Ursprünge und Voraussetzungen
Bereits die traditionelle jüdische Gesellschaft vor der Aufklärung hat sich entgegen landläufigen Vorstellungen in Fragen der religiösen Weltdeutung nie völlig einheitlich präsentiert. Unterschiedliche Auslegungen des jüdischen Rechts bei sephardischen und aschkenasischen Gelehrten, Auseinandersetzungen über den Stellenwert kabbalistischer und philosophischer Reflexionen, der Streit über den Pseudomessias Shabtai Zvi (1626–1676)[] oder die Konflikte zwischen den Chassidim und ihren intellektualistischen Gegnern, den Mitnagdim, bezeichnen wichtige Etappen der jüdischen Religionsgeschichte in der Vormoderne.1
Die religiöse Pluralisierung, die sich mit dem Eintritt der mitteleuropäischen Juden in die bürgerliche Gesellschaft vollzog, bezeichnete dennoch eine Zäsur. Mag es auch zutreffen, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts das Niveau religiöser Bildung teilweise abnahm, eine nachlässigere religiöse Praxis zuweilen zum Gegenstand der innerjüdischen Kritik gemacht wurde und sich Prozesse der Akkulturation am unteren wie am oberen Ende der sozialen Leiter vollzogen, so blieb doch das traditionell verfasste Judentum, das sich weniger über ein Glaubensbekenntnis, als vielmehr über seine den Alltag strukturierenden Ge- und Verbote definierte und seine Frömmigkeit überdies in zahlreichen Volksbräuchen zum Ausdruck brachte, grundsätzlich unangefochten.2 Allerdings begannen die Obrigkeiten, die Privilegien der Gemeinden, ihre inneren Angelegenheiten nach jüdischem Recht intern regeln zu können, sukzessive einzuschränken. Auch der sogenannte Amulettenstreit, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts um den Hamburger Rabbiner Jonathan Eibeschütz (1690–1764) als vermeintlichen geheimen Anhänger des Pseudomessias Shabtai Zvi entbrannte, beschädigte nachhaltig den religiösen Führungsanspruch der Rabbiner. Auf diese Weise erhielt die Fassade der jüdischen Gesellschaft erste Risse.3
Seit die allgemeine deutsche Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch eine kleine intellektuelle Elite der Juden für ihre Ideen gewann, entstand eine säkulare jüdische Sphäre, deren Grenzen sich ständig erweiterten.4 Zwischen jüdischen Aufklärern, den Maskilim, und den rabbinischen Gelehrten entspannen sich Auseinandersetzungen zunächst über Bildungsfragen, in denen Naphtali Herz Wessely (1725–1805) und Moses Mendelssohn (1729–1786)[] das Wort führten. Radikale Aufklärer wie David Friedländer (1750–1834)[] stellten nach Mendelssohns Tod aber auch die überlieferte Ritualpraxis in Frage, deren nationale Bestandteile in den einsetzenden Gleichstellungsdebatten als Hindernisse auf dem Weg der Juden zu ihrer politischen Integration ausgemacht wurden. Diese Verknüpfung des Erwerbs bürgerlicher Rechte mit Änderungen des jüdischen Sakralrechts sollten die gesamte Emanzipationsepoche prägen, ohne dass die deutschen Juden aber dem Druck von außen bei der Gestaltung religiöser Reformen zwangsläufig nachgaben.5
Erste Reformvorstöße
In Teilen Europas, in denen sich die Rechtslage der jüdischen Minderheit unter französischem Einfluss deutlich verbesserte, erleichterten es die politischen Rahmenbedingungen einer intellektuellen Avantgarde, erste konkrete Reformvorstöße auf dem Gebiet des Kultuslebens zu unternehmen. 1796, nur kurze Zeit nach der französischen Eroberung der Niederlande, gründete sich in Amsterdam eine Reformgemeinde (Adath Jeschurun), die freilich auf obrigkeitlichen Befehl 1808 wieder aufgelöst wurde.6 Im Königreich Westphalen, Musterstaat unter der Herrschaft von Napoleons (1769–1821) Bruder Jérôme (1784–1860), konstituierte sich 1808 eine Israelitische Kirchenbehörde, deren Vorsitzender Israel Jacobson (1768–1828) in den folgenden Jahren landesweit eine Neugestaltung in Schule und Gebetshaus in Gang setzte.7 Kernstück seiner oktroyierten Modernisierung war die 1810 eingeweihte Synagoge in Seesen – der Jacobsontempel, der mit seinem Glockenturm nicht nur architektonisch Zeichen setzte, sondern auch über eine Orgel verfügte. Jacobsons Gottesdienstreformen – Chorgesang, deutsche Predigt und Gebete – waren indes nicht von Dauer; nach dem Sturz Napoleons kehrte die in weiten Teilen noch traditionell verfasste jüdische Bevölkerung bald zu den überlieferten Formen des Gebets zurück.
