Einleitung
Die europäische Rechtsentwicklung ab etwa 1750 ist durch das immer wieder auftretende, meist erfolgreiche Bemühen gekennzeichnet, größere Rechtsgebiete – z.B. das Zivilrecht oder das Strafrecht – mittels Kodifikationen zu regeln.1 Unter Kodifikation wird dabei ein umfangreiches, systematisch angelegtes Gesetzbuch mit prinzipieller Ausschlusswirkung verstanden, das heißt, dass das betreffende Rechtsgebiet ausschließlich von der Kodifikation erfasst wird und diese daher andere Rechtsquellen aufhebt. Daraus ergeben sich weitere Folgerungen wie vor allem die, dass der Richter in der Kodifikation die Grundlage seiner Entscheidungen zu finden hat. Manche Kodifikationen binden daher den Richter durch Regeln an eine bestimmte Art der Anwendung (meist als Auslegung verstanden) und der Lückenfüllung. Gleichzeitig versagen sie den Urteilen eine bindende Kraft über den Einzelfall hinaus: Es soll neben der Kodifikation kein Richterrecht entstehen. Dies steht im Einklang mit der erwähnten Aufhebung anderer Rechtsquellen. Die Ausschlusswirkung der Kodifikationen lässt sich jedoch nicht vollständig durchführen. Manche Kodifikationen enthalten daher Regelungen, in welchem Maße noch andere Rechtsquellen des betreffenden Rechtsgebietes herangezogen werden können.
Nur bestimmte Teile der Rechtsordnungen erwiesen sich als kodifikationsfähig, nämlich jene, von denen angenommen wird, dass ihre Regeln keinen leicht veränderlichen Charakter haben, sondern von nahezu ewigem oder doch längerfristigem Bestand sind. Als nicht kodifikationsfähig erweist sich in diesem Sinne das Verwaltungsrecht, da sein Inhalt häufigen Änderungen unterliegt. Die wichtigsten Kodifikationen betreffen vor allem das Justizrecht, das heißt das von den Gerichten anzuwendende Recht (das Zivilrecht und Zivilprozessrecht sowie das Strafrecht und das Strafprozessrecht). Als Sonderzivilrecht traten Kodifikationen des Handelsrechts hinzu. Ein weiteres Feld für Kodifikationen bietet das Verfassungsrecht.2 Den "Verfassungsstaat", wie er seit der Französischen Revolution entsteht, kennzeichnet der Umstand, dass das Verfassungsrecht eben in einer "Verfassung" (im formellen Sinn verstanden als Verfassungsurkunde), in einer "Konstitution", einem "Grundgesetz" kodifiziert ist. Auch hier spielt der Gedanke eine Rolle, dass es kein außerhalb der "Verfassung" stehendes Verfassungsrecht geben soll, es sei denn, die Verfassung verweist auf Ausführungsgesetze. Obwohl sie die Idee einer "Kodifikation" teilen, folgen die Kodifikationen des Justizrechts einer anderen Entwicklungslinie als jene des Verfassungsrechts.
Insgesamt erlebt Europa drei signifikante Kodifikationswellen: um 1800 die des Naturrechts, um 1900 die der Pandektistik und schließlich die im sogenannten Sozialistischen Rechtskreis, die sich über einen längeren Zeitraum hinzieht und erste Höhepunkte nach der russischen Revolution verzeichnet (Zivilgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, 1922) und dann verstärkt in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zum Tragen kommt. Im Zentrum jeder dieser Entwicklungen steht das Justizrecht. Dazu kommen allerdings auch Kodifikationen auf anderen Rechtsgebieten.
Kodifikationen des Justizrechts
Im Vordergrund der zeitgenössischen und heutigen Aufmerksamkeit stehen die Kodifikationen des Zivilrechts. Dies hat einen einfachen Grund: Das Zivilrecht betrifft jeden Staatsbürger, was weder auf das Strafrecht noch auf die nur im Streitfall anzuwendenden Prozessrechte zutrifft. In der Entwicklung der Zivilrechtskodifikationen lassen sich mehrere Schübe feststellen, die im Folgenden beschrieben werden. Sie wurzeln in vorausgegangenen rechtstheoretischen Situationen, ihre Ursache liegt in staatspolitischen Erfordernissen. Die übrigen Kodifikationen des Justizrechts gruppieren sich meist um sie herum.
