Einleitung
Der Romanische Rechtskreis gehört zum kontinentaleuropäischen Rechtskreis1 und ist in Abgrenzung zum Common law system dem Civil law system zuzuordnen. Er umfasst im engeren Sinn die Länder Frankreich, Spanien, Italien, Belgien, die Niederlande, Portugal und Rumänien: Die Privatrechtsordnungen dieser Länder sind maßgeblich vom französischen Code civil (1804) beeinflusst.2 Die größte Wirkung innerhalb dieser Rechtsfamilie entfaltete die Entwicklung des Privatrechts in Frankreich, Spanien und Italien. Der Romanische Rechtskreis ist vom Skandinavischen und vom Deutschen Rechtskreis zu unterscheiden, wobei gerade auch der Deutsche Rechtskreis im 19. Jahrhundert stark von der romanischen Rechtsfamilie mitgeprägt wurde.3 Darüber hinaus erfolgte eine Rezeption des Code civil bzw. des spanischen Código civil auch in anderen französisch- bzw. spanisch-sprachigen Teilen der Welt, unter anderem in Québec, aber auch in Teilen Mittel- und Lateinamerikas, wie zum Beispiel Mexiko.4
Herausbildung des Romanischen Rechtskreises anhand der Entwicklung des Rechts in Frankreich und Spanien
Seit der Antike prägte das römische Recht die Rechtsentwicklung in Frankreich auf mehrfache Weise. Nach der Eroberung Galliens galt römisches Recht direkt auf französischem Boden und fand bereits in dieser Phase Eingang in das lokale Recht. Eine wichtige Rolle spielten auch der Beginn der wissenschaftlichen Rezeption des römischen Rechts im 11. und 12. Jahrhundert durch die bedeutenden italienischen und französischen Rechtsschulen sowie die auf römischen Ursprüngen fußende Rechtstradition in Südfrankreich (pays de droit écrit) mit ihrem nachweisbaren Einfluss auf den Code Napoléon.5 Das französische Recht vor der Französischen Revolution (Ancien droit) war jedoch zugleich stark zersplittert. So waren neben dem Recht römischen Gepräges auch das Gewohnheitsrecht (Coutumes), das kanonische Recht (Kirchenrecht) sowie die königlichen Ordonnances zu beachten. Eine erste zentral von oben geleitete Anstrengung zur Sammlung und Vereinheitlichung des Rechts ist die auf Karl VII. (1403–1461) zurückgehende Aufzeichnung aller Coutumes.6 Im 16. Jahrhundert war die Redaktion der Coutumes abgeschlossen und die französische Rechtswissenschaft erlebte im Rahmen der humanistischen Jurisprudenz (mos gallicus) eine Blüte. Vor diesem Hintergrund verstärkte sich in Frankreich die Tendenz, die Justiz stärker auf den Monarchen auszurichten und ein einheitliches Zivilrecht auszubilden.7 Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich der Rechtsunterricht an den Universitäten bis zum 17. Jahrhundert ausschließlich dem römischen und dem kanonischen Recht widmete. Dies änderte sich durch ein Edikt König Ludwigs XIV. (1638–1715) aus dem Jahr 1679 dahingehend, dass an der Universität Paris durch einen Lehrstuhl erstmals auch das französische Recht, wie es in den Ordonnances und Coutumes enthalten war, gelehrt wurde.8 Dadurch sollte das nationale Recht gegenüber dem universell in Geltung befindlichen römischen und kanonischen Recht gestärkt werden. Schwerpunkte dieses neuzeitlichen französischen Rechts waren – auch bedingt durch die Inhalte der Coutumes – das Individualeigentum, der aus dem kanonischen Recht abgeleitete Konsensualismus9 und die Verschuldenshaftung.10 Die Bestrebungen, sowohl die römisch-rechtlichen Elemente als auch das Gewohnheitsrecht des pays de droit coutumier immer stärker zu vereinheitlichen, setzten sich im Zeitalter des Absolutismus weiter fort.11 Im 17. und 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, übten die Naturrechtslehren einen dominierenden Einfluss aus, wobei in diesem Zusammenhang in Frankreich die Bemühungen um ein droit commun de la France intensiviert wurden. Beispielhaft hierfür ist Robert-Joseph Pothier (1699–1772)[] mit seinem Werk Traité des obligations (1761). Pothier versuchte darin, Rechtsprobleme durch eine Synthese des römischen und des einheimischen Rechts zu lösen. Da bei der Redaktion des Code civil seine Schriften teilweise wörtlich rezipiert wurden, hatten seine Überlegungen direkten Einfluss auf dieses Gesetzbuch von 1804 und prägten auch dessen dogmatische Grundlagen.12 Das gleiche gilt für Jean Domat (1625–1696)[] und sein fünfbändiges Werk Les loix civiles dans leur ordre naturel (1689–1694), mit dem er versuchte, die justinianische Kodifikation so zu systematisieren, dass sie in seiner Darstellung einem Naturrechtslehrbuch ähnelte.13