Jacobson verlegte seinen Wohnsitz nach Berlin, wo er 1815 zunächst an seine Reformbemühungen anknüpfen konnte. Gemeinsam mit dem vermögenden Zuckerfabrikanten Jacob Herz Beer (1769–1825) richtete er in dessen Wohnhaus einen privaten Gebetstempel ein, dessen moderat umgestaltete Gottesdienste sich unter akkulturierten Jüdinnen und Juden großer Beliebtheit erfreuten. Opposition formierte sich aber in der orthodoxen Fraktion der jüdischen Gemeinde, die auch auf die Unterstützung der Obrigkeit rechnen konnte. In Preußen, wo spätestens 1815 ein restaurativer Geist Einzug hielt, konnte sich die jüdische Kultusreform bis auf weiteres nicht mehr entfalten. Eine Kabinettsordre des Königs Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) verfügte im Dezember 1823 die Schließung des Berliner Tempels. Dieser Befehl von höchster Stelle bildete fortan die Grundlage der Politik in allen Provinzen des preußischen Staates, wo nur noch jüdische Gottesdienste stattfinden sollten "nach dem hergebrachten Ritus ohne die geringste Neuerung in der Sprache und in den Ceremonien, Gebeten und Gesängen, ganz nach dem alten Herkommen".8
Dauerhaft Wurzeln schlug das Reformjudentum erstmals in Hamburg, wo im Dezember 1817 65 jüdische Hausväter – vorwiegend Kaufleute und Angehörige der gehobenen Mittelschicht – ihre Unterschriften unter die Gründungsurkunde des Neuen Israelitischen Tempelvereins setzten, der sich als private Assoziation neben der Deutsch-Israelitischen Gemeinde konstituierte. 1818 bezog der Hamburger Tempel ein angemietetes Lokal, an dem er zu den Ruhe- und Feiertagen eigene Gottesdienste veranstaltete. Hier befand sich das Lesepult der Tora nach herkömmlichem Vorbild noch in der Raummitte, doch verzichtete man auf der Frauenempore bereits auf das Gitter, das den Blickkontakt zwischen den Geschlechtern verhinderte. Sein erstes Gebetbuch, das der Hamburger Tempel 1819 herausgab, enthielt die erste umfassende jüdische Reformliturgie.9 Traditionelle hebräische Gebete waren gekürzt und im Wortlaut verändert worden, andere fehlten ganz, waren durch deutsche Hymnen ersetzt worden oder tauchten nur in deutscher Übersetzung bzw. Paraphrase auf. Zukunftshoffnungen, die sich an das Heilige Land knüpften und als vermeintliche Elemente eines Nationalglaubens inzwischen fragwürdig erschienen – die Erwartung des Messias, die Erlösung der Juden durch ihre Rückkehr aus dem Exil nach Eretz Israel, die Wiederauferstehung der Toten sowie die Wiedererrichtung des Opferdienstes –, waren entweder abgeschwächt oder gestrichen worden. Von der Formulierung einer echten Reformideologie war der Verein allerdings noch weit entfernt. Die liturgischen Veränderungen zielten kaum auf eine konsistente theologische Ortsbestimmung ab, sondern beabsichtigten vor allem, dem Wunsch der Mitglieder nach strengerer Ordnung und Disziplin sowie in ästhetischer Hinsicht den Erwartungen der Gegenwart Rechnung zu tragen.
Die Leitung des Gottesdienstes übertrug der Tempelverein den Predigern Eduard Kley (1789–1867) und Gotthold Salomon (1784–1862), deren Ornat unweigerlich Erinnerungen an die Amtstracht lutherischer Pastoren weckten. Beide trugen im Wechsel deutsche Kanzelreden vor, die sie zum Teil in Anlehnung an die protestantische Homiletik gestalteten. Mit den seltenen talmudischen Vorträgen der Rabbiner in der Vormoderne hatten diese erbaulichen Predigten nur noch wenig gemeinsam. Neue Traditionen pflegte der Tempel zudem in musikalischer Hinsicht. Kantor David Meldola (1780–1861), dessen Vorfahren einst von der iberischen Halbinsel emigriert waren, brachte nicht nur alte spanisch-jüdische Kantilationen an den Tempel, sondern er verrichtete die Gebete auch nach der sephardischen Aussprache des Hebräischen, von der die Wissenschaft glaubte, sie sei korrekter als die traditionelle Aussprache der mitteleuropäischen Juden. Ein (Knaben-)Chor, das gemeinsame Singen von Liedern sowie Instrumentalmusik bezeichneten weitere Innovationen, die den bürgerlichen Zeitgeschmack trafen. Insbesondere das Harmonium- bzw. Orgelspiel orientierte sich aber nicht an einer genuin jüdischen Überlieferung, sondern weckte deutliche Assoziationen an christliche Vorbilder der Gottesdienstgestaltung. Solche Nachahmungen provozierten den Einspruch der orthodoxen Mehrheit, der es aber ohne politische Rückendeckung nicht gelang, die institutionelle Konsolidierung der Reform in Hamburg aufzuhalten.10