Die vorkodifikatorische Zeit
Im Zuge der Rezeption des Römischen Rechts setzte im 16. Jahrhundert neben anderen Gesetzgebungsakten auch das Bemühen ein, möglichst das gesamte Recht eines Landes in einer Landesordnung durch Gesetze zu erfassen.3 Die meisten Länder begnügten sich allerdings mit Teil-Ordnungen, etwa für Straf- und Strafprozessrecht, zum Teil auch deshalb, weil der Erlass einer wirklich umfassenden Landesordnung ein zu ehrgeiziges Ziel war. Ergingen dennoch "Landesordnungen", erfassten sie entgegen ihrer Bezeichnung nicht das gesamte Landesrecht, sondern bestimmte Rechtsgebiete, wie etwa Zivilrecht, Strafrecht, Prozessrecht und Verwaltungsrecht (Policeyrecht), und davon oft auch nur bestimmte Teile, auf dem Gebiet des Zivilrechts beispielsweise Erbrecht und Vertragsrecht. Daher traten zu den Landesordnungen weitere Gesetze hinzu. So fehlte diesen Landesordnungen die Ausschlusswirkung späterer Kodifikationen, meist galt auch Gemeines Recht subsidiär.
Die naturrechtlichen Kodifikationen
Aus der Verbindung des absoluten Staates mit der naturrechtlich orientierten Rechtswissenschaft und mit der Gesetzgebungslehre entstanden die ersten Kodifikationen. Ziel des Staates war die Rechtvereinheitlichung, dies war besonders für zusammengesetzte Staaten wie die preußische und die Habsburgermonarchie relevant. Das rechtswissenschaftliche Bemühen betraf die Festschreibung von im Naturrecht wurzelnden und daher ewig "richtigen" Rechtsregeln, die Gesetzgebungslehre strebte nach einer systematischen Ordnung und exakter Begrifflichkeit für diese Rechtsregeln. Zwei Wege wurden zum Erreichen dieses Ziels eingeschlagen. Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten (ALR) von 17944 folgte noch der älteren Landesordnungskonzeption und enthält daher in ca. 20.000 Paragraphen sowohl Öffentliches Recht (etwa Staatskirchenrecht, Verwaltungsrecht) und Zivilrecht (allgemeines Bürgerliches Recht, Handelsrecht) als auch Strafrecht. Das ALR brachte nicht die unterschiedslose Rechtseinheit, denn regionales Recht blieb gültig, einige Provinzen erhielten sogar eigene Provinzialgesetzbücher. Das ALR war ausdrücklich an der in Adel, Bürger und Bauern gegliederten Gesellschaftsordnung orientiert, ging also auch nicht von der unbedingten Gleichheit aller Staatsbürger aus.
Den anderen, moderneren Weg beschritten vor allem Bayern, Österreich (der nicht ungarische Teil der Habsburgermonarchie) und Frankreich. Sie erließen mehrere einzelne Kodifikationen für größere Teilbereiche des Justizrechts. Bayern5 lehnte sich in der Planung noch am preußischen Vorbild an. Der bayerische, ebenfalls umfassend gedachte Codex Maximilianeus bestand aber bereits aus selbständigen Gesetzbüchern für das Strafrecht (1751), das Zivilprozessrecht (1753) und das allgemeine Zivilrecht (Chur-Bayerisches Landrecht, 1756). Bei diesem handelt es sich allerdings nicht um eine Kodifikation, da örtliche wie regionale Rechte und auch das Gemeine Recht in Geltung blieben. Österreich6 hingegen nahm schon äußerlich Abstand von einer Gesamtkodifikation, hier wurden vielmehr eine Reihe von Kodifikationen für einzelne Rechtsgebiete wie das Straf- und Strafprozessrecht (erstmals 1768) oder das Zivilprozessrecht (erstmals 1781) erlassen. Besonders hervorzuheben ist das Zivilrecht. Dafür trat das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch 1786 in Kraft, von drei geplanten Teilen allerdings nur der erste Teil. Immerhin ist dieses unvollständige Teil-ABGB von 1786 die erste Zivilrechtskodifikation überhaupt. Die erste vollständige Zivilrechtskodifikation war dann das Bürgerliche Gesetzbuch für das Kronland Galizien von 1798.7 Auf ihm fußt das 1812 in ganz Österreich (aber nicht in Ungarn) in Kraft getretene Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB). Nun waren in Österreich folgende Rechtsgebiete des Justizrechts durch Kodifikationen erfasst: Zivilprozessrecht (1796), Straf- und Strafprozessrecht (1803) und Zivilrecht (1812), nicht jedoch das Handelsrecht. Auch Frankreich ging den Weg der Einzelkodifikationen mit den cinq codes, den fünf justizrechtlichen Gesetzbüchern, die unter Kaiser Napoleon I. (1769–1821) []erlassen wurden.8 Dies sind: der Code civil von 1804, zur Zeit von Napoleon I. und Napoleon III. (1808–1873) Code Napoléon genannt, das Zivilprozessrecht (1806), das Handelsrecht (1807), das Strafprozessrecht (1808) sowie schließlich das materielle Strafrecht (1810). ABGB und Code civilbrachten – anders als das ALR – die strikte Rechtsvereinheitlichung in ihrem Geltungsgebiet.
