1950er Jahre bestehen. Im Rahmen der "Rechtsabrechnung" wurden auch das Vereinsvermögen der deutschen Minderheit und der deutschen Privatschulen konfisziert und öffentliche deutsche Kommunalschulen geschlossen. Gleichwohl war die deutsche Minderheit in Dänemark nicht derartig starken Repressionen sowie Vertreibung oder Umsiedlung ausgesetzt wie in anderen Regionen vor allem Ost- oder Südosteuropas. Das lag auch daran, dass sich der am 22. November 1945 neu gegründete "Bund deutscher Nordschleswiger" (BdN) öffentlich zur demokratischen Grundordnung und zum Verlauf der Staatsgrenze von 1920 bekannte und ausdrücklich seine Loyalität dem dänischen Staat gegenüber bekundete. So war es vergleichsweise rasch möglich, ein neues, an die Verhältnisse der 1920er Jahre anknüpfendes deutsches Vereinswesen und ab 1946 ein mit dänischen Staatszuschüssen finanziertes deutsches Privatschulwesen wieder ins Leben zu rufen. Bald traten deutsche Finanzhilfen hinzu.
In Südschleswig erlebte zeitgleich die dänische Minderheit einen immensen Aufschwung, indem sie sich kurzfristig zur Massenbewegung entwickelte, die bei der Landtagswahl von 1947 knapp 100.000 Stimmen erhielt, was einem Anteil von 55 Prozent der einheimischen Wähler im Landesteil Schleswig entsprach. Hatte der Schleswigsche Verein zum Ende der NS-Zeit weniger als 3.000 Mitglieder, so belief sich seine Mitgliederzahl 1947 auf rund 75.000.76 Die Massenbewegung war von dem politischen Wunsch einer Lösung Schleswigs von Holstein und seiner Vereinigung mit Dänemark begleitet. Die dahinterstehenden Motive waren vielschichtig. Bestimmend war sicher die Hoffnung, den drastischen Folgen der deutschen Niederlage möglichst zu entgehen, wozu nicht zuletzt gehörte, sich des Flüchtlingsproblems zu entledigen. Durch den massenhaften Zustrom von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen stieg die Bevölkerung Schleswig-Holsteins seinerzeit von 1,6 auf 2,75 Millionen Personen an, was Ängste vor einer Überfremdung und Überforderung auslöste.77 Gleichzeitig spielte die Vorstellung eines neuen, demokratischen und von den krassen Traditionsbrüchen wie in Deutschland verschonten Lebens in Dänemark eine Rolle. Die Gegner der Massenbewegung machten die dänischen Lebensmittellieferungen als Hauptmotivation aus und sprachen abschätzig von den "Speckdänen". Tatsächlich erfolgte damals mit großzügiger Unterstützung aus Dänemark ein starker Ausbau von Schul-, Bücherei- und Gesundheitswesen, Kirchen- und Jugendarbeit sowie Vereinsleben der Minderheit. Mit dem 1948 gegründeten Südschleswigschen Wählerverband (SSW) erhielt dieselbe ein politisches Sprachrohr, was zuvor von der britischen Besatzungsmacht wegen der damit verbundenen irredentistischen Bestrebungen verhindert worden war.78 In der dänischen Bevölkerung fand die südschleswigsche Bewegung mit der Idee einer erneuten Grenzverschiebung breite Zustimmung, und auch die verschiedenen dänischen Regierungen unterstützten dieselbe direkt oder indirekt. Aber eine parlamentarische Mehrheit fand sich dafür im Folketing zu keiner Zeit. Schon die erste Nachkriegsregierung hatte sich programmatisch festgelegt, dass die Grenze zwischen Dänemark und Deutschland feststehe.
