Einleitung
In jenem Raum Europas, der vom Gebirge der Pyrenäen geprägt ist, befinden sich heute drei Staaten: die Französische Republik (République française), das Königreich Spanien (Reino de España) und mitten im (Hoch-)Gebirge das kleine Fürstentum Andorra (Principat d'Andorra). Die Grenze zwischen den heutigen Staaten Frankreich und Spanien verläuft meist auf dem Hauptkamm des Gebirges und mit wenigen Ausnahmen entlang der Wasserscheide zwischen jenen Flüssen, die an der spanischen Küste münden und jenen, die dies an der französischen tun. Zwar leben heute auf der einen Seite der Grenze hauptsächlich spanische Staatsbürger, auf der anderen französische und mitten im Gebirge andorranische, doch die sprachliche und ethnische Gliederung im Pyrenäenraum ist um vieles bunter, als es die monolithischen Begriffe "Spanier", "Franzosen" und "Andorraner" vermuten lassen.
Sprachen und Völker im Pyrenäenraum
In sprachlicher Hinsicht war und ist der Grenzraum keinesfalls einheitlich. Von Nordwesten nach Südosten sind folgende Sprachen anzutreffen, die mit Ausnahme der beiden Staatssprachen Spanisch und Französisch auch heute noch auf beiden Seiten der Grenze verwendet werden.
Baskisch
An der Atlantikküste sowie in den anschließenden Gebirgstälern findet sich das Baskische (euskara), das von der Genese her das älteste Idiom Europas ist, zu keiner der europäischen Sprachfamilien gehört und somit als "isolierte Sprache"1 bezeichnet wird. Es gibt zwar bereits seit dem 16. Jahrhundert Drucke baskischer Texte, doch wurde die Sprache in der Frühen Neuzeit nie für amtliche Zwecke verwendet. Dazu sollte es in Spanien erst im 20. Jahrhundert kommen, als das Baskische in der Zeit der 2. Spanischen Republik 1935 kurzfristig Amtssprache im spanischen Baskenland wurde. Während der ersten drei Jahrzehnte der Diktatur von Francisco Franco (1892–1975) wurde der öffentliche Gebrauch der Sprache erneut untersagt. Zu einer gewissen Lockerung kam es um die Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Doch erst nach der Demokratisierung Spaniens ab 1975 und vor allem seit der spanischen Verfassung von 1978 wurde das Baskische regionale Amtssprache in den spanischen Provinzen Vizcaya (baskisch: Bizkaia), Guipúzcoa (baskisch: Gibuzkoa), Álava (baskisch: Araba) und Teilen von Navarra (baskisch: Nafarroa). In den historischen französischen Provinzen Labourd (baskisch: Lapurdi), Soule (baskisch: Zuberoa) und Niedernavarra (französisch: Basse-Navarre, baskisch: Nafarroa Beherea), die heute allesamt zum Departement Pyrénées-Atlantiques gehören, hat das Baskische dagegen keinen offiziellen Status.
Aragonesisch
Geht man südlich des Hauptkammes der Pyrenäen weiter nach Osten, findet sich in den Tälern an der Grenze zu Frankreich in der Provinz Huesca eine heute nur noch von wenigen Menschen gesprochene romanische Sprache, das Aragonesische (aragonés).2 Dieses hatte sich im Rahmen der christlichen Eroberung der muslimischen Territorien zu Beginn des 14. Jahrhunderts unter der Herrschaft der Könige von Aragón fast bis an die Mittelmeerküste ausgebreitet. Die Herrscherkanzlei verwendete neben Latein das Aragonesische, Katalanische und Okzitanische als Verwaltungssprachen. Als allerdings ab 1412 das kastilische Haus der Trastámara im Königreich von Aragón regierte, begann bald auch der aragonesische Adel die kastilische Sprache zu verwenden. Das Aragonesische verkam immer mehr zu einem Idiom der Bauern. Zusätzlich wurden zu Beginn des 17. Jahrhunderts in allen Territorien der spanischen Monarchie die Morisken vertrieben, die zum Christentum meist zwangsweise konvertierten Mauren. Das Aragonesische verlor weitere Sprecher. Nachdem unter König Philipp V. (1683–1746) die Sonderrechte der Länder der Krone von Aragón beseitigt worden waren, wurde der Verfall der Sprache noch beschleunigt, ebenso unter der Regierung von Franco. Seit der spanischen Demokratisierung gibt es allerdings verstärkte Bemühungen, die Sprache zu erhalten. Das aragonesische Sprachengesetz aus dem Jahr 2009 definiert das Aragonesische ebenso wie das Katalanische neben dem Kastilischen offiziell als eine der eigenen Sprachen von Aragón (kastilisch: lengua propia, aragonesisch: luenga propia, katalanisch: llengua pròpia).3 Dennoch ist es stark vom endgültigen Aussterben bedroht.