Das Gleichheitsideal der Französischen Revolution (in seiner Ausprägung als Gleichheit vor dem Gesetz) führte dazu, dass ein einheitliches Zivilrechtsgesetzbuch immer stärker herbeigesehnt wurde, wobei eine entsprechende Forderung in die Verfassung vom 3. September 1791 aufgenommen wurde: "Il sera fait un Code de lois civiles communes à tout le royaume."14 Verschiedene in der Folge unternommene Versuche, ein Gesetzbuch des Zivilrechts zu entwerfen und zu verabschieden (zu nennen ist insbesondere die Initiative von Jean-Jacques Régis de Cambacérès (1753–1824)), scheiterten jedoch.15 Auf Veranlassung von Napoleon Bonaparte (1769–1821) wurde darum im Jahr 1800 eine Kommission zum Entwurf eines solchen Gesetzbuches eingesetzt.16 Am 21. März 1804 konnte schließlich – nach der Überwindung einer Reihe von Schwierigkeiten im Gesetzgebungsverfahren – mit dem Code civil des Français das französische Zivilgesetzbuch in Kraft treten, für das sich ab 1807 die Bezeichnung Code Napoléon einbürgerte.17
Mit dem ersten Zivilrechtsgesetzbuch auf französischem Boden erfolgte die endgültige Abkehr vom mündlich überlieferten Recht. Die Basis der Rechtsordnung lag nun im geschriebenen Gesetz.18 Die Redaktion des Code civil stand im Zeichen der Revolution und der Tradition, da neben den wörtlichen Übernahmen aus Pothier und Domat viele Elemente des römischen Rechts und der Coutumes aufgegriffen wurden. Die durch die Revolution bedingte Bestrebung, ein Gesetzbuch mit abstrakten Regelungen, die aber auch für Laien verständlich waren, zu schaffen, ging zu Lasten der begrifflichen Schärfe. Daher spielt die Heranziehung von Präzedenzfällen zur Auslegung der Bestimmungen des Code bis heute eine wichtige Rolle. Rechtspraxis und Rechtslehre nahmen die Kodifikation nach ihrem Inkrafttreten sehr positiv auf.19
Durch die Napoleonischen Kriege wurde der Code civil zuerst in Belgien,20 im Königreich Italien, in den linksrheinisch gelegenen deutschen Gebieten (Rheinbundstaaten) und in Spanien bekannt bzw. in Geltung gesetzt. Er entwickelte sich zu einem Modell für die zeitlich später erlassenen europäischen Zivilrechtskodifikationen.21 Langfristig begann er die Rechtslandschaft in ganz Europa zu verändern, was zu einer Zweiteilung zwischen den Common law systems und den Civil law systems führte. Auch nach Napoleons militärischer Niederlage und Absetzung (Restauration von 1814) wurde nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland, Italien und den Niederlanden am Code Napoléon festgehalten.22 Die Niederlande erhielten 1838 ein erstes eigenes Zivilgesetzbuch nach dem französischen Vorbild, dann folgten Italien und Québec im Jahr 186523 bzw. 1866.24
Italien stellt insofern einen Sonderfall dar, als es von Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts in viele Staaten mit verschiedenen Rechtsgrundlagen zersplittert war, in denen bis zur staatlichen Einheit und bis zum Erlass des italienischen Codice civile die napoleonische Kodifikation entweder mittelbar oder unmittelbar galt. Die Restauration von 1814 führte zwar zunächst zu einer Außerkraftsetzung des Code Napoléon, jedoch war der französische Einfluss auf die im Anschluss unternommenen Redaktionen eigener Kodifikationen so hoch, dass Teile der italienischen Zivilrechtskodifikationen wortgenaue Übersetzungen des Code civil sind.25 Der im Vergleich zu den anderen Kodifikationen des Romanischen Rechtskreises demnach besonders eng nach dem Code Napoléon gestaltete Codice civile italiano blieb bis 1942 in Kraft.26