Die Forderungen der dänischen Bewegung nach verwaltungsmäßiger Loslösung Schleswigs von Holstein und politischer Angliederung an Dänemark bei gleichzeitiger Umsiedlung der Heimatvertriebenen wurden von den deutschen Parteien, Landtagen und Regierungen des 1946 neu geschaffenen Landes Schleswig-Holstein sowie von der deutschgesinnten Bevölkerung in Südschleswig mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen.79 Durch die Gründung zahlreicher Grenzverbände wie des Deutschen Grenzvereins, der Arbeitsgemeinschaft Deutsches Schleswig (ADS), des Grenzfriedensbundes oder des Schleswig–Holsteinischen Heimatbundes (SHHB) und den wirtschaftlichen Aufschwung in der 1949 neu gegründeten Bundesrepublik nahm das 1945 am Boden liegende deutsche Selbstgefühl wieder zu, während die Anhängerschaft der dänisch gesinnten Bewegung zahlenmäßig spürbar zurückging. Die Abwanderung vieler Heimatvertriebener und Einheimischer in die pulsierenden Wirtschaftszentren der Bundesrepublik und die gezielte ökonomische Förderpolitik im Landesteil Schleswig durch das sogenannte Programm Nord ab 1953 verstärkten diese Tendenz weiter.80
Maßgeblich wurde die politische Entwicklung im Südschleswig jener Tage aber durch die britische Besatzungsmacht bestimmt, die sich zurückhaltend gegenüber beiden Seiten verhielt.81 Sie sah im Fall einer Grenzverschiebung nach Süden die Lebensfähigkeit des neuen Landes Schleswig–Holstein in Gefahr und stufte die Schwierigkeiten einer damit einhergehenden Entfernung der Flüchtlinge aus Südschleswig in andere Teile ihrer Zone als sehr groß ein. Nicht zuletzt wünschte sie keine weitere Verschärfung nationaler Gegensätze im Grenzgebiet. Am 9. September 1946 ließ die britische Regierung offiziell anfragen, welche Ziele Dänemark in Südschleswig verfolge, worauf die dänische Führung in der "Oktobernote" vom 19. Oktober 1946 entgegnete, es müsse der dortigen Bevölkerung überlassen bleiben, ob sie in Zukunft den Wunsch nach Ausübung des Selbstbestimmungsrechts hege. Regierung und Folketing würden den dänisch gesinnten Teil der Einwohnerschaft bei der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen und kulturellen Rechte unterstützen und sich für die Verlagerung der Heimatvertriebenen aus Südschleswig einsetzen. Grundsätzlich wurde eine verwaltungsmäßige Trennung Südschleswigs von Holstein begrüßt.
Sichtlich unter dem Eindruck wachsender Spannungen im Kalten Krieg machte dann das britische Foreign Office im Oktober 1948 gegenüber einer dänischen Parlamentsdelegation deutlich, dass England den Forderungen der dänisch-südschleswigschen Seite nach Abtrennung Südschleswigs von Holstein und Entfernung der Flüchtlinge nicht entsprechen könne. Allerdings werde man die dänischen Wünsche bezüglich der kulturellen Belange und in der Frage der demokratischen Grundrechte berücksichtigen. Es wurde vereinbart, auf die dänisch gesinnten Südschleswiger und die schleswig-holsteinische Landesregierung mit dem Ziel gemeinsamer Gespräche unter britischem Vorsitz einzuwirken. Im Ergebnis wurde am 26. September 1949 von allen Parteien des schleswig-holsteinischen Landtags die sogenannte "Kieler Erklärung" verabschiedet, wonach das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur frei sein sollte und nicht amtlich bestritten oder überprüft werden durfte. Sinngemäß war auch die friesische Volksgruppe in Schleswig-Holstein in diesen Grundsatz eingeschlossen, der im gleichen Jahr in den Artikel 5 der schleswig-holsteinischen Landessatzung Aufnahme fand.82 Einen Monat später garantierte das "Kopenhagener Protokoll" den Mitgliedern der deutschen Minderheit alle in der dänischen Verfassung verbrieften staatsbürgerlichen Rechte. Nichtsdestotrotz trübte sich das Verhältnis zwischen schleswig-holsteinischer Regierung und dänischer Minderheit unter Ministerpräsident Friedrich Wilhelm Lübke (1887–1954) in den Jahren 1951 bis 1954 wieder stark ein, weil der Landtag eine 7,5%–Sperrklausel für Landtagswahlen beschloss, im Zuge allgemeiner Sparmaßnahmen auch die Zuschüsse für die dänischen Privatschulen kürzte und der Regierungschef den SSW zu einer Loyalitätsbekundung drängen wollte. Nach einer Verfassungsbeschwerde des SSW wurde die Sperrklausel bei den Landtagswahlen auf 5% gesenkt. Allerdings erhielt der SSW bei der Landtagswahl des Jahres 1954 nur 3,5% der Stimmen, so dass er im Landtag nicht vertreten war.