Katalanisch
Ganz anders verhält es sich mit dem Katalanischen (català), das heute regionale Amtssprache in Katalonien, Valencia und auf den Balearen sowie offizielle Staatssprache von Andorra ist.4 Auch das Katalanische ist eine romanische Sprache, die sich im Nordosten der Iberischen Halbinsel ab dem 9. Jahrhundert aus dem Vulgärlatein entwickelte. Wie das Aragonesische verbreitete sich das Katalanische im Zuge der Eroberung der maurischen Territorien bis zum 15. Jahrhundert entlang der Mittelmeerküste nach Süden bis an die Grenze des Königreichs Murcia. Erste Drucke in Katalanisch erschienen zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Nach der Vereinigung der iberischen Monarchien unter Ferdinand II. von Aragón (1452–1516) und Isabella I. von Kastilien (1451–1504) in einer Matrimonialunion im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts wurde das Katalanische als Literatursprache sukzessive verdrängt, konnte sich aber als Verwaltungs- und Umgangssprache in den oben genannten Territorien problemlos halten. Selbst der zunehmend kastellanisierte Hochadel verwendete die Sprache weiterhin für seine Korrespondenzen ebenso wie für seine Rechtsdokumente, wie beispielsweise das Testament von Gerónima de Hostalric i Gralla (gest. 1579), Witwe von Luis de Requesens y Zúñiga (1528–1576), des Gouverneurs von Mailand sowie der Niederlande, zeigt.5 In großen Munizipien wie Barcelona ebenso wie in der regionalen Verwaltung wurde das Katalanische selbstverständlich weiter verwendet.6
Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) sollte sich dies allerdings ändern, denn die spanischen Könige aus dem Haus der Bourbonen setzten sukzessive das Kastilische als einzige offizielle Sprache der spanischen Monarchie durch.7 Sie folgten hier durchaus dem Vorbild ihrer Verwandten, die in Frankreich eine ähnliche Politik zur Förderung des Französischen betrieben. Das Katalanische wurde nun fast nur noch im kirchlichen Raum verwendet. Zeugnis dafür geben beispielsweise Grabsteine in Kirchen und Kreuzgängen aus dem 18. Jahrhundert, so in der Kathedrale von Barcelona, oder die Akten der einzelnen Klöster, wie dem von Poblet. Doch selbst anhand dieser Dokumente wird sichtbar, wie das Kastilische schrittweise das Katalanische verdrängte.8 Zwar erlebte das Katalanische im 19. Jahrhundert einen neuerlichen Aufschwung im Zuge eines Prozesses, der als Wiedergeburt (renaixença) bezeichnet wird. Nach dem Spanischen Bürgerkrieg aber wurde das Katalanische, wie die anderen Regionalsprachen, von Franco unterdrückt. Damals wurden nicht nur Personennamen, sondern auch die meisten Ortsnamen kastellanisiert. Als Bastion der Verteidigung der Sprache entwickelte sich unter der Diktatur des Caudillos das Kloster von Montserrat, in dem trotz des Verbots katalanische Messen gefeiert wurden. Das Katalanische konnte in Spanien erst nach der Demokratisierung ab 1975 einen offiziellen Status erhalten und wird heute von den drei Regionalregierungen von Katalonien, Valencia und den Balearen massiv gefördert. Der Prozess ist unter dem Namen "linguistische Normalisierung" (normalització lingüística) bekannt.
In den Regionen Kataloniens, die nach dem Pyrenäenfrieden von 1659 an Frankreich abgetreten werden mussten (Cerdagne – katalanisch: Alta Cerdanya, Capcir, Conflent, Vallespir und Roussillon – katalanisch: Rosselló), geriet das Katalanische noch früher als in Spanien unter Druck, verordnete doch schon Ludwig XIV. (1638–1715) im Jahr 1700, dass der Gebrauch dieser Sprache in offiziellen Dokumenten verboten sei.9 Die Unterdrückung des Katalanischen und anderer regionaler Sprachen in Frankreich verstärkte sich noch durch die Französische Revolution. Die französische Sprachpolitik sollte sich bis ins 21. Jahrhundert kaum ändern. Erst 2007 beschloss der Conseil général des Departments Pyrénées-Orientales, zu dem die katalanischsprachigen Kantone gehören, dass Katalanisch eine zu fördernde Sprache der Region sei.10 Zunehmend setzt sich für diese Gebiete die geographische Bezeichnung Catalunya Nord/Catalogne Nord durch.11 Auch die Ortstafeln in der Region und andere topographische Hinweise werden zunehmend zweisprachig (französisch/katalanisch) angebracht.
Okzitanisch
Opfer der Sprachpolitik der französischen Könige und der Französischen Republik wurde auch eine weitere romanische Sprache, das Okzitanische (okzitanisch: occitan/lenga d'òc, französisch: occitan/langue d'oc), das nördlich der Pyrenäen im südlichen Drittel des heutigen Frankreich gesprochen wird.12 Im Hochmittelalter vor allem durch die Dichtungen der Trobadors verbreitet, erlitt die Sprache einen ersten empfindlichen Rückschlag während der Kreuzzüge gegen die Katharer in den ersten drei Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts. 1539 erließ König Franz I. (1494–1547) das Edikt von Villers-Cotterêts,13 das das Französische zur alleinigen Urkunden- und Verwaltungssprache im Königreich machte. Das Edikt richtete sich nicht nur gegen die lateinische Sprache, sondern auch gegen das Okzitanische. Im Béarn, dem Stammland der Bourbonen, das erst seit 1589 mit der französischen Monarchie in Personalunion verbunden war, wurde unter Ludwig XIII. (1601–1643) 1620 das Okzitanische in seiner lokalen Form (okzitanisch: Bearnés/biarnés, französisch: béarnais) durch das Französische ersetzt.14 Die Französische Revolution mit ihrer uniformierenden Sprachpolitik hatte auch in diesem Fall negative Auswirkungen auf die Sprache, die heute in Frankreich nirgendwo offiziellen Status genießt, obwohl im Kanton Fenouillet (okzitanisch: Fenolhet, katalanisch: Fenollet), der administrativ zum Department Pyrénées-Orientales gehört, zunehmend zweisprachige topographische Aufschriften (französisch/okzitanisch) zu finden sind. Einzig im Val d'Aran (katalanisch: Vall d'Aran), einem nördlich des Hauptkamms der Pyrenäen liegenden Tal, das zur katalanischen Provinz Lleida (spanisch: Lérida) gehört, ist das Aranesische (okzitanisch: aranés), eine Variante des Gaskognischen, offizielle Amtssprache. Manche Linguisten sehen im Gaskognischen allerdings keinen Dialekt des Okzitanischen, sondern eine eigene romanische Sprache.