In Portugal wurde nach dem Vorbild des französischen Zivilgesetzbuchs im Jahr 1868 der Código civil erlassen, Spaniens Zivilgesetzbuchkodifikation folgte im Jahr 1889.27 Die Entwicklung des spanischen Zivilrechts hin zu einem einheitlichen Gesetzbuch ist im Mittelalter geprägt von der Reconquista und dem Einfluss der westgotischen Rechtstexte (Lex Visigothorum) sowie der Herausbildung verschiedener christlicher Herrschaften. Dabei wurde das spanische Recht stark durch die Denkrichtung des scholastischen Naturrechts (escuela ius naturale) bestimmt, wobei die Schule von Salamanca im 15. Jahrhundert große Bedeutung erlangte.28 Ein erster Anlauf, einen Código Civil de España zu schaffen, scheiterte 1821 am Staatsstreich von General Rafael del Riego (1784–1823). In Spanien erschwerten die im Gegensatz zum französischen Zentralismus stehenden partikularen Tendenzen sowie ausgeprägte nationale Interessen, die sich der Rechtsvereinheitlichung entgegenstellten, die Reformprojekte.29 1851 begann man erneut, sich um eine Kodifizierung zu bemühen, bei der der Code Napoléon starke Berücksichtigung fand, weshalb man sich von Seiten der Reformer genötigt sah, die Arbeit rechtshistorisch an die spanische Vergangenheit anzuknüpfen und so als etwas Eigenes, Spanisches zu rechtfertigen.30 Erst am 11. Mai 1888 konnte die Gesetzgebungskommission das Verfahren erfolgreich abschließen, so dass der Código Civil de España 1889 in Kraft treten konnte. Die Kodifikation galt aber nur in Teilen (vom Título Preliminar bis zum Titel 4 des ersten Buches) für ganz Spanien, während die übrigen Bücher und Titel nur das Foralrecht (spanisches Gewohnheitsrecht) ergänzten. So bestand in Spanien hinsichtlich des Privatrechts keine Rechtseinheit mit Ausnahme des Kollisions-31 und des Eherechts sowie der rechtlichen Bestimmungen, die die Anwendung der verschiedenen geltenden Gesetze regelten.32 Der Einfluss des Code civil auf den Código Civil lässt sich dahingehend beziffern, dass von 1975 Artikeln der spanischen Kodifikation 250 direkt aus dem Code Napoléon entnommen sind.33 Obwohl sich das spanische Gesetzbuch eng an den französischen Code anlehnt, beinhaltet es im Unterschied zu diesem ein viertes Buch, das eine geschlossene Regelung für das Vertragsrecht enthält, während der französische Kodex das Eigentum zum Ausgangspunkt der Systematik machte und so die Obligationen nur unzureichend regelte.
Die historische Bedeutung der Napoleonischen Gesetzbücher
Napoleons Bemühungen waren auf die Herstellung von Rechtseinheit und auf die Zentralisierung der Verwaltung gerichtet, wobei er nicht nur Frankreich, sondern auch die im Zuge der Napoleonischen Kriege eroberten Territorien im Blick hatte. Ein Ergebnis seiner Bestrebungen war der Erlass der Napoleonischen Gesetzbücher (cinq codes).34 Unter diesem Begriff werden folgende Kodifikationen zusammengefasst: der Code civil, der Code de commerce, der Code de procédure civile, der Code pénal und der Code d'instruction criminelle. Im Rahmen dieser Gesamtkodifikation wurde der Versuch unternommen, die Ideen des vernunftgeprägten Naturrechts und die Ziele der Französischen Revolution sowie das französische Recht in Einklang zu bringen.35
Es würde den Rahmen des Beitrags sprengen, auf die historische Bedeutung eines jeden der cinq codes im Einzelnen einzugehen, ihr weitreichender Einfluss – nicht nur auf die europäische Geschichte – ist jedoch hervorzuheben.36 Hierbei ist besonders an die Rolle des Verfassungsrechts zu denken, denn die Erklärung der Menschenrechte erlangte eine weltumspannende Bedeutung und die Bestimmungen der cinq codes hatten nicht zuletzt die Aufgabe, die in der Erklärung enthaltenen bürgerlichen Grundfreiheiten abzusichern.37 Unter den cinq codes ist die maßgeblichste Kodifikation für den Romanischen Rechtskreis der Code civil des Français von 1804. Nach der Französischen Revolution lag die Aufgabe der Gesetzgebung zunächst beim Direktorium, welches zusammen mit dem Konvent bereits vor 1799 vier Entwürfe für ein Zivilgesetzbuch verfasste, die aber alle nicht kodifiziert wurden.