Auf dem Weg zu einer jüdischen Theologie der Reform
Die Gründung des Hamburger Tempels bezeichnete einen Meilenstein in der Geschichte der jüdischen Religionsreform, die freilich von einer Bewegung noch weit entfernt war. Richtungweisend bei der Modernisierung des Kultus waren auch progressive jüdische Schulen, die einen geschützten Raum boten, in dem eigene Gottesdienste stattfanden und neue Formate, insbesondere die "Konfirmation" von Mädchen und Jungen, erprobt werden konnten. Seit den 1820er und 1830er Jahren zeigten sich auch immer mehr Synagogengemeinden aufgeschlossen für maßvolle Veränderungen im jüdischen Kultusleben, die auch den allmählichen kulturellen Wandel der religiösen Minderheit widerspiegelten. Gemeinden in wachsender Zahl verabschiedeten Synagogenordnungen, die nicht nur darauf zielten, die Gottesdienstbesucher zu disziplinieren, volkstümliche Frömmigkeitsformen einzudämmen sowie dem gemeinsamen Gebet größere Würde und Formalität zu verleihen, sondern die zugleich liturgischen Änderungen den Weg bahnten.11
Dass anfänglich häufig Laien Gottesdienstreformen initiierten, hing auch mit einer Autoritätskrise des traditionellen Rabbinats zusammen, das wichtige Funktionen der internen Rechtsprechung eingebüßt hatte und zudem noch kaum über säkulare Bildung verfügte, um den veränderten Qualifikationserwartungen gerecht zu werden, mit denen es sowohl von außen als auch von innen konfrontiert wurde. Allerdings begann vor allem seit den 1830er Jahren eine neue Rabbinergeneration nachzurücken, deren Angehörige ein akademisches Studium absolviert hatten und aktiv in die Gestaltung der religiösen Lebensführung in- und außerhalb der Synagoge eingriffen.12 Diese Gelehrten beschränkten sich nicht auf kosmetische Eingriffe in den Kultus. Vielmehr begannen sie, ihr Plädoyer für (oder gegen) religiöse Reformen auf eine wissenschaftliche Theologie zu stützen, die das Judentum nicht mehr ausschließlich als Handlungssystem auf der Grundlage einer ewig gültigen göttlichen Selbstmitteilung präsentierte, sondern die Religion als in Teilen menschlich Gestaltetes und sich in der sowie durch die Geschichte veränderndes Phänomen begriff. Die sogenannte Wissenschaft des Judentums diente mithin zur Legitimation einer defensiven Modernisierung der jüdischen Religion, die sich als Konfession an bürgerlichen Maßstäben ausrichtete und ihren Platz in der Gesellschaft der Gegenwart beanspruchte.13
Das religiöse Spektrum um 1850
Wer die religiösen Auseinandersetzungen im deutschen Judentum im 19. Jahrhundert unter die Lupe nimmt, wird feststellen können, dass mit den unterschiedlichen Vorstellungen zeitgemäßer religiöser Lebensführung auch eine Konfessionalisierung einherging, die sich allerdings nicht als intrakonfessionelle Konsolidierung mit Tendenzen der Uniformierung, Klerikalisierung, Zentralisierung und Sozialreglementierung gestaltete. Konfessionalisierung im jüdischen Kontext beschrieb im Gegenteil eine innere Pluralisierung, d.h. die Entstehung von religiösen Bekenntnissen, deren konkurrierende Exklusivität sich an signifikanten theologischen Unterscheidungsmerkmalen festmachte.14
Unbeschadet einer zunehmenden Akkulturation, die auch mit einer Erweiterung säkularer Lebensbereiche einherging, ist davon auszugehen, dass das Religionsgesetz, die Halacha, zur Jahrhundertmitte noch immer den Alltag einer Mehrheit der deutschen Jüdinnen und Juden prägte. Für diese Gruppierung setzten sich die Bezeichnungen 'Orthodoxie' oder auch 'gesetzestreues Judentum' durch, das sich im Unterschied zum traditionellen Judentum auch ideologisch bewusst von den Reformströmungen absetzte.15 Freilich konnten und wollten sich auch wachsende Teile der 'Rechtgläubigen' den gesellschaftlichen Veränderungen nicht entziehen. Besonders in den mitgliederstarken Gemeinden der urbanen Zentren überwand die Orthodoxie früh ihre ursprünglichen Vorbehalte gegen die Emanzipation und begann, die neuen Gelegenheiten der Partizipation zu nutzen, ohne aber ihre am religiösen Recht ausgerichtete Lebensführung in Frage zu stellen.