Spanisch und Französisch
Nirgendwo im Pyrenäengebiet sind das Kastilische (Spanische) oder das Französische autochthone Sprachen, sondern sie drangen erst durch die zentralistische Sprachpolitik von Madrid und Paris in das Grenzgebiet vor. Durch Assimilation der "Urbevölkerung" ebenso wie durch zum Teil zentral gesteuerte Unterdrückungsmaßnahmen und durch Zuwanderung aus den kastilisch- und französischsprachigen Teilen Spaniens und Frankreichs gerieten alle autochthonen Sprachen des Pyrenäenraumes unter Druck. Während südlich der Pyrenäen ab den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts diese Prozesse wieder umgekehrt wurden, sind nördlich des Gebirges auch heute noch die nicht-französischen romanischen Sprachen ebenso wie das Baskische stark vom Aussterben bedroht. Entwicklungsmöglichkeiten für diese Idiome könnte allerdings ein Zusatz zur französischen Verfassung bieten, der mit dem konstitutionellen Gesetz 2008-724 am 23. Juli 2008 publiziert wurde. Im neuen Artikel 75-1 der Verfassung heißt es nun: "Les langues régionales appartiennent au patrimoine de la France."15
Die Geschichte des Pyrenäenraums
Im 15. Jahrhundert war der Pyrenäenraum politisch in mehrere Einheiten aufgesplittert. Südlich des Gebirges, am Unterlauf des in das Mittelmeer mündenden Ebro, befanden sich zwei der Reiche der Krone von Aragón, nämlich an der Küste das Fürstentum Katalonien mit der Hauptstadt Barcelona, im Westen davon das Königreich Aragón mit der Hauptstadt Zaragoza. Während Aragón seine Grenze zum Königreich Frankreich am Hauptkamm des Gebirges hatte, also dort, wo auch heute noch die spanisch-französische Grenze verläuft, war Katalonien größer. Im Norden gehörten zu diesem Fürstentum auch die Grafschaften von Roussillon (katalanisch: Rosselló) und Cerdagne (katalanisch: Cerdanya), die allerdings König Johann II. (1398–1479) 1462 an den französischen König Ludwig XI. (1423–1483) verpfändet hatte, um sich dessen Hilfe im katalanischen Bürgerkrieg zu versichern. Es gelang schließlich König Ferdinand II. von Aragón, die beiden Grafschaften 1493 von Karl VIII. (1470–1498), der damals gerade seine Kriege in Italien führte, zurückzubekommen.16
Beide Reiche, sowohl Aragón als auch Katalonien, wurden seit 1412 von Königen aus dem Haus der kastilischen Trastámara regiert. Nachdem Ferdinand II. von Aragón die kastilische Thronerbin Isabella I. geheiratet hatte, herrschten die beiden Monarchen ab 1479 in ihren Reichen gemeinsam. Da der aragonesische König die meiste Zeit außerhalb seiner Territorien in Kastilien verbrachte, wurden in Katalonien ab 1479, in Aragón ab 1517, Vizekönige eingesetzt. Diese Tradition fand mit der Zentralisierung der spanischen Monarchie unter König Philipp V., der die Sonderrechte der aragonesischen Reiche beseitigte, zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein Ende.
Im Westen des Königreichs Aragón befand sich im 15. Jahrhundert eine weitere unabhängige Monarchie, das Königreich Navarra mit der Hauptstadt Pamplona (baskisch: Iruñea). Das Territorium von Navarra reichte im Norden über den Hauptkamm der Pyrenäen hinaus, Niedernavarra mit dem Hauptort Saint-Jean-Pied-de-Port (baskisch: Donibane Garazi) gehörte ebenfalls zum Königreich. Die Navarresen kontrollierten damit im Mittelalter einen strategisch wichtigen Übergang über die Pyrenäen, der noch dazu häufig von den Pilgern frequentiert wurde, die nach Santiago de Compostela in Galicien reisten.