Derartige Kodifikationen waren um 1800 Bestandteil eines modernen Staates. Mit ihnen garantierte er eine geordnete, erfahrbare und verlässliche Rechtsordnung in den Bereichen des Zivil-, Straf- und eventuell Handelsrechts samt einer sie begleitenden Gerichtsorganisation mit Zivilprozess- und Strafprozessordnungen. Schon aus diesem Grund griffen Mittel- und Kleinstaaten bei der Ausarbeitung ihrer eigenen Kodifikationen auf die Vorlagen aus Österreich und Frankreich zurück. Dazu kamen noch weitere Gründe.
Der Code civil gewann mit der Ausdehnung des französischen Staates auf die Niederlande und westliche Teile Deutschlands und mit der Errichtung französischer Satellitenstaaten, wie etwa des Königreichs Westfalen, des Großfürstentums Warschau und des Königreichs (Ober-)Italien, weite Verbreitung. Er diente so mit anderen rechtlichen (siehe unten) und machtpolitischen Maßnahmen der französischen Hegemonie in Europa, dem "Grand Empire". Allerdings entsprach der Code civil auch dem zeitgenössischen Modernisierungsbedürfnis des reformorientierten Teiles der Gesellschaft. Als weitere Ausbreitungsgebiete folgten vor allem die französischen Kolonien, beginnend 1840 mit Algerien. Unterstützt auch durch die internationale Dominanz der französischen Sprache beeinflusste der Code civil Kodifikationen unter anderem in Rumänien (1863), Italien (1865) und Spanien (1888/1889).
Bescheidener blieb der Einfluss des ABGB, dessen Verbreitung nicht von imperialistischen Bestrebungen vorangetrieben wurde. Das deutschsprachige Mitteleuropa beeindruckte das ABGB allerdings als modernste Kodifikation in seiner Sprache. Dem Vorbild des ABGB folgten die zwischen 1824 und 1855 erstellten Zivilgesetzbücher von mehreren Kantonen der Deutschschweiz (Bern, Luzern, Solothurn und Aargau), die mit anderen österreichischen Gesetzen wie z.B. den Strafgesetzen von 1803 und 1852 sowie den Zivilprozessordnungen, insbesondere jener von 1895, eine "österreichische Rechtsgruppe" bildeten, während die frankophonen Kantone der West- und Südschweiz dem Code civil folgten.9 Außerdem nahmen sich auch deutsche Staaten das ABGB zum Vorbild,10 zum Beispiel Bayern (in mehreren Fällen), und auch die Vorarbeiten zum Sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1865 beruhten auf dem ABGB. Dazu trug neben der inhaltlichen Qualität des ABGB auch die Stellung Österreichs als Vormacht im Deutschen Bund bei. Im Südosten Europas wurden Gesetzbücher im Fürstentum Moldau (später ein Teil Rumäniens) schon 1817 (Kodex Kallimachus) und in Serbien 1844 (Code Bogisic) vom ABGB beeinflusst. Darin zeigt sich die Westorientierung dieser Staaten, viele Verfasser dieser Gesetzbücher hatten in Wien studiert. Im Fürstentum Liechtenstein trat das ABGB bereits 1812 in Kraft.11
Im Gegensatz zum Code civil, der strikte Gleichheit postulierte, enthielt das ABGB noch eine Reihe an ständischen Rechtsinstituten,12 etwa des Adels (Familienfideikommiss)13 und des Bauernstandes (Geteiltes Eigentum in den Grundherrschaften), ohne aber diese ständischen Beschränkungen zu benennen. Vom Text der Kodifikation her stand sie allen Ständen zur Verfügung. Insofern war das ABGB neuständisch orientiert und für eine künftig gleiche Gesellschaft offen.