Als einflussreichster Sprecher und Meisterdenker dieser häufig als "Neo-Orthodoxie" gekennzeichneten Position machte sich Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) einen Namen.16 Hirsch, gebürtiger Hamburger, wusste das Bekenntnis zum jüdischen Sakralrecht und den Glauben an die göttliche Inspiration sowohl der Bibel als auch des Talmud mit einer patriotischen Haltung sowie einem enthusiastischen Bekenntnis zur europäischen Kultur und Bildung zu verbinden ("Tora im Derech Eretz"). Seine Theologie entwarf das religiöse Ideal des "Mensch-Jissroël", in dem sich das allgemein Menschliche mit dem spezifisch Jüdischen harmonisch verband. Von dieser fortschrittsoptimistischen Warte aus betrachtet, stellte die Gegenwart keine Bedrohung jüdischer Glaubenswelten dar, sondern bot den Gläubigen neue Möglichkeiten der religiösen Entfaltung. Die Beobachtung, dass sich Synagogengemeinden zunehmend der Kultusreform öffneten und hier konservative Juden in Bedrängnis gerieten, begegnete er zugleich mit einer militanten Politik der sozialen Trennung. Hirsch, 1847 bis 1851 mährischer Oberlandesrabbiner in Nikolsburg und fortan religiöses Oberhaupt der streng frommen Vereinigung 'Israelitische Religionsgesellschaft' in Frankfurt am Main, warb dafür, dass sich die jüdische Orthodoxie einer Kooperation mit der Reform verweigerte und ihren gelebten Glauben in separaten Gemeinden organisierte.17
Als Vertreter einer gemäßigten Reformvariante profilierte sich der in Prag geborene Rabbiner Zacharias Frankel (1801–1875), der sein religiöses Weltbild eines "positiv-historischen" Judentums in den 1840er Jahren der Öffentlichkeit vorstellte, als er das Oberrabbinat in Dresden bekleidete. Frankels Ideen legten das Fundament zu einer gemäßigten Strömung, die sich als Mittelpartei zwischen Orthodoxie und Reform verstand und unbeschadet der religiösen Gegensätze die soziale Einheit der jüdischen Gemeinschaft bewahren wollte. Frankel hielt, ähnlich wie Hirsch es tat, an der Vorstellung des Judentums als einer "Religion der Tat" fest. Während er die Bibel, insbesondere den Pentateuch, als heiliges Dokument göttlicher Offenbarung dem Zugriff kritischer Forschung entzogen wissen wollte, betrachtete er die vor allem in Mischna und Talmud verankerte mündliche Tradition als Produkt und Spiegel geschichtlicher Entwicklung. Beeinflusst von der historischen Rechtsschule wollte er den Auslegungstexten als Dokumenten kollektiver Frömmigkeit eine besondere Autorität zuerkannt wissen, doch suchte er das religiöse Gesetz als menschlich gestaltetes in seiner Zeit und seinem gesellschaftlichen Kontext zu verstehen. Auf diese Weise eröffneten sich Möglichkeiten für behutsame Veränderungen der normativ geregelten Glaubenspraxis in und außerhalb der Synagoge.18
Weitaus eindeutigere Aussagen im Sinne religiöser Neuerungen machte die Reform Geigerscher Prägung. Abraham Geiger (1810–1874), der in Frankfurt am Main aufwuchs und in den größten jüdischen Gemeinden Deutschlands als Rabbiner amtierte, gilt gemeinhin als eigentlicher Vater der Reformbewegung, dessen Werk und Wirken auch über die Grenzen Deutschlands hinaus bedeutenden Einfluss übten. Obwohl inspiriert von dem evangelischen Kirchenlehrer Friedrich Schleiermacher (1768–1834), war er alles andere als ein Plagiator christlicher Glaubenslehren. Im Mittelpunkt der Theologie Geigers stand dessen Interpretation des Offenbarungsgeschehens, das er weniger als göttliche Selbstmitteilung deutete, sondern vielmehr als menschliche Einsicht ewiger Wahrheiten beschrieb. Die weltgeschichtliche Stellung des Judentums führte Geiger auf das religiöse Genie der Juden zurück, denen als Volk die besondere Befähigung eigen war, neue intellektuelle Anschauungen im Sinne einer solchen Offenbarung zu gewinnen. Individuelle Träger und Verkünder derartiger Erkenntnisse waren die Propheten, deren geläutertes religiöses Bewusstsein mit einer klareren sittlichen Anschauung einherging und sich, verdichtet zur Lehre des Judentums, allmählich im Volk Geltung verschaffte. Wusste Geiger bereits die Offenbarung als dynamisches menschlich-geistiges Schöpfungswerk auch in einen geschichtlichen Bezugsrahmen zu stellen, so blieb der in ihr sich ausprägende Geist auch in der Tradition weiter wirksam. Nach Geigerscher Lesart war die jüdische Wissenschaft der Gegenwart nicht nur vor die Aufgabe gestellt, in der Überlieferung die religiöse Wahrheit in ihrer jeweils historischen Fassung und Entwicklung zu identifizieren, sondern aus diesem Wissen und der Erkenntnis des religiösen Bewusstseins der Gegenwart auch Konsequenzen für die Fortbildung des Judentums zu ziehen. Aus dieser Sicht besaß die Geschichte auch die Macht, der Subjektivität jedes Zeitalters durch Veränderungen der religiösen Form Rechnung zu tragen. Echter Gottesgehorsam setzte kein rückhaltloses Bekenntnis zum Religionsgesetz voraus, sondern bezeichnete eine Geisteshaltung, die das sittliche Bewusstsein als Göttliches im Menschen zum Maßstab des Handelns erhob.19