Navarra als das kleinste der unabhängigen Königreiche geriet allerdings bald unter den politischen Druck seiner mächtigeren Nachbarn Frankreich, Kastilien und Aragón.17 Alle drei Monarchien versuchten, die Herrschaft über das Königreich zu erlangen. 1425 gelangte Blanca I. (1385–1441) aus dem kapetingischen Haus der Évreux-Navarra, Tochter von König Karl III. von Navarra (1361–1425) und Leonor von Trastámara (1387–1415), auf den Thron von Navarra und heiratete den schon erwähnten Johann II. von Aragón, der ebenfalls zum König gekrönt wurde. Nach dem Tod von Blanca I. hätte eigentlich der Sohn aus dieser Ehe, Fürst Karl von Viana (1421–1461), aufgrund des Ehevertrags seiner Eltern zum neuen König gekrönt werden müssen. Doch Johann II. war nicht bereit, den Thron für seinen Sohn freizumachen. 1451, zehn Jahre nach dem Tod der Königin, brach deshalb in Navarra ein Bürgerkrieg zwischen den Anhängern von Karl und jenen von Johann II. aus, der immer wieder aufflammte, auch dann, als die beiden Kontrahenten schon längst verstorben waren. 1479 wurde kurzfristig Leonor I. (1425–1479), Tochter von Blanca I. und Johann II., und Witwe des Grafen Gaston IV. von Foix (1423/1425–1472), Königin, verstarb aber zwei Wochen nach ihrer Krönung. Der Thron von Navarra ging an ihren minderjährigen Enkel Franz I. von Navarra (-Foix) (1469–1483) und nach dessen Tod an dessen Schwester Katharina I. von Navarra (-Foix) (1468–1517). Während dieser Zeit verstärkten sich die Bemühungen von Ferdinand II. von Aragón, ebenfalls ein Sohn von Johann II., aber aus dessen zweiter Ehe, das Königreich unter seine Kontrolle zu bekommen. Doch auch Karl VIII. von Frankreich mischte sich in die Thronstreitigkeiten ein, war doch Madeleine von Frankreich (1443–1495) die Mutter von Katharina und seine Tante. Die alten Bürgerkriegsparteiungen standen einerseits auf der Seite von Katharina, andererseits auf jener von Ferdinand II.
Katharina von Navarra heiratete Johann (Jean) III. von Albret (1469–1516). Durch diese "französische" Heirat schien sich der Einfluss des französischen Königs in Navarra, mit dem Ferdinand II. von Aragón ohnehin um die Vorherrschaft in Italien kämpfte, noch zu verstärken. Daher unterstützte er nachdrücklich die Parteiung der so genannten Beaumonteses, die sich gegen Königin Katharina und deren Mann gewandt hatten. Als diese auch noch ihren Sohn Heinrich II. (1503–1555) mit einer Tochter Ludwigs XII. von Frankreich verheiraten wollten, diente das für Ferdinand II. von Aragón als Vorwand, das Königreich Navarra 1512 zu besetzen. 1513 deklarierten die Stände von Navarra in Pamplona, allerdings nur die Parteiung der Beaumonteses, Ferdinand II. zum König. 1515 beschlossen die Stände von Kastilien in Burgos, Navarra der kastilischen Krone zu inkorporieren, allerdings bei Wahrung der navarresischen Sonderrechte. Vertreter der navarresischen Stände waren bei dieser Versammlung nicht anwesend.
Durch die Ereignisse ab 1512 wurde das Königreich Navarra in zwei ungleiche Teile zerrissen. Denn sowohl Königin Katharina I. mit ihrem Ehemann als auch deren Sohn Heinrich II. versuchten, das verlorene Königreich zurückzugewinnen. Als operative Basis dienten ihnen ihre französischen Kronlehen Béarn, Bigorre (okzitanisch: Bigòrra) und Foix (okzitanisch: Fois) aus dem Haus der Foix; Albret (okzitanisch: Labrit), Périgord (okzitanisch: Peiregòrd), Limoges (okzitanisch: Lemòtges) und Turenne (okzitanisch: Torèna) aus dem Haus der Albret. Dazu kam die französische Unterstützung, war doch Heinrich II. von Navarra mit Marguerite d'Angoulême (1492–1549) verheiratet, der Schwester von Franz I. von Frankreich. Da in den spanischen Territorien seit 1516 Karl V. (1500–1558) regierte, der mit dem französischen König Zeit seines Lebens an allen möglichen europäischen Fronten Krieg führte, sind die Auseinandersetzungen um Navarra als eines der Bestandteile des Gegensatzes zwischen den Häusern Habsburg und Valois zu sehen. Verhandlungen über eine Rückgabe von ganz Navarra an das Haus Albret-Foix scheiterten ebenso wie französisch-nordnavarresische Rückeroberungsversuche. 1530 zogen sich allerdings die Truppen Karls V. endgültig aus Niedernavarra zurück, weil die Kosten der Verteidigung dieses Teils des Königreichs nicht mehr aufzubringen waren, sodass Heinrich II. von Navarra wenigstens einen kleinen Teil seines Königreichs selbst regieren konnte. Seit 1530 verlief die Grenze zwischen dem habsburgischen Teil Navarras und dem der angestammten Könige also auf dem Hauptkamm der Pyrenäen. Wieder war eine Grenze fixiert, die heute noch gültig ist.