Diese Offenheit des ABGB erklärt übrigens die Tatsache, dass es in Staaten mit unterschiedlichen Staats- und Gesellschaftssystemen Verwendung finden konnte wie beispielsweise im absoluten Kaisertum Österreich, aber auch im konstitutionell-monarchischen Bayern, in der konservativen Kantonsrepublik Luzern ebenso wie im liberalen Kanton Bern. Viele seiner Bestimmungen wurden allerdings durch zusätzliche Regelungen außerhalb der Kodifikation ergänzt, etwa in Österreich mit der entsprechenden Beschränkung der ständischen Rechtsinstitute auf einen bestimmten Stand, etwa des Familienfideikommiss auf den Adel, und insbesondere dort, wo es sich um wandelbare Rechtsinstitute handelte, wie beim Erbrecht im Bauernstand. Dies forderten zum Teil Verweisungen im ABGB selbst. Durch sie öffnete sich die Kodifikation für weitere Regelungen. Dies trifft in ähnlicher Weise auch auf das ALR und den Code civil zu.
Nach dieser ersten Welle mündete die Kodifikationsbewegung in ruhigere Bahnen. Nicht mehr dem Vorbild von Code civil bzw. ABGB, sondern dem Geist der Historischen Rechtsschule folgte das Zürcher Privatrechtliche Gesetzbuch (1853–1855).
Der Beginn der Verfassungskodifikationen
Die rechtliche Festlegung von Herrscherrechten beruhte noch in der Neuzeit oft auf mittelalterlichen Grundlagen. So leitete sich etwa die Stellung der Kurfürsten im Römisch-deutschen Reich mit ihrer Befugnis zur Kaiserwahl (so das Verständnis ab 1500) aus der Goldenen Bulle von 1356 ab. Derartige Regelungen blieben aber stets punktuell und wurden durch Verträge und Gewohnheitsrecht ergänzt. Im Zuge der Französischen Revolution und nahezu parallel bei den nordamerikanischen Staatsgründungen entwickelte sich erstmals der Gedanke der Verfassungskodifikation:14 Verfassungsrecht sollte gerade im Zeichen der Volkssouveränität mit Ausschlusswirkung zum Schutz vor willkürlichen, vor allem monarchischen Eingriffen festgeschrieben werden. So entstand etwa in den späteren USA ab den 1770er Jahren sowie in Frankreich ab 1791 der kodifikatorische Verfassungstyp, der sich in Europa von Frankreich aus verbreitete und schließlich auch die 1810 bis 1898 aus den spanischen und portugiesischen Kolonien hervorgehenden Staaten in Mittel- und Südamerika erfasste,15 1889 dann sogar Japan.16 Eine Verfassungskodifikation – "Verfassung", "Konstitution" – zählte namensgebend zum Wesen des modernen "Verfassungsstaates", der sich ab etwa 1800 herausbildete.
Die Kodifikationen des Verfassungsrechts beruhen auf anderen theoretischen Grundlagen und haben andere Ursachen als die Kodifikationen des Zivilrechts: Staatsgründung oder tiefgreifender Wechsel des Regierungssystems waren oft der Anstoß für die Kodifikation einer Verfassung. Die theoretischen Grundlagen lassen sich in den frühen Verfassungskodifikationen noch ziemlich klar erkennen, bis sie dann nach 1850 allmählich von Verfassungsmodellen abgelöst werden.
So gab es für den Erlass der ersten beiden Verfassungen überhaupt, der der USA und der des revolutionären Frankreichs, politische Gründe: Im ersten Fall eine Staatsgründung – die britischen Kolonien in Nordamerika verwandelten sich 1776 in die Vereinigten Staaten von Amerika[] –, im zweiten Fall kam es zu einem tiefgreifenden Wechsel des Regierungssystems, als in Frankreich 1791 die absolute durch die konstitutionelle Monarchie und 1793 diese dann durch die Republik abgelöst wurde. Jede Veränderung des republikanischen Systems in Frankreich (in den Jahren 1795, 1799, 1802) erfolgte durch eine neue Verfassung, ebenso der Wandel zur Monarchie Napoleons im Jahr 1804, die Rückkehr zum konstitutionellen Königtum im Jahr 1814, dessen Umwandlung in eine parlamentarische Monarchie im Jahr 1830 und der abermalige Umschwung zur Republik im Jahr 1848.