Als Speerspitze einer noch kompromissloseren Avantgarde verstand sich Rabbiner Samuel Holdheim (1806–1860) aus Kempen (Posen), dessen Einfluss in Deutschland aber außerhalb der Berliner jüdischen Reformgemeinde begrenzt blieb. Im Verlauf einer zunehmenden Radikalisierung stellte Holdheim weite Teile des jüdischen Ritualgesetzes in Frage, das als überholter Ausdruck eines nationalen Verständnisses des Judentums seine Gültigkeit eingebüßt hatte, soweit nicht in einzelnen Zeremonien das religiöse Bewusstsein der Gläubigen zum Ausdruck kam. Sein Bekenntnis zur Innerlichkeit der Religion ließ freilich einer den Alltag prägenden Frömmigkeitspraxis wenig Raum zur Entfaltung, zumal Holdheim dem modernen Staat weitestgehende regulative Befugnisse einräumte, die auch das Ehe- und Familienrecht miteinschlossen. Am Ende bewahrte Holdheim das Judentum als Monotheismus und Moralgesetz, das im religiösen Bewusstsein der Gegenwart allerdings keinen Anspruch erhob, sich von einer bürgerlichen Ethik zu unterscheiden.20
Solange in den deutschen Staaten das Parochialprinzip galt, das den Juden die Zugehörigkeit zur Einheitsgemeinde ihres Wohnorts zur Pflicht machte, konkurrierten unter deren Dach Reformanhänger und -gegner um die Macht zur Gestaltung des öffentlich gelebten Glaubens sowie um die Aufsicht über die religiösen Institutionen. Aber nicht alle Gemeindemitglieder identifizierten sich mit den von den jüdischen Geistlichen vorgelegten glaubensweltlichen Entwürfen und Modernisierungsagenden. An der Peripherie der Glaubensgemeinschaft bildeten sich während der 1840er Jahre vereinzelt kleine oppositionelle Gruppen intellektueller Laien, die theologischen Argumentationen insgesamt eine Absage erteilten und die religiöse Lebensführung auf der Basis demokratischer Entscheidungsprozesse geregelt wissen wollten. In Frankfurt am Main wussten 1842 die Jüdischen Reformfreunde mit ihrer Forderungen nach Abschaffung der Beschneidung sowohl die Orthodoxie als auch die moderaten Reformer gegen sich aufzubringen. Von Dauer war die 1845 in Berlin gegründete Genossenschaft für Reform im Judenthum, aus der 1850 die private Jüdische Reformgemeinde hervorging.21
Am weitesten ging die religiöse Entfremdung bei jenen, die sich vom Judentum als Religion abwandten und auch nicht mehr an öffentlichen Frömmigkeitsformen partizipierten, ohne aber zum Christentum zu konvertieren. Wie groß diese Gruppe gewesen ist, lässt sich heute kaum ermitteln, doch nahmen die zeitgenössische jüdische Literatur und Presse den sogenannten Indifferentismus häufig als existentielles Problem der Gegenwart ins Visier. Noch schärfer kommentierten sie den Bekenntniswechsel, der aus religiösen Gründen erfolgen konnte, den Juden aber vielfach vollzogen, um auf diesem Weg den sozialen, politischen und beruflichen Diskriminierungen zu entgehen. Schätzungen gehen davon aus, dass im 19. Jahrhundert etwa 22.500 deutsche Jüdinnen und Juden zum Protestantismus oder zum katholischen Glauben übertraten.22
Von der Reform zum Liberalen Judentum
Seit den 1840er Jahren begann sich die Reform etwa durch eine eigene Meinungspresse sowie durch Versuche der Selbstorganisation auch als Bewegung zu konstituieren. Auf den Rabbinerkonferenzen, die zwischen 1844 und 1846 in Braunschweig, Frankfurt am Main und Breslau stattfanden und massiven Protest der Orthodoxie auslösten, debattierten die anwesenden jüdischen Geistlichen etwa über Aspekte des Ehe- und Scheidungsrechts, den Akt der Beschneidung, die Stellung der Frau, die Gestaltung der Sabbatheiligung, die Bedeutung der hebräischen Sprache beim Gebet sowie andere Fragen zum Ablauf und Inhalt des Gottesdienstes.23 Auf eine einheitliche progressive Liturgie konnte sich die Reform freilich nicht verständigen. Während in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche jüdische Gotteshäuser Orgeln installierten, mit denen sie ein klares Bekenntnis zum religiösen Fortschritt ablegten, publizierten Gemeinden zunehmend eigene Reformgebetbücher, in denen sich die Vielfalt neuer lokaler Traditionen abbildete.24 Auch als die Reformer zur Zeit der Reichsgründung ihre Bemühungen, die Uneinheitlichkeit zu überwinden, erneuerten, vermochten sie keine Beschlüsse über einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu fassen. Nach den Synoden von 1869 und 1871, die in Leipzig und Augsburg abgehalten wurden, fanden keine weiteren Zusammenkünfte statt.25