Fortan gab es zwei Monarchen, die den Titel eines Königs von Navarra führten. Karl V. und seine Nachfolger kontrollierten den weitaus größten Teil des Königreichs auf der Südseite der Pyrenäen. Heinrich II. musste sich mit einem kleinen Teil des alten Königreichs begnügen, etwas mehr als zehn Prozent des Gesamtterritoriums. Seine politische Macht resultierte also nicht aus dem Königstitel, sondern aus seinen oben genannten französischen Kronlehen. 1555 folgte die Tochter Heinrichs II., Johanna III. von Navarra (Jeanne d'Albret) (1528–1572), auf den (nord-) navarresischen Thron nach. Johanna, die in ihren Territorien aktiv den Protestantismus förderte – so regte sie beispielsweise die Publikation des Katechismus von Johannes Calvin (1509–1564) in okzitanischer Sprache an und ließ das Neue Testament ins Baskische übersetzen –, hatte 1548 Antoine de Bourbon (1518–1562) geheiratet. Der Sohn aus dieser Ehe übernahm 1572 als Heinrich III. (1553–1610) die Regierung der nördlichen Teile des Königreichs. Als 1589 die Valois in Frankreich ausstarben, war Heinrich III. von Navarra der nächste Anwärter auf den französischen Thron, den er nach einigen Wirren als Heinrich IV. von Frankreich auch besteigen konnte. Fortan führten er und seine Nachfolger bis 1789 den Titel "König von Frankreich und von Navarra", seine dynastischen Konkurrenten im Süden der Pyrenäen benutzten den Titel "König von Kastilien, León, Aragón, Navarra etc.". Nordnavarra wurde allerdings bereits 1620 in das Königreich Frankreich eingegliedert. Damals verloren auch die anderen Territorien, die ehemals im Besitz der Häuser Albret und Foix gewesen waren, ihre Sonderrechte. Das spanische Navarra konnte seine Privilegien innerhalb der Gesamtmonarchie viel länger halten. Weil auch dort die Könige meist abwesend waren, installierten sie wie in Katalonien und Aragón Vizekönige.18 Da die Navarresen während des Spanischen Erbfolgekriegs loyal auf der Seite Philipps V. geblieben waren, wurden ihnen ihre Sonderrechte gelassen. Daher gab es nominell in Navarra bis 1843 Vizekönige, obwohl der letzte der Vizekönige sein Amt schon 1840 verlor.
Da die zur kastilischen Krone gehörenden baskischen Provinzen südlich der Pyrenäen nur eine kurze Grenze mit den französischen Territorien gemeinsam haben, die auf einer Länge von ungefähr zehn Kilometern in der Mitte des Flusses Bidasoa (französisch: Bidassoa) verläuft, war die Grenze zwischen den später spanischen und den später französischen Territorien ab dem Jahre 1530 stabil und entsprach nahezu vollständig den heutigen Grenzen. Zu einer beträchtlichen Modifikation im Mittelmeergebiet sollte es allerdings 1659 im Pyrenäenfrieden kommen.
Die Vorgeschichte zu diesen Ereignissen ist in den gesamteuropäischen Verhältnissen ab 1618 zu suchen. Nach dem Beginn jenes Krieges im Heiligen Römischen Reich, der später der Dreißigjährige genannt werden sollte, unterstützten die spanischen Monarchen Philipp III. (1578–1621) und Philipp IV. (1605–1665) massiv ihren Verwandten, Kaiser Ferdinand II. (1578–1637). Dies wiederum erhöhte die Spannungen mit Frankreich, das 1635 in den Krieg eintrat. Die Kampfhandlungen, die zuvor hauptsächlich Mitteleuropa belastet hatten, brachen nun auch an der Pyrenäengrenze aus. 1638 belagerten französische Truppen zwei Monate lang die wichtige spanische Grenzfestung Fuenterrabía (baskisch: Hondarribia) in Guipúzcoa. Dies machte eine rasche Reaktion seitens der spanischen Monarchie notwendig. Hilfe für die Grenzverteidigung kam nicht nur aus Kastilien und den baskischen Provinzen, sondern auch aus Aragón und Valencia. Katalonien weigerte sich aber, an einem Krieg teilzunehmen, der nicht seine Grenzen betraf. Nicht zuletzt, um die Katalanen zu disziplinieren, eröffnete der Günstling Philipps IV., Gaspar de Guzmán y Pimentel, besser bekannt unter seinem Titel Conde-Duque de Olivares (1587–1645), eine neue Front gegen Frankreich im Mittelmeergebiet. Starke Truppeneinheiten wurden nach Katalonien verlegt. Die Einquartierungen im Winter 1639/1640 schürten die Unzufriedenheit der Bevölkerung.19 Im Mai 1640 brach ein Aufstand aus, bekannt unter dem Namen "Guerra dels Segadors" (Krieg der Schnitter). Aufgebrachte Bauern stürmten in Barcelona den Palast des Vizekönigs Dalmau III. de Queralt i de Codina, Conde de Santa Coloma (1593–1640) und töteten ihn auf der Flucht am Strand von Barcelona.