Eine erste Welle an Verfassungskodifikationen rief die Etablierung des napoleonischen Staatensystems in Europa hervor, erst durch die Gründung französischer Tochterrepubliken (z.B. der Helvetischen Republik [Schweiz, 1798]17 oder der Cisalpinischen Republik [Oberitalien, 1797]), sodann monarchischer Satellitenstaaten Frankreichs (unter anderem18 Westfalen [1807] und Spanien [1808]). Der französische Einfluss, im Falle Westfalens der von Napoleon I. selbst, führte dazu, dass diese Staaten als dezentralisierte Einheitsstaaten errichtet wurden. Im Falle der Schweiz allerdings scheiterte dieses Vorhaben. Die von Napoleon herbeigeführte Mediationsakte von 1803 schuf einen Staatenbund selbständiger Kantone. Im Zuge dieser Entwicklungen erhielt auch das stark vergrößerte Bayern 1808 seine erste Verfassung.19 Unabhängig davon gaben sich z.B. auch Norwegen (1814) und Sardinien-Piemont (1821) Verfassungen.
Die Ablösung des napoleonischen Staatensystems durch das des Wiener Kongresses initiierte ab den Jahren 1814/1815 die zweite Verfassungswelle,20 die sich etwa 1818 in Bayern und 1819 in Württemberg niederschlug. Eine dritte folgte 1830 nach der Revolution und dem Erlass von neuen Verfassungen in Frankreich und im neu entstandenen Belgien (1831) mit neuerlassenen Verfassungen in deutschen Staaten wie insbesondere Hessen-Kassel und Sachsen im Jahr 1831. Erst mit der durch die Revolutionen von 1848 bedingten vierten Verfassungswelle traten Preußen, Österreich und Ungarn in den Kreis der Verfassungsstaaten ein. Österreich mit Ungarn schied allerdings 1852 wieder aus den Verfassungsstaaten aus, da die Verfassung von 1849 aufgehoben wurde.
Andere Verfassungskodifikationen hatten ihre Ursachen in spezifischen Situationen, zum Beispiel in der Staatsgründung Griechenlands, das sich 1821 vom Osmanischen Reich löste, oder in der Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahr 1867, der 1870/1871 zum Deutschen Reich erweitert wurde. In bereits bestehenden Staaten wurde der Wechsel politischer Systeme auch weiterhin durch den Erlass von neuen Verfassungen begleitet, so z.B. 1867 in Österreich21 (ohne Ungarn), als die konstitutionelle Monarchie wieder eingeführt wurde, oder in Frankreich, als nach dem zweiten Kaiserreich 1870 die Rückkehr zur Republik erfolgte.
Nahezu alle europäischen Verfassungen standen miteinander in Wechselbeziehungen, was das Entstehen einer Verfassungsliteratur ermöglichte, auf die sich die Verfassungsautoren zum Teil auch ausdrücklich beriefen. Manche Verfassungen dienten allerdings spezifischen Zwecken. Dazu zählte die Integration neu erworbener Gebiete wie 1807 im neugeschaffenen, unhistorischen Westfalen und 1808 in Bayern. In der Regel erhoffte man sich von Verfassungen auch einen Modernisierungsschub, indem Verwaltung und Gerichtsbarkeit ein Monopol des Staates werden und nicht mehr von Grundherren oder Kirchenfürsten ausgeübt werden sollten.
Die Ideen der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung und der Menschenrechte bildeten die theoretischen Wurzeln der Verfassungskodifikationen bis 1848. In konsequenter Form führte dies zum Verfassungstyp der demokratischen Republik in den USA und zeitweise in Frankreich. In Europa hingegen verbanden sie sich in der Regel mit der Monarchie, wobei in der konstitutionellen Variante der Monarch mit seiner Regierung dominierte, während diese in der parlamentarischen Spielart unter dem Einfluss des Parlaments stand wie besonders in Belgien 1831. Beide Formen wurden schon 1848 als alternative Verfassungsmodelle betrachtet, wobei die konstitutionelle Monarchie den Standard bildete, der nach dem Ersten Weltkrieg von der parlamentarischen Monarchie oder von Republiken abgelöst wurde.
In der Regel sahen die Verfassungskodifikationen selbst ihre Ergänzung durch weitere Gesetze vor, wie etwa durch Wahlordnungen, Statute der Selbstverwaltung und Durchführungsgesetze zu den Grundrechten.22 Die Verfassung im weiteren Sinn bestand daher schon früh aus mehreren Quellen. In Österreich waren 1867 an die Stelle einer Verfassungsurkunde mehrere "Staatsgrundgesetze" getreten.