1799 kam Napoleon an die Macht. Er unternahm, seinem Verständnis von Herrschaft folgend,38 das sich am römischen Vorbild orientierte, persönlich große Anstrengungen hinsichtlich der Kodifizierung des Zivilrechts.39 Im August 1800 befahl er dem Justizministerium, das Gesetzgebungsverfahren einzuleiten, woraufhin eine aus vier Juristen bestehende Kommission einberufen wurde, deren Vorsitzender der Präsident des Kassationsgerichtshofs war. Sie sollte einen weiteren Entwurf erarbeiten.40 Eine in weniger als zwölf Monaten abgeschlossene Initiative der Kommission wurde den Gerichtshöfen (tribunaux d'appel), dem Kassationshof (tribunal de cassation) und anschließend dem Staatsrat (Conseil d'Etat) zur Überprüfung vorgelegt. Der Staatsrat unterstand dabei dem Vorsitz des Ersten und Zweiten Konsuls und somit Napoleon persönlich.41 Im Anschluss wurde der Entwurf dem Parlament (Tribunat) zugeleitet, das ihn jedoch im Januar 1802 im ersten Anlauf mit nur drei Stimmen Mehrheit verwarf, weil seine Mitglieder hauptsächlich Gegner Napoleons waren.42 Nach einer Neubesetzung des Tribunats brachte Napoleon den Entwurf erneut ein und das Verfahren konnte im Rahmen von mehreren Abstimmungen, die zwischen dem 5. März 1803 und dem 21. März 1804 stattfanden, erfolgreich abgeschlossen werden. Nach der letzten Abstimmung trat der Code civil in Kraft.43 Es ist besonders hervorzuheben, dass dieses Gesetzbuch als erste europäische Kodifikation das Gedankengut der Französischen Revolution und damit die Prinzipien von Rechtseinheit, Rechtsgleichheit und die Freiheit von Person und Eigentum in sich aufnahm.44
Initiativen zu einer grundlegenden Reform des französischen Zivilrechts, wie es im Code Napoléon ausgestaltet wurde, gab es zwei Mal. Zum einen im Jahr 1904 als eine Kommission als Reaktion auf den Erlass des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) in Deutschland und der damit zusammenhängenden neuen wissenschaftlich-methodischen Herangehensweise einberufen wurde. Eine weitere Kommission wurde im Jahr 1945 nach dem Ende des Vichy-Regimes und der Befreiung Frankreichs einberufen. In beiden Fällen wurden statt der angestrebten grundlegenden Überarbeitung lediglich Zusätze in den Code aufgenommen sowie allgemeine Reformen durchgeführt, wobei die ursprüngliche Nummerierung der Artikel weitestgehend erhalten blieb.45 Daher waren – so eine Untersuchung aus dem Jahr 1963 – noch bis zu drei Vierteln des ursprünglichen Code Napoléon in Kraft und so kann er bis heute als Basis der französischen Rechtsordnung gelten.46 Als eine der jüngeren großen Reformen des Code civil sei die Novellierung des Familienrechts im Jahr 2004 erwähnt, mit der auf verschiedene aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen reagiert wurde.47
Systematisch lehnt sich der Code civil eng an die Institutionen des Gaius48 an. Nicht der Vertrag, sondern das Eigentum ist dabei das die Einteilung des Gesetzbuches bestimmende Rechtsinstitut. Das erste Buch befasst sich mit dem Recht der Personen, das zweite Buch behandelt das Sachenrecht und im dritten Buch werden die verschiedenen Arten geregelt, wie Eigentum erworben wird. Im ersten Buch werden zudem die Staatsangehörigkeit und das Familienrecht geregelt. Das zweite Buch unterteilt sich weiter in das Eigentum, die Eigentumsübertragung und die Dienstbarkeiten. Das dritte Buch beinhaltet – um nur einige Rechtsmaterien zu nennen – das Erbrecht, das Recht der Schenkungen, das Recht der Verträge sowie das Deliktsrecht. In den zweihundert Jahren seiner Geltung hat die große thematische Spannbreite dem Code sowohl Bewunderung als auch Kritik eingebracht.49
Dabei ist der prägende Einfluss dieser Kodifikation für das gesamteuropäische Zivilrecht hervorzuheben. So hat ausgehend von Artikel 1382 des Code civil eine Generalklausel der deliktischen Haftung Eingang in alle kontinentaleuropäischen Kodifikationen mit Ausnahme des BGB gefunden. Ebenso folgt das rumänische Recht (Codul civil von 1865) dem französischen Vorbild bis heute auf das Engste nach, was sich auch und gerade in der Gestaltung des rumänischen Schadensersatzrechts (Responsabilité délictuelle) zeigt.