Nach der Reichsgründung etablierte sich der Begriff "Liberales Judentum", der neben der Reform auch die positiv-historische Schule einschloss und zu dem sich inzwischen bei weitem die Mehrheit der jüdischen Gläubigen bekannte. In den allermeisten Gemeinden zumal in den Städten verlor die Orthodoxie langfristig den innergemeindlichen Konkurrenzkampf um die religiöse Deutungshoheit über die organisierte Religionspraxis, in der aber insgesamt keine radikale Erneuerung erfolgte, sondern sich überwiegend gemäßigte Reformen des Kultus durchsetzten.26 Wenn die Transformation der jüdischen Religion im 19. Jahrhundert auch mit einem Wandel der Geschlechterrollen einherging, der sich als Feminisierung des Judentums beschreiben lässt, so bezog sich diese etwa auf die zunehmende Bedeutung der bürgerlichen Frauen als Hüterinnen der Tradition im privaten Heim. Das Liberale Judentum nahm die Frauen als Zielgruppe der religiösen Belehrung in Schule und Synagoge vermehrt in den Blick, doch ging es niemals darum, das weibliche Geschlecht gleichberechtigt an der Gestaltung des öffentlich gelebten Glaubens zu beteiligen. Es blieb weiterhin ausschließlich jüdischen Männern vorbehalten, als Beter wie als religiöse Funktionäre aktive Rollen in der Synagoge zu übernehmen.27
Entwicklungen in anderen europäischen Territorien
Dass sich das religiöse Judentum just in Deutschland so vielfältig präsentierte, hing wesentlich mit der zeitgenössischen, intellektuell stimulierenden Atmosphäre zusammen, resultierte aber auch aus den widersprüchlichen politischen und kulturellen Rahmenbedingungen, weil der freie Zugang zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen Aufstiegschancen eröffnete, denen angesichts eines zähen, langwierigen und von Rückschlägen gekennzeichneten Emanzipationsprozesses zugleich Grenzen gesetzt waren. Auch in den europäischen Nachbarländern wurden, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Entwicklungen in den deutschen Territorien, jüdischer Glaube und überlieferte religiöse Praxis auf den Prüfstand gestellt und zum Gegenstand von Debatten gemacht, die hier allerdings meist nicht in eine veritable Reformbewegung mündeten.
In der Habsburgermonarchie ging die religiöse Modernisierung zunächst von Wien aus, wo Prediger Isaak Noah Mannheimer (1793–1865), der erste Erfahrungen als religiöser Reformer in Kopenhagen gesammelt hatte, seit 1821 den sogenannten "Wiener Minhag" (Ritus) schuf. Mit seiner moderaten Erneuerung des Kultus, die dann auch andernorts in Österreich Nachahmer fand, erfüllte er die ästhetischen Erwartungen eines akkulturierten Bürgertums, ohne den Gesamtzusammenhalt der Gemeinde aufs Spiel zu setzen, in der Zuwanderer aus dem Osten der Monarchie ein konservatives Gegengewicht setzten. Kompromissbereitschaft beugte auch im letzten Drittel des Jahrhunderts einer Trennung der Orthodoxie vor, die freilich ihre Gottesdienste in eigenen Betlokalen zu organisieren wusste.28 Auch in Prag, einst Zentrum einer gemäßigten Version der Haskala, blieb die jüdische Gemeinde von einer Spaltung verschont. Obwohl sich in dem 1832 gegründeten Verein zur Verbesserung des israelitischen Kultus auch radikale Modernisierungsideen Ausdruck zu verschaffen suchten, blieb die Assoziation organisatorisch Teil der Gesamtgemeinde. Von einer Reformbewegung war in Prag ebenso wenig zu sprechen wie in den Kronländern Böhmens und Mährens, deren jüdische Kultusgemeinden sich aber zunehmend liturgischen Veränderungen öffneten und dabei häufig am Prager oder Wiener Vorbild orientierten.29
Während Galizien als Hort der Tradition dem religiösen Wandel trotzte, gewann die sogenannte "Neologie" als magyarische Variante des Reformjudentums insbesondere seit der zweiten Jahrhunderthälfte an Einfluss. Zugleich blieb Ungarn eine Bastion des gesetzestreuen Judentums. Dass ein Teil der orthodoxen Rabbiner – insbesondere die Parteigänger des Chassidismus – auch von der kulturellen und politischen Integration nichts wissen wollte und selbst solchen Veränderungen eine Absage erteilte, denen die deutsche Neo-Orthodoxie ihre Zustimmung gegeben hatte, sorgte für eine weitere Verhärtung der Fronten. 1868, während des Landeskongresses der Israeliten in Ungarn und Siebenbürgen, scheiterte das Bemühen, die magyarischen Synagogengemeinden unter einem gemeinsamen organisatorischen Dach zusammenzufassen. Unterstützt auch von deutschen Rabbinern sicherte sich die Orthodoxie das Recht, ihre Gemeinden in einer eigenen Körperschaft zu organisieren. Damit war eine religiöse Spaltung vollzogen, mit der auch eine weitgehende soziale Segregation einherging.30
Redeten in Deutschland und Ungarn Teile der Orthodoxie einem Schisma das Wort, so vollzogen sich in den übrigen Staaten Europas keine Entwicklungen von ähnlicher Tragweite. In Russland blieb die Reform – nicht zuletzt aufgrund der schwierigen politischen Situation – lange Zeit ein Randphänomen. Regen Anteil am allgemeinen Kulturleben nehmend, lebten die Juden Italiens in dem Bewusstsein, dass sie weder in religiöser Hinsicht noch im Erziehungswesen einen Modernisierungsrückstand aufzuholen hatten. Da sie ihre Gottesdienste seit jeher ansprechend zu gestalten wussten, schienen der großen Mehrheit weitergehende Reformen überflüssig.