Die sich abzeichnende Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO veranlasste das seit 1949 zum Atlantikbündnis gehörende Dänemark dazu, gegenüber der Bundesregierung eine dauerhafte Lösung der Minderheitenfrage ins Gespräch zu bringen. Das Resultat des folgenden Meinungsaustauschs stellten die Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955 mit der beiderseitigen Bestätigung der Anerkennung der jeweiligen Minderheiten dar – zu einer vertraglichen Lösung fand sich Dänemark gegenüber der Bundesrepublik aufgrund damit einhergehender Klage- und Einmischungsmöglichkeiten nicht bereit.83 Politische Konsequenz war in Schleswig-Holstein die Aufhebung der Fünf-Prozent-Klausel für den SSW sowie die Zulassung von beiderseits anerkannten Schulabschlüssen der Minderheitenschulen dies- und jenseits der Staatsgrenze.84
Ausblick: Modellfall Sønderjylland-Schleswig?
Südlich der Grenze verfestigte sich seither die Zahl der dänischen Wählerinnen und Wähler; der SSW war ab 1958 regelmäßig im schleswig-holsteinischen Landtag vertreten. Nach der Stabilisierung auf niedrigem Niveau mit jeweils einem Abgeordneten verzeichnete der SSW seit 1987 und vor allem der Mitte der 1990er Jahre wieder steigende Stimmanteile, nicht zuletzt, weil er nach einer Wahlrechtsreform nun auch mittels Zweitstimme im Landesteil Holstein wählbar wurde.
Offiziellen Angaben zufolge umfasst die deutsche Minderheit in Nordschleswig ca. 15.000 bis 20.000 Personen. Seit den 1950er Jahren gingen die Zahlen stetig zurück, sodass das Mandat im Folketing 1979 verloren ging.85 Als Kompensation wurde 1983 ein bis heute existierendes Sekretariat der deutschen Volksgruppe in Kopenhagen eingerichtet. Im nordschleswigschen Amtsrat, der in etwa einem deutschen Kreistag entspricht, ist die Volksgruppe weiterhin vertreten. Die Kommunalreform von 2007 sichert der Volksgruppe zusätzlich die politische Vertretung in den neuentstandenen Großkreisen Tondern, Apenrade, Sonderburg und Hadersleben.86
Mehr und mehr wurden die beiden Minderheiten nicht mehr als Unruheherde und Störfaktoren, sondern als Bereicherung der jeweiligen Landeskultur angesehen. Die positive Entwicklung der gegenseitigen Achtung und respektvollen Behandlung im Grenzraum brachte diesem im europäischen Rahmen den Ruf eines Modellfalls ein.87 Die schleswig-holsteinische Landesregierung beantragte im März 2018 die Aufnahme des Minderheitenmodells in das immaterielle Kulturerbe der Bundesrepublik. Anerkennung und Schutz der Minderheiten sowie Kooperation mit selbigen stehen seit nunmehr über 60 Jahren beiderseits des adulten Grenzverlaufs auf der Tagesordnung.
Spätestens mit den Bonn-Kopenhagener Erklärungen war das Stadium des "adult borderland" erreicht.88 Als Søren Espersen (geb. 1953), Vizevorsitzender der mitregierenden rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, 2017 vorschlug, die Grenze zu Deutschland neu zu ziehen und Südschleswig bis zur Eider inklusive Nordfriesland mit Dänemark zu vereinen, traf er in Politik und Presse sowie bei der dänischen Minderheit in Deutschland auf Unverständnis. Der Vorsitzende des SSW, Lars Harms, verurteilte Espersens Äußerung gar als "unzeitgemäß, unrealistisch" und als "gefährliches Spiel mit dem jahrzehntelangen Grenzfrieden".89
Die Jahrhunderte alte und von politischen, religiösen, ökonomischen und kulturellen Grenzen unterschiedlichen Verlaufs geprägte Grenzregion zwischen Deutschland und Dänemark war im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der am Status Schleswig-Holsteins entzündeten Verfassungs- und immer mehr der stark an den verschiedenen Sprachen festgemachten Nationalitätenfrage in ihrem Verlauf und ihrer Qualität ("infant und adolescent borderland") neu definiert und nach dem Ersten Weltkrieg nochmals modifiziert worden. Dieser Prozess war spannungsreich und entlud sich 1848–1851 und 1864 in zwei schweren kriegerischen Konflikten. Auch im 20. Jahrhundert stand es um die allgemeine Akzeptanz des Grenzverlaufs bis zum Erreichen des "adult borderland" lange Zeit nicht zum Besten. Am Beispiel des Deutsch-Dänischen Grenzraums zeigt sich mithin sehr gut, dass "die Durchsetzung von Rechts- und Verwaltungsreformen" im Zuge einer Grenzziehung "mehr Zeit als ihr Inkrafttreten" benötigt.90