Die geschichtliche Bedeutung der Napoleonischen Gesetzgebung wurde folgendermaßen zusammengefasst:
Die cinq codes sollten als wichtigster Ausdruck und Garant der neuen Ordnung über ganz Europa verbreitet werden, teils durch Überzeugung, teils durch politische Pressionen, teils gewaltsam. Dies sollte auch der gesellschaftlichen und politischen Assimilation in dem neuen napoleonischen Staatensystem dienen. … Man kann darin einen frühen Versuch europäischer Rechtsvereinheitlichung unter dem Vorzeichen politischer Hegemonie Frankreichs sehen.50
Der Code civil stellt dabei eine Quelle dar, an der sich die neuartigen Methoden der französischen Hegemonialpolitik ablesen lassen: Frankreich entdeckte (und nutzte) ab 1800 die funktionale Bedeutung der Innen- für die Außenpolitik. Die Kodifikationen wurden damit zum Instrument der Herrschaftssicherung und zu einem Medium, durch das die Ideen der Französischen Revolution über Europa verbreitet wurden.51
Die Rezeption und Einführung des Code civil im frühen 19. Jahrhundert in Territorien, die während der Napoleonischen Kriege erobert wurden, erzwang in diesen Herrschaftsgebieten folglich eine Auseinandersetzung mit fünf Leitideen der französischen Revolution: (1) Freiheit der Person, (2) Gleichheit vor dem Gesetz, (3) Freiheit des Gewissens und Trennung von Kirche und Staat, (4) Freiheit des Eigentums und (5) freier Güterverkehr.52 Darüber hinaus hatte die Französische Revolution eine neue, von staatsbürgerlicher Gleichheit geprägte Gesellschaftsordnung herbeigeführt, die sich auch in den cinq codes widerspiegelte. Inhalt und Struktur der Napoleonischen Kodifikation wurden daher von folgenden Aspekten geprägt: zum Ersten von der Aufhebung der Feudalrechte sowie der Aufhebung des Adels als rechtlichem Stand und zum Zweiten von der Verstaatlichung des Kirchenbesitzes im Jahr 1789. Dadurch wurden auch Gerichtsverfassung und -verfahren grundlegend verändert, da eine Trennung zwischen Staat und Kirche sowie Verwaltung und Justiz eingeführt und somit eine unabhängige Justiz geschaffen wurde.53 Die Diskussion über diese durch die cinq codes tradierten Ideen reichte weit über juristische Fachkreise hinaus und im deutschen Raum erschien eine Vielzahl von Kommentaren, Handbüchern und Flugschriften, insbesondere zum Code Napoléon.