Die pandektistischen Privatrechtskodifikationen
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand im Zuge der Einigung Italiens und Deutschlands wie auch des Ausbaus des Bundesstaates in der Schweiz abermals das staatliche Bedürfnis nach einer Vereinheitlichung des Zivilrechts, das sich mit der vorherrschenden Wissenschaftsströmung der aus der Historischen Rechtsschule hervorgegangenen Pandektistik verband.23 Die Pandektistik zeichnete sich durch eine starke Begrifflichkeit und eine Systematisierung nach dem sogenannten Pandektenschema aus: Allgemeiner Teil, Familienrecht, Schuldrecht, Sachenrecht und Erbrecht. Rund einhundert Jahre nach den naturrechtlichen Kodifikationen gab es daher eine zweite Kodifikationswelle (vor allem auf dem Gebiet des Zivilrechts ab 1865 mit dem Codice civile Italiens und dem Sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuch sowie dem Obligationenrecht (Schuldrecht) der Schweiz von 1886). Sie kulminierte im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB)und dem Handelsgesetzbuch (HGB) des Deutschen Reichs – beide Kodifikationen wurden bewusst im Jahr 1900, zum Jahrhundertbeginn, in Kraft gesetzt – sowie im Schweizer Zivilgesetzbuch (ZGB) von 1912. Das BGB gilt als die pandektistische Kodifikation schlechthin. Zu diesem Kreis zählen des Weiteren der Codex Iuris Canonici von 1917, das Gesetzbuch der katholischen Kirche, ferner das japanische Zivilgesetzbuch von 1898.
Das BGB hatte eine starke Ausstrahlung auf Rechtswissenschaft und Gesetzgebung. Das ABGB erfuhr unter dem Einfluss der Pandektenwissenschaft eine tiefgehende Erneuerung durch die sogenannten Teilnovellen von 1914, 1915 und insbesondere 1916,24 allerdings ohne dadurch seinen naturrechtlichen Charakter zu verlieren. Im Zuge der Reformen von Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) in der Türkei wurden 1926 dagegen das ZGB und das Obligationenrecht übernommen. Ein Grund dafür war, dass sie als die modernsten Zivilrechtskodifikationen galten, außerdem war die französischsprachige Ausfertigung des Schweizer Rechts der internationalen Verständlichkeit und Verbreitung zuträglich.25
Die Notwendigkeit der Rechtsvereinheitlichung brachte Kodifikationen auch für andere Rechtsgebiete hervor wie etwa im Deutschen Reich das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 und die Reichszivilprozessordnung von 1877; in Österreich erhielt das Zivilprozessrecht 1898 eine moderne Kodifikation.
Die Verfassungskodifikationen nach dem Ersten Weltkrieg
Die politische Situation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs führte zu einer abermaligen Welle an Verfassungskodifikationen, ausgelöst vor allem durch den Untergang des Russischen Reiches, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches. So gab es in den um 1918 neu entstehenden Staaten – von Finnland über Irland26 bis in die Türkei – in erster Linie einen Bedarf an Verfassungen, weniger an Kodifikationen des Justizrechts. Nach der Verkündung von Gründungsakten, die meist als provisorisch verstandenen wurden, machten sich die neuen Staaten an die Ausarbeitung von Verfassungskodifikationen. Dies ergab sich erstens zwingend aus dem Bedürfnis nach einer endgültigen Regelung von Staats- und Regierungsform nach der Ablösung bzw. Ablehnung der Monarchie. Dazu kam zweitens das Moment der Integration der einzelnen Staatsteile, was besonders in völlig neuartigen Gebilden wie zum Beispiel im Fall der multiethnischen Tschechoslowakei besonders offensichtlich wird.27 Auch wo die staatliche Kontinuität erhalten blieb, konnte es zu Systemwechseln und der Verabschiedung neuer Verfassungen kommen. Dies zeigt am deutlichsten das Deutsche Reich mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919,28 die nach dem Ort der Beschlussfassung benannt ist: Der Wechsel von der Monarchie zur Republik, die Stärkung der Reichsgewalt und der Abbau der Sonderrechte einzelner Länder sollten durch die Verfassung deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Das theoretische Fundament neuer Verfassungen bildete nun stets die Volkssouveränität. Sie wurden daher von einer konstituierenden Nationalversammlung unter dieser (so in Deutschland und Österreich) oder einer ähnlichen Bezeichnung erlassen.29
Eine kleinere Verfassungswelle ergriff einige jener Staaten, die sich im weiteren Verlauf bewusst vom demokratischen Prinzip abwandten, wie Portugal (1933), Österreich (1934) und die Slowakei (1939).30 Obwohl es hier ähnliche antidemokratische Entwicklungen gab, behielten aber etwa Italien schon ab 1922, das Deutsche Reich ab 1933, die Tschechoslowakei ab 1938 ihre bisherigen Verfassungen, die sie allerdings stark modifizierten. In Frankreich verhinderte im Zweiten Weltkrieg die deutsche Besatzungsmacht das Inkrafttreten eines Verfassungsentwurfes.31
In manchen Staaten setzte sich anstelle des Kodifikationsgedankens ein formelles Verfassungsverständnis durch, das es erlaubte, auch außerhalb der Verfassungsurkunde als nunmehrigem Stammgesetz einzelne Verfassungsgesetze zu gruppieren, so besonders in Österreich, ab 1920 mit zunehmender Tendenz.32 Andere Staaten wie z.B. das Deutsche Reich blieben hingegen dem Gedanken der Verfassungskodifikation treu und verlangten durch ein Inkorporationsgebot die Aufnahme von neuem Verfassungsrecht in die Verfassungsurkunde.