In Frankreich wiederum erschwerte das System religiöser Vertretungsinstanzen einen innerjüdischen Pluralismus. Napoleon hatte den französischen Juden 1808 ein israelitisches Konsistorium aufgezwungen, dessen zentralistischer Aufbau sich deutlich an der Kirchenhierarchie des Katholizismus orientierte. Gemäßigte Reformen setzten sich durch, während radikale Ideen bei den Gläubigen kaum ein positives Echo fanden. Erst im Jahr 1900 gründeten Pariser Juden die Union Libérale Israélite, die seit 1907 auch eigene Gottesdienste organisierte, nachdem Frankreich zwei Jahre zuvor die Trennung von Staat und Kirche vollzogen hatte. Attraktiv erschien diese progressive Vereinigung den wenigsten. Weitgehend isoliert, gelang es ihr auch in den folgenden Jahrzehnten nicht, größere Zahlen von Mitgliedern zu rekrutieren.31
Einen eigenen Verlauf nahm der Weg der Kultusmodernisierung auch in England, wo aus Deutschland importierte Ideen nur begrenzt zum Tragen kamen. Wie in Frankreich beschränkten sich die Reformerfolge lange Jahrzehnte auf lokale Initiativen, obwohl die einheimischen Juden sich – ähnlich wie ihre christlichen Mitbürger – früh von überkommenen Formen individueller Frömmigkeit abwandten und vielfach einer ausgesprochenen Bibelgläubigkeit anhingen. Als in den 1840er Jahren Sepharden und aschkenasische Juden gemeinsam die West London Synagogue of British Jews gründeten, musste sich das neue Reformgotteshaus eines konservativen Widerstands erwehren, den das Oberrabbinat gemeinsam mit dem Board of Deputies of British Jews aufbot. Neue Impulse empfing die Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Claude G. Montefiore (1858–1938) zum Präsidenten der neugegründeten Jewish Religious Union, 1909 umbenannt in Jewish Religious Union for the Advancement of Liberal Judaism, gewählt wurde. Die Mehrheit der Londoner Jüdinnen und Juden hielt dennoch dem in der United Synagogue assoziierten orthodoxen Judentum die Treue. In Anbetracht der konsolidierten Strukturen blieb die Reform ein Minoritätsprojekt abseits des Establishments.32
Die Selbstorganisation der religiösen Strömungen
Dass der Konflikt zwischen Orthodoxie und Reformbewegung in Deutschland über die Legitimität religiöser Veränderungen auf Dauer allenfalls an Schärfe verlor, ohne dass sich aber die Differenz moderner theologischer Weltdeutungen einebnete, spiegelte sich auch in den jüdischen Ausbildungsinstitutionen wider. Zum Zeitpunkt der Reichsgründung 1871 befanden sich sechs jüdische Lehrerseminare auf deutschem Boden, die ihre jugendlichen Hörer nicht nur fachlich qualifizierten, sondern ihnen auch im Sinne unterschiedlicher glaubensweltlicher Leitlinien den Weg wiesen.33 Eine nicht zu unterschätzende Wirkungsmacht entfalteten die modernen Rabbinerseminare, die das religiöse Spektrum des deutschen Judentums sowohl abbildeten als auch zu konsolidieren halfen. 1854 wurde das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau eröffnet, das unter der Leitung von Zacharias Frankel ein gemäßigt konservatives Frömmigkeitsideal propagierte. Progressivere Positionen vertrat die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die seit 1872 unter maßgeblicher Beteiligung von Abraham Geiger Rabbinatskandidaten ausbildete. Mit dem Rabbinerseminar zu Berlin unter der Leitung von Esriel Hildesheimer (1820–1899) schuf sich 1873 auch die Orthodoxie ein eigenes rabbinisches Ausbildungsinstitut, mit der sie zugleich dem zeitgenössischen Professionalisierungsdruck Rechnung trug.34
In Preußen, wo etwa zwei Drittel der deutschen Juden ihren Wohnsitz hatten, setzte erst das heftig umstrittene "Austrittsgesetz", für das sich insbesondere Samson Raphael Hirsch stark gemachte hatte, dem Parochialzwang Grenzen. Seit 1876 war es im Königreich "jedem Juden gestattet, ohne Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft wegen religiöser Bedenken aus derjenigen jüdischen Synagogengemeinde auszutreten, welcher er auf Grund eines Gesetzes, eines Gewohnheitsrechts oder einer Verwaltungsvorschrift angehört[e]".35 In Frankfurt am Main, Berlin und anderen Städten gründeten sich orthodoxe Trennungsgemeinden jeweils separat von der Großgemeinde. Freilich löste das Gesetz sogar innerhalb des gesetzestreuen Judentums geteilte Reaktionen aus: Neben der "Austrittsorthodoxie" formierte sich eine weitere, weniger militant auftretende Fraktion, die auch zukünftig für einen Verbleib in den Einheitsgemeinden votierte, solange diese bei den religiösen Institutionen die notwendigen Zugeständnisse machte. Auch die Orthodoxie blieb am Ende nicht von Tendenzen der Spaltung frei.36