Die Folgen des Aufeinandertreffens des von der Revolution geprägten Code civil mit einer vorrevolutionären Rechts- und Gesellschaftsordnung lassen sich besonders gut am Beispiel der Rheinbundstaaten verdeutlichen: Nachdem Napoleon die linksrheinischen Gebiete erobert hatte,54 sollten durch die Einführung des Code civil die in Frankreich und Deutschland verschieden ausgeprägten sozialen Prinzipien homogenisiert und auf diesem Weg eine politische Einheit und eine gesellschaftliche Assimilation in dem nun bestehenden staatenübergreifenden Herrschaftssystem erreicht werden. Die politische und rechtliche Neuorganisation erzwang dabei eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den deutschen Gebieten.55 Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang, dass es sich beim Code Napoléon um das bürgerlich-patriarchalisch geprägte Gesetzbuch eines ständefreien Staates handelte, das eine Abschaffung des Feudalsystems propagierte, während in Teilen Deutschlands noch die Leibeigenschaft bestand. Es wurde deutlich, dass soziale und politische Ordnung, privates und öffentliches Recht nicht getrennt voneinander reformiert werden konnten. Damit das französische Recht unmittelbar zur Geltung hätte kommen können, hätten mehrere Gegensätze überwunden werden müssen: die zwischen französischer und deutscher Verwaltung und Justiz56 sowie die zwischen der französischen Staatsverfassung mit Gewaltenteilung und Repräsentativsystem und der Organisation der deutschen Fürstentümer.57 Zugleich trafen die durch den Code vermittelten Ideale der Französischen Revolution auf die einzelnen staatlichen Rheinbundreformen, was die ohnehin bereits geführten Auseinandersetzungen um gesellschaftliche und staatliche Veränderungen weiter verstärkte. Die französische Herrschaft und die Einführung des ab 1798 im linksrheinischen Rheinland geltenden sogenannten Revolutionären Rechts (droit intermédiaire) sowie die Rezeption des als kodifiziertes Revolutionsrecht zu betrachtenden Code civil führten unter anderem zu Agrarreformen in den Rheinbundstaaten. So wurden Steuerprivilegien der Aristokratie und die adeligen Vorrechte auf zivile und militärische Ämter und Würden abgeschafft sowie die Leibeigenschaft endgültig beseitigt.58
Eine uneingeschränkte Rezeption des Code Napoléon erfolgte nur in den neu gegründeten Modellstaaten Berg und Westphalen. Da die verwaltungs- und gerichtsorganisatorischen Voraussetzungen für die praktische Anwendung des französischen Rechts aber nicht vorlagen und insbesondere die in den antifeudalen Bestimmungen des Code civil vorgesehene Erbteilung mit dem Meierwesen59 unvereinbar war, war die Umsetzung der nun geltenden französischen Bestimmungen in der Regel unmöglich.60
Nach den in Westphalen und Berg gesammelten Erfahrungen wollte man in den anderen Rheinbundstaaten eine modifizierte Fassung des Code civil einführen. Dadurch kam es zu heftigen Debatten über die Art der geplanten Umgestaltung, da insbesondere befürchtet wurde, dass gerade das im Gesetzbuch enthaltene revolutionäre Gedankengut durch die Anpassung an die deutschen Verhältnisse leiden würde. Dementsprechend heftig wurde die in den Großherzogtümern Baden und Frankfurt eingeführte Kompromisslösung kritisiert, die im Wesentlichen darin bestand, dass in den Code civil Zusätze aufgenommen wurden, die die Feudalverfassung in den Code integrierten.61
Von Seiten der Herrschaften Frankfurt, Darmstadt-Hessen und Nassau ging die Initiative aus, auf einer in Gießen stattfindenden Konferenz einen Code auszuarbeiten, der Geltung in allen Rheinbundstaaten haben sollte. Dabei wurde insbesondere diskutiert, ob der Code Napoléon durch Modifikationen an die deutschen Verhältnisse angepasst werden sollte oder ob man die Bestimmungen, die aufgrund mangelhafter verwaltungsorganisatorischer Voraussetzungen nicht umsetzbar waren, suspendieren sollte. Diese Bestrebungen scheiterten jedoch an einem wachsenden Desinteresse der französischen Seite an der Umsetzung des Code in den deutschen Territorien sowie dem fehlenden Willen Napoleons, sich in die inneren Verhältnisse der Rheinbundstaaten einzumischen. Die Beratungen in Gießen wurden daher ohne Ergebnis abgebrochen.62
In Bayern führten die negativen Erfahrungen mit der Rezeption des französischen Gesetzesbuchs sowie die sich ändernde politische Lage dazu, dass die noch im Herbst 1807 geplante Ausarbeitung eines Zivilgesetzbuchs nach dem Vorbild des Code Napoléon im Jahr 1811 dem Beschluss wich, den Kodex von Wiguläus von Kreittmayr (1705–1790) aus dem Jahr 1756 einer Revision zu unterziehen.63 Obwohl auch in diesem Zusammenhang der Code Napoléon als Kind der Revolution nicht eins zu eins umgesetzt wurde, gehörte der Code civil dennoch zu den Gesetzbüchern, die die Revision des Kodex von Kreittmayr maßgeblich mitbestimmten.64
Nach dem Zusammenbruch der Herrschaft Napoleons im Jahr 1815 wurden die Rechtsreformen in den deutschen Gebieten wieder rückgängig gemacht. Dennoch gelten die Reformen im Rheinbund als gleichbedeutend mit den Stein-Hardenberg'schen Reformen in Preußen. Durch die Rezeption des Code civil wurde die Notwendigkeit erkannt, das Feudalsystem zu überwinden und damit insbesondere die in Grund- und Lehnsherrschaft angelegte Teilung des Eigentums aufzuheben sowie die Freiheit der Person von Servituten und Abgaben herzustellen. Die Rheinbundreformen haben somit die Entstehung der bürgerlich-liberalen und sozialen Vormärzbewegung begünstigt und die Grundlagen für eine Neugestaltung von Staat und Gesellschaft sowie für die Revolution von 1848 gelegt.65 Eine weitere Auswirkung der Rezeption des französischen Rechts in den Rheinbundstaaten zeigt sich darin, dass die Geltung des Code civil im Rheinland im 19. Jahrhundert weiter bestehen blieb und dass angesichts der nicht eingelösten Verfassungsversprechen dieses revolutionäre Recht in den monarchisch regierten Territorien des Deutschen Bundes mit einer konstitutionellen Bedeutung aufgeladen wurde.