Der Aufstand verbreitete sich in ganz Katalonien. Als kastilische Truppen einmarschierten, unterschrieben die Katalanen nicht nur einen Beistandspakt mit Frankreich, sondern erklärten im Januar 1641 ihr Fürstentum zur Republik unter französischem Schutz. Kurz danach wurde Ludwig XIII. als Graf von Barcelona anerkannt. Die alten lehensrechtlichen Verbindungen mit dem mittelalterlichen fränkischen Reich wurden also reaktiviert. 1648, als die Westfälischen Friedensverträge den Krieg in Mitteleuropa beendeten, scheiterten spanisch-französische Verhandlungen vor allem an der katalanischen Frage. Der Krieg sollte noch mehr als zehn Jahre fortdauern. Als endlich 1659 der Pyrenäenfriede unterzeichnet wurde,20 musste der spanische König die Grafschaft Roussillon und den Nordteil von Cerdagne an Frankreich abtreten.21 Frankreich hatte im Süden damit seine "natürliche" Grenze überschritten, denn im Hochtal der Cerdanya fließt der Segre (französisch: Sègre) hin zum Ebro. Interessant ist, dass in diesem Vertragswerk Ludwig XIV. als König von Frankreich und Navarra (Roy de France et de Navarre – Rey de Francia y de Navarra) bezeichnet wird, während Philipp IV. Katholischer König der Spanien (Roy Catholique des Espagnes – Rey Cathólico de las Españas) genannt wurde. Weitere Streitigkeiten wegen des navarresischen Königstitels wollten die Vertragspartner offensichtlich vermeiden. Der Plural beim spanischen Titel schloss stillschweigend ohnedies alle Königreiche mit ein.
Der Pyrenäenvertrag wurde von den spanischen und französischen Unterhändlern – Luis Méndez de Haro y Sotomayor, VI. Marqués de Carpio (1598–1661) und Cardinal Giulio Mazarini (Jules Mazarin (1601–1661)) – auf der so genannten Fasaneninsel (spanisch: Isla de los Faisanes, französisch: Île des Faisans – Île de l'Hôpital – Île de la Conférence, baskisch: Faisaien uhartea – Konpantzia) im Fluss Bidasoa zwischen Irún (baskisch: Irun) und Hendaye (baskisch: Hendaia) unterzeichnet. Diese Insel, die heute nicht größer als 2.000 Quadratmeter ist, bildet noch immer das kleinste Kondominium der Welt. Denn bis heute wird das unbewohnte Eiland ein halbes Jahr von Frankreich, ein halbes Jahr von Spanien verwaltet.
Im Jahr 1660 mussten die Details der Grenzziehung in der Cerdagne/Cerdanya noch einmal geklärt werden.22 Diese Verhandlungen fanden in der kleinen Stadt Llívia statt. Der dort unterzeichnete spanisch-französische Vertrag nannte namentlich die 33 Dörfer, die fortan zu Frankreich gehören sollten. Llívia, nordöstlich der spanischen Stadt Puigcerdà in der heutigen Provinz Girona gelegen, hatte ein Stadtrecht. Dieses diente den Spaniern als Vorwand, den Ort nicht an Frankreich abzutreten. Bis heute ist Llívia eine spanische Enklave, vollständig umrundet von französischem Territorium. Anlass für Streitereien bot Llívia immer, bis 1868 endlich die genauen Grenzen zwischen der Enklave und Frankreich markiert wurden.23 Im 20. Jahrhundert wurde sogar eine Brücke über die französische Nationalstraße gebaut, damit die exterritoriale Straße, die Llívia mit dem Mutterland verbindet, kreuzungsfrei wurde. Erst durch den Schengen-Vertrag wurden die Probleme rund um Llívia endgültig beseitigt.
1659/1660 wurden die Grenzen zwischen Spanien und Frankreich so festgelegt, wie sie auch heute noch gültig sind. Spätere Grenzverträge konkretisierten nur noch einzelne Grenzpunkte. Beispielsweise wurde 1764 ein Vertrag unterzeichnet, der einige Unklarheiten zwischen Katalonien und Roussillon beseitigte,24 1785 wurde der Grenzverlauf in Navarra präzisiert,25 1856, 1858, 1862, 1863, 1866 und 1868 wurden schließlich Verträge in Bayonne (baskisch und okzitanisch: Baiona) unterzeichnet, die den Grenzverlauf endgültig regelten.26 Einige geringfügige Grenzberichtigungen im 20. Jahrhundert, notwendig geworden wegen Straßen- und Tunnelbauten in den Pyrenäen, müssen an dieser Stelle nicht näher erläutert werden.
Zwar bildeten die Pyrenäen eine natürliche Grenze zwischen den französischen und den iberischen Territorien, dennoch boten die Berge nicht immer jene Sicherheit gegen Angriffe der jeweiligen Feinde, die sich die Untertanen und ihre Herrscher wünschten. Deswegen finden sich im gesamten Pyrenäenraum zahlreiche Festungsanlagen, von denen an dieser Stelle nur einige genannt werden sollen. Da das Gebirge von großen Heeren nicht leicht überschritten werden konnte, finden sich diese vor allem an der Mittelmeer- und an der Atlantikküste.