Vor allem im Kaiserreich versuchten sowohl das Liberale Judentum als auch die Orthodoxie ein eigenes Organisationsnetz zu spannen, um die eigenen religiösen Interessen nach innen wie nach außen wahrzunehmen. Während sich 1896 der ursprünglich 1884 geschaffene Rabbinerverband als Allgemeiner Rabbinerverband in Deutschland rekonstituierte, in dem orthodoxe und liberale jüdische Theologen gemeinsam für die eigenen Berufsbelange eintraten, gründete die Gemeindeorthodoxie 1897 mit der Vereinigung traditionell-gesetzestreuer Rabbiner einen eigenen Zusammenschluss. Folgte im Jahr darauf die Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands, gründete sich 1906 der Verband der orthodoxen Rabbiner, der nur solche Mitglieder akzeptierte, die sich nicht dem Allgemeinen Rabbinerverband anschlossen.
Bereits 1885 hatte Samson Raphael Hirsch die Freie Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums initiiert, die sich insbesondere dem Kampf gegen die Reform verschrieb. Als sich 1908 die Vereinigung für das liberale Judentum (1908) als gemeinsame Organisation von Rabbinern und Laien gründete, positionierte sich diese nicht nur als Gegengewicht zur Orthodoxie, sondern sie begriff ihre Aufgabe auch in der Konfrontation mit dem Zionismus, dessen nationale Ideologie sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend als Herausforderung religiöser Identitätskonstruktionen im Judentum erwies. Die Richtlinien zu einem Programm für das liberale Judentum, die die Vollversammlung der Vereinigung 1912 verabschiedete, richteten sich freilich vornehmlich nach innen, indem sie auf die wachsende Indifferenz in den eigenen Reihen reagierten. Wenn die Richtlinien als erklärtes Ziel formulierten, "das Verständnis dafür wachzuhalten, daß das Judentum in der Gegenwart seinen notwendigen Platz und für die Zukunft seine unersetzliche Bedeutung hat, und so die religiöse Teilnahmslosigkeit und Entfremdung vom Judentum zu überwinden und die dadurch bewährte Treue den kommenden Geschlechtern zu vererben", dann argumentierte das liberale Judentum unbeschadet einer scheinbaren demografischen Hegemonie aus der Defensive. Vor allem die liberalen Rabbiner wünschten sich eine kritische Distanz von dem religiösen Rationalismus, dem aber viele Laien noch anhingen.37
Auch über Ländergrenzen hinweg unternahmen die religiösen Strömungen des modernen Judentums Anstrengungen, um ihre Kräfte in Allianzen zu bündeln. Die Orthodoxie Deutschlands, Ungarns, Polens und Litauens vereinigte sich 1912 in der Agudat Israel, während der Erste Weltkrieg eine internationale Assoziation der Liberalen zunächst verhinderte. Erst 1926 erfolgte in London die Gründung der World Union for Progressive Judaism, die neben kleineren Landsmannschaften vor allem die englischen und die deutschen Liberalen sowie das amerikanische Reformjudentum unter einem gemeinsamen Dach vereinte.38
Ausblick
Der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Juden markierte eine Zäsur, die auch durch die Zerstörung der jüdischen Kultusgemeinden und jeglichen organisierten jüdischen Lebens gekennzeichnet war. In den wiederbegründeten Synagogengemeinden in Deutschland hat seit 1945 eine echte Wiederbelebung liberaler Traditionen bislang nur in Ansätzen stattfinden können. Erst in der jüngeren Vergangenheit der Bundesrepublik, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion, weicht das Prinzip der lokalen Einheitsgemeinde, das jahrzehntelang auf eine orthodoxe Gestaltung des Gottesdienstes und der religiösen Institutionen hinauslief, allmählich wieder einer pluralistischen Anschauung von gelebter Frömmigkeit. Die Gründung von egalitären Gebetsgruppen und liberalen Gemeinden, aber auch die Neueröffnung von Rabbinerseminaren unterschiedlicher theologischer Ausrichtung in Berlin und Potsdam zeugen von dem Wunsch, religiöse Positionen auch jenseits der Orthodoxie wieder dauerhaft in Deutschland zu etablieren. Auf der anderen Seite gründen sich vielerorts Niederlassungen der ultraorthodox-chassidischen Gruppierung Chabad Lubawitsch. Von der einstigen religiösen Vielfalt ist das deutsche Judentum in der Gegenwart indes noch immer weit entfernt.