Ausstrahlung des französischen und des spanischen Code civil in die ehemaligen französischen Kolonien (Québec) und nach Lateinamerika (Mexiko)
Nach der Erfahrung der Kolonialherrschaft entwickelte sich in den sich neu bildenden Staaten Lateinamerikas das Bewusstsein, dass die Kontrolle über das Privatrecht und die Herrschaft über die Nation eng verknüpft sind. Daraus resultierten frühe Bemühungen um eigene Zivilrechtskodifikationen. Dabei war die Vorbildwirkung des französischen Rechts aufgrund des darin enthaltenen Gedankenguts von Freiheit und Gleichheit sehr viel stärker als diejenige des durch die spanische Kolonialmacht eingeführten spanischen Rechts. Daher wurde eine Beseitigung der hergebrachten Gesetze der Kolonialmacht durch die Schaffung eines neuen eigenen Rechts angestrebt. Eine neue, vollständige und abschließende gesetzliche Ordnung wurde gesucht.66 So übernahm Mexiko nicht nur den Geist des französischen Rechts, sondern knüpfte angesichts der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung auch an nordamerikanische Einflüsse an, als es 1871 seine erste eigene Zivilrechtskodifikation erließ. Diesem Gesetzeserlass waren die Erringung der vollständigen Unabhängigkeit von Spanien im Jahr 1821 sowie eine Phase der Konsolidierung zwischen 1835 und 1846 vorausgegangen, in der das Land in eine Monarchie umgewandelt worden war.67 Die Rückkehr zur Staatsform der Republik im Jahr 1846 begünstigte die seit 1821 bestehenden Bemühungen um eine Privatrechtskodifikation, die allerdings erst 1870 zum Abschluss gebracht werden konnten. In einer ersten großen Reform wurden 1884 das Erbrecht und das Eherecht novelliert, wobei immer noch der Einfluss der französischen Kodifikation am prägendsten wirkte.68
In Québec begannen erste Arbeiten an einem Privatrechtsgesetzbuch im Jahr 1847, die 1866 mit dem Code civil du Bas-Canada erfolgreich abgeschlossen werden konnten.69 Es bestand ein großer Bedarf an einer Vereinheitlichung des Rechts, da vor der Zivilrechtskodifizierung das Privatrecht auf einer Vielzahl von Quellen, wie dem britischen Recht, den Coutumes de Paris oder den Ordonnances des Conseil souverain, beruht hatte. Obwohl Frankreich 1763 mit seinen nordamerikanischen Besitzungen auch Le Bas-Canada70 abtreten musste und in diesem Zuge die britische Provinz Québec entstand, war der französische Einfluss auf Québec im 18. Jahrhundert am stärksten spürbar, weshalb auch das Recht des Ancien régime und das Gedankengut der Französischen Revolution großen Einfluss hatten. Dabei ist daran zu denken, dass nicht nur im kanadischen, sondern auch im europäischen Raum neben dem französischen Recht und dem Code Napoléon das rechtswissenschaftliche Schrifttum und die Rechtsprechung französischer Gerichte sowie die als fortschrittlich wahrgenommenen Verfahrensordnungen rezipiert wurden.71 Dennoch vollzog sich seit der politischen Unabhängigkeit Québecs von Frankreich 1763 eine langsame rechtliche Loslösung vom Mutterland. Und zwar aus drei Gründen: Erstens stützte sich der Code civil des Français weniger stark auf das Recht des Ancien régime als das beim Recht Québecs der Fall war, zweitens setzten sich die am Code Napoléon geschulten französischen Juristen nicht mehr mit dem obsolet gewordenen Recht des Ancien régime auseinander72 und drittens erforderte die zunehmende Einwanderung nicht-französischstämmiger Menschen eine entsprechende Anpassung des Rechts.73 Während das Vertragsrecht des droit québécois stark von der eigenständigen kanadischen Rechtsentwicklung geprägt ist, behielt der Code Napoléon dennoch seine Stellung als zentrales Modell für die Zivilrechtskodifikation von Québec.74 Daneben beruhen weite Teile des Code civil von Québec auf den französischen Coutumes sowie auf den Schriften von Pothier. Daher ist Québecs Entwicklung beispielhaft dafür, wie der Code civil die Rechtsentwicklung in einem Land mitbestimmt hat, das heute zu den gemischten Rechtssystemen gehört.75