Die Kodifikationen des Justizrechts nach dem Ersten Weltkrieg
Zu Kodifikationen des Justizrechts kam es in den neuen Staaten von 1918/1919 wie etwa in der Tschechoslowakei und in Polen trotz entsprechender Bemühungen nicht.33 Vielmehr blieben die vor den Staatsgründungen geltenden Kodifikationen in Kraft, etwa in den ehemals österreichischen Teilen der Tschechoslowakei und Polens das ABGB und in Polens ehemals preußischen Gebieten das BGB. In diesen Staaten erwiesen sich somit die bewährten Justizrechts-Kodifikationen als vorerst stärker als die neue Staatlichkeit: Trotz des einheitlichen Staatsgebietes galten damit mehrere Kodifikationen nebeneinander wie etwa auch in Jugoslawien.
Das Verwaltungsrecht wurde von der Kodifikationsbewegung nur wenig berührt,34 immerhin wurden 1925 in Österreich das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz, das Verwaltungsstrafgesetz und das Verwaltungsvollstreckungsgesetz kodifiziert. In Württemberg entstand 1931 der Entwurf zu einer Verwaltungsrechtsordnung. Oftmals tendierte nun die Gesetzgebung gerade im Zivilrecht zum Erlass von Einzelgesetzen außerhalb der Kodifikationen.35 So entstanden beispielsweise 1912 bzw. 1919 in Österreich und im Deutschen Reich Baurechtsgesetze, 1922 bzw. 1923 Mietengesetze, 1938 dann im Deutschen Reich (mit Österreich) das Ehegesetz. Aber der Kodifikationsgedanke blieb erhalten. An eine neue Kodifikation hatte das nationalsozialistische Deutschland mit dem Erlass eines Volksgesetzbuches gedacht, das die traditionelle Grenze zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht zum Teil aufgehoben hätte, da es einer neuartigen Gliederung nach Lebensbereichen wie etwa Familie, Erbe und Arbeit folgen sollte.36 Im Gegensatz zu dieser Sicht ergingen als späte Ausläufer der pandektistischen Kodifikation die Zivilgesetzbücher Italiens (1939/1942) und Griechenlands (1946).
Die Verfassungskodifikationen nach dem Zweiten Weltkrieg
Ähnlich wie nach dem Ersten schlugen sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Umwälzungen in der Staatenwelt in einer Welle von Verfassungskodifikationen nieder. Diesmal lag die Ursache nicht wie nach 1918 in Staatsgründungen, sondern in der Wiederherstellung demokratischer Verfassungsstrukturen. Besonders offensichtlich ist dies im Falle Deutschlands.37 Zuerst ergingen zwischen 1946 und 1947 eine Reihe von Verfassungen für die wiederhergestellten Länder, wie z.B. Bayern und Sachsen, und für Neugründungen, wie etwa Brandenburg und Nordrhein-Westfalen. Aufgrund der politischen Situation folgten 1949 zwei Verfassungen mit Geltungsanspruch für das gesamte Deutschland in den Grenzen von 1937: im Bereich der westlichen Besatzungsmächte das ("Bonner") Grundgesetz für eine Bundesrepublik Deutschland und in der sowjetischen Besatzungszone die Verfassung für eine Deutsche Demokratische Republik (DDR). Neue Verfassungen gaben sich unter anderem auch Frankreich (1946), Italien (1948), Ungarn (1949) und die wiederhergestellte Tschechoslowakei (1948); Österreich griff auf seine Verfassung von 1920/1929 zurück. Unbestritten folgte diese Verfassungswelle dem demokratischem wie auch dem republikanischen Prinzip: In Ungarn, Bulgarien und Italien war 1946 die Monarchie abgeschafft worden, ein Jahr später folgte Rumänien.