Die wichtige kastilische Grenzfestung Fuenterrabía im Baskenland wurde bereits erwähnt. Ihr Pendant in Katalonien war ohne jeden Zweifel Salses im Roussillon, dessen Bau nördlich von Perpignan Ferdinand II. von Aragón Ende des 15. Jahrhunderts in Auftrag gegeben hatte, um die zurück gewonnene Grafschaft wirkungsvoll gegen mögliche französische Attacken zu schützen. Sowohl Fuenterrabía als auch Salses waren denn auch in allen Kriegen zwischen den beiden Monarchien immer heftig umstritten.27 Nach dem Pyrenäenfrieden fiel die letztgenannte Festung an Frankreich. Sébastien Le Prestre, Marquis de Vauban (1633–1707) restaurierte nicht nur diese, sondern errichtete zum Schutz der neu erworbenen Territorien zwei neue, moderne Festungsanlagen: Villefranche-de-Conflent (katalanisch: Vilafranca de Conflent) im Tal des Têt (katalanisch: Tet) und Mont-Louis (katalanisch: Montlluís) auf einem Pass an der Grenze zur Cerdagne.28 Nicht zuletzt waren es diese Festungsanlagen, die die Stabilität der politischen Grenzen ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts garantierten[], obwohl Vauban es aus geostrategischen Gründen lieber gesehen hätte, die gesamte Cerdagne an Spanien zu restituieren, war sie doch nur schwer zu verteidigen.29
Im Westen an die Cerdagne anschließend findet sich das Fürstentum Andorra, einer der kleinsten Staaten der Welt. Andorra konnte seine Unabhängigkeit trotz der Einigungsbemühungen der französischen und spanischen Monarchen erhalten. Das hängt wesentlich damit zusammen, dass Andorra seit 1278 als Kondominium regiert wurde, einerseits durch den Bischof von La Seu d'Urgell in Katalonien, andererseits durch die schon erwähnten Grafen von Foix.30 Wie oben im Zusammenhang mit der Geschichte Navarras ausgeführt wurde, gelangten alle Rechte und Territorien dieser Grafen auf dem Erbweg in die Hände des Hauses Bourbon, das ab 1589 den französischen König stellte. Ab diesem Jahr wurde Andorra also vom jeweiligen französischen König und vom Bischof von La Seu d'Urgell regiert. Damit war es aber unmöglich, Andorra entweder in die französische oder die spanische Monarchie zu integrieren – das Land behielt seine Unabhängigkeit.
Diese geriet eigentlich nur einmal in ernste Gefahr, nämlich während der französischen Revolution. Die Repräsentanten der Republik erkannten nach der Hinrichtung des Königs nämlich nicht mehr das Amt des Co-Fürsten an. Doch bereits 1806 stellte Napoleon I. (1769–1821) den alten Zustand wieder her. Co-Fürst von Andorra wurde das jeweilige Französische Staatsoberhaupt, ganz egal, ob Frankreich nun eine Monarchie oder – wie heute – eine Republik war oder ist. Seit der andorranischen Verfassung von 1993 sind die beiden Co-Fürsten gemeinsam Staatsoberhäupter, allerdings mit rein repräsentativen Funktionen. Da in jenem Jahr Andorra auch in die Vereinten Nationen aufgenommen wurde sowie 1994 in den Europarat, wurde das Katalanische endlich zu einer international anerkannten Sprache. Für die nationalistischen katalanischen Kreise in Spanien und Frankreich ist dies allerdings nur ein geringer Erfolg.
Transfer- und Kommunikationsprozesse im Pyrenäenraum
Obwohl die Pyrenäen nur an der relativ "flachen" Atlantikküste leicht zu überqueren sind und somit eine der geographisch komplizierten Zonen Europas darstellen, sind in dem Raum durchaus verdichtete Transfer- und Kommunikationsprozesse feststellbar. Dies hängt mit mehreren Faktoren zusammen.
Die oben genannten politischen Gebilde überschritten immer wieder den Hauptkamm des Gebirges, was zu intensiven Kontakten zwischen dem Norden und dem Süden führte. So hatte schon das fränkische Reich im 8. Jahrhundert eine Grenzmark gegen die Araber im heutigen Katalonien errichtet, die aus Gründen der Grenzverteidigung eng mit dem fränkischen Norden kooperierte. So manchen fränkischen Kriegsmann zog es nach Süden, wo im Krieg gegen die Araber Ruhm, Ehre und vor allem Besitz zu gewinnen war. Das später aus der spanischen Mark entstandene Fürstentum Katalonien erstreckte sich bis in das 17. Jahrhundert nördlich und südlich des Hauptkamms des Gebirges. Handelsinteressen verbanden die Teile des Fürstentums über die Berge hinweg. Ähnliches gilt für das Königreich Navarra, das bis in das 16. Jahrhundert wichtige Passstraßen über den Hauptkamm der Pyrenäen kontrollierte. Und Andorra kam eine Schlüsselposition zwischen dem Norden und dem Süden nicht nur wegen seiner beiden Co-Fürsten zu, sondern auch als Zentrum des Schmuggels.