Ausstrahlung des Romanischen Rechtskreises auf andere Rechtskreise und aktuelle Entwicklungen
Nach dem Inkrafttreten des Code Napoléon wirkte die Kodifikation, wie oben beschrieben, als Modell für die Gesetzgebungsbemühungen anderer Länder und Staaten. Seine Geltung als eine europäische Kodifikation geriet ins Blickfeld, als man Napoleon den Ausspruch zuschrieb: "Pourquoi mon Code Napoléon n'eût-il pas servi de base à un Code européen?"76 Es ist jedoch auch auf die Rolle der Verfahrensordnung, der Modellwirkung der organisation judiciaire und der französischen Rechtspraxis für die weitere Rechtsentwicklung im Romanischen Rechtskreis hinzuweisen.77 So wurde 1817 in Rumänien ein zwar am österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) orientierter Code Callimaque erlassen, aber die Auslegung und Anwendung der Gesetze erfolgte anhand der französischen Rechtsprechung. Dadurch nahm das französische Recht im Rahmen der rumänischen Rechtsordnung immer mehr Raum ein, so dass die Redaktion des rumänischen Zivilgesetzbuchs von 1864 ganz unter dem Einfluss des Code civil stand.78 Die Vorrangstellung der französischen Rechtspraxis blieb also auch nach dem Zusammenbruch der Napoleonischen Herrschaft bestehen.79
Allerdings erstarkten nach 1815 nationale Tendenzen, wobei sich, bedingt durch eine immer mehr zunehmende französische Spezialgesetzgebung, die einzelnen Rechtsordnungen inhaltlich stärker auseinander entwickelten und damit einhergehend auch die Rolle der nationalen Rechtsprechung zunahm. Hinzu traten in diesem Zusammenhang immer augenfälliger werdende Regelungslücken im Code Napoléon, die durch die von den französischen Gerichtshöfen entwickelte Kasuistik zwar teilweise geschlossen werden konnten, aber die Übernahme des französischen Rechts mitsamt der dazu gehörigen Rechtsprechung durch ausländische Staaten zunehmend erschwerte. Dennoch wurde überall dort am französischen Recht festgehalten, wo einzelne Inhalte des französischen Rechts als Ausdruck der bürgerlichen Grundfreiheiten verstanden wurden.80 Der somit von den cinq codes ausgehende Einfluss auf die Rechtsentwicklung bildete einen starken Gegensatz zur Nationalisierung der Rechtsordnungen im 19. Jahrhundert.81
Heute wird festgehalten, dass sich das französische Recht zum Richterrecht entwickelt habe, was die Rezeption grundsätzlich verhindere.82 Als problematisch erweist sich dies besonders angesichts der Harmonisierungsbemühungen der Europäischen Union, so dass anlässlich der 200-Jahr-Feier des Inkrafttretens des Code civil diskutiert wurde, ob er nicht durch eine gesamteuropäische Privatrechtskodifikation ersetzt werden sollte.83 In diesem Zusammenhang kommt auch zum Tragen, dass der Code civil auf dem Eigentum und nicht auf dem Vertragsrecht aufbaut und gerade wegen der systematischen Andersartigkeit umso mehr mit dem starken Common law sowie mit anderen Rechtsordnungen konkurrieren muss, die, wie er selbst, zum Civil law system gehören.84