Die "sozialistischen" Kodifikationen
Durch die Einrichtung kommunistischer Systeme erlebten die sich als "sozialistische Staaten" verstehenden Satelliten Sowjetrusslands in Osteuropa38 zwischen 1950 und 1976 eine Kodifikationswelle.39 Da es um die Umwandlung der Staats- und Gesellschaftsordnung ging, betraf sie so gut wie alle Rechtsbereiche. Insgesamt galt es, das "bürgerlich-bourgeoise Recht" durch "sozialistisches Recht" zu ersetzen. Dies betraf einmal das Verfassungsrecht. Die DDR nahm mit der Verfassung von 1968 Abschied von der noch 1949 beobachteten Verfassungstradition. Ansonsten blieb man äußerlich im Wesentlichen den bisherigen Teilrechtssystemen verhaftet und schuf für diese neue Kodifikation. Die DDR40 verteilte das traditionelle Zivilrecht auf zwei Kodifikationen: das Familiengesetzbuch von 1965 sowie das Zivilgesetzbuch von 1976. Seine Gliederung zeigt einen Anklang an Lebensbereiche wie etwa "Verträge zur Gestaltung des materiellen und kulturellen Lebens" (Wohnungsmiete, Versicherungen, "Reise und Erholung"). Da der Begriff des "persönlichen Eigentums" stark eingeschränkt war, gewann die "Nutzung von Grundstücken und Gebäuden zum Wohnen und zur Erholung" besondere Bedeutung. Weitere Kodifikationen ergingen in der DDR unter anderem mit dem Arbeitsgesetzbuch (1961) und dem Strafgesetzbuch (1968). Der wesentliche Unterschied zu bisherigen Kodifikationen bestand vor allem in der Bedeutung von ideologischen "Grundsätzen" wie etwa jenem des "sozialistischen Zivilrechts": Sie bestimmten im Sinne der Staatsdoktrin Auslegung und Anwendung der übrigen Regelungen. Außerdem galten Parteitagsbeschlüsse der Staatspartei SED als Rechtsquelle. Ähnlich war die Situation in den übrigen sowjetischen Satellitenstaaten wie beispielsweise nach dem tschechoslowakischen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1950.41 Mit der Eingliederung der Länder der DDR in die Bundesrepublik Deutschland verloren die DDR-Kodifikationen ihre Gültigkeit. Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft in anderen Staaten erfuhren die dortigen "sozialistischen" Kodifikationen weitgehende Veränderungen und standen bzw. stehen so bis zum Erlass neuer Kodifikationen in Kraft. Dies gilt auch für das Verfassungsrecht.
Dekodifikation und Rekodifikation
In den Staaten außerhalb des kommunistischen Ostblocks schien nach 1945 nahezu das Ende der Kodifikationen im Zivilrecht gekommen. In zunehmendem Maße wurden sie von Nebengesetzen ausgehöhlt. War deren Erlass in der Zwischenkriegszeit eher als Ausnahme angesehen worden, so galt er nun als gesetzgeberische Alternative, wie sich zum Beispiel im Erlass insbesondere von Wohnungseigentumsgesetzen, Mietengesetzen, Versicherungsvertragsgesetzen und Verbraucherschutzgesetzen zeigt: Die Dekodifikation,42 das heißt die Auflösung der Kodifikationen, schien sich endgültig Bahn zu brechen. Die Niederlande überraschten daher 1992 mit einem neuen Bürgerlichen Gesetzbuch. In Deutschland wurden schließlich einzelne Materien in das BGB zurückgeführt wie beispielweise das Eherecht im Jahr 1998. Die Rekodifikation stoppte die Dekodifikation. In Österreich setzte sich diese Kehrtwende nicht durch. In den ehemaligen Ostblockstaaten hingegen lebte der Kodifikationsgedanke erneut auf: Hier galt es, die "sozialistischen" Kodifikationen abzulösen. Im Bereich des Zivilrechts begannen in fast allen diesen "Reformstaaten" Arbeiten an einer neuen Kodifikation. Während dieser Entwicklungsprozess in den meisten Staaten noch nicht abgeschlossen ist, traten in Albanien (1994), Russland (1994–2008), Estland (1993–2002) und Litauen (2001) bereits neue Zivilrechtskodifikationen in Kraft.