Beide Seiten der Pyrenäen waren außerdem durch intensive Handelskontakte miteinander verbunden. Aus dem Süden wurden auch in der Neuzeit Olivenöl, Salz und Schafwolle nach Norden verfrachtet, in umgekehrter Richtung wanderte Lebendvieh (Schafe und Schweine), Eisenprodukte oder auch atlantischer Fisch, der beispielsweise über Bordeaux und Toulouse nach Aragón gelangte. Diese Handelskontakte rissen selbst während des französisch-spanischen Kriegs zwischen 1635 und 1659 nicht ab.31
Von großer Bedeutung für den Pyrenäenraum waren außerdem die Pilgerwege nach Santiago de Compostela. Das angebliche Grab des Apostels war im 9. Jahrhundert in Galicien entdeckt worden. Die Herrscher im schmalen und gebirgigen Norden der Iberischen Halbinsel, der unter christlichen Regierungen geblieben war, entdeckten rasch die Möglichkeiten, die ihnen der Santiagokult bot. Denn gar manche der Pilger, die am Grab des Apostels beteten, ließen sich danach für den Krieg gegen die Mauren einsetzen. Daher wurde die Verehrung des Johannes massiv gefördert. Und der weitaus überwiegende Teil der Pilger, die auf die Iberische Halbinsel strömten, musste die Pyrenäen überqueren. Die Mehrzahl wählte zwar den oben erwähnten Weg über Saint-Jean-Pied-de-Port, doch wurden auch südlichere Pässe benutzt. Überall auf den Pilgerwegen entstanden infrastrukturelle Einrichtungen, wie Kirchen, Klöster, Hospize, Straßen und Brücken, deren Formen den Neuerungen in den europäischen Zentralräumen folgten. Die Stile der Romanik, der Zisterzienser oder der Gotik verbreiteten sich entlang der Pilgerwege. Den Pyrenäen kam dabei eine besondere Mittlerposition zu, denn hier wurden aufgrund der geographischen Kleinteiligkeit, bedingt durch die Vielzahl der engen und schmalen Täler, besonders viele Einrichtungen für die Pilger geschaffen. Glanzstücke der romanischen Architektur wie die Benediktinerklöster Santa Maria de Ripoll (Girona), Saint-Martin-du-Canigou (katalanisch: Sant Martí del Canigó, Conflent), Saint-Michel de Cuxa (katalanisch: Sant Miquel de Cuixà, Conflent) sowie die Kathedrale von La Seu d'Urgell (Lleida) zeigen, wie dieser Stil sich in den Pyrenäen noch einmal verdichtete, bevor er sich auf der Iberischen Halbinsel verbreitete. Ähnlich richtungsweisend für den zisterziensischen Baustil auf der Iberischen Halbinsel wurden die Klöster von Santa María la Real de la Oliva (baskisch: Santa Maria Olibakoa) in Navarra, Santa María de Veruela in Aragón unmittelbar an der Grenze zu Navarra sowie Santa Maria de Poblet und Santes Creus in Katalonien, obwohl die beiden letztgenannten Klöster schon etwas südlich des Pyrenäenraums liegen. Und schließlich kam mit den Pilgern auch die französische Gotik auf die Iberische Halbinsel, wie beispielsweise die Kathedrale von Burgos in Kastilien eindrucksvoll zeigt.
Umgekehrt wanderten kulturelle Einflüsse auch vom Süden nach Norden. So übte der aus Manresa (Barcelona) stammenden Josep Sunyer i Raurell (1673–1751) sein Geschäft – er war ein sehr gefragter barocker Altarschnitzer – sowohl im Süden als auch im Norden der Grenze aus. Nachdem er beispielsweise 1695 in Puigcerdà (Girona) gearbeitet hatte, war er im folgenden Jahr in Prades/Prada im Conflent zu finden.32 Seinem Geschäft auf beiden Seiten der Grenze konnte er ungestört nachgehen, obwohl Spanien und Frankreich miteinander Krieg führten. Ganz im Gegenteil: Bald begründete er eine Werkstadt in Perpignan/Perpinyà, errichtete zahlreiche Altäre im Roussillon und arbeitete doch auch weiterhin immer wieder südlich der Grenze.
Der Pyrenäenraum war aber auch die Zone, in der man vor politischer Verfolgung Schutz suchen konnte. Je nach der politischen Lage in den jeweiligen Territorien zogen immer wieder Flüchtlingsströme über die Pyrenäen. Katholiken aus Frankreich flohen während der dortigen Religionskriege im 16. Jahrhundert nach Spanien,33 ebenso wie viele französische Adlige, die sich während der Französischen Revolution dem Hass der Republik entziehen wollten. Im 20. Jahrhundert waren es dann erst linksgerichtete Spanier, die vor den Truppen Francos in Frankreich Sicherheit suchten, danach vor allem Juden, die sich den Verfolgungen des Deutschen Reiches und seiner Helfer in Spanien entziehen konnten. 1944 versuchten schließlich antifranquistische Guerilleros die spanische Diktatur zu stürzen und marschierten im Val d'Aran ein.34 Zwar wurden sie bald von den Faschisten zurückgeschlagen, doch zeigt die Episode noch einmal deutlich, dass der Pyrenäenraum, unabhängig von seiner politischen Struktur, immer sowohl Grenze als auch Brücke war.
Der Pyrenäenraum erlebte während der gesamten Neuzeit eine zunehmende Zentralisierung mit den Mittelpunkten Paris und Madrid. Spätestens seit dem Schengen-Vertrag ist die durch ihn verlaufende Grenze allerdings von nur noch geringer Bedeutung. Es bleibt freilich abzuwarten, ob Unabhängigkeitsbemühungen der Katalanen und Basken schließlich erfolgreich sein werden. Unabhängig davon ist zu hoffen, dass den einzelnen Sprachen des Gebiets auch offiziell wieder der Status zukommt, den sie aufgrund ihrer kulturellen Leistungen zweifellos verdienen.